Cover

Franco ›Bifo‹ Berardi

Helden

Über Massenmord und Suizid

Aus dem Englischen
von Kevin Vennemann

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vier Anmerkungen in Gestalt eines Prologs

1.

Der Joker

2.

Menschlichkeit ist überbewertet

3.

Einen Moment lang Sieger sein

4.

Chos Psychosphäre

5.

Was ist ein Verbrechen?

6.

Der Automat

7.

Erinnerung

8.

Ihr werdet niemals sicher sein

9.

Selbstmordwelle

10.  

Eine Reise nach Seoul

11.

Was sollen wir tun, wenn wir nichts tun können?

Anmerkungen

Bibliografie

Filmografie

Danksagung

Ich will einigen Freunden danken, die mir, mehr oder weniger wissentlich, dabei geholfen haben, dieses Buch zu schreiben.

Dank an Marco Magagnoli, auch bekannt als Mago, für seine telepathische Inspiration. Dank an Max Geraci, dafür, dass er mir die farbenfrohe Bedeutung der Dunkelheit nähergebracht hat. Dank an Federico Campagna für seine Freundschaft und seine unzähligen Anregungen.






Fehler und Hervorhebungen in den zitierten Stellen entsprechen den Fehlern und Hervorhebungen im Original.

Vorwort

Es scheint, als habe der junge Pilot Andreas Lubitz, der sich im März 2015 mit einem Flugzeug voller unschuldiger Menschen gegen einen Berg schleuderte, seinem Arbeitgeber, der Lufthansa-Tochter Germanwings, ein ärztliches Attest seiner depressiven Erkrankung verheimlicht. Das ist natürlich schrecklich, im Grunde jedoch vollkommen nachvollziehbar: Der Turbo-Kapitalismus kann Angestellte nicht leiden, die sich aus gesundheitlichen Gründen beurlauben lassen, und er kann es noch weniger leiden, wenn es sich bei solchen gesundheitlichen Problemen auch nur ansatzweise um eine Depression handelt.

Depressiv? Ich? Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Ich fühle mich gut, bin effizient, glücklich, dynamisch, energisch und vor allem wettbewerbsfähig. Ich gehe jeden Morgen joggen und bin jederzeit zu Überstunden bereit. So hört sich doch die Philosophie der Billig-Fluglinien an, oder? Und genauso klingt die Philosophie einer vollkommen deregulierten Ökonomie, in der von allen verlangt wird, dass sie jederzeit nicht weniger als ihr Bestes geben, wenn sie denn überleben wollen.

Seit diesem Selbstmord sehen sich die Fluglinien gezwungen, die psychologische Verfassung aller ihrer Angestellten zu überprüfen. Piloten dürfen auf keinen Fall manisch sein, depressiv, melancholisch oder zur Panik neigen. Und was ist mit Busfahrern und Polizeibeamten, Stahlarbeitern und Lehrern? Sie alle werden sich psychologisch untersuchen lassen müssen, damit die Depressiven unter ihnen vom Arbeitsmarkt entfernt werden können.

Eine wirklich gute Idee. Nur, dass dann eigentlich schon längst die absolute Mehrheit der Bevölkerung hätte beurlaubt werden müssen. Wer einmal offiziell als Psychopath eingestuft wurde, lässt sich problemlos beseitigen, doch was ist mit all den Menschen, die schlicht daran leiden, dass sie unglücklich sind; die zwar ruhig zu bleiben versuchen, aber trotzdem bei jeder kleineren Gelegenheit sofort ausrasten? Zwischen einem Gefühl des Unglücklichseins und einer dauerhaften aggressiven Depression lässt sich nur schwer unterscheiden, und die Zahl der Menschen, die völlig mut- und hoffnungslos sind, wird größer und größer. In den vergangenen Jahrzehnten sind immer mehr Pathologien entstanden, und der Weltgesundheitsorganisation zufolge wächst die Selbstmordrate seit vier Jahrzehnten kontinuierlich. Vor allem unter Jugendlichen ist sie inzwischen gefährlich hoch.

Was hat die Menschen in den vergangenen 40 Jahren dazu getrieben, auf den schwarzen Hund zuzulaufen und ihn so willentlich zu umarmen? Es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem so unglaublich häufigeren Drang zum Selbstmord und dem Triumph des neoliberalen Wettbewerbszwangs. Ebenso zwischen der so viel größeren Verbreitung psychischer Fragilität und der Einsamkeit einer Generation, die nur mehr über einen vernetzten Bildschirm noch neue Bekanntschaften macht. Für jeden Menschen, dem es gelingt, sich das Leben zu nehmen, gibt es 20 Menschen, die bereits Selbstmordversuche hinter sich haben. Wir müssen uns endlich eingestehen, dass auf unserem Planeten eine Art Selbstmordepidemie heraufzieht.

So lassen sich möglicherweise auch einige der besorgniserregenden Erscheinungen unserer Zeit genauer erklären, die wir so gerne rein politisch lesen, die sich jedoch allein durch die politische Linse betrachtet nicht ganz begreifen lassen. In erster Linie sollte der Terrorismus unserer Zeit als weit verbreitete Neigung zur Selbstknechtung interpretiert werden. Ich weiß, dass die Schuhada (islamistische Selbstmordattentäter) scheinbar politisch, ideologisch oder religiös motiviert sind. Doch diese Motivation ist nichts anderes als rhetorische Oberfläche. Der innerste Antrieb eines Selbstmörders ist immer die eigene Verzweiflung, Demütigung und Not. Wer beschließt, sein Leben aufzugeben, empfindet sein Leben als unerträgliche Last und den Tod als einzig möglichen Ausweg und den Mord als die einzig mögliche Rache an all denjenigen, von denen sie oder er im Leben hintergangen, gedemütigt und beleidigt wurde.

Die wahrscheinlichste Ursache für den so raschen Anstieg der Selbstmordrate und insbesondere der absoluten Zahl solcher Selbstmorde, die zugleich auch Morde sind, ist die Verwandlung des gesellschaftlichen Lebens in eine Fabrik des Unglücks, der sich scheinbar unmöglich entkommen lässt. Der Vergleich des Gebotes, unbedingt ein Gewinner sein zu müssen, mit der Gewissheit, dass man nie gewinnen wird, führt einem vor Augen, dass man nur noch dann gewinnen kann, wenn man zuerst das Leben anderer zerstört und dann das eigene.

Andreas Lubitz verschanzte sich in seinem mörderischen Cockpit, weil ihm seine Qualen unerträglich geworden waren und weil er seinen Arbeitskollegen, den Passagieren und allen anderen Menschen auf der Erde die Schuld daran gab, dass er so sehr litt. Er tat, was er tat, weil er das Unglück schlicht nicht abschütteln konnte, welches die Menschheit unserer Zeit verschlingt, seitdem die Werbung das gesellschaftliche Gehirn tagtäglich mit obligatorischer Fröhlichkeit bombardiert und seitdem die digitale Einsamkeit die aggressive Stimulation unserer Nerven um ein Vielfaches intensiviert hat, unsere Körper in den Käfigen unserer Bildschirme gefangen hält und der Finanzkapitalismus schlichtweg alle und jeden immer länger und noch länger für das erbärmliche Entgelt der Prekarität arbeiten lässt.

2. April 2015

Vier Anmerkungen in Gestalt eines Prologs

1

Im Juli 2012 beschloss ich, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte damals gerade von dem Attentat gelesen, das während der Premiere des jüngsten Batman-Films in einem Kino in Colorado verübt worden war. Von einer Mischung aus Widerwille und perverser Faszination hatte ich mich schon oft dazu verführen lassen, geradezu begierig über derartige Massenmorde zu lesen, wie sie heutzutage überall und andauernd stattzufinden scheinen – insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika. Doch erst als ich von James Holmes und dem Massaker in Aurora las, beschloss ich, über dieses Thema auch zu schreiben. Es war nicht etwa die Gewalt und Absurdität eines Landes, in dem einfach alle nach Belieben Schusswaffen erwerben können, ganz unabhängig davon, ob sie psychische Probleme haben oder nicht. Daran haben wir uns längst gewöhnt. Was mich am meisten faszinierte, war die metaphorische Dichte einer Tat, die die Trennung zwischen Spektakel und echtem Leben (oder echtem Sterben, was dasselbe ist) aufzuheben schien. James Holmes hatte vermutlich nie Guy Debord gelesen. Wir handeln oft, ohne die Texte zu unserem Handeln gelesen zu haben. Dennoch hatte Holmes’ Auftritt etwas Situationistisches. Die gesamte Geschichte der Avantgarde des 20. Jahrhunderts wurde hier auf einen einzigen Punkt zusammengeführt und auf schreckliche Weise neu inszeniert. »Weg mit der Kunst, weg mit dem Alltag, weg mit der Trennung zwischen Kunst und Alltag« forderten die Dadaisten. Holmes, so wurde mir plötzlich klar, wollte die Trennlinie zwischen Betrachter und Film aufheben. Er wollte Teil des Films sein.

Und so begann ich, wie getrieben über dieses Attentat zu lesen. Mein Interesse führte mich schon bald zu noch ganz anderen Geschichten ganz anderer Männer (weißer, schwarzer, alter, junger, reicher, armer Männer, ausschließlich jedoch zu den Geschichten anderer Männer, zu keiner einzigen Geschichte nur einer einzigen Frau – wer weiß schon, warum?), die wahllos Menschen erschossen hatten, und bald darauf begann ich, noch andere Massenmorde zu recherchieren, die viel früher stattgefunden hatten. Diese Nachforschungen brachten mich zu der Erkenntnis, dass sich das Werden unserer heutigen Welt sehr viel besser begreifen lässt, wenn man sich genauer mit derlei fürchterlichen Wahnsinnstaten auseinandersetzt, anstatt sich ausschließlich mit dem sehr beherrschten Wahnsinn unserer Ökonomen und Politiker zu beschäftigen. Ich betrachtete die Qualen des Kapitalismus und den langsamen Untergang der sozialen Zivilisation und betrachtete sie vor einem sehr speziellen Hintergrund: dem des Verbrechens und des Selbstmords.

Die ganze, nackte Wirklichkeit des Kapitalismus liegt heute offen vor uns. Und sie ist schrecklich.

2

Dieses Buch handelt jedoch nicht nur von Verbrechen und Selbstmorden, sondern ganz grundsätzlich von der Errichtung eines nihilistischen Königreiches und von dem suizidalen Trieb, der gemeinsam mit einer Phänomenologie der Panik, Aggression und folglich auch Gewalt die Kultur unserer Zeit durchdrungen hat. Dies ist die Prämisse, unter der ich das Phänomen Massenmord betrachte, wobei ich mich besonders auf die »spektakulären« Implikationen und auf die suizidale Dimension dieser Mordtaten konzentrieren werde.

Dabei interessiere ich mich nicht etwa für den gewöhnlichen Serienmörder, also jenen nur heimlich sadistischen Psychopathen, der sich für das Leid anderer begeistert und der es liebt, anderen beim Sterben zuzusehen. Ich interessiere mich für Menschen, die selbst leiden und aufgrund dieses Leidens zu Verbrechern werden, weil sie allein auf diese Weise ihrem psychopathischen Verlangen nach einer Öffentlichkeit Ausdruck verleihen können, um endlich aus der Hölle ihrer Existenz herauszufinden. Ich schreibe über junge Menschen wie Seung-Hui Cho, Eric Harris, Dylan Klebold und Pekka-Eric Auvinen, die sich das Leben nahmen, nachdem sie versucht hatten, mit der Ermordung unschuldiger Menschen die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen. Ich schreibe auch über James Holden, der gewissermaßen symbolisch Selbstmord beging, ohne sich im eigentlichen Sinne zu töten.

Ich schreibe über »spektakulär« mörderische Selbstmorde, weil diese Killer auf ganz besonders extreme Weise eine der Hauptentwicklungsrichtungen unserer Zeit verkörpern. Ich sehe sie als Helden eines nihilistischen Zeitalters von geradezu »spektakulärer« Dummheit: des Zeitalters des Finanzkapitalismus.

3

In ihrem Buch The Wretched of the Screen erinnert sich Hito Steyerl an die Veröffentlichung von David Bowies Single Heroes im Jahr 1977:

Pünktlich zum Beginn der neoliberalen Revolution und der digitalen Transformation der gesamten Welt singt Bowie von einer neuen Art Heros. Der Held ist tot – lang lebe der Held! Doch Bowies Held ist kein Subjekt mehr, sondern ein Objekt: ein Ding, ein Bild, ein prächtiger Fetisch – eine Massenware, getränkt von Begehren und aus dem Jenseits der Qualen seines eigenen Niedergangs auferstanden. Man muss sich nur das Video zu dem Lied aus dem Jahr 1977 anschauen, um zu verstehen: Im Clip sehen wir den vor sich hin singenden Bowie aus drei verschiedenen Perspektiven, während verschiedene Schichttechniken sein Bild verdreifachen. Bowies Held ist geklont worden und hat sich in ein Bild verwandelt, das beliebig reproduziert, multipliziert und kopiert werden kann so wie das Gitarrenriff des Songs, das sich mühelos durch Werbeclips für alles Mögliche zieht. Ein Fetisch, der Bowies glamourösen und durch nichts zu beeindruckenden Post-Gender-Look als Produkt verpackt. Bowies Held ist kein legendenhafter Mensch mehr, der exemplarische und begeisternde Großtaten vollbringt. Er ist nicht einmal mehr eine Ikone, sondern ein leuchtendes Produkt von posthumaner Schönheit: ein Bild und nichts als ein Bild. Die Unsterblichkeit dieses Helden geht nicht mehr auf die Stärke zurück, noch jede nur vorstellbare Tortur durchgestanden zu haben, sondern auf seine Fähigkeit, fotokopiert, recycelt und wiedergeboren zu werden. Die Form und Erscheinung dieser Unsterblichkeit mag verändert und gar zerstört werden, doch ihre Substanz wird ewig unberührt bleiben. Die Unsterblichkeit des Dings liegt in seiner Endlichkeit, nicht in seiner Ewigkeit.[1]

Kurz vor dieser Stelle schreibt Steyerl:

1977 liefert die Punkband The Stranglers eine eindeutige Analyse der Lage, als sie das Offensichtliche formuliert: Heldentum is over. Trotzki, Lenin und Shakespeare sind tot. In diesem Jahr 1977, in dem die Linke zum Begräbnis der RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe strömt, legt das Cover eines The Stranglers-Albums seinen eigenen riesigen Kranz aus roten Nelken nieder und verkündet: KEINE HELDEN MEHR. Nie wieder.[2]

In der klassischen Tradition gehörte der Held in das Reich der Epik, nicht in das der Tragödie oder Lyrik. Der Held war jemand, der sich die Natur zu Diensten machte und mit reiner Willenskraft und größtem Mut über die historischen Ereignisse herrschte. Er gründete Städte und schlug die dämonischen Mächte des Chaos zurück. Dieses Bild findet sich noch in der Renaissance, und so lässt sich auch Machiavellis Prinz als der Held des modernen politischen Narrativs lesen: als der Mensch, der den Nationalstaat errichtet, die industrielle Infrastruktur schafft und einer gemeinschaftlichen Identität Form verleiht.

Diese epische Gestalt des Heldentums verschwand gegen Ende der Moderne, als die Komplexität und das Tempo der menschlichen Entwicklungsgeschichte die reine Willenskraft überforderten. Als das Chaos überwog, wurde das epische Heldentum durch riesige Simulationsmaschinen ersetzt. Der Raum des epischen Diskurses wurde von Semio-Konzernen in Beschlag genommen und von Apparaten, die der Ausstrahlung weit verbreiteter Illusionen dienten. Diese Simulationsspiele nahmen häufig die Form kultureller Identitäten an, beispielsweise in populären Subkulturen wie Rock, Punk, der Netzkultur und so weiter. Hier nimmt die spätmoderne Form der Tragödie ihren Ursprung: nämlich an der Schwelle, an der wir die Illusion mit der Realität verwechseln und die Identität für eine wirklich authentische Form der Zugehörigkeit halten. Dieses Missverständnis wird oft von einem eklatanten Mangel an Ironie begleitet, insbesondere wenn der Mensch auf die ununterbrochene Deterritorialisierung unserer Zeit reagiert, indem er sein enormes Verlangen nach einer wirklichen Zugehörigkeit durch Morde, Selbstmorde, Fanatismus, verschiedenste Aggressionen und Kriege auslebt.

Ich glaube, dass der simulierte Held der Subkultur allein durch Ironie und ein bewusstes Verständnis dieser Simulation im Herzen des heroischen Spiels noch einmal eine Chance erhält, sich selbst zu retten.

4

Im Jahr 1977 gelangte die Geschichte der Menschheit an einen Wendepunkt. Die Helden starben oder, besser gesagt: Sie verschwanden. Dabei wurden sie nicht etwa von den Feinden des Heldentums getötet, sondern erreichten eine ganz andere Dimension: Sie lösten sich auf, verwandelten sich in Geister. Nachdem die Menschheit von Pseudohelden aus einer trügerischen elektromagnetischen Substanz getäuscht worden war, verlor sie nun ihren Glauben an die Wirklichkeit und an die Freuden des Lebens und glaubte von nun an nur noch an die unendliche Proliferation der Bilder. 1977 war das Jahr, in dem die Helden zu verblassen begannen und schließlich aus der Welt des physischen Lebens und der historischen Leidenschaften in die Welt der visuellen Simulation und sinnlichen Stimulation weiterzogen. Dieses Jahr 1977 markierte einen dramatischen Einschnitt: Aus dem Zeitalter der menschlichen Evolution trat die Welt in das Zeitalter der De-Evolution oder Dezivilisation über.

Was die menschliche Arbeit und die gesellschaftliche Solidarität in den modernen Jahrhunderten produziert hatten, fiel nach und nach dem räuberischen, vom Finanzwesen eingeleiteten Entrealisierungsprozess zum Opfer. Die konfliktreiche Allianz zwischen tüchtigen Bürgern einerseits und Industriearbeitern andererseits – die, als materielles Vermächtnis der Moderne, das öffentliche Schulwesen, das Gesundheits- und Transportwesen sowie das allgemeine Sozialwesen hinterlassen hatte – wurde den religiösen Dogmen des Markt-Gottes geopfert.

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nahm der postbürgerliche Niedergang die Gestalt eines finanziellen schwarzen Loches an. Dieses neue System verschlang von nun an all das, was mit enormem Fleiß und mit kollektiver Intelligenz in den beiden Jahrhunderten zuvor geschaffen worden war, und verwandelte die konkrete Realität der sozialen Zivilisation in Abstraktionen: Ziffernkolonnen, Algorithmen, mathematischen Ingrimm und die Akkumulation des Nichts in Geldform. Die verführerische Kraft der Simulation verwandelte physische Formen in verblassende Abbilder, unterwarf die bildende Kunst der Verbreitung von Spam und lieferte die Sprache der verlogenen Herrschaft der Werbung aus. Ganz am Ende dieses Prozesses verschwand das Leben im schwarzen Loch der finanziellen Akkumulation.

Nun ist die Frage, was eigentlich geblieben ist von der menschlichen Subjektivität, von unserem Empfindungsvermögen, von unserer Vorstellungsfähigkeit, von unserer Schaffens- und Erfindungsgabe. Werden die Menschen sich aus diesem schwarzen Loch wieder herausarbeiten können und ihre Energien in neue Formen der Solidarität und der gegenseitigen Unterstützung investieren? Die Sensibilität einer ganzen Generation, die mehr Worte von Maschinen als von ihren Eltern gelernt hat, scheint nicht länger in der Lage zu sein, solche Fähigkeiten wie Solidarität, Empathie und Autonomie zu entwickeln. Die Geschichte ist durch die endlos strömende Rekombination fragmentierter Bilder ersetzt worden. Beliebige Rekombinationen fieberhafter prekärer Aktivität haben das politische Bewusstsein und die politische Strategie verdrängt. Ich weiß wirklich nicht, ob es jenseits dieses schwarzen Lochs noch Hoffnung gibt; ob es jenseits der uns unmittelbar bevorstehenden Zukunft noch eine Zukunft gibt.

»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«[3], schrieb mit Hölderlin jener Dichter, den Heidegger am meisten liebte. Heidegger, der Philosoph, der die bevorstehende Zerstörung der Zukunft vorhersah. Heute stehen wir vor der Aufgabe, die Karte einer Ödnis zu entwerfen, in der alle gesellschaftliche Vorstellungskraft zum Versiegen gebracht und dem rekombinanten Imaginären der Konzerne unterworfen worden ist. Allein mit dieser Karte können wir nach einer ganz neuen Art des Handelns suchen, das, indem es die Kunst, die Politik und die Therapie durch die prozesshafte Reaktivierung des Empfindungsvermögens ersetzt, der Menschheit vielleicht dabei helfen kann, sich selbst wiederzuerkennen.