Astrid M. Helmers:
Schnuppi, der Hund – und andere Kurzgeschichten
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Lektorat: Gereon Wiesehöfer
Titelgestaltung und Satz: Tania Stuchl, design@stuchlde
Illustration: nataliahubbert/depositphotos.com
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN: 978-3-95457-170-3
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Cover
Titel
Impressum
Was denkt Schnuppi, der Hund
Der Überfall
Reise nach Panama
Schwesterherz
Die Erbschaft
Die Drohne
Bello
Waffen!
Piepmusch
Der Flug nach Mallorca
Arena di Verona
Eine wunderbare Freundschaft
Schönes ist beliebt
Madame Dupré parkt ein
Die Entenfamilie
Bubenstreich
Die Luxusjacht
Der Kurzzeitmillionär
Hole 19
Lya und die Geister
Der Edelitaliener
Lieber Bärenpapa
Ostfriesische Mama schreibt an den Sohn
Meine Reise nach Frankfurt
Belgische Hochzeit
Pleitegeier
Kaugummialarm
Konzertbesuch
Die Citroen-Ente 2CV
Geburtstagsmenü
Alkoholkontrolle im Kreisel
Der Panamahut
Weitere Bücher
Na ja, da sind wir wieder! Diese blöde Kneipe, wie ich sie hasse! Stundenlang hier herumsitzen. Gleich muss ich unter die Bank.
„Na, Schnuppi, mein Schatz, sitz hier unter der Bank und sei schön brav!“, sagt Frauchen zu mir.
Ich wusste es doch. Stunden unter dieser dämlichen Bank, das ist kein Vergnügen. Da muss ich mich auch noch ducken, stehen kann ich nicht. Merkt Frauchen nicht, dass ich viel zu groß bin für diese Bank?
Oh, ich höre und ahne Furchtbares! Das ist doch diese Frau, tatsächlich, ich erkenne sie an der piepsigen Stimme. Nein, nein, auch das noch! Sie setzt sich ausgerechnet auf die Bank neben mich, wo ich schon gehofft habe, etwas zu relaxen. Ich versuche, meinen Platz zu wechseln, ganz vorsichtig, Frauchen soll es nicht merken. Zu spät, ich höre Frauchen schon sagen:
„Schnuppi, bleib bei mir, mein Schatz, hier bei mir!“
Habe ich bereits geahnt. Ich setze mich brav wieder auf meinen Platz zurück und knurre ganz leise. Und dann passiert es! Die Freundin begrüßt Frauchen ganz herzlich, sie umarmen sich, sie setzt sich hin und sie zieht tatsächlich ihre Schuhe aus! Da unter dem Tisch sieht es keiner, außer mir. Was hat die Frau für Manieren?
„Boah“, das stinkt bestialisch!
Frauchen spricht sie mit Herta an. Herta hin, Herta her, doch warum wäscht Herta ihre Füße nicht? Frauchen wischt mir doch auch immer die Pfoten ab, wenn wir von Draußen kommen. Ich ersticke fasst hier unter dieser niedrigen Bank und keiner wird mich retten. Ich versuche es im Guten und werde mal Frauchen an den Waden schnuppern. Hoffentlich versteht sie mich und lässt mich auf die andere Seite! Ist nicht immer der Fall, doch ich muss es probieren. Ach Du großer Gott, Frauchen hat es nicht verstanden. Sie glaubt ich habe Hunger, ohne zu überlegen, dass ich kurz davor noch eine riesige Portion leckeres Hundefutter verschlungen habe. Flitsch! lässt sie ganz diskret ein kleines Stückchen Fleisch auf den Boden fallen. Frauchen schaut mich liebevoll an. Ich schaue ganz traurig nach oben. Mir ist ganz übel von Hertas stinkigen Schweißfüßen und ich rühre das wunderbare Fleischstück gar nicht erst an. Mit der rechten Pfote versuche ich das Fleischstück weg zu schieben, so dass niemand etwas merkt. Aua! Jetzt habe ich mir wieder den Kopf an dieser blöden Bank gestoßen!
Doch es geht weiter! Herta erzählt Frauchen von einem neuen Parfüm von Christian Dior oder so ähnlich, und nicht nur das, sie sprüht auch noch wild um sich, sodass es alle riechen können. Dieser Geruch, igitt, igitt. Ist noch schlimmer als das besonders „gut duftende“ Bad, welches ich immer am Wochenende ertragen muss, damit ich nicht „nach Hund“ rieche. Nun versuche ich, etwas zu schlafen, um das ganze „Ambiente“, wie die da oben es nennen, zu vergessen. Doch dieser Typ, der mit Herta gekommen ist, wird immer lauter und lauter. Er brüllt fast wie ein Verrückter. Ich glaube, der hat bereits einen Schwips, oder ist sogar besoffen. Gerade hat er mit der Faust auf den Tisch gehauen. Spinnt der? Ach ja, er hat einen Witz erzählt. Da kann ich beim besten Willen nicht darüber lachen. Wenn ich einen Witz über diese dämlichen Menschen erzählen könnte, da würden alle lachen und wir, die Vierbeiner, hätten unsere Freude.
„Ach, Schnuppi ist auch da!“, sagt plötzlich diese alte Schachtel, die mit ihrem Jüngling nicht fehlen darf. Sie sitzt Frauchen gegenüber, hat mich aber nicht gesehen. Wie lustig! Das ist auch so eine, ich muss den ganzen Blödsinn hören, den sie laufend erzählt. Die lebt ja nur in Zahlen. Immer wieder erzählt sie, ihre Klamotten waren teuer: Das neue Kleid hat soviel gekostet, der Ring soviel und diese blöden, roten Schuhe von Escada sowieso. Alles, was die hat, ist teuer. Wen interessiert das eigentlich? Sogar Frauchen regt sich auf. Als wir beim letzten Mal hier waren, sagte Frauchen auf dem Heimweg, sie kann es auch nicht mehr hören. Warum wird sie dann noch eingeladen, wenn sie keiner mag?
Wie soll man bei diesem Lärm einschlafen? Ich schau traurig nach oben zu meinem Frauchen und wünsche, dieser Abend wäre bald zu Ende.
Doch der alte Sack mit dem dicken Ranzen muss sich natürlich auch bemerkbar machen und erzählt plötzlich von seinem letzten Urlaub. Angeblich hat er eine junge, russische Schönheit kennengelernt, die aber nur an seinem Geld interessiert war. Na, das hätte ich ihm schon vorher sagen können. Das weiß ich von Frauchen. Sie sagt immer, dass russische Frauen keine Hunde wollen, weil sie auf der Suche nach reichen Männern keine Hunde gebrauchen können. Ist das nicht traurig für uns Hunde? Ein solches Frauchen, ganz ehrlich gesagt, will ich nie haben.
Eigentlich bin ich mit Frauchen sehr zufrieden. Sie macht alles für mich. Ich kann mich nicht beklagen. Sie putzt mir die Pfoten, badet mich, gibt mir nur leckeres Fressen, im Winter bei Kälte und Schnee zieht sie mir ein warmes Jäcklein an. Was mir gar nicht gefällt, ist diese blöde Zahnreinigung oder PZR, wie sie das nennen. Eine geschlagene Stunde mit offener Schnauze, das ist eine richtige Tortur. Wofür muss ich als Hund eigentlich immer weiße Zähne haben?
Auch diese menschliche Gesellschaft, in der sich Frauchen tummelt, gefällt mir überhaupt nicht.
Aber wen interessiert eigentlich was ich denke?
Hurra, wir gehen heim!
„Komm, Schnuppi, mein Schatz, du bist ein braver Hund!“, sagt Frauchen zufrieden und legt mir diese blöde Leine an. Diese Leinenpflicht war bestimmt so eine Schnapsidee von einem hochkarätigen Politiker, der sich mit unserem Hundeleben überhaupt nicht auskennt. Der hat sicherlich noch so ein besonderes Gutachten für Hundeleinen in Auftrag gegeben. Das war garantiert nicht billig. Das zahlt Frauchen mit der Hundesteuer.
Als wir dann endlich draußen sind, sitzt da eine Hundedame, eine wahre Schönheit. Ich nähere mich der Schönheit, doch sie springt erschrocken zu Seite. Mir ist sofort glasklar, dass es dieser Duft von meinen Hundefriseur ist. Plötzlich dämmert es mir und ich erinnere mich, dass mich Frauchen zwei Jahre davor kastrieren ließ. Nach diesem Fiasko war für mich der Tag gelaufen!
Welch ein Jammer!
Na ja, ich versuche halt, das Beste aus meinem Hundeleben zu machen und es zu genießen, auch wenn sich die Zeiten geändert haben.
Trotz der vielen Probleme, die wir Hunde mit den Menschen haben, ist es doch schön, ein Hund zu sein! Euer Schnuppi!
Sie kamen aus der arabischen Welt, aus einem Gebiet, in dem ständig Krieg herrscht, Bomben fliegen und Menschen sterben. Die Flucht war voller Hindernisse und Gefahren. Das Kind, ihre Tochter, war gerade zwei Monate alt. Die Großeltern weinten beim Abschied. Malia und Kit versprachen, wieder zurückzukommen, trotzdem wussten die Großeltern, dass dieser Traum nie in Erfüllung gehen würde. Als sie in England ankamen, waren sie zunächst glücklich. Die Flucht war einfacher verlaufen, als sie sich das vorgestellt hatten. Janin, die Tochter, hatte die Strapazen der Flucht gut überstanden.
Kit war ein ausgezeichneter Herzchirurg und Malia Frauenärztin. Aufgrund der guten Ausbildung bekamen beide schnell einen Job im Krankenhaus. Malia und Kit verbesserten in kurzer Zeit ihre dürftigen Englischkenntnisse. Janin entwickelte sich gut.
Sie integrierten sich schnell in das englische Leben. Malia war schon bald in der Lage, gemeinsam mit einer englischen Ärztin eine Praxis für Gynäkologie zu eröffnen. Um das Vertrauen der Patientinnen zu gewinnen, nannte sich Malia jetzt Mary. Natürlich hatte sie viele arabische Patientinnen, die ausschließlich in Begleitung ihrer Männer zur Behandlung kommen durften. Da die arabischen Frauen niemals zu einem Arzt in Behandlung gehen würden, war die Praxis immer überfüllt. Mary verdiente gut. Auch Kit hatte sich als einer der besten Herzchirurgen etabliert. Die Familie schien glücklich zu sein.
Es war an der Zeit, Europa kennenzulernen. Sie holten sich Reiseunterlagen von allen Europäischen Ländern und waren überrascht, wie mangelhaft ihre Kenntnisse waren. Reisen waren angesagt! Doch wie wollten sie in all diese Länder reisen? Sie informierten sich bei verschiedenen Touristenbüros und wurden fündig. Da gab es noch dieses interessante „Timesharing“. Sie ließen sich das Vorgehen erklären, fanden die Idee sehr gut und kauften eine Beteiligung für zwei Personen.
Die erste Reise ging nach Frankreich. Sie staunten, wie schön Frankreich war. Gehört hatten sie viel, doch selber zu erleben, das war etwas ganz anderes.
Bei der zweiten Reise wurde ihnen Holland angeboten, und dann folgten ausschließlich Ostblockländer. Das wollten sie eigentlich nicht unbedingt. Sie wollten den Westen Europas kennenlernen und nicht überwiegend den Ostblock. So ging die nächste geplante Reise nach Ungarn. Die Prospekte waren interessant, sie fanden die Gegend und die Anlage nicht unbedingt schlecht. In der Zwischenzeit hatte sie sich ein großes elegantes Auto angeschafft, einen Aston Martin. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, zu fliegen und ein Auto zu mieten. Doch sie entschieden sich, mit dem Aston Martin zu fahren. Janin, die Tochter, sollte die zehn Tage wie immer in Obhut einer Freundin bleiben.
Mary hatte Bedenken. Beide kannten den Ostblock nicht und hatten überhaupt keine Ahnung, was sie dort erwarten würde. Sie besorgten sich Unterlagen über Land und Leute, um sich zu informieren. „Es sieht gut aus!“, dachte Mary. Es scheint ein sicheres Land zu sein. Man darf auch nicht allen Gerüchten Glauben schenken. Überfälle und Autodiebstahl sind doch in England auch an der Tagesordnung.
„Wir müssen halt sehr, sehr vorsichtig sein!“
Eine Mammut-Reise hatte begonnen. Zwei Tage und eine Übernachtung hatten sie für die Fahrt nach Ungarn eingeplant. Ob das reichte? Von England, Belgien, Deutschland, Österreich nach Ungarn, dann noch ungefähr sechzig Kilometer an den Balaton See, wo sich das Timesharing-Apartment befand.
Spät am Abend erreichten sie die ungarische Grenze.
„Passkontrolle“, sagte ein ungarischer Kontrolleur! „Ihre Papiere bitte!“
„Ja, natürlich!“, sagte Kit in englischer Sprache und reichte dem Grenzbeamten seinen Pass.
Mary holte ebenfalls ihren Pass und gab diesen dem Grenzbeamten.
Der Grenzbeamte blätterte die Passe mehrmals und fragte dann erstaunt.
„Wo sind Ihre Visa?“
„Welche Visa?“, fragte Kit überrascht.
„Ja, das Visum für die Volksrepublik Ungarn!“
„Ich verstehe nicht, was sie meinen“, sagte Kit.
„Was will der Grenzbeamte, Kit?“, fragte Mary.
„Er will angeblich ein Visum haben, doch wir haben kein Visum. Ich wusste überhaupt nicht, dass wir ein Visum brauchen!“
„Sie sind doch englische Staatsbürger und für die Einreise nach Ungarn benötigen Sie jeweils ein Visum!“
„Das haben wir nicht gewusst! Man hat uns beim Reisebüro nichts gesagt! Der Veranstalter sagte, dass er hier am Balaton eine Timesharing-Wohnung für uns gebucht hat. Wir haben die Bestätigungen. Hier, bitteschön!“ Kit gab dem Grenzbeamten die Papiere.
„Das hat leider nichts mit dem Visum zu tun! Das Visum benötigen Sie für die Einreise nach Ungarn. Dieses Visum ist Pflicht. Nur mit einem Visum können Sie die Grenze passieren!“, sagte der Beamte.
„Können Sie uns das Visum erteilen? Wir warten hier!“, sagte Kit.
„Leider nicht! Um diese Zeit ist kein Beamter mehr hier! Übrigens stellt sich die Frage, ob der Vertrag, den sie für diese Wohnung haben, für ein Visum genügt! Normalerweise bekommt man nur im Ausnahmefall an der Grenze ein Visum. Das Visum bekommt man in der Regel bei der ungarischen Botschaft in Ihrem Land. Die Botschaft befindet sich in London.“
„O my God! Mary, hast du das gehört? In London – und wir sind zweitausend Kilometer weit entfernt. Was sollen wir jetzt machen?“ fragte Kit entsetzt.
„Fahren Sie zurück nach Österreich, im nächsten Ort gibt es eine kleine Pension, in der sie übernachten können, und morgen früh kommen Sie wieder hier an die Grenze. Da werden die Grenzbeamten entscheiden, was zu machen ist. Wenn Sie Glück haben, bekommen Sie ein Visum aufgrund der Papiere, die Sie haben!“
„Mitten in der Nacht! Herr …“
„Grenzbeamter!“
„Grenzbeamter!“, wieder holte Kit.
„Eine andere Lösung gibt es nicht! Ohne Visum ist es unmöglich, nach Ungarn einzureisen. Glauben Sie mir! Bitte verlassen Sie jetzt das Grenzgebiet und tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!“ Der Beamte erhob die Stimme.
Mary sagte etwas eingeschüchtert: „Bitte, Kit, lass uns fahren, es hat doch keinen Sinn! Gesetz ist Gesetz!“
Sie wendeten und fuhren zurück, Richtung Österreich.
„Was für ein Schwachsinn!“, sagte Kit. „Warum sind wir eigentlich hier? Was suchen wir in einem solchen Land? Haben wir nicht genügend Probleme gehabt? Man sollte alle Grenzen abschaffen, in der ganzen Welt. Wofür braucht man Grenzen?“
„Komm, Kit, reg dich nicht auf! Das sind einfach Formalitäten. Denk an unsere Heimat, was für schreckliche Sachen in den arabischen Ländern passieren! Das hier sind peanuts!“ Mary versuchte, ihn zu beruhigen.
Tatsächlich fanden sie eine kleine Pension in einem kleinen österreichischen Ort nahe der Grenze. Die Frau öffnete ihnen verschlafen die Tür. Sie kannte die Probleme.
„Da kommen öfter solche Fälle vor!“, sagte sie. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich weiß aus Erfahrung, Sie bekommen das Visum, weil die da drüben einfach Devisen brauchen. Es ist lediglich eine Schikane!“
Am nächsten Morgen beim Frühstück fragte die Wirtin: „Guten Morgen! Haben Sie gut geschlafen? Sie haben ein wunderbares Auto. Passen Sie gut auf Ihren Wagen auf! Da drüben werden laufend Autos geklaut! Was ist das für eine Marke?“
„Aston Martin!“, antwortete Kit.
„Meinst du wirklich, Kit, wir müssen uns Sorgen machen um das Auto?“, fragte Mary etwas nachdenklich.
„Ich weiß es nicht, Mary. Autos klaut man überall auf der Welt, auch bei uns in London!“
Sie kamen an der ungarischen Grenze an. Sie bekamen das Visum ohne Probleme, so wie die Wirtin aus Österreich es vorausgesagt hatte. Nur warten mussten sie ewig, fast bis Mittag. Dann durften sie endlich einreisen. Als der Zöllner die Pässe kontrollierte, fragte auch er begeistert nach der Marke des wunderbaren Autos und wiederholte genau wie die österreichische Wirtin: „Passen Sie gut auf Ihr Auto auf!“
Der Grenzbeamte hatte ihnen erklärt, wie sie zum Balaton kämen. Balatonfüred hieß der Ort. Am späten Nachmittag waren sie endlich eingetroffen. Das Apartment war in Ordnung. Doch sie waren fix und fertig und legten sich einfach für eine Weile hin. Den Aston Martin hatten sie in die Garage verfrachtet.
Zwei Tage später hatten sie eigentlich alle Sehenswürdigkeiten in der Umgebung kennengelernt. Mary machte einen Vorschlag.
„Kit, das einzige, was mich noch interessieren würde, wäre Budapest. Das soll eine der schönsten europäischen Städte sein. Budapest ist nicht so weit. Ich glaube so etwa zweihundert Kilometer. Was hältst du davon? Ein Tagesausflug!“
„Lust habe ich wenig. Doch wenn du das willst?“ Begeistert schien Kit nicht zu sein.
„Weißt du, jetzt sind wir da. Ob wir so bald wieder nach Ungarn kommen werden? Ich bezweifle es. Wenn wir morgen sehr früh aufbrechen, können wir einige Sehenswürdigkeiten besichtigen. Am meisten interessiert mich das Parlament an der Donau. Wollen wir das machen?“
„Du hast recht, liebe Mary, wir sollten diesen Abstecher ins Auge fassen!“
„Nein, wir sollten diese Fahrt nicht nur ins Auge fassen, sondern auch wirklich hinfahren!“
„Okay! Machen wir. Frühstück gibt es ab sieben Uhr. Wir stehen um sechs auf und fahren los! Ich freue mich und danke dir!“
Am nächsten Morgen standen sie früh auf und gleich nach dem Frühstück fuhren sie los. Der Verkehr war enorm. Unheimlich viele Autos, jedoch nur alte Kisten und speziell alte Ladas. Das waren die Fahrzeuge aus der kommunistischen Zeit, in Russland hergestellt. Alle schauten verdutzt und bewunderten ihren Aston Martin, als ob sie zum ersten Mal ein solches Auto sahen. Sie waren den ganzen Tag auf Achse und konnten sich nicht sattsehen. Die Alte Oper, das Parlament, die wunderschönen Cafés im Stadtzentrum, Hilton auf dem Gellertberg, gebaut in einem alten Kloster, und viele andere Sehenswürdigkeiten.
Es wurde Abend und fast schon dunkel als Mary sagte: „Kit, wir sollten jetzt zurück in unser Quartier. Es ist fast schon Nacht!“
„Ja, du hast recht!“
Sie gingen auf den Parkplatz zu ihrem Aston Martin. Da waren immer noch zwei Leute, die den Wagen bewunderten.
„Schau mal, Mary, es gibt auch in der Nacht noch Bewunderer für unser Auto. Haben diese Leute noch nie einen Aston Martin gesehen? Da muss ich wirklich staunen! Kannst du mal die Karte nehmen und mich aus der Stadt führen?“
„Ja, natürlich, mach ich!“
Endlich waren sie auf der Autobahn. Es war stockdunkel. Plötzlich sahen sie ein komisches Licht. Wie eine Leuchte oder ein Scheinwerfer, oder eine Laterne.
„Was soll das sein, Kit!“, fragte Mary.
„Wir sollen halten! Anscheinend eine Polizeikontrolle!“
Kit fuhr auf den Seitenstreifen und hielt an. Als Kit aussteigen wollte, rissen drei in Polizeiuniform gekleidete Männer die Fahrer und Beifahrertüren des Aston Martin auf. Sie schrien in einem schlechten Englisch:
„Polizeikontrolle, steigen Sie aus, wo sind Ihre Papiere?“
„Sofort, hier sind die Papiere!“ Kit war geschockt. Er konnte nicht verstehen, warum die Polizisten so grob waren.
Auf der anderen Seite wurde Mary aus dem Auto gezerrt und festgehalten. Sie versuchte noch, ihre Tasche mitzunehmen, doch der eine der angeblichen Polizisten riss ihr die Tasche aus der Hand und schmiss sie dem anderen zu. Ehe sich Kit umsehen konnte, wurden ihm Handschellen angelegt. Er schrie laut:
„Bitte lassen Sie mich los, ich habe doch nichts getan! Verstehen Sie mich?“
Als er weiterreden wollte, spürte er einen Schlag im Gesicht, es wurde rundum dunkel und er fiel zu Boden. Mary fing an zu schreien, doch da stand bereits der zweite sogenannte Polizist, drückte ihr die Hand fest auf den Mund, sodass sie keine Luft mehr bekam. Es roch ganz stark nach irgendetwas und sie wusste, dass man sie betäubt hatte. Es stank gewaltig nach Ether, ein ihr aus der Praxis bekanntes Betäubungsmittel. Plötzlich drehte sich alles und langsam hörte sie noch die Banditen etwas sagen, dann war sie weg. Sie stürzte auf dem Seitenstreifen ins Gras. Was danach passierte, bekam sie nicht mehr mit.
Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zur Besinnung kam, wie lange, konnten sie nicht beurteilen. Auch wusste sie nicht, wer zuerst wieder da war, sie oder Kit. Es war dunkel, stockdunkel. Niemand weit und breit zu sehen. Kit schrie plötzlich:
„Mary, Mary, wo bist du, was ist passiert?“
„Hier, hier, es ist mir wahnsinnig übel. Ich habe Kopfschmerzen. Mir braust mein Schädel. Was ist passiert Kit?“
„Wir sind überfallen worden, Mary, ganz brutal überfallen worden!“
„Wo ist unser Auto, Kit?“
„Anscheinend weg!“
„Komm, hilf mir, Kit, gib mir ein Taschentuch aus meiner Tasche!“
„Wo ist deine Tasche, Mary? Die Handschellen, Mary, wie kann man die öffnen?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber die Tasche war doch noch da! Ist die Tasche weg?“
„Anscheinend!“, sagte Kit. „Anscheinend auch unsere Papiere, das gesamte Geld und unsere Kreditkarten – und dann auch noch der Aston Martin. Das ist ja schrecklich, Mary! Wir müssen an die Straße gehen und versuchen, irgendwelche Autos anzuhalten!“
„Welche Autos, Kit, da kommen doch kaum welche!“
„Irgendwann wird schon ein Auto kommen, hoffentlich!“
„Ich bin wie angekettet, ich kann die Arme nicht hochheben! Lass uns an den Straßenrand gehen, Mary. Schau, da kommt ein Auto. Heb die Arme hoch und mach Zeichen!“
„Geht nicht, und der fährt vorbei! Schrecklich! Hat der nicht gesehen, dass wir in Not sind?“
Drei Autos fuhren vorbei, doch keiner hatte angehalten. Kit wollte nach der Uhr schauen, doch auch die war weg.
„Mary, auch meine schöne goldene Uhr ist weg! Diese Banditen haben uns richtig ausgeraubt Alles ist weg! Was können wir jetzt tun?“
„Wir können nur noch warten, bis es hell wird. Meinst du, es kommt uns noch jemand zur Hilfe?“
„Mary, ich muss plötzlich, aber wie? Ich komm ja nicht an meine Hose! Kannst du mir bitte helfen?“
„Natürlich, komm, lass uns ein paar Schritte weitergehen, ich mach dir die Hose auf und auch wieder zu!“
„Wie schrecklich, Mary, was für Banditen sind das?“
„Ich weiß es nicht, die haben zwar mit einem Dialekt gesprochen, doch welcher das war, kann ich nicht sagen!“
„Ich meine, es fängt an zu dämmern!“
„Nein, Mary, es waren Wetterleuchten. Ich glaube, es wird regnen!“
„Das wäre schrecklich, Kit, Regen, jetzt hier auf dem Straßenrand!“
„Ich habe bereits einige Tropfen gespürt. Meine Nase tut mir schrecklich weh und blutet auch!“
„Wir müssen uns hinsetzen und uns mit deinem Jackett abdecken, sonst werden wir noch krank und erfrieren!“
„Ich kann doch mein Jackett nicht ausziehen mit den Handschellen. Wie soll das gehen? Ich kann die Arme nicht aus den Ärmeln herausnehmen!“
„Das ist schrecklich, Kit! Was wollen wir machen? Ich friere und zittere am ganzen Leib. Ich sehe Lichter, da kommt ein Auto! Ich laufe schnell auf die Straße und versuche den anzuhalten!“
„Sei vorsichtig, Mary, pass auf! Geh nicht zu weit, bitte pass auf!“
„Er hält an! Gott sei Dank! Halten Sie, bitte halten Sie!“, schrie Mary.
Der Wagen schien anzuhalten. Er fuhr immer langsamer. Doch dann gab der Fahrer Gas und fuhr davon. Mary fing an zu schreien und zu heulen.
„Das kann nicht wahr sein, Kit, das kann nicht war sein! Warum bleibt keiner stehen, warum hilft uns keiner, mein Gott noch mal!“
„Komm, Mary, beruhige dich, komm zu mir. Die Leute haben Angst, sie haben sicherlich Angst. Was uns passiert ist, kann jedem mitten in der Nacht passieren! Ich kann das verstehen!“
„Kit!“, sagte Mary weinend. „Ich verzweifle noch, wenn es so weiter geht. Ich habe einen ganz trockenen Mund, ich brauche ein Glas Wasser, ich verdurste!“
„Mary, Liebling, bleib tapfer. Schau nach oben und mach den Mund auf, da kannst du unter Umständen einige Tropfen Regen erhaschen. Wir haben kein Wasser, nur der Regen kann uns retten!“
Sie rückten zusammen, um sich zu wärmen. Bald war die Kleidung durchnässt. Mary konnte ihr Zittern nicht stoppen. Zwei weitere Pkws fuhren vorbei, doch keiner hielt an. Mary war total erschöpft und kraftlos.
„Mary, schlaf bitte nicht ein, bitte! Das wäre fatal. Du darfst nicht einschlafen, Mary, hörst Du mich?“
„Ja, Kit!“
„Du sollst nicht einschlafen, bitte! Bald wird es hell! Glaub mir, es wird bald hell!“
„Wann wird es hell, Kit? Wann?“
„Bald, meine Liebe, bald!“
Es dauerte noch einige Stunden, bis es hell wurde, und Mary wurde immer wieder ohnmächtig.
„Wann fahren wir nach Hause, Kit, die kleine Janin braucht mich!“
„Ich bin hier an der Straße, Mary, ich versuche, ein Auto anzuhalten! Sei tapfer, hier kommt ein Auto!“
„Halten Sie an, bitte, halten Sie an!“, schrie Kit mit ganzer Kraft.
Der Wagen hielt an. Zunächst war der Fahrer erschrocken, als er Kit mit Handschellen sah. Kit zeigte verzweifelt auf Mary und versuchte zu erklären, was passiert war. Doch der Mann verstand kein Englisch. Mary versuchte aufzustehen, doch sie stürzte erneut. Kit hatte verstanden, dass er mit den Händen sprechen musste.
„Banditen, Banditen, alles weg, Banditen! Bitte Polizei!“ Er zeigte dem Mann, dass sie geschlagen worden war.
Endlich schien der Fahrer zu verstehen, dass es sich um einen Überfall handelte.
Er holte sofort sein Handy aus der Tasche und rief die Polizei an. Die Polizei brauchte eine Ewigkeit. Sie kamen langsam und prüften erst ob es notwendig ist einen Krankenwagen zu rufen. Ohne Dolmetscher lief ohnehin nichts. Erstmals fuhren sie auf die Wache. Von dort aus wurde ein Dolmetscher angerufen. Der kam dann auch circa zwei Stunden später. Wenigstens bekamen sie Wasser. Aus der Leitung natürlich. Es schmecke furchtbar. Zum Essen gab es nichts. Einer der Polizisten hatte Mitleid bekommen und bot Mary sein mitgebrachtes Brot an. Mary teilte es mit Kit. Dann kam ein anderer Polizist mit einem Bund Schlüssel um Kit von den Handschellen zu befreien. Irgendwann zwei Stunden später kam der Dolmetscher. Der Anblick der beiden war für den Dolmetscher ein Schock.
„Sie müssen sofort in ein Krankenhaus, Sie sehen ja schlimm aus!“
„Nein, nein!“, sagte Kit. „Wir haben ja kein Geld! Wir haben auch keine Papiere!“
„Das macht doch nichts, abgesehen davon haben sie eine Botschaft hier in Budapest! Die können Ihnen helfen!“
„Meinen Sie, es dauert lange hier mit der Aufnahme des Überfalls?“
„Erfahrungsgemäß so etwa zwei bis drei Stunden. Es muss ja alles protokolliert werden und dann bekommen Sie eine Bestätigung für den Diebstahl des Autos!“
„Kann ein Arzt kommen mit etwas Verbandmaterial? Wir sind beide Ärzte, doch wir haben nichts dabei!“
„Ich glaube schon. Ich werde mich erkundigen. Der Arzt muss Ihnen auf jeden Fall ein Attest ausstellen, um zu bescheinigen, dass sie überfallen und geschlagen wurden. Diese Bescheinigung benötigen Sie für Ihre Versicherung!“
Es dauerte Stunden, bis die Formalien fertig waren. Mary fing immer wieder zu weinen an. Sie konnte nicht begreifen, warum ausgerechnet ihnen so etwas passieren musste.
Der Dolmetscher kam endlich und ein Polizist startete den Computer. Was passiert war, wo es passiert war, was gestohlen worden war, wie die Männer gekleidet waren. Der Polizist tippte mit zwei Fingern seelenruhig die Antworten in den Computer. Dann folgte eine Frage, die Kit nicht verstehen konnte.
„Wie viel Sprit war noch in dem Tank … Wie heißt das Auto noch? Aston Martin?“
„Ich verstehe die Frage nicht!“, sagte Kit.
„Im Tank des Autos. Wie viel Liter Benzin waren noch drin?“
„Was meinst du, Mary?“, fragte Kit.
„Ich weiß es auch nicht! Du sagtest mir, wir müssen nicht unbedingt tanken!“
„Ach ja, das sagte ich! Es könnten noch so ungefähr 30 Liter gewesen sein!“
„Ja, in diesem Fall ist der oder sind die Banditen schon längst über die Grenze in der Ukraine. Da brauchen wir das Auto nicht mehr zu suchen!“
„Wie, Sie wollen das Auto nicht mehr suchen?!“ Kit war entsetzt.