Zum Buch:
Ein Roman, der Mut macht und auch unsere Welt etwas weniger grau erscheinen lässt.
Zum ersten Mal in ihrem Leben wünscht sich Belle, dass die Weihnachtszeit schnell vorübergehen möge. Ihre geliebte Pflegetochter ist zu ihrer leiblichen Mutter zurückgekehrt, und nach einem heftigen Streit darüber mit ihrem Mann hatte er einen Autounfall, an dem Belle sich die Schuld gibt. Weihnachten ist also gestrichen. Und überhaupt würde es ihren Liebsten viel besser gehen, wenn sie nie in ihr Leben getreten wäre, glaubt sie. Doch der Weihnachtsengel, der Belles Wunsch erhört, ist der Meinung, dass auch sie ein Fest der Liebe verdient …
Zur Autorin:
Carmel Harrington glaubt an Happy Ends, weil sie ihr eigenes gefunden hat. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in Irland, und ihr Leben ist erfüllt von Geschichten, Spielen, Spaziergängen am Strand, Schokolade und Liebe in Hülle und Fülle.
Carmel Harrington
Ist die Liebe nicht schön?
Roman
Aus dem Englischen von
Inken Kaulstorft
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der englischen Originalausgabe:
Every Time a Bell rings
Copyright © 2015 by Carmel Harrington
erschienen bei: HarperImpulse, London
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Redaktion: Laura Oehlke
Titelabbildung: 4Max, Selezneva Kseniia, Oleg_P, DutchScenery,
M.V. Photography / Shutterstock
ISBN eBook 978-3-956-49926-5
www.mira-taschenbuch.de
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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Meiner Familie,
den Harringtons,
Roger, Amelia, Nate und Eva
Glück ist …“ Ich seufze zufrieden, und mein warmer Atem steigt in die Winterluft.
„Dieses Jahr ist die Weihnachtsbeleuchtung so schön wie noch nie.“
Ich weiß, jedes Jahr sage ich dasselbe, an genau demselben Ort, zu genau derselben Zeit. Und wahrscheinlich werde ich es auch nächstes Jahr wieder sagen.
Etwas Vollkommeneres habe ich nie zuvor gesehen. Der Weihnachtsschmuck in viktorianischem Stil hüllt die Menschen in den Glanz verblasster Tage. Ja, das klingt verdammt kitschig. Aber an Weihnachten ist das okay. Da kann ich gar nicht genug Kitsch kriegen.
Dublin, meine geliebte Heimatstadt, erstrahlt in voller Festbeleuchtung. Ganz Irland wartet in stiller Vorfreude auf Weihnachten.
Dieses Jahr bin ich früh beschenkt worden. Allerdings ist es dasselbe Geschenk, das ich auch als Achtjährige bekam. Das weiß ich nur zu genau. Zufall, Schicksal, ein Wunder? Welche Mächte da ihre Hand im Spiel haben, weiß ich nicht. Dankbar bin ich ihnen auf jeden Fall.
Noch vor zwei Wochen war ich Single, ein glücklicher Single wohlgemerkt. Ich habe ein gutes Leben, unterrichte an einer Schule in St. Colmcille. Ehrlich, ich bin nicht jeden Tag mit dem Gefühl aufgewacht, dass ich etwas verpasse, mir ein Freund oder die große Liebe fehlt. Denn mir ging es gut. Dann und wann hatte ich eine Beziehung. Eines Tages werde ich den Richtigen schon finden, dachte ich mir. Jetzt, da er da ist, kann ich mir nicht mehr vorstellen, auch nur einen Tag ohne ihn an meiner Seite verbracht zu haben.
Hier stehe ich nun, in der Fußgängerzone der Grafton Street. Mit Jim Looney. Hätte mir das jemand noch vor wenigen Wochen gesagt, hätte ich bestimmt „Wer’s glaubt, wird selig“ gemurmelt.
Jim Looney.
Ich seufze noch einmal, als ich ihn neben Molly Malone, dem Wahrzeichen von Dublin, stehen sehe. Er lacht über das Lametta, das jemand dem Denkmal der viel besungenen Fischerin über den üppigen Busen gehängt hat.
Mir schießt ein Bild von Jim auf dem Laufsteg durch den Kopf, und bei der Vorstellung muss ich lachen. Er könnte locker mit jedem männlichen Model mithalten. Aber ich glaube, er würde eher jede Folter ertragen, als zu modeln.
Mit meinem Handy knipse ich ein Foto von ihm. Heute Abend muss ich mindestens schon ein Dutzend Bilder von ihm gemacht haben. An ihm könnte man die Herrenkollektion der neuen Wintermode vorführen, so gut sieht er aus. Ihm steht selbst der bunte Schal à la Doctor Who, den er sich um den Hals geschlungen hat. An Jim sieht der sogar cool und hip aus.
Und jetzt der Part, den ich immer noch nicht recht begreife.
Ich bin mit ihm zusammen. Er gehört mir ganz allein.
Gewöhn dich gar nicht erst daran, Belle. Das hält doch nie.
Schnell verscheuche ich die Stimme in meinem Kopf. Verschwinde, fiese kleine Stimme.
Nur zu gut weiß ich, dass ich eigentlich in einer anderen Liga spiele. Herrje, selbst sein Kinn sieht aus wie gemeißelt. Im Ernst: Er ist einfach umwerfend. Mir fehlen die Worte, ihn zu beschreiben, ohne dass es lächerlich klingt. Aber er ist ein wahrer Schatz – oder wie wir in Dublin einen gut aussehenden Mann nennen: ein Goldjunge.
Ein Blick in seine großen blauen Augen, und es ist um mich geschehen. Mir entfällt, was ich gerade sagen will, wenn er mich aus seinen himmelblauen Pupillen ansieht.
Und erst sein Haar! Dafür hatte ich schon immer eine Schwäche. Seine Haare wecken meinen Beschützerinstinkt und meine ganze Liebe. Sie fallen ihm immer übers rechte Auge. Wahrscheinlich würde man sie als rot, rotblond oder rotbraun bezeichnen. Aber ich nenne es fuchsrot.
Jim McFoxy Looney.
Wenn ihm eine Strähne ins Gesicht fällt, scheinen meine Hände ein Eigenleben zu entwickeln und fahren unwillkürlich hoch, um sie ihm aus der Stirn zu streichen. Nicht dass ich mich beschweren würde, schließlich brauche ich keinen Vorwand, um Jim anfassen zu dürfen. Und wenn ich ihn berühre, hat das einen herrlichen Dominoeffekt. Kaum streife ich sacht seinen Unterarm, schon küssen wir uns.
Bei der Erinnerung daran, was erst heute Morgen passiert ist, als ich ihn auf dem Weg ins Bad zufällig berührte, läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken.
Was heute Morgen zwei Mal passiert ist.
Wer hätte gedacht, dass Jim Looney so sexy ist? Im Ernst, er ist umwerfend.
Er ist ein wahrer Goldjunge. Und ja, das kann ich gar nicht oft genug sagen. Jim Looney. Ein wahrer Goldjunge. Mein Freund.
Der Gedanke macht mich immer noch ganz schwindlig. Wie wenn man nachmittags schon einen Schwips hat. Und das, obwohl ich seit Wochen kaum getrunken habe. Jim trinkt nicht viel, was gut ist. Denn alle Männer, mit denen ich in letzter Zeit ausgegangen bin, entwickelten größeres Interesse an ihrem Bier als an mir. Da ist es mal schön, einen Freund zu haben, der mehr mit seinem Leben anzufangen weiß, als nur in Pubs zu hocken.
„Woran denkst du gerade?“, fragt Jim und zieht eine Augenbraue hoch.
„Das wüsstest du wohl gern“, erwidere ich lächelnd.
Gott sei Dank kann er keine Gedanken lesen. Wenn ich ihm sagen würde, was mir durch den Kopf geht, würden wir mir nichts, dir nichts im Taxi sitzen und zu mir nach Hause fahren, noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hätte. So verführerisch diese Vorstellung ist – das muss warten.
Denn es ist Heiligabend, und wir stehen auf der Grafton Street in all ihrer weihnachtlichen Pracht.
„Also, was hat es mit dieser Tradition von dir auf sich? Was machst du hier jedes Jahr an Heiligabend?“, will Jim wissen.
„Dies ist mein zehntes Mal. Angefangen hat alles mit Joyce O’Connor“, antworte ich.
„Na, das fängt ja gut an“, bemerkt Jim trocken.
„Und es wird noch besser. Joyce fragte mich, ob ich am 24. mit ihr in die Stadt fahren will. Ich war damals fünfzehn.“
Was Joyce heute wohl macht? Wir haben schon vor längerer Zeit den Kontakt verloren. Aber sie gehört untrennbar zu meiner Weihnachtstradition dazu, und immer wenn ich hier stehe, muss ich an sie denken.
Dabei war sie gar keine enge Freundin von mir. Ehrlich gesagt war sie eine ganz schöne Zicke. Ich weiß noch nicht einmal, warum ich überhaupt mitgekommen bin. Schließlich war sie immer fies und gemein und hat andere Schüler gepiesackt. Sie war groß darin, abfällige Bemerkungen hinter meinem Rücken zu machen, getarnt als Komplimente, von denen aber alle wussten, dass sie als Beleidigung gemeint waren.
Fast meine gesamte Schulzeit habe ich damit zugebracht, Joyce und ihrer Clique aus dem Weg zu gehen, um nicht blöd angequatscht zu werden.
„Ja, ich glaube, ich erinnere mich an Joyce. Klein und blond? Sie hatte so was Fieses an sich, oder? Sie und ihre Clique haben dir damals das Leben ganz schön schwer gemacht“, sagt Jim.
Ich muss lachen. Genau, das ist sie. „Du hast ein super Gedächtnis. Gut, sie hatte auch was für sich. Sie hat mich an dem Tag nur deshalb gefragt, weil niemand sonst konnte. Ihre Clique hatte was anderes vor, und ich war ihr Lückenbüßer. Ihre Eltern hätten sie nie im Leben allein mit einem Jungen in die Stadt fahren lassen. Aber mit einer Freundin war das ein harmloser Ausflug.“
„Verstehe. Du solltest den zotteligen alten Anstandswauwau spielen“, sagt Jim.
Ich nicke. „Ich hatte nichts Besseres vor. Da dachte ich, warum nicht? Außerdem war Tess froh, dass ich mich amüsieren ging. Sie hat sich immer Sorgen gemacht, dass ich zu viel allein sei.“
„Und?“, fragt Jim, „hat es dir Spaß gemacht? Vielleicht war Joyce gar nicht so zickig, wie du dachtest.“
„Nein, wir haben nicht über einer heißen Schokolade unsere Freundschaft besiegelt oder dergleichen. Sie war zickig wie eh und je. Aber abgesehen davon hatte ich großen Spaß“, antworte ich.
Der Bus war proppenvoll mit Leuten, die dieselbe Idee hatten und mit der 16B in die Stadt fuhren, um dort die Weihnachtsstimmung zu genießen.
„Joyce hielt es nicht einmal für nötig, so zu tun, als wären wir zusammen unterwegs. Kaum waren wir in den Doppeldeckerbus gestiegen, rannte sie nach oben und knutschte mit einem pubertierenden, pickligen Jungen. Billy Doyle hieß er. Sie hatte sich noch nicht mal hingesetzt, da steckte er ihr schon die Zunge in den Hals“, erzähle ich.
„Ein Gentleman war der nicht“, sagt Jim kopfschüttelnd.
„So ein Mistkerl!“, scherze ich, und Jim stimmt in mein Lachen ein. „Die beiden hatten noch nicht einmal einen Platz für mich freigehalten. Weil es oben so voll war, musste ich wieder nach unten. Wie ein begossener Pudel bin ich abgezogen und musste die ganze Fahrt über stehen. Joyce hat sich nicht einmal mehr nach mir umgesehen. Was für ein Luder!“, sage ich.
Ich staune selbst, dass ich mich so schlecht behandeln ließ.
„Als wir an der O’Connell Street ankamen, rannten die zwei Turteltauben zu McDonald’s und teilten sich einen Erdbeershake. Mich wollten sie ganz offensichtlich nicht bei ihrem Tête-à-Tête dabeihaben, also ließ ich sie allein. Wahrscheinlich hätte ich Joyce böse sein sollen, aber letztlich war es mir egal.“
Mitfühlend sieht Jim mich an. Schnell versichere ich ihm: „Ich habe damals eh die meiste Zeit allein verbracht und fand das gut so.“
Komisch war bloß, dass die beiden in einem lauten Schnellrestaurant auf Plastikstühlen sitzen wollten, obwohl sie doch draußen die Weihnachtsatmosphäre hätten genießen können.
„Selbst schuld. So konnte ich auf eigene Faust Dublin entdecken. Es dämmerte bereits. Die Stadt ändert sich im Dämmerlicht. Sie kam mir wie verzaubert vor.“
Peinlich berührt schweige ich. „Vielleicht klingt das albern, aber mir kam es vor, als sähe ich meine Heimatstadt plötzlich mit anderen Augen.“
„Das klingt überhaupt nicht albern“, erwidert Jim. „Soll ich dir sagen, was ich dachte, als wir vorhin in die O’Connell gebogen sind? Das hat jetzt was von Bedford Fall. Du weißt schon, die Stadt aus dem Film ‚Ist das Leben nicht schön?‘.“
Ich muss lächeln und nicke. Denselben Gedanken hatte ich auch. „Ich liebe den Film.“
Ich zucke zusammen, als ein schlecht verkleideter Weihnachtsmann in unsere Richtung grölt: „Frohe Weihnacht, ho, ho, ho!“ Dabei läutet er eine Glocke und rasselt mit einer Spendenbüchse. Er scheint ganz versessen darauf, Passanten zu erschrecken, und freut sich jedes Mal, wenn einer erschrocken beiseitespringt.
Ich werfe eine Handvoll Münzen in seine Büchse. Dann sagt Jim: „Los, erzähl mir von deiner Tradition!“
„Seit jenem Tag komme ich jedes Jahr an Heiligabend hierher. In der O’Connell Street fange ich an, dann gehe ich zur Liffey, am Trinity College vorbei, sage Molly Mallone Hallo, bummel die Grafton Street rauf, gehe zur Ha’penny Bridge und dann nach Hause“, erzähle ich.
„Und du änderst nie deine Route?“, erkundigt sich Jim.
„Um Gottes willen, nein! Die Reihenfolge ist immer dieselbe“, erwidere ich. „Ich vergaß zu erwähnen, dass ich vorher noch bei Captain America’s einkehre und eine heiße Schokolade trinke und ein Stück Kuchen esse. Der Mississippi Mud Pie dort ist köstlich. Nicht dass ich noch vom Fleische falle.“ Ich grinse wie ein Kleinkind.
„Was für ein schöner Brauch.“ Jim lächelt. „Und wie schön, dass ich ihn dieses Jahr mit dir zusammen erlebe.“
„Ich finde es auch schön, dass du dabei bist. Über all die Jahre bin ich hier mit Freunden oder Freundinnen, mit Klassenkameraden und manchmal … manchmal auch allein unterwegs gewesen.“ Schüchtern sehe ich ihn an. „Dieses Jahr ist es etwas Besonderes. Weil du da bist, Jim.“
Er greift nach meiner Hand und lacht. „Welch Ehre! Na dann, Fräulein Bailey, dann zeigen Sie mir doch, was die Stadt Tolles zu bieten hat.“
Sehnsüchtig schaue ich die Grafton Street entlang. Rot flackernde Lichter winden sich um üppige grüne Zweige, die von einer Straßenseite zur anderen reichen. In der Mitte sind große viktorianische Laternen angebracht, die das Kopfsteinpflaster in rötlich warmes Licht tauchen. In den Schaufenstern leuchten Lichterketten und bunte Christbaumkugeln.
Die Atmosphäre ist einfach … märchenhaft.
Aber nicht nur ich empfinde so. Den Menschen, die uns entgegenkommen, steht die Vorfreude auf Weihnachten förmlich ins Gesicht geschrieben.
Gut, diesem Mann nicht, denke ich und muss schmunzeln, als ein etwa Vierzigjähriger an mir vorbeihetzt. Der muss wohl auf den letzten Drücker noch Geschenke besorgen. Armer Kerl. Ich habe meine schon seit Oktober unter Dach und Fach. Nie im Leben würde ich das bis zur letzten Minute aufschieben. Aber von diesem einen Griesgram abgesehen, wimmelt die Straße von glücklich strahlenden Menschen.
„Guck mal!“, rufe ich begeistert, als ich in einem Schaufenster eine Herde Rentiere entdecke, die an dem künstlichen Rasen unterm Schnee äst. Dann sehe ich auf der Seite gegenüber eines andere Schaufensterszene und haste, Jim im Schlepptau, über die Straße.
„Als du vorhin sagtest: Glück ist …“ Jim deutet auf die Postkartenidylle in dem Schaufenster vor uns. „… meintest du das hier?“
„Na ja, viele Dinge machen mich glücklich. Und das hier steht ganz oben auf der Liste. Ich liebe Weihnachten. Du nicht auch? Kommt es dir nicht auch so vor, als seien wir mitten in einem Weihnachtsfilm gelandet?“, frage ich.
„Und zwar in einem Blockbuster“, murmelt er. „Gut, du hast eine Schwäche für blinkende Lichter. Was macht dich noch glücklich?“
Seine Hand in meiner, hier inmitten der überschwänglichen Menschenmenge – das steht ganz oben auf der Liste der Dinge, die mich glücklich machen. Aber eine Frau sollte nie alle Trümpfe auf einmal ausspielen. Also schweige ich.
„Komm, sag schon. Was macht dich glücklich, Belle?“, hakt Jim nach.
„Alles Mögliche. Am Wochenende den Wecker nicht stellen zu müssen. Eine Scheibe Toast mit Erdnussbutter. Aber kein ungetoastetes Toast! Schlabberiges, kaltes Toastbrot kann ich nicht ausstehen!“, antworte ich.
„Ungetoastetes Toast – ein unverzeihlicher Fehler?“, fragt Jim. Als ich nicke, sagt er: „Gut, das nehme ich zu Protokoll.“
„Dann schreib auch auf, dass die Erdnussbutter gleichmäßig über alle Ecken auf der Toastbrotscheibe verteilt sein muss. Einfach husch, husch die Butter quer übers Toast streichen – das geht gar nicht“, erkläre ich.
„Ist notiert. Erdnussbutter ordentlich aufs Toast streichen. Auf warmes Toast. Was noch? Was macht die Dame sonst noch glücklich?“, fragt er.
„Ich liebe es, ein neues Buch aufzuschlagen. Und dann festzustellen, dass es ein gutes Buch ist. Eins von denen, die nicht enden sollen“, antworte ich.
Ich überlege einen Augenblick. „Und tanzen. Egal, was für ein Tanz. Mit dem Allerwertesten zu wackeln macht mich einfach glücklich.“
Jim lüpft eine Augenbraue, also wackel ich demonstrativ mit dem Hintern.
„Guck, und dich macht es auch glücklich, wenn ich tanze“, necke ich ihn. Jim lacht laut auf.
„Und ob dein Po mich glücklich macht!“, ruft er und gibt mir einen sanften Klaps darauf. Gott sei Dank habe ich diesen Sommer zig Kniebeugen im Fitnessstudio gemacht.
„Schaukeln hast du vergessen“, bemerkt Jim.
„Schaukeln?! Wo denkst du hin? Ich bin eine erwachsene Frau!“ Ich tue empört. Dabei weiß ich genau, was er meint. Aber es macht Spaß, ihn zu triezen.
Verlegen stottert Jim, bevor er merkt, dass ich ihn auf den Arm nehme.
„Du hast recht, Jim Looney, ich mag immer noch schaukeln. Ich kann an keinem Spielplatz vorbei, ohne mich zumindest kurz auf die Schaukel zu setzen und zu testen, wie hoch ich wohl komme“, gestehe ich. „Beim Schaukeln, wenn ich den Wolken hinterherblicke, habe ich immer die besten Ideen.“
„Das hast du schon damals gern getan“, sagt er. „Ich mochte die Rutsche ja lieber.“
Ich erinnere mich, wie er früher immer die Rutschbahn hinaufklettern wollte, anstatt die Leiter zu benutzen, und wie er mir auf der Schaukel Schwung gegeben hat, höher und immer höher. Aber das ist sehr lange her.
Er zieht mich zur Seite, weg von dem Gedränge auf der Straße, und sieht mir in die Augen. „Und was ist mit mir? Mache ich dich glücklich?“
Erstaunt stelle ich fest, dass mein sonst so selbstbewusster Freund plötzlich unsicher wie ein zehnjähriger Junge wirkt.
Ohne zu zögern, nehme ich seine Hände in meine und sage ernst: „Du, Jim Looney, machst mich am allerglücklichsten.“
Meine Freundinnen wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass ich meinem Freund so früh in der Beziehung mein Herz zu Füßen lege. Vielleicht sollte ich besser ein wenig zurückhaltender sein, ihn ein wenig hinhalten. Aber ich konnte mit meinen Gefühlen noch nie gut hinterm Berg halten.
„Meine Belle ist, wie sie ist. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge“, hat Tess immer gesagt.
Und jetzt steht in meinem Gesicht in Großbuchstaben geschrieben, wie hoffnungslos verliebt ich in ihn bin.
Seinen Blick kann ich nicht recht deuten. Mist, bestimmt habe ich ihn verschreckt.
„Du steckst voller Überraschungen“, sagt er nach einer quälend langen Weile und mit einem Blick, als sehe er mich zum ersten Mal.
„Alles in Ordnung?“, frage ich, und mir wird ganz flau im Magen. Jetzt guckt er wieder so komisch. Das macht mir Angst.
„So vieles hat sich verändert, seit ich weggegangen bin. Aber vieles ist auch so wie damals“, murmelt er. „Das ist merkwürdig.“
„Du wirst alt und neigst zu Grübeleien“, necke ich ihn und stupse ihn in die Seite. „Komm, gib’s zu, das Schaufenster von Thomas Brown schlägt das von Macy’s.“
„Es ist nicht übel“, schnarrt er in seinem schleppenden, halb amerikanischen, halb irischen Akzent. Wir bleiben vor dem reich geschmückten Fenster stehen.
„Ich glaube wirklich, dass dies die schönste Straße der Welt ist“, flüstere ich. „Wenn ich hier stehe, komme ich mir vor wie ein kleines Kind.“
Während wir von Kaufhausfenster zu Kaufhausfenster schlendern, habe ich das seltsame Gefühl, in einem Weihnachtsmärchen gelandet zu sein. Schaufensterpuppen in viktorianischen Kleidern mit glitzernden Perlen und glänzenden Juwelen sitzen und stehen in der mit Schnee, Lichterketten und Christbäumen geschmückten Auslage. Ich lasse mich in Jims Arme sinken und lege meinen Kopf in seine Halsbeuge.
Ah, wie ich seinen Geruch liebe! Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass er nach einer Mischung aus Piment, Zimt und rauchigem Leder riecht. Jim duftet geradezu nach Weihnachten.
Dann spüre ich, wie er seine Arme um mich legt, und ich denke: Er ist so … so … Dann fällt mir das Wort ein, und ich muss kichern. Er ist so männlich. Genau, das ist es: männlich.
In dem Fenster sehe ich unser Spiegelbild, beobachte, wie ich kichere und Jim mich anlächelt, obwohl er nicht weiß, warum ich kichere. Nie war ich glücklicher.
Einige Passanten sehen uns an. Aber daran bin ich gewöhnt, an das Angestarrtwerden. Der rothaarige Ire mit dem amerikanischen Akzent und die exotische Frau mit dem karamellfarbenen Teint, der Afro-Frisur und dem Dubliner Akzent. Ja, wir geben ein ungewöhnliches Paar ab, aber wir passen perfekt zueinander.
An seiner Seite fühle ich mich schöner als je mit einem anderen Mann. Es ist auch nicht schlimm, dass ich mit meinen ein Meter siebzig neben seinen eins neunzig geradezu zierlich wirke. Gut, zierlich ist ein bisschen übertrieben.
Egal, wie gut er aussieht, was mich umhaut, ist, was er mit meinen Gefühlen anstellt. Seit unserem ersten Kuss bin ich regelrecht verrückt nach ihm. Total verrückt!
Die letzten zehn Jahre bin ich auch ganz gut ohne ihn klargekommen, vielen Dank auch. Aber jetzt mag ich nicht mehr ohne ihn sein.
Ist das wahre Liebe? Ist es das, was Aschenputtel und ihr Märchenprinz empfunden haben? Das hoffe ich sehr.
Aber was, wenn er nach Weihnachten zurück nach Indiana in die USA geht?
Da ist sie schon wieder, die fiese kleine Stimme. Schweig! Ich weigere mich, über diesen Augenblick hinauszudenken. Wie zum Beweis drehe ich mich zu ihm um und küsse ihn voller Leidenschaft und Hingabe. Mir egal, ob uns jemand sieht. Als seine Zunge meine berührt, merke ich, dass auch ihm das gleichgültig ist.
„Ähem.“ Wir vernehmen ein Räuspern neben uns und lösen uns voneinander, um zu sehen, wer unsere Aufmerksamkeit fordert. Ein adretter Kaufhausportier von Thomas Brown. Mahnend hebt er den Zeigefinger, aber dabei lächelt er. Seine Zurechtweisung hat nichts Boshaftes. Er bedeutet uns, wir sollen den Eingang zum Kaufhaus freihalten.
„Entschuldigung.“ Jim nickt ihm zu, und wir wenden uns zum Gehen. „Lass uns die Schokotorte essen gehen, von der du so schwärmst. Schließlich muss ich bei Kräften bleiben, seit ich mit dir zusammen bin.“
Fröhlich winke ich dem Portier zum Abschied, er lüftet seinen Hut zum Gruß und ruft: „Frohe Weihnacht den Turteltauben!“
Die Schokoladentorte schmeckt genauso köstlich, wie ich es in Erinnerung hatte. Jim schlägt vor, dass wir uns ein Stück Torte teilen. Das rede ich ihm augenblicklich aus.
„Ich nehme das in meine Liste mit auf: Süßigkeiten nicht teilen“, scherzt er.
Satt vor lauter süßem Glück verlassen wir Captain America’s. Draußen lauschen wir eine Weile dem Klirren, das in der Luft liegt.
Langsam schlendern wir in Richtung St. Stephen’s Green und spazieren durch den Park. Hier herrscht Stille. In einvernehmlichem Schweigen wandern wir durch die Grünanlage.
„Wo geht’s jetzt hin?“, fragt Jim, als wir eine Runde gedreht haben.
„Wie schon gesagt, als Nächstes kommt die Ha’penny Bridge, dann die O’Connell Street, und schließlich geht’s zurück zu Tess“, antworte ich.
„Muss ich wirklich im Gästezimmer schlafen?“, nörgelt Jim.
„Und wag es ja nicht, dich nachts in mein Zimmer zu schleichen! Tess trifft sonst der Schlag.“
Bevor wir weiter über die Bettenverteilung reden können, weht der Gesang eines jungen Mädchens zu uns herüber. „Wie wunderschön!“ Ich zeige zur Ha’penny Bridge. „Es kommt von dort drüben.“
„Sie singt dein Lieblingsweihnachtslied“, sagt Jim.
Dass er das weiß, berührt mich zutiefst. Er sieht das und streicht mir über die Wange. „Ich sage doch, dass ich mich an alles erinnere, Belle.“
Wir gehen der Stimme entgegen. Sie ist so rein und schön, dass die Passanten stehen bleiben, einer nach dem anderen. Wir schieben uns durch die Menge. Fast erwarte ich, einen CD-Spieler und Lautsprecher zu sehen. Aber zu meiner Überraschung gehört die Stimme tatsächlich einem Mädchen, das mitten auf der Brücke steht.
„Sie ist höchstens zehn oder elf“, sage ich, ohne meine Augen von ihr abwenden zu können.
„Sie ist bezaubernd!“, bemerkt eine Frau neben uns, und wir nicken beide. Das Mädchen trägt einen roten Wollmantel mit zweireihiger Knopfleiste. Ihre halblangen schwarzen Haare fallen seidig glänzend auf den schwarzen Samtkragen.
Das Licht der Brückenlampen bricht sich funkelnd auf dem ruhig fließenden Wasser der Liffey. Der Widerschein hüllt das Mädchen in ein Lichtermeer.
Das ist der schönste Moment meines Lebens. Die Stimme, das Mädchen, die Brücke strahlen Reinheit und Unschuld aus.
„Was für eine Stimme!“, sagt Jim andächtig, als sie „Stille Nacht, Heilige Nacht“ anstimmt wie eine Profisängerin.
„Sie hat eine Stimme wie ein Engel“, flüstere ich, und mir wird ganz warm ums Herz. Ich bin den Tränen nahe, aber weinen geht an Weihnachten natürlich nicht.
„Alles schläft, einsam wacht“, singe ich mit und ergreife Jims Hand. Er umschließt sie fest. Die altbekannten Worte rühren mich wie nie zuvor. Einsam, genauso habe ich mich noch vor drei Wochen gefühlt. Dann kam Jim in mein Leben, und alles hat sich geändert.
Ein Beben geht durch meinen Körper, ich muss mich zwicken, um nicht schluchzend auf die Knie zu sinken. Geht es nur mir so, oder ist Jim genauso ergriffen wie ich? Ich reiße die Augen von dem Mädchen los und werfe Jim einen Blick zu. Gott sei Dank geht ihm die Stimme so nah wie mir. Seine Augen schimmern in der klaren Nachtluft, und ich lehne mich an ihn.
Plötzlich trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Ich bin angekommen, endlich bin ich angekommen. Hier in den Armen dieses Mannes bin ich zu Hause.
Dabei sind wir doch erst seit drei Wochen zusammen.
Aber es fühlt sich bereits wie eine Ewigkeit an. Wie kann das sein?
Ich weiß, warum. Wir sind füreinander bestimmt. Ich habe ihn mir gewünscht, und er ist mir geschenkt worden. Wenngleich nicht in buntem Papier und Schleife.
Ich betrachte die Menge, die sich um das Mädchen versammelt hat. Familien, Pärchen, Gruppen von Freunden, sie alle sind verzaubert von der wunderschönen Stimme.
In dem Moment beschließe ich, diesen Augenblick nie zu vergessen. Es gibt nicht viele Momente im Leben, die so vollkommen und rein sind, dass einem fast das Herz zerspringt. Dies ist so ein Augenblick.
Das Mädchen singt die letzte Zeile des Liedes und trifft die hohen Töne mit Leichtigkeit. Plötzlich ist die Menge ganz still, wie gebannt lauschen alle ihrer klaren Stimme.
Wie lange stehen wir da und staunen? Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dauert aber nur wenige Augenblicke.
Der Stille folgt das Klimpern von Geld. Einer nach dem anderen drängen sich die Zuhörer nach vorn, um eine Münze in die rote Samtmütze des Mädchens zu werfen. Das fröhliche Klingeln der Geldstücke tönt hell durch die klare Luft.
„Als läuteten die Glocken“, sage ich entzückt.
„Jingle Bells? Die Glocken läuten für dich, Belle“, sagt Jim.
Jetzt bin ich an der Reihe und werfe eine Handvoll Euros in die Mütze. Das Mädchen blickt auf und mir direkt in die Augen, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Mich überkommt ein seltsames Gefühl. Als kenne ich das Mädchen. Am liebsten würde ich es in den Arm nehmen. Aber das ist lächerlich.
Seine Eltern sehen bestimmt zu und müssen denken, ich sei eine verrückte alte Frau. Also lasse ich es.
„Jetzt müsste ein Talentscout vorbeischneien. Das ist doch ein Nummer-eins-Hit, dieser Weihnachtssong“, sage ich und will mich zu Jim umdrehen. Aber wo ist er? Mit Blicken suche ich die Brücke ab, gucke nach links, nach rechts. Ich ärger mich, dass ich eben einen Schritt nach vorn, weg von ihm getan habe. Die Menschenmenge, die sich jetzt wieder in Bewegung setzt, ist dicht, und ich kann Jim nirgends erblicken.
Dann fasst er plötzlich meine Hand, und ich bin erleichtert und schäme mich gleichzeitig für meine alberne Panik.
„Da bist du ja!“, rufe ich. Aber was, um Himmels willen, macht er da? Entsetzt beobachte ich, wie er mitten auf der Ha’penny Bridge auf sein Knie sinkt.
„Suchst du was?“, frage ich und denke, dass er womöglich seine Brieftasche verloren hat. Schon beuge ich mich über das Pflaster, um bei der Suche zu helfen.
„Guck mal, er will ihr einen Antrag machen“, ruft ein Mann in der Menge hinter mir. Mir wird ganz flau, obwohl ich weiß, dass das nicht sein kann. Jim wird mir doch keinen Heiratsantrag machen.
Ich drehe mich um. „Antrag, so ein Quatsch!“, platzt es aus mir heraus.
Ich bin doch erst seit drei Wochen mit Jim zusammen, so schnell macht man doch keinen Heiratsantrag. Das passiert nur in Büchern oder Filmen. Nicht in Dublin, und vor allem passiert das anderen, nicht mir, Belle Bailey.
Aber als ich zu ihm hinabblicke, lacht er nicht, sondern sieht mich eindringlich an. Er macht auch nicht den Eindruck, als hätte er irgendetwas verloren. Traurig sieht er auch nicht aus. Im Gegenteil, er wirkt regelrecht glücklich.
„Ich hab nichts verloren, Belle. Ganz im Gegenteil, ich habe etwas sehr Wertvolles gefunden.“ Jemand hinter mir hält hörbar den Atem an. Ich drehe mich um und sehe in ein Meer von Gesichtern – die Gesichter, die kurz zuvor verzückt dem Gesang des Mädchens gelauscht haben. Jetzt sind sie genauso verzückt angesichts des Schauspiels, das sich live und in Farbe vor ihnen abspielt. Die werden nachher zu Hause beim Festmahl was zu erzählen haben.
„Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage – das will ich mit dir, Belle. Ich will mit dir zusammen alt werden und werde dich nie wieder gehen lassen. Ich will dich so innig lieben, dass du nie wieder traurig bist“, erklärt Jim.
Träume ich das?
Das klang gerade nach einem Heiratsantrag. Gefragt, ob ich ihn heiraten will, hat er aber nicht, oder? Ich presse die Lippen aufeinander. Auf gar keinen Fall werde ich mit Ja auf eine Frage antworten, die keine ist, sondern eher eine Liebeserklärung.
Und doch bahnt sich ein Kribbeln durch meinen Körper.
„Ich will dich heiraten. Ich will meine beste Freundin heiraten“, sagt er ernst.
Oha, das war unmissverständlich.
Die Menschenmenge, die noch einen Moment vorher im Begriff war, sich aufzulösen, bildet nun einen Kreis um uns. Als hätten sie sich untereinander abgesprochen, schützen sie uns vor den eilig vorbeihastenden Passanten. Ich höre sie „Ah“ und „Pst!“ wispern, während Jims Worte in der klaren kalten Luft zu schweben scheinen.
„Ich habe das nicht geplant. Was Unsinn ist, weil ich seit Tagen an nichts anderes denken kann. Noch nicht einmal einen Ring habe ich“, sagt er geknickt.
Mein ganzes Leben lang habe ich von diesem märchenhaften Moment geträumt, wenn der Prinz auf die Knie sinkt und mit einem Diamantring in der Hand um seine Angebetete anhält. So ein Ring schert mich überhaupt nicht, merke ich jetzt. Ich lächle Jim an, um ihm zu zeigen, wie unwichtig mir ein Ring in diesem Moment ist.
„Dafür habe ich das hier“, fährt er breit grinsend fort und langt in die Innentasche seines Mantels.
Was, um Himmels willen, mag das sein? Er hält eine in rotes Papier gewickelte Schachtel mit einer weißen Schleife in der Hand.
„Eine Mordsverpackung!“, sage ich.
„Das habe ich vorhin besorgt. Das ist nur ein Teil deines Weihnachtsgeschenks. Keine Sorge. Später kommt der Rest. Eigentlich wollte ich es bei Tess unter den Christbaum legen. Aber jetzt geht’s auch.“ Er reicht mir die Schachtel.
Meine Hände zittern so sehr, dass ich das Geschenkpapier kaum aufgerissen bekomme. Ich halte den Atem an, als ich die Schachtel öffne. Ein Ring ist es nicht, das hat Jim klargemacht. Was mag da drinnen versteckt sein?
Ein winziges silbernes Glöckchen. Gebettet auf rotem Samt liegt es in der Schachtel, ein rotes Band ist daran befestigt. Nie habe ich etwas Vollkommeneres gesehen.
„Oh, Jim!“, hauche ich. Und könnte schwören, die Menge seufzt ebenfalls.
„Eine silberne Glocke für meine Belle“, sagt er.
Ich nehme sie aus der Schachtel und läute. Einmal, zweimal. Das Klingeln erfüllt die Nachtluft. Die Menge seufzt wie aus einem Munde, diesmal lauter.
Ich kann es ihnen nicht verdenken. Mein Gott, die Schönheit dieses Augenblicks droht auch mich zu überwältigen. Von solchen Momenten habe ich bislang nur gelesen oder sie zu Weihnachten im Fernsehen gesehen. Jetzt bin ich selbst Teil davon. Ich!
Er nimmt mir die Glocke aus der Hand und knotet das rote Band auf.
„Es ist kein Ring. Aber ein Versprechen auf einen Ring, wenn du Ja sagst“, erklärt er.
„Der Juwelier Appleby hat noch auf, junger Mann!“, ruft jemand hinter mir, und die Umstehenden lachen über den typischen Dubliner Humor.
In meinem Kopf dreht sich alles. Als sei dort ein Kreisel. Blut schießt in meinen Kopf, und mir wird schwindelig. Ich greife hinter mich und halte mich an dem schmiedeeisernen Brückengeländer fest.
Für jemanden, der in seinen ganzen fünfundzwanzig Lebensjahren kein einziges Mal der Ohnmacht nahe gewesen ist, halte ich mich dieser Tage ganz gut. Ich atme dreimal tief durch, bis das Schwindelgefühl nachlässt.
Vielleicht habe ich das alles nur geträumt? Ich blicke mich um und erwarte, nichts als die roten Backsteinbauten längs der Liffey zu sehen.
Stattdessen sehe ich Jim, meinen Freund, der, immer noch auf Knien, zu mir aufschaut. Und ich sehe nichts als Liebe in seinen Augen.
„Wir … wir kennen uns doch erst seit drei Wochen“, stammle ich. Das musste jetzt einfach gesagt werden. Einer muss hier schließlich die Verantwortung übernehmen. Schockiert schnappt die immer größer werdende Menschenmenge um uns herum nach Luft.
Jim steht auf und nimmt meine Hand. „Meine geliebte, meine wunderschöne, tapfere Belle, du weißt, dass das nicht stimmt. Wir kennen uns schon unser ganzes Leben lang.“
ERSTER TEIL
Sie hat die ganze Zeit kein einziges Wort gesagt. Das ist doch nicht normal. Sie sollten sie besser untersuchen lassen. Vielleicht stimmt etwas nicht mit ihr“, sagt Mrs. Gately, meine Noch-Pflegemutter, und tippt sich mit dem Finger vielsagend an die Stirn.
„Das ist nicht das erste Mal. Dass sie nicht spricht, meine ich“, erwidert Mrs. O’Reilly in ähnlich verächtlichem Ton.
Mrs. O’Reilly ist die Frau vom Jugendamt, die für mich zuständig ist, solange ich denken kann. Sie scheint jetzt nicht gerade glücklich über mich zu sein. Aber sie soll nicht böse sein. Ich bin doch immer ganz lieb. Trotzdem ärgern sich die Erwachsenen ständig über mich. Vor allem meine Mutter hat dies fortwährend getan.
Ich drücke Dee-Dee, meine Puppe, fester an mich und streichle ihr übers schwarze Haar. Ich will nicht an meine Mutter denken.
„Frohe Weihnachten, Belle“, sagt Mrs. Gately extra laut. Sie macht einen Schritt in meine Richtung, als wollte sie mich umarmen. Aber im letzten Moment überlegt sie es sich anders und streicht mir stattdessen über den Kopf.
Ein Glück! Sie riecht nämlich so komisch. Ihr Parfüm kitzelt mir in der Nase, ich muss davon immer niesen. Sie ist offensichtlich froh, mich los zu sein. Vorhin hörte ich, wie sie zu ihrem Mann sagte, dass es das nicht wert sei. Und obwohl ich erst acht bin, wusste ich sofort, dass sie mit „es“ mich meint.
„Schnall dich an, Belle!“, sagt Mrs. O’Reilly über die Schulter. Oje, sie ist böse auf mich. Aber als sie mich im Rückspiegel anschaut, wird ihr Ausdruck sanfter. Mit einer seltsam hohen Stimme erklärt sie: „Wart’s ab. Es wird dir gefallen. Tess ist sehr nett. Und diesmal ist es für immer. Ist das nicht schön? Ein neues Zuhause? Für dich und deine sieben Sachen?“
Ich senke den Blick. Zu meinen Füßen liegt ein kleiner Rucksack. Da ist alles drin, was ich besitze.
„Belle!“ Sie klingt gereizt. Oh, sie will, dass ich antworte.
Ich nicke und verziehe den Mund zu einem Lächeln. Obwohl mir überhaupt nicht zum Lachen ist.
Sie scheint zufrieden zu sein. Jedenfalls wendet sie den Blick vom Rückspiegel ab und guckt wieder auf die Straße vor uns.
Was glaubst du, Dee-Dee? Ist das neue Zuhause wirklich für immer? Dee-Dee lügt nie. Ich glaube, sie ist das einzige Wesen auf der ganzen Welt, das immer die Wahrheit sagt.
Aus ihren dunkelbraunen Augen guckt sie mich an. „Na ja, bei Joan und Daniel sollten wir doch auch für immer bleiben.“
Stimmt. Tatsache ist, dass Mrs. O’Reilly denselben Satz schon zigmal gesagt hat.
Wie jedes Mal, wenn ich an Joan und Daniel denke, kriege ich Angst. Ich will zurück nach Dun Laoghaire, zurück in das Haus, in dem ich die letzten Jahre gelebt habe. Nur dass Joan und Daniel nicht mehr da sind. Das Haus steht leer, es soll verkauft werden. Meine ehemaligen Pflegeeltern sind jetzt woanders, „Silicon Valley“ heißt es. Ich weiß nicht, wo das ist. Es muss weit weg sein, denn sie sind mit dem Flugzeug geflogen.
Warum haben sie mich nicht mitgenommen, Dee-Dee? Mir wird übel.
Dee-Dee guckt mich traurig an. Ich weiß, wie sie sich fühlt.
Alle verlassen sie uns. Am Ende lassen sie uns immer allein.
„Hey, mach dir nichts draus. Solange wir zu zweit sind, wird alles gut“, sagt Dee-Dee.
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und nicke. Ja, alles wird gut.
Mrs. O’Reilly plappert munter weiter. Wie toll das neue Haus in Drumconda ist. Wie gut es mir dort gefallen wird. Wie aufregend, was für ein Abenteuer. Das sagt sie jetzt schon zum zweiten Mal. Und obwohl ich nicht in einem Flugzeug fliegen muss, weiß ich ganz genau, dass es weit weg ist von meinem alten Zuhause.
„Deine neue Pflegemutter, Tess, nimmt seit dreißig Jahren Kinder bei sich auf. Du kriegst ein eigenes Zimmer. Ganz für dich allein. Ist das nicht toll? Und du kannst jeden Tag zu Fuß zur Schule gehen. Wie vorher bei Joan und Daniel.“
Sie lächelt mir im Rückspiegel zu.
Ihre Augen – ihre Augen lächeln nicht. Wenn mich jemand anlächelt, gucke ich den Leuten immer in die Augen, um zu sehen, ob sich da Falten bilden. Wenn ja, ist das Lachen echt. Viele Menschen tun nur so, als würden sie lachen. Mrs. O’Reilly zum Beispiel.
Jetzt bremst sie. Und fährt dann mit einem Ruck an, in den Feierabendverkehr hinein. Mir ist ein bisschen schlecht. Also schließe ich die Augen und versuche, die Übelkeit zu unterdrücken.
„Bald beginnen die Weihnachtsferien. Die Schule fängt für dich aber erst im Januar an. Dann hast du Zeit, dich einzuleben. Neujahr, ein neuer Anfang. Das ist doch super! Und so aufregend, nicht wahr? Dir wird’s gefallen, glaub mir. Wart’s nur ab“, sagt sie mit dieser falschen Stimme.
Ich traue ihr nicht. Obwohl ich erst acht bin, weiß ich, dass man niemandem trauen darf. Ständig lügen die Leute.
Dee-Dee glaubt das auch.
„So viel Verkehr heute Abend.“ Mrs. O’Reilly schaut nervös auf die Uhr.
Die Scheibe ist beschlagen. Mit meinem Arm wische ich darüber und sehe aus dem Fenster. Wir halten, schon wieder Rot. Bei Grün dürfen wir fahren. Das habe ich in der Schule gelernt. Was Gelb bedeutet, kann ich mir nie merken. Soll man da halten oder gehen?
Jetzt fahren wir weiter. Aber nur ein bisschen, dann bremsen wir wieder.
Als mein Magen sich zusammenzieht, sagt Dee-Dee: „Du darfst nicht in Mrs. O’Reillys Auto spucken!“ Ich spüre Magensäure in meiner Kehle und schlucke. Mrs. O’Reilly würde so wütend werden, wenn ich mich in ihrem Auto übergeben muss. Vielleicht bringt sie mich dann nicht zu diesem neuen Zuhause. Und was dann? Wo soll ich dann hin?
Verzweifelt versuche ich, an irgendetwas anderes zu denken. Irgendetwas, jetzt bloß nicht spucken!
Ein rotes Auto hält neben uns. Um mich abzulenken, zähle ich die Insassen. Eins, zwei, drei, vier. Kinderleicht. Im Rechnen bin ich gut. Ich kann bis eintausend und neunundzwanzig zählen. Bestimmt schaffe ich auch zweitausend. Aber letztes Mal habe ich kurz nicht aufgepasst und bin durcheinandergekommen. Vielleicht schaffe ich’s jetzt.
Ein Mädchen guckt zu mir rüber und winkt. Ich winke zurück. Zu ihr und ihrer Familie. Jedenfalls glaube ich, dass es eine richtige Familie ist. Der Vater fährt, die Mutter sitzt neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie dreht sich nach hinten, zu ihren Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Ich kann nicht hören, was sie sagt. Aber es muss lustig sein, denn alle lachen.
Die Mutter hat ein schönes Gesicht. Freundlich und sehr fröhlich sieht sie aus.
Wie kann man nur so blöd sein? Verschwinde! Hau ab, du blödes Gör!
Tränen schießen mir in die Augen, wenn ich mich daran erinnere. Es tut weh, wie Seitenstechen, wenn ich zu schnell laufe. Ich hauche an die Fensterscheibe, damit sie beschlägt und ich die lachende Familie nicht mehr sehen muss.
Bis tausend zählen mag ich auch nicht mehr.
„Nicht weinen!“, sagt Dee-Dee, als sie sieht, wie traurig ich bin. „Die Erwachsenen regen sich nur auf, wenn du weinst.“
Ich seufze, kneif mir in den Arm und senke wieder den Blick. Still streichle ich Dee-Dees Kopf.
„Was wünschst du dir dieses Jahr vom Weihnachtmann, Belle?“, fragt Mrs. O’Reilly, und ich erschrecke.
Traurig zucke ich mit den Schultern. Mir doch egal. Der Weihnachtsmann weiß noch nicht mal, wo ich wohne. Die letzten zwei Jahre war er bei Joan und Daniel. Und davor? Davor ist er, glaube ich, gar nicht gekommen.
„Der Weihnachtsmann kann Wunder vollbringen. Bestimmt findet er dich“, sagt Dee-Dee. „Ganz bestimmt.“ Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Nur Dee-Dee kann mich immer aufmuntern.
„So, jetzt muss ich nur noch einen Parkplatz finden“, meint Mrs. O’Reilly.
Auf beiden Straßenseiten stehen rote Backsteinhäuser. Es ist jetzt fast ganz dunkel. Große Bäume werfen Schatten auf die Vorgärten. In einigen der Fenster sehe ich Weihnachtsbäume und Lichterketten in der Auffahrt.
„Belle, sieh mal! Die rote Tür da vorn, da wohnst du.“ Mrs. O’Reilly zeigt auf ein Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
In dem Fenster sehe ich keinen Weihnachtsbaum.
Das Haus sieht … es sieht düster aus und bedrohlich. Ich glaube nicht, dass ich mich da wohlfühlen werde.
„Nicht weinen!“, ermahnt mich Dee-Dee, als wir die Auffahrt hochgehen. An der Tür klingelt Mrs. O’Reilly. Mir stockt der Atem, und ich halte Dee-Dee ganz fest. Ein Schatten nähert sich der Tür, das erkenne ich durch die dicken Glasscheiben.
„Du zitterst ja“, sagt Mrs. O’Reilly und drückt mich an sich. „Gleich hast du’s schön warm und kuschelig.“
Jemand öffnet die Tür. Ich schnappe nach Luft und weiche einen Schritt zurück. Vor mir steht der große böse Wolf … in einem hellgelben Kleid.
Der Wolf sieht aus, als würde er mich gleich fressen wollen.
„Sie ist dick!“, sagt Dee-Dee.
Sei lieb, schimpfe ich. Das sagt man doch nicht. Allerdings habe ich noch nie jemanden so Dickes gesehen.
„Wahrscheinlich ist sie so dick, weil sie alle Kinder auffrisst, die zu ihr kommen.“ Dee-Dee hört einfach nicht auf.
Echt toll, Dee-Dee. Das hilft mir gar nicht. Schnell werfe ich einen Blick zurück auf das Auto.
Bevor ich zurückrennen kann, lächelt der Wolf breit. Reißzähne hat sie nicht. Nur leicht gelbliche Schneidezähne. Und sogar Dee-Dee findet, dass sie sich darüber zu freuen scheint, uns zu sehen. Sie bittet uns ins Haus und sagt, sie hätte Süßigkeiten für uns.
„Okay.“ Dee-Dee ist einverstanden. Wir beide lieben Süßigkeiten.
Ich setze mich an einen großen Tisch in der Küche. Das Tischtuch ist gelb-rot gemustert und leicht abzuwischen, falls man mal kleckert.
Die Frau, Tess, hat mir ein Glas Milch und ein paar Schokoriegel hingestellt.
„Lang zu, Kleines“, sagt sie und lächelt mich mit ihren großen Zähnen an. Aber sie macht mir keine Angst mehr. Außerdem gefällt mir ihr gelbes Kleid. Es sieht schön aus. Dann verschwinden sie und Mrs. O’Reilly im Flur und unterhalten sich flüsternd über mich.
„Spitz die Ohren!“, fordert Dee-Dee mich auf. Mal hören, was die sagen.
„Sie spricht immer noch kein Wort. Seit Wochen schweigt sie.“ Mrs. O’Reilly seufzt. „Ich weiß einfach nicht mehr, was ich mit ihr machen soll.“
„Wen wundert das? Die Kleine muss fürchterlich verängstigt sein. Andauernd wird sie herumgeschubst und kommt vom Regen in die Traufe. Bei wie vielen Pflegeeltern war sie schon?“, fragt Tess. „Sie wird sicher wieder reden. Aber erst, wenn sie so weit ist, vorher nicht.“
Mrs. O’Reilly antwortet nicht auf die Frage. Ich könnte sie beantworten. Bei vier Pflegeeltern war ich, seit meine Mutter mich weggegeben hat. Aber ich bin ja erst acht und weiß vieles nicht. Vielleicht waren’s auch mehr als vier Familien. Was ich weiß, ist, dass Erwachsene ungern über meine Vergangenheit sprechen. Immer wenn ich meine Mutter erwähne, werden sie nervös.
„Ich habe schon alles versucht, um sie zum Reden zu bringen. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter“, erklärt Mrs. O’Reilly und stöhnt. „Sie werden eine Engelsgeduld mit ihr aufbringen müssen, Tess.“
„Es ist wie mit dem Schmetterling. Je mehr man versucht, ihn zu fangen, desto weniger wird man ihn bekommen. Wartet man ruhig ab, setzt er sich vielleicht leise auf deine Schulter“, erwidert Tess.
Keine Ahnung, was sie damit sagen will. Fragend schaue ich Dee-Dee an. Die weiß es auch nicht. Aber Dee-Dee mag Tess, und auf Dee-Dees Meinung ist Verlass.
„In ihrer alten Schule wurde sie gehänselt. Vielleicht ist es ganz gut, dass sie jetzt die Schule wechselt und da wegkommt“, erzählt Mrs. O’Reilly. „Rassistische Bemerkungen waren das vor allem.“
Was genau „rassistische Bemerkungen“ sind, weiß ich nicht. Aber die anderen Kinder haben mich manchmal geärgert. Sie haben schlimme Schimpfworte benutzt und gesagt, ich soll nach Hause gehen, zurück nach Afrika. So was in der Art.
Das verwirrt Dee-Dee und mich jedes Mal. Ich war ja noch nie in Afrika. Ich war nie fort aus Irland. Meine Heimat ist Dublin. Eigentlich bin ich also schon zu Hause. Oh, Mann, ist das kompliziert.
„Ach, die Ärmste, wie schrecklich.“ Tess seufzt. „Dabei sollte man meinen, wir wären heutzutage ein wenig toleranter. Wir schreiben das Jahr 1988, um Himmels willen.“
„Sie fällt halt auf. Hier leben einfach nicht so viele farbige Kinder wie vielleicht in England“, erwidert Mrs. O’Reilly.
Farbig. Schon wieder sagen die „farbig“ zu mir, Dee-Dee.
„Außerdem hat sie Albträume. Sie will nicht darüber reden. Aber seien Sie darauf gefasst, dass sie nachts schreiend aufwacht“, fährt Mrs. O’Reilly fort.
Mir wird ganz flau im Magen. Ich habe Angst, dass Tess mich jetzt nicht mehr haben will. Besonders gute Dinge erzählt Mrs. O’Reilly ja nicht gerade von mir.
Was sie noch alles sagen, verstehe ich nicht, da sie flüstern. Nach einer Weile streckt Mrs. O’Reilly den Kopf zur Küchentür herein. Sie hat wieder ihr falsches Lächeln aufgesetzt.
„Ich komme nächste Woche und schaue, wie es dir geht, Belle.“ Und schon ist sie gegangen. Einfach so.
„Wir können es kaum erwarten, Mrs. O’Reilly“, sagt Dee-Dee, „wir werden Sie bestimmt vermissen.“
Ich kichere. Dee-Dee ist so lustig.
„Das muss Dee-Dee sein, deine Lieblingspuppe.“ Erschrocken horche ich auf, als Tess in die Küche kommt. „Wie schön sie ist! Und was für ein hübsches Kleid sie trägt! Mrs. O’Reilly hat mir bereits von ihr erzählt und dass du nirgends ohne Dee-Dee hingehst.“
Ich nicke, froh, dass Tess Bescheid weiß.
„Wollt ihr, du und Dee-Dee, dein Zimmer sehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, bedeutet sie mir winkend, ihr zu folgen. Schnaufend steigt sie die Treppe hinauf.
Hinter einer weißen Holztür steht in einem kleinen Zimmer ein Bett. Die Bettdecke ist rosa, darauf liegen überall kleine lila Kissen. Auf dem Nachttisch aus hellem Holz steht eine rote Lampe. Tess zeigt mir, wie man sie an- und ausschaltet.
Die Tapete ist super. Rosa Blüten ranken da an grünen Blättern. Und der Kleiderschrank … Der sieht aus wie der in dem Buch „Die Chroniken von Narnia“.
Tess öffnet die Schranktür. Ein Pelzmantel ist da zwar nicht drin, aber stattdessen hängen ein paar Kleider auf Bügeln, und in den Fächern liegen ordentlich gefaltet ein paar Oberteile.
„Ich habe vorhin in der Stadt ein paar Sachen gekauft. Unterwäsche, Socken, einen Schlafanzug, T-Shirts und eine Jeans. Alles, was du sonst noch brauchst, werden wir morgen besorgen. Ich weiß ja nie, was ein Kind alles benötigt. Bis zu dem Augenblick, in dem es durch meine Tür tritt. Ich fürchte, ich habe deine Kleidergröße falsch eingeschätzt. Sieh nur, was für wunderbar lange Beine du hast. Da müssen wir wohl eine größere Hose kaufen.“
Schüchtern blinzle ich sie an. Sie ist bestimmt böse wegen meiner Beine. Aber im Gegenteil, sie lächelt, als sie einen Bademantel aus dem Schrank holt und einen nigelnagelneuen Schlafanzug, der noch verpackt ist. Er ist ebenfalls rosa und ganz weich, verziert mit roten Herzen. Den mag ich.
„Der müsste dir passen. Willst du ihn dir gleich anziehen und es dir bequem machen?“, fragt Tess. „Das mache ich abends auch gerne. Wenn sich kein Besuch angekündigt hat, dann gibt es doch nichts Schöneres, als es sich im Schlafanzug vorm Fernseher mit einer Tasse Tee gemütlich zu machen. Und wir zwei beiden machen es uns heute besonders schön, um deinen Einzug zu feiern.“ Erwartungsvoll lächelt sie mich an.