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Für Jakob und Anna.
Für das Julenkind
und für Anja.
ISBN 978-3-492-97578-0
© Piper Verlag GmbH, München 2008
© Arche Literatur Verlag AG, Zürich-Hamburg 2007
Covergestaltung: Büro Hamburg. Anja Grimm, Stefanie Levers
Coverabbildung: Michael Fischer-Art
Bildredaktion: Büro Hamburg. Alke Bücking, Charlotte Wippermann
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Liebe Skarlet, das ist ein Brief aus dem Jenseits, aber Du bist eine der ganz wenigen, denen ich zutraue, mit der makabren Situation umzugehen.
Sie saß in der S-Bahn und dachte, daß sie jetzt weinen müßte. Sie starrte aus dem Fenster und sah, was sie immer sah, wenn sie in dieser Gegend abends aus dem Fenster schaute. Nichts. Aber auch bei Tageslicht wäre es nicht anders gewesen. Ein deprimierendes Bild. Stillgelegte Industrieanlagen, das ehemalige Kraftwerk, dessen Schornsteine einst als Wunder der Baukunst galten und für dessen Abrißkosten jetzt von der Stadtverwaltung Sponsoren gesucht wurden. Daneben die ehemalige Großdruckerei, dann das Kugellagerwerk, Bürogebäude, darin nicht eine einzige Fensterscheibe, die man noch einwerfen konnte. Das Gelände vor den zugemauerten Eingängen war mit Büschen und meterhohen Bäumen bewachsen, und verrottete Bauzäune sperrten ab, was niemanden mehr interessierte. In dieser Gegend lag die Stadt im Koma. Sie starrte aus dem Fenster, suchte vergeblich nach Lichtern, versuchte, die Sterne am Himmel zu erkennen, doch das Neonlicht blendete, und die Deckenlampen spiegelten sich im Glas.
Meine größte Angst ist, daß alles wirklich so banal ist, wie sie es uns immer gesagt haben.
Sie sah in die spiegelnde Fensterscheibe und versuchte, sich vorzustellen, wo er jetzt sein könnte.
Aber auch ihre Phantasie war in diesen Dingen begrenzt und folgte nur den vorgegebenen Mustern, die sich zwischen atheistisch oder religiös entschieden, zwischen Erde und Himmel. Und obwohl sie in einem sozialistischen Land aufgewachsen war, kam ihr als einzig möglicher Ort, wo Paul jetzt sein könnte, das Paradies in den Sinn. Aber wo war das überhaupt? Sie fand, daß es für ein Paradies im Himmel momentan zu kalt war. Das Jahr verabschiedete sich mit Frost, es wehte ein eisiger Wind, und die Temperaturen waren so niedrig, daß kein Schnee fallen konnte. Sie sehnte sich nach diesem Schnee, nach der Stille, die alles zudeckte, die kaputten Industrieanlagen, die schmutzigen Straßen, die Gefühle. In ihrer Erinnerung hatte es in ihrer Kindheit jeden Winter von Dezember bis März geschneit. Noch nie vorher war ihr der Gedanke gekommen, daß es im Paradies auch kalt sein könnte. Sie hatte es sich immer mit Temperaturen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Grad und mit einer erträglichen Luftfeuchtigkeit vorgestellt. Ein Teneriffa für alle. Doch je länger sie darüber nachdachte, um so fragwürdiger wurde ihr das Ganze. Sie sah eine riesige Ferienanlage vor sich, in der alle Platz finden mußten, die sich auf Erden ausreichend gut benommen hatten, und am Ende würde sie jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen müssen, um ihr Handtuch auf eine Liege am Pool zu legen. Der Gedanke, das Paradies mit Unbekannten teilen zu müssen, war unerträglich, aber genauso absurd war die Vorstellung, mit Menschen auf Ewigkeit zusammenzusein, mit denen sie schon auf Erden nichts zu tun haben wollte. Sie stellte sich vor, daß sie gemeinsam mit ihrem Nachbarn, der jeden Sonntagmorgen die Zählerstände im Keller kontrollierte und in ein Buch eintrug und der nichts so sehr liebte, wie im Wohnmobil durch Norwegen zu fahren, in ein und dasselbe Paradies käme. Womöglich würde er ihr nachts heimlich die Heizung abdrehen. Vieles erschien ihr auf den ersten Blick unklar: In welcher Sprache sollten sich alle verständigen? Gab es für jede Nation ein eigenes Paradies? Oder waren die Paradiese nach Berufsgruppen getrennt? Und wo würde sie Janis Joplin und Jimi Hendrix finden?
Schon als Kind war sie ständig gescheitert, weil sie versucht hatte, sich alles konkret vorzustellen. Am schlimmsten war der Gedanke an die Unendlichkeit gewesen. Der Gedanke an die Unendlichkeit hatte sie krank gemacht. Jeder Teller hatte einen Rand, jedes Fußballfeld eine Torlinie. Alles hörte irgendwo auf, das Zimmer, die Straße. Jeder See hatte ein Ufer, und selbst Ozeane stießen irgendwann an Land. Es war schon schwer genug gewesen, sich damit abzufinden, daß die Erde eine Kugel war. Und dann sollte das Weltall auch noch unendlich sein? Keine Wand, keine Tür? Aber selbst wenn irgendwo eine Wand wäre, so gab es immer ein Davor und ein Dahinter, hinter jeder Tür war eine andere Tür. Und wo war in dieser ganzen Unendlichkeit Gott? Sie hatte den Pfarrer in der Christenlehre danach gefragt und seine Erklärungen, daß Gott überall wäre, nicht gelten lassen. Gott konnte nicht gleichzeitig ein Alpenveilchen und der Pudel von Frau Schindler sein. Sie hielt die Formulierung: Gott ist in uns, für eine der Lügen der Erwachsenen, die wie immer zu bequem waren, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Sie sah den Pfarrer bei der Frage, ob Gott beim Betreten der Wohnung Hausschuhe anziehen müsse, zusammenzucken. Wer kochte für Gott, wer wusch seine Wäsche? Und wann hatte Gott eigentlich Geburtstag? Statt ihr zu antworten, schrieb der Pfarrer einen Brief an ihre Eltern, die, nachdem sie die Fragen auch nicht beantworten konnten, mit ihr einen Arzt konsultierten. Der vermutete zuerst einen Herzfehler, bescheinigte ihr aber dann nur eine große Phantasie und riet den Eltern, sie von aller Aufregung und vor allem von der Kirche fernzuhalten, was für einen Arzt aus einer Poliklinik immer ein guter Rat war. Endlich hatte sie mehr Zeit, um sich ihren Aufgaben als Junger Pionier zu widmen.
Bei den Jungen Pionieren war alles viel konkreter. Zwar gab es genau wie in der Kirche zehn Gebote, die jeder einhalten sollte. Aber die Heiligen waren richtig tot und geisterten nicht als virtuelle Erscheinung durchs tägliche Leben. Im Sinne von Ernst Thälmann hieß, wir machen es so, wie es Ernst Thälmann gemacht hätte, wenn er nicht feige und hinterhältig ermordet worden wäre. Heute stellte sie sich Gott vor wie eine Datei im Internet, einen Link, der bei allem, was man suchte, vorhanden war.
Noch immer hielt sie den Brief aus dem Jenseits, von dem weder Paul noch sie wußten, wo es war, in der Hand. Und wie immer hatte sie den Umschlag mit einem Finger aufgerissen, das Papier achtlos zerfetzt, wer interessierte sich schon für leere Umschläge, aber vielleicht hätte sie für einen letzten, für einen allerletzten Brief versuchen können, vorsichtig die Gummierung zu lösen, oder wenigstens für das Aufschlitzen einen Stift oder Schlüssel nehmen sollen. Sie versteckte den Umschlag zwischen den Briefseiten und fixierte den Himmel, den sie durch die Scheibe nicht sehen konnte.
Paul war immer ordentlich gewesen. Die Bleistifte auf seinem Schreibtisch hatten exakt nebeneinander gelegen, und nie hatte es eine abgebrochene Spitze gegeben. Nie war er auch nur eine Minute unpünktlich gewesen, und nie hatte er eine einzige Entscheidung rückgängig gemacht. War gewesen. Wie leicht sich das dachte, und dabei war er noch nicht einmal sieben Stunden tot.
Am Nachmittag war der Anruf gekommen. Sie hatte in der Küche gestanden und gekocht, Spaghetti wie immer, und Musik gehört, wie immer. Nannini, wie fast immer. Und bei Io e Bobby McGee hatte das Telefon geklingelt, und sie war eher unwillig auf den Flur gegangen und hatte den Hörer abgenommen. Es gab nichts Schlimmeres als weichgekochte Spaghetti. E’ come il primo sogno di chi ha smesso d’impazzire e finalmente in pace può morire, hatte Nannini in der Küche gebrüllt, und Judith hatte am Telefon gesagt: Paul ist eben gestorben. Und sie war in die Küche gegangen und hatte die Musik abgestellt. Dann war es still, in den Boxen und am anderen Ende der Leitung.
Soll ich kommen? Laß dir Zeit.
Und sie war zurückgegangen zum Herd und hatte die Spaghetti mit dem Holzlöffel umgerührt und dann die Zeituhr auf acht Minuten gestellt. Dann hatte sie kochendes Wasser über die Tomaten gegossen, exakt bis zum Rand der Schüssel. Um diese Jahreszeit waren die Tomaten teuer und hatten kaum Geschmack, und die Schale ließ sich schwer und nur mit Hilfe eines Messers lösen. Und sie dachte, daß es besser gewesen wäre, wenn sie sich für geschälte Tomaten aus der Dose entschieden hätte. Sie hatte Olivenöl in den Tiegel gegeben, gewartet, bis das Öl Blasen schlug, und dann vorsichtig die geschnittenen Tomaten vom Teller in das heiße Öl geschoben. Sie war bei dem Zischen zusammengezuckt. Alle Geräusche erschienen ihr unendlich laut. Sie hatte sich an den Küchentisch gesetzt und inmitten der ungewohnten Stille Spaghetti gegessen.
Sonst war sie immer nervös gewesen, bevor sie Paul besuchen ging. Sie hatte ständig auf die Uhr gesehen und wieder und wieder ausgerechnet, wie lange sie zu seiner Wohnung brauchen würde. Sie wollte weder zu spät noch zu früh kommen. Prinzipiell war sie bei ihren Terminen nie wirklich unpünktlich, aber sie kam meistens im letzten Moment, erreichte den Zug kurz vor Abfahrt und nahm es in Kauf, unter den bösen Blicken aller Mitreisenden als letzte in ein Flugzeug zu steigen. Sie haßte es, minutenlang untätig auf Bahnsteigen zu stehen, sie litt in Wartezimmern bei Ärzten und war jedesmal kurz davor, zur Mörderin zu werden, wenn jemand sich an einer Ladenkasse nicht entscheiden konnte, wie er nun bezahlen wollte. Warten Sie, vielleicht habe ich das Geld doch noch passend! Alles in ihrem Leben mußte in Bewegung sein, und nur sie war berechtigt, es anzuhalten.
Bei den Besuchen war es anders. Nur er allein entschied, wann sie kommen konnte. Sie machten die Termine immer kurzfristig, je nachdem, wie er sich fühlte. Meist rief Judith am Vormittag an: Wenn du willst, kannst du uns besuchen kommen. Am Anfang hatte sie noch gefragt: Wann? Bis sie begriffen hatte, daß es noch am selben Tag sein sollte. Wobei er immer einige Zeit brauchte, um sich auf den Besuch vorzubereiten. Er mußte sich ausruhen, schlafen, sich ein Schmerzmittel spritzen lassen, damit sie wenigstens eine Stunde zum Reden hatten. Der Zeitpunkt zwischen Judiths Anruf und dem Besuch war Stillstand und Beschleunigung zugleich. Sie war nicht mehr in der Lage, etwas Sinnvolles zu tun. Sie räumte alle möglichen Dinge von einer Ecke in die andere, um sie wenige Minuten später wieder zurückzuholen, wischte Fußböden, putzte Fenster, nur um die Bilder zu verdrängen, die sie daran erinnerten, was sie am Nachmittag erwarten würde. Nie war ihre Wohnung so sauber gewesen wie in den letzten Wochen dieses Jahres.
Jetzt war sie völlig ruhig, sie ging aus dem Haus, ohne vorher auf den Fahrplan gesehen zu haben. Jetzt war die Zeit stehengeblieben. Von weitem hörte sie den Signalton der Schranke. Sie rannte nicht.
Es war der vorletzte Tag des Jahres. Die Straßen waren leer. Keiner ging freiwillig bei diesem Wetter spazieren. Keine neuen Fahrräder waren zu sehen, keine Puppenwagen, selbst die Kinder hatten bei dieser Kälte die Lust verloren, ihre Geschenke zur Schau zu stellen. Erst sehnten sich alle nach den Feiertagen, und dann waren sie froh, wenn sie endlich vorüber waren. Morgen noch, dann war es wieder einmal geschafft, und die Dekoration konnte aus den Schaufenstern genommen werden. Wir wünschen unseren Kunden ein frohes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt lag hinter einer Einzäunung ein Stapel Weihnachtsbäume. Umsonst gefällt.
In ihrer Kindheit war die Vorfreude auf die Weihnachtszeit fast unerträglich gewesen. Geblieben waren bestimmte Rituale. Nie hätte sie einen Pfefferkuchen oder ein Stück Weihnachtsstolle vor dem Ersten Advent gegessen, und beschert wurde am Heiligabend erst nach Einbruch der Dunkelheit. Aber im Mittelpunkt aller Vorbereitungen stand der Weihnachtsbaum. Bereits der Kauf war eine Zeremonie. Spätestens eine Woche vor Weihnachten fuhr sie alle bekannten Verkaufsstände ab. Beim Weihnachtsbaumkauf galten Regeln, die jegliche Ungeduld außer Kraft setzten. Kaufte sie sonst alles sofort und über jeden Zweifel erhaben, litt sie bei der Baumauswahl unter einer Entscheidungsschwäche. Nie war das Objekt ihrer Begierde vollkommen: Mal fehlte ein Ast an der entscheidenden Stelle, mal war der Stamm etwas gebogen oder die Spitze schief. Am Ende mußte sie immer einen Kompromiß eingehen. Beim Weihnachtsbaumkauf kam ihr jeder Realitätssinn abhanden. Im letzten Jahr hatte sie sich bei der Spannweite der Äste so verschätzt, daß sie, abgesehen davon, daß es in ihrem Wohnzimmer aussah wie im Thüringer Wald, den Eßtisch zwei Wochen lang nicht benutzen konnte.
In diesem Jahr hatte sie ihren Baum erst zwei Tage vor Heiligabend gekauft. Sie hatte nicht gesucht, sondern sich nur zwischen groß und klein entschieden. Beim Schmücken hatte sie in kurzer Zeit das Ritual, das sonst Stunden dauerte, abgearbeitet: die silbernen Tannenzapfen an die oberen Zweige, dann die bunten Figuren, das Christkind, die Engel und die bemalten Kugeln. Ohne innere Anteilnahme hatte sie die Fäden durch die Kringel gezogen und mit dem Gewicht der Schokolade die Kerzen auf den Zweigen ausgerichtet. Am Ende kam das Lametta, Faden für Faden. Als sie nach nicht einmal einer Stunde fertig war, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß der Baum aussah wie in jedem Jahr.
Paul hatte sie immer wegen ihres Weihnachtsbaumfanatismus verspottet. Er hatte bereits im Herbst angefangen, Stolle zu essen, und das größte Zugeständnis an das Fest war ein Strauß mit Tannenzweigen.
Sie war allein auf dem Bahnsteig, die nächste S-Bahn kam erst in zehn Minuten. Sie hatte den Wunsch zu rauchen, aber dazu hätte sie in dieser Kälte die Hände aus den Taschen nehmen müssen, ganz abgesehen davon, daß sie sich vorgenommen hatte, nicht mehr allen Pawlowschen Reflexen nachzugeben, was in diesem Fall hieß: Warten gleich rauchen. Früher hatte sie ihren Körper gedankenlos geschädigt.
Die S-Bahn näherte sich als immer größer werdender Punkt, hielt mit quietschenden Rädern, und wie immer stank es nach verbranntem Gummi. Und sie setzte sich wie immer nach oben, links auf die zweite Bank am Fenster. Sonst hatte sie sich während der Fahrt überlegt, was sie ihm erzählen würde, kleine Geschichten aus ihrem Leben, das sich in einer Mischung aus Langeweile und Chaos bewegte. Sie hatte im Hauptbahnhof ein Geschenk für ihn gekauft, Schokolade, Obst, irgend etwas, von dem sie hoffte, daß er es vielleicht doch essen würde. Sie hatte Bücher gekauft, von denen sie wußte, daß er sie gern lesen würde, wenn er die Konzentration dazu hätte. Und Blumen, Blumen, Blumen. Blumen waren etwas Lebendiges, sie veränderten ihre Form, ihre Farbe, sie rochen nach Sonne und Wind. Sie wußte, daß er große Sträuße liebte, und einmal hatte sie zehn Sonnenblumen gekauft, die so schwer waren, daß sie den Strauß auf der Schulter bis zu der Wohnung tragen mußte. Bei ihrem Besuch am Weihnachtsabend hatte sie zwanzig rote Rosen genommen, es schien ihr plötzlich wichtig, etwas mitzunehmen, das nicht an Weihnachten erinnerte, sie wollte, daß es sofort Frühling wurde, und dann hatte sie den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer gesehen. Es war das erste Weihnachtsfest mit Lukas, das erste Weihnachtsfest mit seinem Sohn.
Es kam ihr komisch vor, daß sie mit leeren Händen vor der Haustür stand. Sie klingelte und wartete auf den Summer. Sie mußte ihren Namen nicht sagen. Die meisten Freunde hatten sich in den letzten Monaten zurückgezogen. Aus Feigheit oder aus Angst oder einfach nur aus Gedankenlosigkeit. Während sie im Fahrstuhl nach oben fuhr, sah sie ihr Gesicht im Spiegel. Sie war ganz ruhig, ruhiger als sonst, wenn sie versucht hatte, ihrem Gesichtsausdruck etwas Beiläufiges zu geben. Hallo, ich bin eben mal vorbeigekommen. Sie wußte, daß er Betroffenheit haßte, was nützte es ihm, wenn sie bei ihren Besuchen vor Mitleid zerfloß, das einzige, was sie für ihn tun konnte, war, mit ihm zusammen zu lachen. Bis zum Schluß.
Auf dem Flur vor der Wohnungstür stand der Rollstuhl neben dem Kinderwagen. An der Tür wartete Judith, sie umarmten sich, wie immer. In der Wohnung der bekannte Geruch, irgend etwas Chemisches, das an Krankenhaus erinnerte. Doch dieses Mal ging sie nicht nach oben, sondern blieb auf der Etage.
Im Wohnzimmer neben dem Weihnachtsbaum saß ein Mann im schwarzen Anzug. Er machte ein Gesicht, als wäre ihm ein großes Unglück widerfahren. Wir haben ein Problem, sagte Judith, ich kann mich für keinen Sarg entscheiden. Der Bestatter schob eine Mappe über den Tisch. Schweinsleder mit eingeprägtem goldenem Kreuz. Es gab für alles Kataloge. Auch für Särge.
Sie überblätterte das Inhaltsverzeichnis, die Rubrik »Wir über uns« und das Kapitel »Kompetente Hilfe im Trauerfall«, bis sie endlich die Abteilung »Särge« erreicht hatte.
»Bitte wählen Sie.« Kiefernsärge, Eichensärge, Mahagonisärge, Lärchenholzsärge, Kirschholzsärge. Als sie Studenten waren, wollten sie wie Janis Joplin beerdigt werden. Sie wollten eine Handvoll Dollar für ihre Freunde hinterlassen. Es sollte ein großes Fest geben, bei dem alle auf ihr Wohl tranken, und am Ende, wenn alle ausreichend betrunken wären, sollte die Asche irgendwo im Meer verstreut werden. Sie waren sich damals sicher, daß sie früh sterben würden. Nur wer jung starb, blieb unvergessen. Sie würden irgendwo mit dem Flugzeug abstürzen, bei Windstärke acht ertrinken oder von einem herabstürzenden Felsbrocken erschlagen werden. Krankheit war in ihren Überlegungen nicht vorgekommen.
Eichentruhe Vollholz Ausführung hell patiniert. Großer Eichen-Kuppeltruhensarg »Waldfrieden«, Ausführung Vollholz mit zehnteiligem Beschlag. Lärche-Truhensarg »Abendmahl«, Ausführung Vollholz hell patiniert. Die Särge erinnerten sie an die Schrankwand ihrer Mutter. Altdeutsch, mit beleuchtetem Barfach.
Der Mensch geht in die Erde ein, nicht in die Geschichte, hatte Janis Joplin einmal gesagt, und wahrscheinlich hatte sie recht damit. Aber in Deutschland ging kein Mensch einfach so in die Erde ein, sondern wenn, dann nur in einem Sarg. Vielleicht sollten wir ihn lieber verbrennen, sagte Judith.
Doch die Abteilung »Urnen« war auch nicht überzeugend. Die meisten Urnen erinnerten Skarlet an russische Volkskunst, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß es Pauls Wunsch gewesen wäre, in einer mit goldenen Ornamenten bemalten Blumenvase zu enden. Sie blätterte zurück zum Inhaltsverzeichnis: Erdbestattung, Feuerbestattung, Seebestattung. Die Möglichkeiten hielten sich, bis auf die Weltraumbestattung, in den bekannten Grenzen. Die Menschen, zu deren Beerdigung sie bisher gegangen war, hatten alle gut zu diesen altdeutschen Schrankwandoder Bauernküchensärgen aus dem Katalog gepaßt. Vielleicht war das Sargproblem einfach nur ein Generationsproblem, und in wenigen Jahren würde es fünfunddreißigteilige ikea-Särge zum Mitnahmepreis geben oder den sero-Sarg aus recyceltem Polyäthylen oder den praktischen öko-Sarg zum Auseinanderfalten.
Haben Sie auch bunte Särge?
Auf der Glatze des Bestatters hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Er unterdrückte ein leises Stöhnen, doch dann entspannte sich sein Gesicht. Sie könnten einen unbehandelten Sarg nehmen, und wir würden ihn in der Farbe Ihrer Wahl lackieren.
Können wir den Sarg auch selbst bemalen? Hier in der Wohnung?
Der Bestatter zuckte zusammen wie damals der Pfarrer, den sie an ihrem letzten Tag in der Christenlehre gefragt hatte, ob Gott sich auch Klopapier auf die Wunden klebte, wenn er sich beim Rasieren schnitt. Aber da die Arbeit eines Bestatters nicht nur auf Nächstenliebe, sondern auch auf Fassungbewahren ausgerichtet war, unterdrückte er sein Entsetzen und versprach, den Sarg am nächsten Tag zu liefern. Ein verkaufter Sarg war ein verkaufter Sarg. Sie vereinbarten einen Termin für den kommenden Vormittag.
Ich würde den Toten dann mitnehmen?
Er war erleichtert, als sie beide nickten. Er hatte Glück, denn sie hatten die Möglichkeit, Paul noch eine Nacht zu Hause behalten zu können, nicht in Betracht gezogen.
Der Bestatter telefonierte und sagte die Adresse durch.
Damals, als ihr Vater starb, war es schwer gewesen, jemanden zu finden, der ihn abholte, denn sonntags ruhten der größte Teil der Volkswirtschaft und auch das sozialistische Bestattungswesen. Ein guter Genosse starb werktags während der Öffnungszeiten und nicht Sonntag mittag. Zwar stand in der Zeitung unter der Rubrik »Bereitschaftsdienste« neben dem Zahnärztlichen Notdienst und der Klempnerbereitschaft auch eine Telefonnummer des örtlichen Bestattungswesens. Aber das größte Problem war, eine intakte Telefonzelle zu finden. Entweder es fehlte der Hörer oder die Wählscheibe, oder das Geld blieb stecken. Und als sie nach langer Suche endlich Glück hatte, ging niemand an den Apparat. Erst mit Hilfe einer Nachbarin, deren Freundin einen Neffen bei einem privaten Bestattungsunternehmen hatte, war es ihnen gelungen, zwei Träger in die Wohnung zu rufen. Die beiden Männer hatten glasige Augen, was weniger an der geheuchelten Anteilnahme, sondern eher an dem erhöhten Alkoholspiegel lag. Ein Toter – ein Roter! sagte der eine Träger, noch bevor er ihnen sein Beileid bekundete, denn umsonst verließ auch im Sozialismus niemand seine Stammkneipe. Ein Toter – ein Roter, hieß, daß die beiden für ihr Kommen mit einem Fünfzigmarkschein belohnt werden wollten. Ob sie mit: ein Roter das Bild von Friedrich Engels auf dem Schein oder die Papierfarbe meinten, blieb ungeklärt.
Klaglos hatte die Mutter den beiden das Geld gegeben, denn es war Hochsommer, und die Matratze war neu.
Paul lag im Bett auf dem Rücken, so wie er in letzter Zeit nie liegen konnte, weil die Schmerzen zu groß gewesen waren. Bei ihrem letzten Besuch war Skarlet, als sie schon ihre Jacke angezogen hatte, noch einmal nach oben gelaufen, weil sie ihm noch etwas sagen wollte.
Sie hatte geklopft und sofort die Tür geöffnet. Doch dann war sie vor der unerwarteten Dunkelheit zurückgeschreckt. Im hereinfallenden Licht hatte sie ihn liegen sehen, völlig erschöpft und zusammengekrümmt wie ein Tier.
Jetzt lag er auf dem Rücken und wirkte fast entspannt, wenn nicht die Binde gewesen wäre, mit der ihm der Bestatter die Kinnlade hochgebunden hatte. Die Mutter hatte damals ein Geschirrtuch genommen und damit dem Vater den Kiefer zusammengepreßt, noch bevor sie den Arzt aus der nahe gelegenen Poliklinik geholt hatte. Was sollten denn sonst die Leute bei der Aufbahrung denken.
Paul lag da, in seinem viel zu großen hellblauen Baumwollschlafanzug, der vom vielen Waschen ganz verblichen und fusselig war. Sie dachte, daß es entwürdigend war, in einem alten Schlafanzug zu sterben.
Ich habe diesen Schlafanzug nie gemocht, sagte Judith.
Paul hatte sich wenig für Mode interessiert und damals als Student nicht einmal Markenjeans getragen, obwohl er eine Tante im Westen hatte. Sie war sicher, daß auch lange Zeit nach dem Studium seine gesamten Sachen in einen einzigen Koffer gepaßt hätten. Und dann war er eines Tages plötzlich zur Verwunderung aller Freunde im Hugo Boss-Anzug erschienen. Armani für Büroangestellte, hatte sie gelästert, und Paul hatte entrüstet auf eines seiner ewigen T-Shirts verwiesen, das er unter diesem Anzug trug und das ihn von einem Versicherungsvertreter unterscheiden sollte. Sein plötzliches Modebewußtsein hatte nur einen Grund: Er war verliebt, in Judith. Ich würde ihm gern etwas anderes anziehen, sagte Judith.
Vorsichtig knöpfte sie ihm die Schlafanzugjacke auf, behutsam hob sie seinen Körper an, so als wäre er ein Kind, dem im Schlaf die Sachen gewechselt werden mußten.
Skarlet sah seinen geschundenen Körper, unter der linken Schulter wurden die Anschlüsse sichtbar, kompatibel für alle Schlauchgrößen, der implantierte Port, ohne den die Ernährung mit Spezialnahrung nicht möglich gewesen wäre. Judith holte ein frisches Unterhemd aus der Kommode, dann eines seiner ewigen T-Shirts und den Hugo Boss-Anzug aus dem Schrank.
Kannst du die Schuhe holen?
Sie ging nach unten. Die Schuhe standen neben der Garderobe. Wie lange hatte er sie nicht anziehen können? Wochen? Monate? Sie nahm die schwarzen Schuhe. Er hatte sie sich viel zu groß gekauft, weil er kleine Füße für unmännlich hielt. Eine Nummer zu groß, hatte er ihr gegenüber zugegeben, aber sie vermutete, daß es bestimmt zwei Schuhgrößen waren.
Sie trug die Schuhe nach oben. Ich kann keine Sokken finden, sagte Judith und zog ihm die Schuhe über die nackten Füße. Und einen Moment lang dachte Skarlet, daß die Schuhe jetzt reiben würden. Judith band die Schleifen, mit Doppelknoten.
In der Zwischenzeit waren die Träger gekommen, mit einem modernen Transportsarg, einer übergroßen Reisetasche, die sie neben Paul aufs Bett legten. Ein Nicken mit dem Kopf, dann hoben sie ihn in die Folie. Sie achteten beim Zuziehen darauf, daß sich der Hugo Boss-Anzug nicht im Reißverschluß verklemmte.
So können sie ihn wenigstens nicht verlieren, dachte sie, so wie ihren Vater damals, der den betrunkenen Trägern auf dem engen Treppenabsatz aus dem Sarg gerutscht und bei Schindlers vor die Tür gefallen war.
Sie gingen zum Auto, das mit eingeschalteter Warnblinkanlage vor der Haustür stand. Die Träger hoben den Transportsarg in einen Holzsarg auf der Ladefläche. Es kam Skarlet absurd vor, daß sich Paul in dieser Folie befinden sollte.
Bis morgen, sagte der Bestatter. Bis morgen, sagte Judith.
Auf der Straße kam ihnen Judiths Schwester mit Lukas auf dem Arm entgegen. Er kreischte vor Freude, als er Judith sah. Sie fuhren mit dem Lift nach oben in die Wohnung und setzten Lukas in das Laufgitter neben dem Weihnachtsbaum. Die meisten Geschenke darunter waren noch unausgepackt. Judith zündete die Kerzen an, und Anne holte eine Flasche Rotwein aus der Küche. Sie saßen neben dem Laufgitter auf dem Fußboden, tranken Wein, und sie spürte Wärme und unendliche Erleichterung. Sie hatte das Gefühl, daß jetzt endlich Weihnachten war. Zu dritt begannen sie, die Geschenke auszupacken. Sie lästerten über einen bestickten Kissenbezug von Judiths Tante. Eine Alpenlandschaft mit tiefstehender roter Sonne. Paul hatte die Alpen nie gemocht, sie würden nur im Weg sein und ihn beim Autofahren behindern.
Judith holte zwei Briefe. »Meine Beerdigung« stand auf dem einen Umschlag. Er hat heute noch seinen Musikgeschmack geändert, sagte Judith. Beethoven statt Van Morrison. Er will, daß zu seiner Beerdigung die Mondscheinsonate gespielt wird.
Als Studenten waren sie immer zu Blueskonzerten gegangen, durch die Klubs gezogen, und nie hätten sie während der Jazztage die Stadt verlassen. Sie beteten Janis Joplin an und schwärmten von Woodstock, als wären sie dabeigewesen. Und jetzt Beethoven.
Er hatte alles aufgeschrieben, wer zu seiner Beerdigung eingeladen werden sollte, wer nicht, wie die Feier ablaufen sollte. Und sie sah auf dem Blatt, wie er mit zitternder Schrift Van Morrison durchgestrichen und Beethoven darübergeschrieben hatte.
Ich habe noch etwas für dich, sagte Judith und gab ihr den anderen Brief.
Jetzt fuhr sie durch ein Wohngebiet. Sie sah die beleuchteten Tannenbäume hinter den Fensterscheiben. Sie begann zu zählen, drei mit bunter Beleuchtung, vier mit weißer. Als Kind hatte sie immer gezählt. Wenn ihr drei rote Autos begegneten, dann würden sie keine Mathematikarbeit schreiben, bei drei Straßenbahnen hintereinander würde sie ein Fahrrad zum Geburtstag geschenkt bekommen. Siebzehn bunte gegen vierzehn weiße. Sie wußte nicht, was sie sich jetzt wünschen sollte.
Sie überlegte, was er sagen würde, wenn er sie jetzt sehen könnte. Hatte er sich vorgestellt, als er den Brief schrieb, wie es wäre, wenn sie ihn lesen würde? Die Neonröhre über ihr summte und flackerte bei jedem Schienenstoß.
Ich möchte Dich nach reiflicher Überlegung bitten, mir eine kurze Grabrede zu halten: ein bißchen Geschichtenerzählen ohne Pathos – ich glaube, was Tonfälle anbelangt, haben wir uns immer blind verstanden.
Sie hatte auch ohne diesen Brief gewußt, daß es so sein würde. Es war etwas, woran es keinen Zweifel gab. Stundenlang hatten sie sich Geschichten erzählt, das ewige Spiel: Weißt du noch. Sie hatte das Gefühl, daß sie sein Gedächtnis war. Es waren tausend kleine Geschichten, die sie immer wieder hören wollte und über die sie bis zum Schluß lachen konnten, auch als er schon todkrank war. Die letzte Geschichte, die er ihr erzählte, war die seines ersten Diebstahls.
Er stand im Konsum in der Warteschlange, als einer Frau das Geld aus der Hand fiel. Und wie alle guterzogenen kleinen Jungs bückte sich Paul und gab der Frau das Geld zurück. Doch er hob nicht nur das Geld auf, sondern auch eine alte, klebrige Karamelzigarre, die auf dem Boden neben der Kasse lag und die eigentlich zehn Pfennige gekostet hätte. Er steckte die unerwartete Beute in die Hosentasche und raste mit seinem Luftroller nach Hause. Doch nicht auf direktem Weg, sondern über kilometerlange Umwege, um etwaige Verfolger und Polizisten abzuschütteln.
Ich danke Dir für unsere lange Freundschaft.
In dem Moment, in dem sie zu weinen begann, kam der Schaffner. Sie sah ihn wie durch eine Regenwand auf sich zukommen und neben sich im Gang stehenbleiben. Und sie sagte: Einmal Connewitz bitte.
Und der Schaffner sagte: Einen Euro vierzig.
Der fremde Junge mit den abstehenden Ohren stand im kalten Neonlicht der Garderobe, er stand mitten im Raum, und seine Hausschuhe schienen auf dem grünen Linoleum festzukleben. Zieh deine Hose aus, sagte Tante Edeltraut, und der fremde Junge preßte die Hände gegen die Seitennähte seiner Cordhose. Alle Kinder ziehen hier ihre Hose aus, sagte Tante Edeltraut. Noch war ihre Stimme freundlich, aber schon schwang darin das leichte Zittern mit, das Gefahr signalisierte. Der Junge kannte diese Gefahr nicht, es war sein erster Tag im Kindergarten. Hausschuhe, Strumpfhose, Pullover, Schürze, sagte Tante Edeltraut. Die Kleiderordnung war vorgegeben. Die Jungen trugen Jungenschürzen, die an einen übergroßen Latz erinnerten und die auf dem Rücken über Kreuz geknöpft wurden, die Mädchen Mädchenschürzen, bunte Kittel, an denen auch Rüschen erlaubt waren. Die Strumpfhosen hatten sie gemeinsam, gerippte Baumwolle, vorn eine Naht und hinten zwei. Es gab Kinder, die das nie lernten. Die Strumpfhosen beulten sich an den Knien und am Hintern, und der dünne Matthias Seibt, der zu denen gehörte, die es nie lernten, trug die Beulen nach dem Mittagsschlaf immer an Kniekehlen und Bauch.
Wir wollen doch hier keine neuen Moden einführen, sagte Tante Edeltraut. Sie fixierte den fremden Jungen mit einem Blick, bei dem jedes andere Kind aus der Gruppe den Kopf gesenkt hätte. Doch der fremde Junge hielt dem Blick stand.
Zieh deine Hose aus!
Nein! sagte der fremde Junge und sah Tante Edeltraut in die Augen. Er sagte es deutlich und laut. Seine Stimme verriet weder Angst noch Provokation. Es war ein Nein, das über jeden Zweifel erhaben war.
Ach, du kannst sprechen, sagte Tante Edeltraut, und ihre Stimme klang überraschend nach Rückzug. Dann sag doch einmal den anderen Kindern, wie du heißt? Sie dehnte genüßlich das Fragezeichen.
Jean-Paul Langanke.
Wie??, bitte?? Tante Edeltrauts Bataillone hatten sich im Hinterhalt neu formiert.
Jean-Paul Langanke.
Ah, Schangbol, sagte Tante Edeltraut. Schangbol! Sie sagte es wie ein verbotenes Wort, wie etwas, das, wenn man es zu lange im Mund behielt, Fäulnis verursachte. Und gleich würde sich Matthias Seibt, der durch geflissentliches Petzen davon abzulenken versuchte, daß er weder Schleifen binden noch Strumpfhosen anziehen konnte, melden und sagen, Tante Edeltraut hat ein schlechtes Wort gesagt.
Schangbol, Schangbol, Schangbol, Schangbol. Tante Edeltraut genoß den Schauder des Abscheulichen und klatschte vor Begeisterung in die Hände, und alle Kinder klatschten mit. Lauter und immer lauter. Bis auf Skarlet. Und bevor sie mit ansehen mußte, wie sich der fremde Junge, der ihr überhaupt nicht mehr fremd war, abwandte, weil ihm die Tränen kamen, erbarmte sich das Unterbewußtsein und erlöste sie von diesem Traum.
Die Träume von Tante Edeltraut waren die zweitschlimmsten aller Träume. Es gab kaum eine Nacht, in der sie nicht träumte, doch die meisten Träume verloren sich, sobald sie versuchte, sich daran zu erinnern, lösten sich auf wie ein Stück Würfelzucker im heißen Tee, und zurückblieb nur noch ein Geschmack, süß oder bitter, je nachdem. Doch es gab Ausnahmen. Eine davon war Tante Edeltraut. Tante Edeltraut lief auch noch nach dem Aufwachen deutlich sichtbar in ihren Gesundheitsschuhen durch Skarlets Gedanken. Der wippende Gang, die hochgesteckten Haare, der weiße, bis zum Hals zugeknöpfte Kittel ließen nicht den Hauch einer Verwechslung aufkommen. Guten Morgen, Kinder. Guten Morgen, Tante Edeltraut. Wenn Tante Edeltraut die Stimme hob, dann machten selbst die Kasperpuppen auf dem Spielzeugregal ernste Gesichter.
Aber vielleicht waren es auch ein Knall auf der Straße gewesen, das Pfeifen, die unzähligen kleinen Detonationen, die den Traum unterbrochen hatten und Skarlet im Bett hochschrecken ließen. Für einen Moment war sie irritiert, versuchte, die Geräusche im Traum unterzubringen, aber dann wurde ihr alles klar, viel zu klar: Tante Edeltraut hatte weder geschossen, noch war sie in die Luft gesprengt worden. Es war Silvester, und Paul war tot.
Der letzte Tag des Jahres war schon immer der schwierigste Tag des Jahres gewesen. Ein Tag der befohlenen Fröhlichkeit, vermischt mit geheuchelter Selbstkritik. Warum mußte man am Ende eines Jahres beschließen, daß alles anders werden sollte?
Sie hatte diesen letzten, diesen allerletzten Tag mit Paul feiern wollen, aber war nicht auch dieser Vorsatz Selbstbetrug gewesen? Was möchtest du Silvester trinken? hatte sie gefragt. Und er hatte gelacht, und dann hatte er sie angesehen mit diesem Blick, der keinen Zweifel zuließ. Trotzdem hatte sie am nächsten Tag herumtelefoniert und war durch die halbe Stadt gefahren, um den Grappa zu kaufen, den er mochte, Tenuta di Sesta, den Grappa, den sie alle getrunken hatten, damals in der Nacht, in der Lukas geboren wurde.
Paul hatte Silvester nie gemocht. Schon im Kindergarten war er an allen Faschingstagen krank gewesen. Na, wer hat denn heute das schönste Kostüm an? Und nie war er zu einer Kindertagsfeier erschienen, nie zum Laternenumzug am Republikgeburtstag. Paul konnte Fieber bekommen, wann immer er es wollte.