Joachim Scholtyseck
FREUDENBERG
Ein Familienunternehmen in Kaiserreich,
Demokratie und Diktatur
C.H.Beck
Das traditionsreiche Familienunternehmen Freudenberg, zu dem so bekannte Marken wie Vileda gehören, zählt zu den größten deutschen Industrieunternehmen. Die 497 Gesellschaften der Freudenberg Gruppe sind an 170 Produktionsstandorten in weltweit 57 Ländern tätig. Joachim Scholtyseck legt nun die erste wissenschaftlich unabhängige Geschichte dieses «hidden champion» der deutschen Industrie vor, die von den Anfängen bis ins Jahr 1949 reicht.
Das 1849 gegründete Unternehmen war einst der größte Lederhersteller Europas. In der Weimarer Republik weitete die Firma angesichts der wirtschaftlichen und strukturellen Krisen ihre Geschäfte mit Erfolg auf das Feld der Dichtungstechnik und ab Mitte der 1930er Jahre auch der «Lederersatzstoffe» aus. Die Freudenbergs dachten politisch liberal und lehnten den Nationalsozialismus ab. Dennoch kamen sie in den Jahren des «Dritten Reiches» ihren Geschäftsidealen immer weniger nach und spielten sowohl bei «Arisierungen» als auch bei der Planung und der Nutzung von Testergebnissen auf der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen eine Rolle. Daher lässt sich anhand der Geschichte des Unternehmens auch zeigen, warum sich selbst ehrliche Kaufleute wie die Freudenbergs im «Dritten Reich» die verwerflichen und verbrecherischen Rahmenbedingungen der nationalsozialistischen Politik für ihren Geschäftserfolg zu Nutze machten.
Joachim Scholtyseck ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler (1999), (zus. mit Eva Madelung) Heldenkinder, Verräterkinder (2007), Der Aufstieg der Quandts (2. Auflage 2011).
Einleitung
Kapitel 1: Eine wirtschaftsbürgerliche Lebenswelt im Kaiserreich: Anfänge und Entwicklungen des Unternehmens Freudenberg bis zum Ersten Weltkrieg
Anfänge des Unternehmens
Das Unternehmen in der Kaiserzeit
Carl Freudenberg als Familienunternehmen
Ein badischer Patriarch:Hermann Ernst Freudenberg
Der Erste Weltkrieg
Kapitel 2: Das Unternehmen Freudenberg nach 1918: Revolution, Hyperinflation und Scheinblüte
Das Ende des Krieges und der Übergang zur Friedenswirtschaft
Wirtschaftliche Aufholjagd im Zeichen der Inflation
Eine Scheinblüte
Struktureller Wandel und Weltwirtschaftskrise: Vorboten des Überlebenskampfs der deutschen Lederindustrie
Kapitel 3: Unternehmer und Politik: Richard und Walter Freudenberg in der Weimarer Republik
Dem politischen Liberalismus verpflichtet
Verteidiger des Bürgertums und der Demokratie
Kapitel 4: Die Familie Freudenberg und der Nationalsozialismus
Unternehmer zwischen Pragmatismus und Opportunismus
Nähe und Distanz zum «Dritten Reich» in der Familie Freudenberg
Der Nationalsozialismus in Weinheim
Kapitel 5: Betriebsorganisation und Belegschaft: Kontinuität oder Wandel?
Das Eindringen der Nationalsozialisten in den Betrieb
Der Betriebsalltag
Kapitel 6: Von Tack bis Kern: «Arisierungen» bei Carl Freudenberg
«Arisierungen» in Deutschland
Eine frühe «Arisierung»: Die Übernahme der Conrad Tack & Cie. AG im Jahr 1933
Die Übernahmeverhandlungen und die Einigung mit den Tack-Eigentümern 1933
Das Schicksal Hermann Krojankers
Guter Wille oder gutes Geschäft? – Die Ambivalenz einer «freundlichen Arisierung»
Die Entwicklung von Tack unter Freudenberg
Bottina und Leiser
Die «Arisierung» der Lederwerke Sigmund Hirsch
Zunehmende Routine: Weitere «Arisierungen» und «Arisierungs»-Überlegungen in Deutschland
Restitutionsverhandlungen und -vergleiche
Kapitel 7: Der Weg zur Kommanditgesellschaft
Kapitel 8: Das Leder als Auslaufmodell?
Die Autarkiepolitik und ihre Folgen
Die Entwicklung des Ledergeschäfts
Der Erwerb der Gustav Hoffmann AG
Kapitel 9: Auf dem Weg in eine diversifizierte industrielle Zukunft: Vom Simmerring zur Nora-Sohle
Verwissenschaftlichung und Diversifizierung
Der Simmerring
Neue Werkstoffe
Die Nora-Sohle
Lederfaserwerkstoffe
Synthetisches Gummi oder Lederfaserwerkstoffe?
Verbandsstreitigkeiten
Die «Gemeinschaft Schuhe»
Kapitel 10: Österreich und Sudetenland: Beteiligungsversuche der Firma Freudenberg im Zuge der deutschen Expansion
Die gescheiterte Übernahme der Del-Ka in Österreich
Die Schuhfabrik Langfelder
Erfolglose Sondierungen im Sudetenland, in der annek-tierten Tschechoslowakei und im besetzten Polen
Die Naturin AG in Prag
Kapitel 11: Aufträge im Zeichen von Aufrüstung und Krieg: Die Werke Schopfheim, Schriesheim und das Simmerwerk
Kapitel 12: Walter Freudenberg im Dienst der Wehrmacht
Die deutsche Herrschaft über die polnische Industrie
Im Dienste des Beauftragten für die Rohstofferfassung
Kapitel 13: Expansion, «Arisierungsversuche» und «Arisierungen» in den besetzten Niederlanden und Frankreich
Die Grundzüge der deutschen Expansionsstrategie im Westen
Ein gescheiterter «Arisierungsversuch» in den Niederlanden
Der Fall Chromex
Ein französischer Tack-Konzern? Der Beteiligungsversuch an den Chaussures André
Verantwortlichkeit und Motive in Frankreich
Kapitel 14: Der kollektive Parteibeitritt der Führungsriege im Jahr 1943
Kapitel 15: Die «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen
Grundbedingungen und Planungen
Eine Prüfstrecke für die deutsche Schuhindustrie
Die Organisation der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen
Arbeits- und Lebensbedingungen der «Schuhläufer»
Freudenberg-Experten bei der «Schuhprüfstrecke»
Verantwortlichkeit und Motive
Kapitel 16: Zwangsarbeit bei Freudenberg
Der Zwangsarbeitereinsatz im «Dritten Reich»: Ein kurzer Überblick
Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in den Freudenberg-Betrieben
Der Zwangsarbeitereinsatz und die Unternehmensleitung
Kapitel 17: Vorbereitungen auf die Zeit nach Hitler: Das Unternehmen Freudenberg im Angesicht der Niederlage
Kontakte ins Ausland
Neuordnung des Wirtschaftsraums und Teilevakuierungen: Die Versuche, den Betrieb zu retten
Carl Freudenberg und die letzten Kriegsmonate in Weinheim
Kapitel 18: Die juristische Aufarbeitung: Ermittlungen, Haft und Spruchkammerverfahren
Harte Bestrafung oder pragmatisches Vorgehen? – Die amerikanische Debatte über den Umgang mit der deutschen Wirtschaft
Im Visier der Justiz
Richard Freudenberg in Haft
Verfahren oder Freiheit?
Die Entnazifizierung
Kapitel 19: Neubeginn und Restrukturierungen
Neuanfang mit bewährten Kräften
Eine Zeit des Übergangs – Freudenberg in der Nachkriegszeit
Richard Freudenbergs Rückkehr in die Politik
Fazit
Nachwort und Dank
Anhang
Abkürzungen
Anmerkungen
Einleitung
Kapitel 1: Eine wirtschaftsbürgerliche Lebenswelt im Kaiserreich: Anfänge und Entwicklungen des Unternehmens Freudenberg bis zum Ersten Weltkrieg
Kapitel 2: Das Unternehmen Freudenberg nach 1918: Revolution, Hyperinflation und Scheinblüte
Kapitel 3: Unternehmer und Politik: Richard und Walter Freudenberg in der Weimarer Republik
Kapitel 4: Die Familie Freudenberg und der Nationalsozialismus
Kapitel 5: Betriebsorganisation und Belegschaft: Kontinuität oder Wandel?
Kapitel 6: Von Tack bis Kern: «Arisierungen» bei Carl Freudenberg
Kapitel 7: Der Weg zur Kommanditgesellschaft
Kapitel 8: Das Leder als Auslaufmodell?
Kapitel 9: Auf dem Weg in eine diversifizierte industrielle Zukunft: Vom Simmerring zur Nora-Sohle
Kapitel 10: Österreich und Sudetenland: Beteiligungsversuche der Firma Freudenberg im Zuge der deutschen Expansion
Kapitel 11: Aufträge im Zeichen von Aufrüstung und Krieg: Die Werke Schopfheim, Schriesheim und das Simmerwerk
Kapitel 12: Walter Freudenberg im Dienst der Wehrmacht
Kapitel 13: Expansion, «Arisierungsversuche» und «Arisierungen» in den besetzten Niederlanden und Frankreich
Kapitel 14: Der kollektive Parteibeitritt der Führungsriege im Jahr 1943
Kapitel 15: Die «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen
Kapitel 16: Zwangsarbeit bei Freudenberg
Kapitel 17: Vorbereitungen auf die Zeit nach Hitler: Das Unternehmen Freudenberg im Angesicht der Niederlage
Kapitel 18: Die juristische Aufarbeitung: Ermittlungen, Haft und Spruchkammerverfahren
Kapitel 19: Neubeginn und Restrukturierungen
Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archivquellen
Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen (AS)
Archiv des Liberalismus, Gummersbach (AdL)
Archives Nationales Paris (AN Paris)
Bauhaus-Archiv, Berlin
Bundesarchiv Berlin (BArch)
Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA)
Center for Jewish History, New York (CJH)
Centre des archives du monde du travail, Roubaix (CAMT)
Commerzbank/Dresdner Bank Archiv (Frankfurt am Main) (CBA)
Deutsche Bank Archiv, Frankfurt am Main (DBA)
Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin (WASt)
Entschädigungsbehörde Berlin (EBB)
Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK)
Industrie- und Handelskammer Wiesbaden (IHK)
KZ-Gedenkstätte Dachau
Landesarchiv Berlin (LA Berlin)
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (LA NRW)
Mährisches Landesarchiv Brno – Zlín (MLBZ)
Memorial de la Shoah, Paris
National Archives, London (NA London)
National Archives, Washington D. C. (NA Washington)
Österreichisches Staatsarchiv, Wien (ÖSTA)
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA)
Robert Bosch Archiv, Stuttgart (RBA)
Schweizerisches Bundesarchiv, Bern (BAR)
Staatsarchiv Hamburg (STA Hamburg)
Staatsarchiv Ludwigsburg (STA Ludwigsburg)
Staatsarchiv Nürnberg (STA Nürnberg)
Staatsarchiv Münster (STA Münster)
Stadtarchiv Augsburg (StA Augsburg)
Stadtarchiv Schopfheim (StA Schopfheim)
Stadtarchiv Staufen (StA Staufen)
Stadtarchiv Weinheim (StA Weinheim)
Stadtarchiv Worms (StA Worms)
Stadt- und Landesarchiv Wien (WStLA)
Stiftung Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart (STHH)
Unternehmensarchiv Freudenberg & Co., Weinheim (UA)
Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart-Hohenheim (WA Baden-Württemberg)
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Firmenregister
Die Geschehnisse, die in diesem Buch dargestellt und analysiert werden, muten wie Angelegenheiten aus einer lange versunkenen Welt an: Es geht um Leder und seine Verarbeitung, ein Handwerk, das heute in Deutschland so gut wie ausgestorben ist. Das 1849 gegründete Unternehmen Carl Freudenberg mit Sitz in Weinheim an der Bergstraße, mit dessen Geschichte sich diese Studie auseinandersetzt, gibt es hingegen noch immer. Die Freudenberg Gruppe gehört unter Einbeziehung ihrer Gemeinschaftsunternehmen mit einem Jahresumsatz von über sieben Milliarden Euro zu den größten deutschen Industrieunternehmen und beschäftigt weltweit rund 40.000 Mitarbeiter. Sie zählt, weil sie in der Öffentlichkeit unter ihrem Namen wenig geläufig ist, zu den «hidden champions». Das Ursprungsprodukt Leder und das Handwerk des Gerbens, mit dem die heutige Unternehmensgruppe Freudenberg ihren Aufstieg erlebte, spielen allerdings keine Rolle mehr: Vor mehr als zehn Jahren wurden die letzten Leder aus der Produktion genommen. Heute ist das Familienunternehmen auf Produkte spezialisiert, die im Wesentlichen erst nach 1945 entwickelt und vermarktet wurden. Am bekanntesten sind wahrscheinlich die Artikel aus dem Geschäftsfeld Vliesstoffe und Filtration: Vileda-Wischtücher, die untrennbar mit der Wirtschaftswunderzeit verbunden sind, stellen auch heute noch einen wichtigen Umsatzgaranten dar. Mindestens ebenso bedeutend sind jedoch andere Erzeugnisse, vor allem aus dem Bereich der Dichtungs- und Schwingungstechnik. Freudenberg ist als Mischkonzern ein «global player» und wichtiger Zulieferer für die internationale Auto- und Maschinenindustrie. Selbst wenn man sich dessen nicht bewusst ist, sind viele unserer Alltagsprodukte, erst recht die Maschinenparks der deutschen Industrie, mit Spezialprodukten bestückt, die aus dem Freudenberg-Stammwerk in Weinheim oder von einer der 497 Gesellschaften der Freudenberg Gruppe an 170 Produktionsstandorten in weltweit 57 Ländern stammen bzw. von ihnen vertrieben werden.
Dass ein Großunternehmen wie Freudenberg mit seiner fast 170-jährigen Geschichte im Zentrum einer ihm gewidmeten Studie steht, ist an und für sich nicht ungewöhnlich. Zahlreiche deutsche Traditionsunternehmen sind in den letzten zwanzig Jahren dazu übergegangen, ihre Geschichte nicht mehr, wie das lange Zeit üblich war, aus der Binnensicht mit einer «Festschrift» darzustellen, sondern auf eine breitere Quellenbasis gestützt wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Mittelständische familiengeführte Unternehmen aus dem ländlichen Raum, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland noch die meisten industriellen Arbeitsplätze stellten, sind freilich bis heute unterrepräsentiert.[1] Das erstaunt umso mehr, als es – zumindest in Deutschland – inzwischen üblich geworden ist, auch die Schattenseiten unternehmerischer Entwicklungen herauszuarbeiten und die Fragen nach individueller Verantwortung zu stellen und zu beantworten. Firmen sind, je länger das «Dritte Reich» der Vergangenheit angehört, im Rahmen einer auch öffentlich geforderten Transparenz eher bereit, sich dem kritischen Blick eines Historikers zu stellen.
Abb. 1 Ansicht von Weinheim nach einem Gemälde von A.E.Kirchner aus dem Jahre 1857. In der linken Bildmitte sind, zum Teil von Bäumen verdeckt, die Gebäude der im Jahre 1852 erbauten Lackierfabrik zu sehen.
Im Fall Freudenberg gab ein besonderer Anlass den Ausschlag für die Veröffentlichung. Im Jahr 2010erschien eine über tausend Seiten starke Studie aus der Feder von Anne Sudrow, die sich auf solider Aktengrundlage mit dem nur scheinbar trockenen Thema «Der Schuh im Nationalsozialismus» beschäftigte.[2] Sudrow hatte in den 1980er-Jahren in Großbritannien eine Schuhmacherlehre absolviert und erstaunt festgestellt, wie hoch das Ansehen des deutschen Schuh- und Lederhandwerks in England immer noch war, obwohl der Strukturwandel inzwischen längst den Niedergang dieser Branche mit sich gebracht hatte. In ihrer Dissertation veröffentlichte sie Befunde, die kein gutes Licht auf die Schuhhersteller im «Dritten Reich» warfen: Im Zuge der Forschungen zu «Ersatzstoffen» für Leder war im Jahr 1940 im KZ Sachsenhausen eine «Schuhprüfstrecke» eingerichtet worden, auf der über 70 Unternehmen unter anderem Schuhsohlen hatten testen lassen. Häftlinge eines Strafkommandos hatten unter brutalen Bedingungen mit dem zu prüfenden Material ihre Runden drehen müssen; viele von ihnen hatten diese Strapazen nicht überlebt.
Die meisten dieser Unternehmen gibt es heute nicht mehr, weil sie, ähnlich wie viele Firmen etwa der deutschen Textilindustrie, entweder nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Tore schlossen oder im Zuge des Strukturwandels und der Globalisierung den Anschluss verloren und in Konkurs gingen. Nur eine überschaubare Zahl der Firmen der Schuhbranche existiert weiterhin und spielt, teilweise aufgekauft oder in andere Unternehmen integriert, heute noch eine Rolle. Zu ihnen zählt, neben Salamander, Continental, Fagus-GreCon, Bata und den Westland Gummiwerken auch die heutige Unternehmensgruppe Freudenberg.
Die dunklen Seiten der Unternehmensgeschichte waren bis zu Sudrows Studie verdrängt worden und in Vergessenheit geraten. Im Freudenberg-Unternehmensarchiv finden sich so gut wie keine Hinweise auf die Beteiligung an der «Schuhprüfstrecke». Erst das Buch von Sudrow machte das familiengeführte Unternehmen wieder auf die langen Schatten dieser Vergangenheit aufmerksam. Es entschied sich daher im Jahr 2012 dafür, seine Geschichte unabhängig und auf wissenschaftlicher Grundlage erforschen zu lassen. Wie inzwischen als Standard etabliert, wurde der unbeschränkte Aktenzugang im Familien- und Unternehmensarchiv ebenso zugesagt und vereinbart wie der Verzicht auf jeglichen inhaltlichen Eingriff in Manuskript und Buch. Die Finanzierung erfolgte über ein Drittmittelprojekt an der Universität Bonn.
Nachgezeichnet wird die Zeit von der Unternehmensgründung im Jahr 1849 bis zum beginnenden bundesrepublikanischen «Wirtschaftswunder». Wie in vielen anderen Unternehmensgeschichten spielen die politischen Epochengrenzen auch bei Carl Freudenberg eine geringere Rolle, als man annehmen könnte. Aus pragmatischen Gründen folgt aber auch diese Studie im Wesentlichen den klassischen Zäsuren der Jahre 1914, 1918, 1933 und 1945. Die politische Geschichte wird dabei mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verbunden, ebenso werden die Ansätze der Kulturgeschichte und der Neuen Institutionenökonomik verwandt, wenn etwa nach den Mustern von Bildung, Karriereverläufen, Generationserfahrungen und -prägungen sowie Werten und Einstellungen gefragt wird.
Die Frage, in welchem Ausmaß die Unternehmer die Herrschaft Hitlers begünstigten und sich an den verbrecherischen Ausbeutungsprozessen beteiligten, steht im Kern vieler Untersuchungen zu Firmen in der NS-Zeit. Die überwiegend exkulpatorischen Erzählstrategien der Privatwirtschaft nach 1945, in denen die Unternehmer in der Regel als unschuldige Opfer des NS-Regimes erschienen, sind durch die Forschung mittlerweile stark relativiert worden. Aber auch die simple These einer Komplizenschaft der Unternehmer gilt als falsifiziert. Demgegenüber überwiegt die auf den ersten Blick banale Feststellung, die deutsche Industrie sei weder unschuldig noch hauptverantwortlich für den Nationalsozialismus gewesen. Unter dem unbestrittenen Primat der Politik blieben die Beziehungen zwischen Industrie und Staat durch komplementäre Interessen geprägt. Die Unternehmen interpretierten die Wünsche, Erwartungen und Forderungen des Regimes im Sinn ihrer wirtschaftlichen Eigenlogik und weniger der NS-Ideologie. Sie handelten in der Regel zweckrational und opportunistisch. Mehr oder weniger bereitwillig erfüllten sie ihre «Pflichten» im Rahmen des Autarkieprogramms und transformierten die staatlichen Vorgaben «in eigene Entscheidungsprogramme, waren aber keineswegs die Urheber der Rüstungs- und Kriegswirtschaft».[3] Unternehmerische Defizite, Versäumnisse und Verbrechen der «Profiteure des Unrechts»[4] lassen sich für die NS-Zeit vergleichsweise leicht herausarbeiten. Zu den am schwierigsten zu beantwortenden Fragen gehört in der neueren Unternehmensgeschichte hingegen diejenige nach den Handlungsspielräumen und der individuellen Verantwortung.[5] Weitgehend ungeklärt ist, warum Unternehmer, die einem Milieu angehörten, in dem zumindest in der Selbstbeschreibung «Tugenden wie Initiative, Wagemut und Freiheit vorwalten», sich mit dem Regime offenbar besser zu arrangieren verstanden als manche Repräsentanten von Organisationen wie der Wehrmacht, wo «Gehorsam das leitende Karriereprinzip» darstellte.[6] Der Buchtitel «Freudenberg – Ein Familienunternehmen in Kaiserreich, Demokratie und Diktatur» soll zugleich verdeutlichen, dass die «Spannung» zwischen liberalem Unternehmertum und den erheblichen «Anpassungsleistungen» an das NS-Regime in den Jahren zwischen 1933 und 1945 durchgehend erkennbar – und erklärungsbedürftig – ist.
Wer sich für die Geschichte von Unternehmen interessiert, muss die vorhandenen Methoden und Ansätze kennen, sollte diese aber nicht exklusiv dafür nutzen, die Historie eines spezifischen Unternehmens in das Prokrustesbett von Theorien einzuspannen. Abstrakte Erklärungsmuster über einen «allgemeinen Wirtschaftsmenschen»[7] helfen gerade für die Zeit des Nationalsozialismus mit ihrem spezifischen Droh- und Gewaltpotenzial nicht weiter, denn diese Konzepte ermöglichen keine allgemeingültige Aussage darüber, «wie individuelle Bewusstseinsoperationen von Moment zu Moment tatsächlich ablaufen».[8] Unternehmerische Entscheidungsprozesse der Jahre von 1933 bis 1945 können nicht allein mit Geschäftsberichten, Bilanzen und statistisch-quantifizierendem Material, geschweige denn ökonometrischen Methoden erschöpfend erklärt werden, zumal der Faktor «Macht», der in totalitären Regimen eine zentrale Rolle spielt, immer berücksichtigt werden muss.[9] Mit anderen Worten: Die Aporien, die auf vielen Seiten der Unternehmensgeschichte von Carl Freudenberg auftauchen, lassen sich nicht allein durch die Erkundung ökonomischer Eigenlogiken verstehen. Die «empirische Vielfalt und Widersprüchlichkeit gelebten Lebens»[10] lässt sich nicht herausrechnen.
Für das Verständnis der Geschichte des Unternehmens Carl Freudenberg in der NS-Zeit ist der Blick auf die Anfänge im 19. Jahrhundert notwendig. Viele Entwicklungen im 20. Jahrhundert bleiben unverständlich, wenn man nicht auf die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen der Region eingeht, die zur Genese der Firma gehören. Die Spezifika Südwestdeutschlands bieten ein Paradebeispiel für die Entstehungsbedingungen eines im liberalen badischen Milieu prosperierenden Unternehmens mit patriarchalischen Grundzügen: Eher dem Großherzog in Karlsruhe als dem preußisch-deutschen Kaiser verpflichtet, wuchs ein Unternehmen heran, das schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf allen fünf Kontinenten als Exporteur von gegerbtem Oberleder tätig war, und, von den Konkurrenten zugleich bewundert und gefürchtet, zur Crème de la Crème des europäischen Gerberhandwerks zählte. Der kontinuierliche Aufstieg wurde erst durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges abrupt unterbrochen. Die folgenden Jahrzehnte stellten zwar keine Degenerationsgeschichte dar, waren aber durch Dauerkrisen gekennzeichnet. Der Export, der vor 1914 fast drei Viertel des Geschäfts ausgemacht hatte, kam nur mühsam wieder in Gang. Seit den späten 1920er-Jahren und schließlich verstärkt durch die Weltwirtschaftskrise war den Führungspersönlichkeiten von Carl Freudenberg bewusst, dass sie sich nicht länger auf das Ledergeschäft allein würden stützen können. Die Konsequenz war die «vertikale» Expansion, mit der man von der Gerbung bis zum fertigen Schuhwerk sowie dem Vertrieb und Verkauf in Filialgeschäften alles in einer Hand hatte, noch mehr jedoch die ebenso kluge wie nüchterne Entscheidung, das Produktportfolio zu diversifizieren. Dieser Entschluss erklärt wesentlich, warum das Unternehmen auch im «Dritten Reich» gute Gewinne machte und warum es die Gruppe Freudenberg als familiengeführtes Unternehmen heute noch gibt; er bietet aber gleichzeitig einen Schlüssel, warum die Firma einer der wichtigsten Akteure bei der Beteiligung an der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen wurde.
Daher liegt ein Schwerpunkt auch der vorliegenden Studie auf den Jahren des «Dritten Reiches» und des Zweiten Weltkrieges. Trotz mancher Drohgebärden musste das Regime nur bei wenigen Firmen Zwang anwenden.[11] Der Versuch der wenigen liberal geprägten Unternehmerpersönlichkeiten, die Hitler nichts abgewinnen konnten und in ihrem Herzen Demokraten blieben, sich nämlich gleichsam zu immunisieren, Abstand zur NSDAP zu halten, gar den Weg des Widerstands zu gehen, scheiterte schließlich, wenn man einmal von einer Ausnahmeerscheinung wie dem schwäbischen Industriellen Robert Bosch absieht.[12] Die Frage nach den Ursachen dafür, warum sich auch die Firma Carl Freudenberg und ihre Leitung weitgehend reibungslos in die Politik der «Arisierungen», der Rüstungs- und Zwangsarbeit sowie der Kollaboration auf der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen einbinden ließen, steht im Zentrum der Arbeit. Sollte die – theoretisch mögliche – Schwächung des Familienunternehmens verhindert werden? Fürchtete man in Weinheim, gegenüber denjenigen Konkurrenten zu kurz zu kommen, die sich dem Regime bereits angedient hatten? Wie reagierte man auf den Widerspruch zwischen der «politisch gesetzte[n] und sanktionierte[n] Rechtsmoral» einerseits und der «Common-Sense-Moral» andererseits?[13] Um das Rätsel zu lösen, warum selbst überzeugte Demokraten, die den Staat von Weimar bis zu seinem Untergang standhaft verteidigt hatten, ihre Bedenken offenbar fallen ließen oder zurückstellten, sollen die einschlägigen Quellen befragt werden. Die Motive für die jeweils ganz unterschiedlichen «Arisierungen», «Arisierungsversuche» und Kapitalbeteiligungen in Deutschland und im besetzten Ausland werden ebenso dargestellt wie Umfang und Charakter der Zwangsarbeit. Die Schilderung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen sowie der Fremd- und Zwangsarbeiter in Weinheim und weiteren Freudenberg-Werken soll eine Antwort auf die Frage nach den Motiven und Verantwortlichkeiten ermöglichen. Dies gilt erst recht für die Errichtung der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen. Hier sollen die Arbeits- und Lebensbedingungen der «Schuhläufer» dargestellt und die Aufgaben der Freudenberg-Experten auf der «Schuhprüfstrecke» untersucht werden. Schließlich soll nach der Verantwortlichkeit und den Motiven der Unternehmensleitung von Carl Freudenberg für die Beteiligung an den Schuhprüfverfahren gefragt werden. Ebenso werden die Strategien der Firma in der letzten Phase des Krieges verfolgt, als es in erster Linie darum ging, den bevorstehenden Untergang des «Dritten Reiches» zu überleben. Das Kriegsende 1945 wiederum bedeutete ja keineswegs eine «Stunde Null». Daher stellen die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen durch die Alliierten und die Entnazifizierung eine Möglichkeit dar, den Umgang mit dem fatalen Erbe des NS-Regimes bei Carl Freudenberg zu analysieren. Die Rekonstruktion des Geschäftsgebarens des Unternehmens nach 1945 ermöglicht zudem einen Blick auf die Frage nach Kontinuität und Brüchen in den Jahren vor dem «Wirtschaftswunder».
Unternehmensgeschichten lassen sich nicht ohne den Blick auf die handelnden Unternehmer schreiben. Sie sind letztlich die relevanten Entscheider, und bei Carl Freudenberg war und ist dies nicht anders. Daher werden in der Studie zwei unterschiedliche Themenkreise miteinander in Beziehung gesetzt: das in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Familienunternehmen sowie die gesellschaftlich-politischen Zielvorstellungen der Freudenberg-Protagonisten. Einige Persönlichkeiten fallen durch ihren Tatendrang allerdings besonders auf. Hierzu zählt in der Frühzeit vor allem Hermann Ernst Freudenberg, der bis zu seinem Tod im Jahr 1923 als typischer Patriarch eine bestimmende Rolle spielte. In der nachfolgenden Generation waren die Entscheidungen auf mehrere Schultern verteilt, und vier Protagonisten kam in den Jahren der Weimarer Republik und des «Dritten Reiches» die Verantwortung für die Geschicke der Firma zu. Joseph A. Schumpeters Modell dynamischer und schöpferischer Unternehmer, die zwar keine neuen Technologien schaffen, das Vorhandene aber weiterentwickeln und innovativ anwenden, erscheint für diese Freudenberg-Generation charakteristisch:[14] Walter Freudenberg und seine Vettern Hans, Otto und Richard Freudenberg spielten, um im Schumpeterschen Bild zu bleiben, als «Heroen der Zeit»[15] unbestritten die Hauptrollen und schufen mit einer vorausschauenden Diversifizierungsstrategie seit dem Ende der 1920er-Jahre die Grundlagen für die langfristige Prosperität ihres Unternehmens. Obwohl ihre Entscheidungen im Wesentlichen einvernehmlich getroffen wurden, war Richard Freudenberg für die meisten Fragen, die im Zentrum stehen, eine wesentliche Schaltstelle. Insofern hat die vorliegende Studie zugleich einen kollektivbiografischen Charakter. Auch den führenden Mitarbeitern wird gebührend Platz eingeräumt, um eine befriedigende Analyse der unternehmerischen Entscheidungsprozesse bei Carl Freudenberg zu leisten. Daher wird auf die spätestens seit den 1920er-Jahren verstärkt zum Einsatz kommenden außerfamiliären Fachleute, Chemiker und Ingenieure wie Carl Ludwig Nottebohm und Walther Simmer sowie ihre wissenschaftlichen Netzwerke eingegangen.
Die Perspektive «von oben» wird ergänzt durch den Blick auf die Arbeits- und Lohnstrukturen, die Betriebs- und Sozialpolitik, das Verhältnis zwischen Management, Angestellten und Arbeitern, also die «Mikropolitik im Unternehmen».[16] Die Eigentümer des Familienunternehmens sind dabei sicherlich nicht einfach mit der Firma Carl Freudenberg gleichzusetzen. Denn man kann auch die Bedeutung der Unternehmensleitungen überschätzen, etwa dann, wenn man strikt an der Vorstellung festhält, es handle sich stets um «rationale Entscheidungsprozesse einer Gruppe weit blickender Männer, die das Richtige zur richtigen Zeit tun».[17] Die neuere Unternehmensgeschichte berücksichtigt dies, indem sie nicht nur die Persönlichkeiten betrachtet, sondern auf einer überindividuellen Analyseebene das jeweilige Unternehmen als einen «quasi autonome[n] Organismus» ansieht, «der wie aus sich selbst heraus zu funktionieren scheint und dessen einziges Ziel und Lebensprinzip […] offenbar darin besteht, ein unaufhörliches Wachstum zu generieren».[18]
Wenn ein Unternehmen über politische Brüche hinweg einen langen Zeitraum überlebt und der «permanenten Bestandsbedrohung»[19] gleichsam ein Schnippchen schlägt, spielen nicht nur Können und Beharrlichkeit, sondern wahrscheinlich auch Glück eine gewisse Rolle. Um die schwierig zu beantwortenden Fragen nach Kalkül, Rationalität, Pech und Zufällen bei unternehmerischem Handeln zu beantworten, bleibt nur ein Blick in die Akten, um die Motive für die jeweiligen Entscheidungen und Entwicklungen zu finden.
Wissenschaftliche Arbeiten zu Carl Freudenberg sind Mangelware. Bedauerlicherweise hat Richard Freudenberg seine 1945 angestellte Überlegung, seinen Duzfreund Theodor Heuss, mit dem er in der Weimarer Republik parteipolitisch zusammengearbeitet hatte, mit der Abfassung einer Geschichte des Unternehmens Carl Freudenberg zu betrauen, schließlich doch nicht umgesetzt.[20] Die Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum, das 1949 anstand, stammt daher nicht von Heuss, sondern aus der Feder des Gymnasiallehrers und Historikers Dr. Hermann Pinnow (1884–1973), der 1933 wegen seiner demokratischen Einstellung von den Nationalsozialisten aus dem Schuldienst vertrieben worden war und sich seinen Lebensunterhalt durch Festschriften, unter anderem zu Dyckerhoff und einer 1938 erschienenen «Werksgeschichte» der I. G. Farben verdient hatte. Dem damaligen Usus entsprechend kamen in seinem informativen und mit zahlreichen Anekdoten angereicherten Werk, das 1953 erschien, «Arisierungen» gar nicht vor, von Zwangsarbeit war nur stark verklausuliert die Rede. Eher referierenden Charakter hatte die – immerhin ein Dutzend Seiten umfassende – Darstellung des Wirtschaftsjournalisten Kurt Pritzkoleit, die er in einem 1965 erschienenen Werk über westdeutsche «Wirtschaftslandschaften» präsentierte.[21]
Sehr viel präziser argumentierte hingegen die zum 150-jährigen Jubiläum erschienene umfassende Festschrift aus dem Jahr 1999, die zahlreiche Aspekte der Firmengeschichte beleuchtete. In mancher Hinsicht stand das Werk in der Tradition der «Festschriften», in der die Entscheidungen bedeutender, aus der Familie stammender Unternehmerpersönlichkeiten für den Aufstieg und das erklärungsbedürftige Überleben der Firma Freudenberg verantwortlich gemacht wurden.[22] Die offiziöse Firmengeschichte, die wesentlich auf der Überlieferung des Familien- und Unternehmensarchivs basierte, sparte die Zwangsarbeit und einige der «Arisierungen» zwar nicht aus, machte aber um die «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen, die in der Familienhistorie nach 1945 vollkommen ausgeblendet worden war, einen großen Bogen, wahrscheinlich auch, weil – aus welchen Gründen auch immer – zu diesem Komplex im Familien- und Unternehmensarchiv so gut wie nichts zu finden ist.[23]
Familienunternehmen sind in der Regel stärker an ihrem eigenen Herkommen und ihrer Geschichte interessiert als Unternehmen mit anderen Besitz- und Organisationsstrukturen. Dies zeigt sich meist im Aufbau und in der Pflege eines professionell geführten Archivs, und dies gilt auch für Carl Freudenberg. Das solide Quellenfundament, das im Unternehmensarchiv in Weinheim zur Verfügung steht, bot die Grundlage für die vorliegende Studie. Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass Weinheim von größeren Bombenangriffen verschont wurde und die Stadt beim Einmarsch der amerikanischen Truppen im März 1945 – ein ganz wesentliches Verdienst von Richard Freudenberg – unversehrt an die Besatzer übergeben wurde, sodass die zentralen Firmenakten erhalten sind. Dennoch sind Materialien aus 37 weiteren Archiven konsultiert und ausgewertet worden; im Bundesarchiv Koblenz und Berlin, im Militärarchiv Freiburg, in zahlreichen Landes-, Staats-, Stadtarchiven sowie Unternehmens- und Privatarchiven. Wichtige Archivstücke fanden sich auch in den National Archives (USA), den National Archives (Großbritannien) und den Archives Nationales (Frankreich).
Der niederländische Historiker Jan Romein hat kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Kunst des Biografen darin gesehen, «dass er das Allgemeine allgemein, das Individuelle individuell, das Körperliche körperlich, das Seelische seelisch, das Kleine klein und das Große groß zu sehen vermag, und also all diese Verhältnisse sauber abzuwägen und sauber zu beschreiben weiß; aber immer so, dass er im Allgemeinen zugleich das Individuelle, im Körperlichen das Seelische, im Kleinen das Große zu sehen vermag, und umgekehrt im Individuellen das Allgemeine, im Seelischen das Körperliche und im Großen das Kleine sondert und darstellt.»[24] Diesem – zugegebenermaßen hohen – Anspruch möchte die Freudenberg-Studie gerecht werden, auch wenn es sich bei ihr nicht um eine klassische Biografie handelt. Die Frage nach Handlungsspielräumen und -alternativen sowie nach der individuellen Verantwortung zieht sich daher wie ein Ariadnefaden durch die Arbeit, selbst wenn sich die politischen Grundbedingungen – Kaiserreich, Weimarer Republik, «Drittes Reich», Besatzungszeit und Bundesrepublik – wandelten. Wenn eine Auskunft darauf möglich ist, wird die Frage leichter zu beantworten sein, warum sich auch «ehrliche Kaufleute» wie die Freudenbergs im «Dritten Reich» an einer verwerflichen und verbrecherischen Politik beteiligten.
Kapitel 1
Die Anfänge der Firma Freudenberg gehen nicht auf einen alten Handwerksbetrieb, sondern auf die 1823 gegründete Mannheimer Lederhandlung Heintze & Sammet zurück, die 1829 die Erlaubnis erhielt, in der alten Gerberstadt Weinheim an der Bergstraße eine Fabrik zur Herstellung feiner Kalbleder zu errichten.[1] Zu dieser Zeit waren Ledererzeugung und -verarbeitung häufig eine Angelegenheit von Familienbetrieben, die oft seit Generationen bestanden. Die Industrialisierung setzte in dieser Branche zwar mit einer gewissen Verzögerung ein, aber in der «Übergangszeit zwischen Handwerkertum und industriellem Großbetrieb»[2] wurde das Leder mit all seinen Besonderheiten, Fehlern und Beschädigungen häufig schon mechanisch bearbeitet, sodass die Herstellung den Charakter eines «industrialisierten Lederhandwerks» hatte.[3] Carl Johann Freudenberg (1819–1898), der mit Recht als «patriarchale Gründergestalt» gilt,[4] war der zweitälteste Sohn eines Gastwirts aus Hachenburg. Nach dem Tod seines Vaters konnte die Mutter nur dem ältesten Sohn eine Ausbildung zum Lehrer ermöglichen. Als Zweitältester ging Carl Johann daher beim Unternehmen seines Onkels mütterlicherseits, Jean Baptist Sammet, in die Lehre und arbeitete dort anschließend als Angestellter weiter. Als Heintze & Sammet in Schwierigkeiten gerieten und liquidiert werden mussten, übernahm Carl Johann Freudenberg zusammen mit Heinrich Christian Heintze (1800–1862) im Jahr 1849 die Lederfabrik. Mit der Gründung der kleinen Gerberei Heintze & Freudenberg am 9. Februar 1849, die rund 50 Arbeiter beschäftigte, setzt die eigentliche Unternehmensgeschichte ein.
Ihren schnellen Erfolg verdankte die Neugründung einer Innovation. Der Gerbermeister Eduard Michel bot Heintze & Freudenberg ein Rezept zur Herstellung von Lackleder an. Die Inhaber zögerten zunächst, griffen dann aber doch zu und konnten so ein neues Produkt, das zur damaligen Zeit gerade en vogue war, auf den Markt bringen.[5] Bereits nach fünf Jahren machte Lackleder vier Fünftel der Herstellung aus und wurde in einem immer weiter perfektionierten Verfahren, das rund 75 Produktionsschritte umfasste, mit inzwischen bereits 250 Mitarbeitern weiterentwickelt. Das Verhältnis der beiden Partner gestaltete sich indessen zunehmend schwieriger, weshalb Freudenberg, ohne Heintze zu beteiligen, im nahe bei Heidelberg gelegenen Schönau im Jahr 1869 eine zweite Gerberei errichtete, deren Leitung Carl Johanns Sohn Friedrich Carl (1848–1942) übernahm; er war systematisch auf die Unternehmensnachfolge vorbereitet worden.
Im Kaiserreich von 1870/71 fielen die bislang bestehenden innerdeutschen Handelsschranken endgültig; der damit einhergehende «Gründerboom» trug dazu bei, dass Deutschland maßgeblich von der «zweiten industriellen Revolution» profitierte. Die wirtschaftliche Euphorie der «Gründerzeit» verflog zwar schnell, aber die Dynamik des zunehmenden Einsatzes von Maschinen in einer Zeit der Transformation von der handwerklichen Fertigung zur industriellen Produktion überlagerte diese politische Entwicklung. In jenen Jahren der industriellen Großfertigung, die den Übergang von der Manufaktur zur Fabrik[6] und den Wandel von der «Meisterwirtschaft» zur «Ingenieurwirtschaft» markierten,[7] zeichnete sich eine zunehmende Arbeitsteilung zwischen Fabrikation und Vertrieb ab. Großhändler, Zwischenhändler, Versandgeschäfte, Einkaufsvereinigungen und andere Grossisten bestimmten das Bild. An der Unternehmensspitze von Freudenberg wurden unterschiedliche Führungsstile gepflegt. Der Gerbermeister Eduard Michel, der als herrisch und cholerisch galt, hatte eine andere Einstellung als der Patriarch, wie sich dessen ältester Sohn Friedrich Carl Freudenberg noch Jahrzehnte später erinnerte: «Mit den Arbeitern verkehrte er wie mit Negersklaven und das trotz des Einspruchs seines Prinzipals, dessen gütigem Wesen, als eines Mannes, der in seiner Jugend die Bitterkeit der Armut selbst erfahren, jede Härte und Lieblosigkeit ganz entgegengesetzt war.»[8]
Abb. 2 Die Gerberei im Müllheimer Tal um 1880, später «Werk Müll» genannt.
Im Zuge der sogenannten Gründerkrise geriet die Firma in Schwierigkeiten. Zugleich verschlechterte sich die Qualität des Vorzeigeprodukts Lackleder. Carl Johann Freudenberg, seinem Sohn Friedrich Carl und dem zunehmend «verknöcherten» Michel fehlte das notwendige Know-how, um auf den technischen Wandel angemessen reagieren zu können.
In dieser bedrohlichen Situation rief Friedrich Carl seinen jüngsten Bruder Hermann Ernst Freudenberg (1856–1923) zu Hilfe, der seine Lehr- und Wanderjahre in den Vereinigten Staaten verbracht hatte und 1875 nach Deutschland zurückkehrte. Die Voraussetzungen für Veränderungen waren günstig: Als 1874 der Teilhaber Leopold Heintze gestorben war, hatten sich seine Hinterbliebenen ihre Einlagen auszahlen lassen.[9] Die Firma war fortan alleine im Besitz der Familie Freudenberg. Gemeinsam erreichten die beiden Brüder als Unternehmer der zweiten Generation die Ablösung des einflussreichen, aber im Grunde überforderten Gerbermeisters Michel, der der Firma in der Vergangenheit mit Krediten immer wieder unter die Arme gegriffen hatte und dessen Ausscheiden das Unternehmen deshalb kurzfristig stark belastete.
Nach Michels Abschied war der Weg für ein von Hermann Ernst entwickeltes neues Lackleder frei, dessen Qualität über jeden Zweifel erhaben war. Hermann Ernst Freudenberg wurde zum «durchsetzungsstarken Betriebsleiter».[10] Unter seiner Ägide profitierte das Unternehmen von technischen Modernisierungen, dem industriellen Aufschwung der ganzen nordbadischen Region und einem erweiterten Angebot wie etwa dem Chagrinleder, einem Leder aus der Rückenhaut der Pferde.
Abb. 3 Seit 1874 hatte die Firma ein Gerberwappen als Logo verwendet. Es bildet in einem Oval die Handwerksgeräte des Gerbers ab: ein Falzeisen zur Herstellung der gleichmäßigen Dicke des Leders; ein Fleischeisen zum Entfernen von Fleisch und Fett auf der Unterseite der Haut; ein Haareisen zum Herunterschaben der Fellhaare. Die Geräte sind von zwei Löwen flankiert, während an der Spitze eine Krone abgebildet ist – selbstbewusstes Zeichen des Führungsanspruches.
Die Gerberei in Weinheim und das Zweigwerk in Schönau beschäftigten 1887 rund 500 Mitarbeiter. Das Unternehmen gehörte inzwischen zu den führenden südwestdeutschen Lederherstellern und wurde zu einem «im Welthandel fest verankerten Faktor».[11] Den Globus umspannende Handelsbeziehungen hatten von Anfang an die Gerberei geprägt, mit einem Einkaufs- und Vertriebsnetz, das bereits seit den 1850er-Jahren von Großbritannien über Italien, Skandinavien, Spanien, das Zarenreich bis nach Brasilien reichte. 1896 wurde eine erste Haarwäscherei eingerichtet, in der die beim Enthaaren der Felle gewonnenen Haare gereinigt, nach Farben sortiert und für die Herstellung von Filz weiterverwendet wurden. Durch den Bau des Werkes «Zwischen Dämmen» wurde am Ende des 19. Jahrhunderts der wichtige Zugang zur Rheinebene geschaffen und der Bahnanschluss wesentlich verbessert.
Abb. 4 Mitarbeiter der Wasserwerkstatt der Gerberei beim Reinigen der Felle, 1899.
Abb. 5 Mitarbeiter der Wasserwerkstatt der Gerberei beim Spalten und Beschneiden der Rohfelle, 1899.
1914 produzierten die vier größten deutschen Oberlederfabriken – neben Freudenberg zählten hierzu die Firmen Adler & Oppenheimer, Cornelius Heyl und Doerr & Reinhart – rund drei Viertel der deutschen Herstellungsmenge. Fast das gesamte Rohmaterial für die Gerbung wurde importiert, hauptsächlich aus dem Zarenreich, Polen, Argentinien und Frankreich, später auch aus den USA, wo die Chicagoer «Meatpacker»-Firmen Armour und Swift zu wichtigen Lieferanten avancierten. Das in Weinheim gegerbte und besonders leichte Oberleder wurde nach Großbritannien und in dessen Kolonien, in die Schweiz, nach Frankreich, Russland, Polen, in die Vereinigten Staaten sowie in zahlreiche andere überseeische Länder exportiert.
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Kartelle und Preisabsprachen, die sich in der übrigen deutschen Wirtschaft bildeten, waren in der Lederindustrie so gut wie unbekannt, was an dem kleinteiligen und geradezu zersplitterten offenen europaweiten Markt ohne wesentliche Zollschranken lag, der Absprachen erschwerte und einen entsprechend harten Wettbewerb zur Folge hatte.[15] Besonders die Cornelius Heyl AG in Worms war ein hart verhandelnder, ebenbürtiger und daher unbequemer Gegenspieler Freudenbergs. Das sich bald auch anderswo durchsetzende Verfahren der Schnellgerbung beschleunigte den Strukturwandel in der Lederindustrie und bewirkte eine «völlige Umwälzung der Oberlederfabrikation».[16] Die Chromgerbung war kapitalintensiv, was dazu führte, dass vor allem die kleineren Betriebe vor den Kosten kapitulieren mussten. Erst recht litten die Schuhmacher unter der fabrikmäßigen Herstellung, die «den gut situierten Schuhmachermeister von ehedem zum Flickschuster degradiere», wie in einem Bericht beklagt wurde.[17]