Celeste Ng
Was ich euch
nicht erzählte
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Brigitte Jakobeit
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Celeste Ng (sprich: Ing) wuchs auf in Pittsburgh, Pennsylvania und in Shaker Heights, Ohio. Ng studierte in Harvard und machte ihren Master an der University of Michigan. Sie schrieb Erzählungen und Essays, die in verschiedenen literarischen Magazinen erschienen und mit dem Hopwood Award und dem Pushcart Prize ausgezeichnet wurden. »Was ich euch nicht erzählte« ist ihr erster Roman, ein New York Times-Bestseller, der, vielfach prämiert, verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, inzwischen zu einem Welterfolg geworden ist.
Eine Kleinstadt in Ohio, ein Haus, ein See – ein junges Mädchen wird vermisst. Der Junge, der es wohl zuletzt sah, schweigt.
Das Mädchen heißt Lydia Lee, entstammt einer amerikanisch-chinesischen Familie: drei Kinder; der Vater Einwanderer der zweiten Generation, Wissenschaftler, Universitätsdozent; die Mutter, Amerikanerin, einst angehende Medizinerin, hat sich für die Familie und gegen den Beruf entschieden. Lydia ist das Lieblingskind ihrer Eltern, ernsthaft, freundlich, verantwortungsbewusst, eine gute Schülerin. Als sie eines Morgens nicht am Frühstückstisch erscheint, weist zunächst nichts hin auf schwelende Konflikte oder gar auf eine Tragödie.
Celeste Ng interessiert jedoch gerade dieses nichts: das Ungesagte in einer augenscheinlich intakten Familie, das Verborgene, das einen unhörbaren Grundton erzeugt. Die Autorin legt innere Wirklichkeiten frei und entfaltet eine Geschichte, in der es weniger darum geht, was geschehen ist – warum es geschehen ist, das ist die Frage.
8. Auflage 2020
2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2014 by Celeste Ng
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
›Everything I Never Told You‹
Erschienen bei The Penguin Press, New York
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Kornelia Rumberg, www.rumbergdesign.de unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/Kniel Synnatzschke
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eBook-Herstellung im Verlag (08)
eBook ISBN 978-3-423-42960-3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14599-2
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
www.dtv.de/celesteng
ISBN (epub) 9783423429603
Für meine Familie
Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht. Am 3. Mai 1977 um halb sieben Uhr morgens weiß niemand etwas außer der harmlosen Tatsache: Lydia kommt zu spät zum Frühstück. Ihre Mutter hat wie immer neben die Müslischale einen angespitzten Bleistift gelegt und Lydias Physiksachen, sechs Aufgaben markiert mit kleinen Häkchen. Ihr Vater, der gerade zur Arbeit fährt, dreht den Wählerknopf auf WXKP, den besten Nachrichtensender in Nordwest-Ohio, und ärgert sich über das statische Rauschen. Lydias Bruder, noch immer verstrickt in das Ende seines Traums, gähnt auf der Treppe. Und auf einem Stuhl in der Küchenecke kauert Lydias Schwester, noch müde, über ihren Cornflakes, lutscht sie einzeln zu Matsch und wartet auf ihre große Schwester. Sie ist es schließlich, die sagt: »Heute braucht Lydia aber lang.«
Oben öffnet Marilyn die Zimmertür ihrer Tochter und sieht das unberührte Bett: die Laken unter der Tagesdecke ordentlich eingeschlagen, das Kissen noch aufgeschüttelt und rund. Alles an seinem Platz. Auf dem Boden eine zerknäulte senffarbene Cordhose, daneben eine einzelne geringelte Socke. An der Wand mehrere Schleifen von Wissenschaftsprojekten und eine Postkarte von Einstein. Lydias Reisetasche zerknautscht auf dem Schrankboden. Lydias grüne Schultasche an den Schreibtisch gelehnt. Lydias Mädchenparfum auf der Kommode, der süße, pudrige Babyduft hängt noch in der Luft. Aber keine Lydia.
Marilyn schließt die Augen. Vielleicht ist Lydia da, wenn sie sie wieder öffnet, die Decke wie gewohnt über den Kopf gezogen, eine Haarsträhne, die darunter vorlugt. Ein mürrischer, eingerollter Haufen, den sie vorher übersehen hat. Ich war im Bad, Mom. Ich war unten und wollte Wasser trinken. Ich hab die ganze Zeit hier gelegen. Natürlich ist alles unverändert, als sie wieder hinsieht. Die geschlossenen Vorhänge leuchten wie ein leerer Fernsehbildschirm.
Unten bleibt sie in der Küchentür stehen, eine Hand auf jeder Seite des Rahmens. Ihr Schweigen sagt alles. »Ich seh mal draußen nach«, meint sie schließlich. »Vielleicht ist sie aus irgendeinem Grund –« Auf dem Weg zur Haustür richtet sie den Blick auf den Boden, als könnten Lydias Fußabdrücke im Flurläufer erkennbar sein.
Nath sagt zu Hannah: »Gestern Abend war sie in ihrem Zimmer. Ich hab das Radio gehört. Um halb zwölf.« Er hält inne und erinnert sich, dass er nicht Gute Nacht gesagt hat.
»Kann man mit sechzehn entführt werden?«, fragt Hannah.
Nath stößt seinen Löffel in die Schale. Die Cornflakes tauchen unter und versinken in der schimmernden Milch.
Ihre Mutter kommt wieder in die Küche, und für den wunderbaren Bruchteil einer Sekunde seufzt Nath erleichtert: Da ist Lydia ja. Manchmal passiert das – ihre Gesichter sind einander so ähnlich, dass man die eine aus dem Augenwinkel sieht und sie mit der anderen verwechselt: das gleiche elfenhafte Kinn, hohe Wangenknochen und ein Grübchen in der linken Wange, die gleiche schmale Statur. Nur die Haarfarbe ist anders, Lydias ist pechschwarz, das ihrer Mutter honigblond. Er und Hannah geraten nach ihrem Vater – einmal wurden sie im Supermarkt von einer Frau gefragt: »Seid ihr Chinesen?«, und als sie ja sagten, weil sie die Sache nicht vertiefen wollten, nickte die Frau beflissen und meinte: »Ich wusste es. Wegen der Augen.« Dann zog sie ihre Augenwinkel mit den Fingerspitzen nach außen. Lydia dagegen hat der Genetik getrotzt und die blauen Augen ihrer Mutter geerbt, noch ein Grund, wie Nath und seine kleine Schwester wissen, warum sie das Lieblingskind ihrer Mutter ist. Und auch das ihres Vaters.
Dann legt Lydia eine Hand an die Stirn und wird wieder zu seiner Mutter.
»Das Auto ist noch da«, sagt sie, doch das wusste Nath schon vorher. Lydia kann nicht fahren; sie hat noch nicht mal eine Lernerzulassung. Zur Überraschung aller war sie letzte Woche durch die Prüfung gefallen, und ohne die Erlaubnis wollte ihr Vater sie nicht ans Steuer lassen. Nath rührt seine Cornflakes um, die am Boden der Schale zu Brei geworden sind. Die Uhr im Flur tickt und schlägt halb acht. Niemand rührt sich.
»Müssen wir heute trotzdem in die Schule?«, fragt Hannah.
Marilyn zögert. Schließlich geht sie zu ihrer Handtasche und holt schwungvoll ihre Schlüssel heraus. »Ihr habt den Bus verpasst. Nath, du kannst mein Auto nehmen und Hannah unterwegs absetzen.« Dann: »Keine Sorge. Wir finden heraus, was los ist.« Sie schaut keinen der beiden an. Und umgekehrt auch nicht.
Als die Kinder weg sind, holt sie einen Becher aus dem Schrank und versucht, dabei ihre Hände still zu halten. Vor langer Zeit – Lydia war erst elf Monate alt gewesen – hatte Marilyn sie einmal allein auf einer Decke spielend im Wohnzimmer gelassen, um sich in der Küche Tee zu kochen. Als sie den Kessel vom Herd nahm und sich umdrehte, stand Lydia in der Tür. Sie war erschrocken und hatte die Hand auf die heiße Platte gelegt. Ein roter, spiralförmiger Wulst entstand auf ihrer Handfläche, und sie hielt ihn an den Mund und betrachtete ihre Tochter durch tränennasse Augen. Lydia stand merkwürdig aufmerksam da, als würde sie die Küche zum ersten Mal wahrnehmen. Marilyn dachte nicht daran, dass sie die ersten Schritte ihrer Tochter verpasst hatte oder wie groß sie geworden war. Und sie fragte sich auch nicht: Wie konnte mir das entgehen?, sondern: Was hast du mir noch verheimlicht? Nath hatte sich vor ihren Augen wackelig aufgerichtet, war hingefallen und dann unsicher umhergetapst, aber sie erinnerte sich nicht daran, wann Lydia überhaupt angefangen hatte zu stehen. Gleichwohl wirkte sie unglaublich sicher auf ihren bloßen Füßen, ihre winzigen Finger ragten gerade mal aus dem Rüschenärmel ihres Strampelanzugs. Marilyn stand oft mit dem Rücken zu ihr, wenn sie den Kühlschrank öffnete oder die Wäsche zum Trocknen umdrehte. Lydia konnte schon lange mit dem Laufen angefangen haben, während sie es, über einen Topf gebeugt, nicht mitbekommen hatte.
Sie hatte Lydia hochgehoben, ihr das Haar gestreichelt und gesagt, wie klug sie sei und wie stolz ihr Vater sein werde, wenn er nach Hause kam. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre sie in einem vertrauten Zimmer auf eine verschlossene Tür gestoßen: Lydia, obwohl noch klein genug, um auf dem Arm gehalten zu werden, hatte bereits Geheimnisse. Sie konnte ihre Tochter füttern und baden und ihre Beinchen in einen Schlafanzug stecken, doch Teile ihres Lebens waren schon wie hinter einem Vorhang verborgen. Sie drückte Lydia an sich, küsste ihre Wange und versuchte, sich an dem kleinen Körper ihrer Tochter zu wärmen.
Jetzt nippt Marilyn an ihrem Tee und erinnert sich daran, wie überrascht sie damals war.
Die Telefonnummer der Highschool hängt neben dem Kühlschrank an der Pinnwand, und Marilyn nimmt sie, wählt und wickelt sich, während es klingelt, die Schnur um den Finger.
»Middlewood High«, sagt die Sekretärin nach dem vierten Läuten. »Hier ist Dottie.«
Sie erinnert sich an Dottie: eine Frau mit der Figur eines Sofakissens, die ihr hellrotes Haar noch immer hochsteckt. »Guten Morgen«, setzt sie an und zögert. »Ist meine Tochter heute Morgen im Unterricht?«
Dottie gibt ein höflich-ungeduldiges Glucksen von sich. »Mit wem spreche ich, bitte?«
Es dauert einen Moment, bis sie sich an ihren Namen erinnert. »Marilyn. Marilyn Lee. Meine Tochter ist Lydia Lee. Zehnte Klasse.«
»Ich seh mal auf ihrem Stundenplan nach. Erste Stunde –« Pause. »Physik elfte Klasse?«
»Ja, genau. Bei Mr. Kelly.«
»Ich schicke jemanden los, um nachzusehen.« Die Sekretärin legt den Hörer mit einem dumpfen Laut auf den Schreibtisch.
Marilyn betrachtet die Wasserlache, die ihr Becher auf der Anrichte hinterlassen hat. Vor einigen Jahren war ein kleines Mädchen in einen Lagerschuppen gekrochen und erstickt. Hinterher schickte die Polizei Flugblätter an alle Haushalte: Wenn Ihr Kind vermisst wird, suchen Sie es sofort. Sehen Sie in der Waschmaschine und im Wäschetrockner nach, im Kofferraum, im Werkzeugschuppen, überall, wo es sich versteckt haben könnte. Wenn Sie Ihr Kind nicht finden, rufen Sie unverzüglich die Polizei.
»Mrs. Lee?«, sagt die Sekretärin. »Ihre Tochter war nicht in der ersten Unterrichtsstunde. Rufen Sie an, um sie zu entschuldigen?«
Marilyn legt ohne zu antworten auf. Sie hängt die Telefonnummer zurück an die Pinnwand und verschmiert dabei mit ihrem feuchten Finger die Tinte, sodass die Ziffern verschwimmen wie unter Wasser.
Sie sucht in jedem Zimmer, öffnet jeden Schrank. Sie schaut in die leere Garage: nur ein Ölfleck auf dem Steinboden und der schwache Geruch nach Benzin. Sie weiß nicht genau, was sie sucht: verräterische Fußabdrücke? Eine Brotkrumenspur? Als sie zwölf war, verschwand ein älteres Mädchen aus ihrer Schule und wurde tot aufgefunden. Ginny Barron. Sie hatte Sattelschuhe getragen, wie Marilyn sich sehnlichst welche gewünscht hatte. Ginny war zum Kaufladen gegangen, um für ihren Vater Zigaretten zu holen, und zwei Tage später fand man ihre Leiche auf halber Strecke nach Charlottesville am Straßenrand, erdrosselt und nackt.
Marilyns Gedanken überschlagen sich. Der Sommer von Son Of Sam hat gerade begonnen – allerdings wird er in den Zeitungen erst seit Kurzem so genannt –, und selbst in Ohio ist die letzte Schießerei einziges Thema in den Schlagzeilen. In ein paar Monaten wird die Polizei David Berkowitz festnehmen und das Land sich wieder auf andere Dinge konzentrieren: den Tod von Elvis, den neuen Atari, Fonzie, der über den Hai springt. Im Augenblick jedoch, da dunkelhaarige New Yorker sich blonde Perücken kaufen, empfindet Marilyn die Welt als erschreckend willkürlich. Solche Sachen passieren hier nicht, redet sie sich ein. Nicht in Middlewood, das sich selbst als Stadt bezeichnet, in Wirklichkeit aber nur ein kleines Nest mit einem College und dreitausend Einwohnern ist, wo man nach einer Stunde Autofahrt gerade mal nach Toledo kommt, wo am Samstagabend auszugehen heißt, dass man sich an der Rollschuhbahn trifft, zum Bowlen geht oder ins Drive-in fährt, und wo selbst der Middlewood Lake in der Ortsmitte nicht mehr ist als ein einfacher Teich. (Mit Letzterem liegt sie falsch: Er ist dreihundert Meter breit und sehr tief.) Trotzdem kribbelt ihr Rücken, als würden Käfer ihre Wirbelsäule hinunterkrabbeln.
Zurück im Haus, zieht Marilyn die quietschenden Duschvorhangringe an der Stange zurück und betrachtet die weiße Wölbung der Badewanne. Sie durchsucht sämtliche Schränke in der Küche. Sie schaut in die Speisekammer, die Garderobe, den Ofen. Dann öffnet sie den Kühlschrank und späht hinein. Oliven. Milch. Eine rosa Styroporpackung mit Hühnchen, ein Eisbergsalat, jadegrüne Weintrauben. Sie berührt das grüne Glas mit Erdnussbutter und schließt kopfschüttelnd die Tür. Als könnte Lydia dort irgendwo sein.
Die Morgensonne fällt zartgelb wie weicher Chiffon ins Haus und erhellt das Innere der Schränke und leeren Kammern, die sauberen, blanken Böden. Marilyn betrachtet ihre Hände, ebenfalls leer und im Sonnenlicht fast leuchtend. Dann nimmt sie den Hörer ab und wählt die Nummer ihres Mannes.
Für James ist es noch ein ganz normaler Dienstag im Büro. Er sitzt da und klickt mit einem Stift gegen die Zähne. Eine Zeile verschmierter Druckbuchstaben zieht sich leicht schief nach oben: Serbien war einer der mächtigsten baltischen Staaten. Er streicht baltisch durch, fügt hinter Staaten »des Balkans« ein und dreht die Seite um. Erzherzog France Ferdinand wurde von Mitgliedern der Schwarzen Ann ermordet. Franz, denkt er. Schwarze Hand. Ob diese Studenten jemals ihre Bücher aufschlugen? Vor seinem geistigen Auge sieht er sich vorne im Hörsaal stehen, den Zeigestock in der Hand, hinter ihm die Europakarte. Es ist ein Einführungskurs, »Amerika und die Weltkriege«. Er erwartet kein tiefschürfendes Wissen oder kritisches Denken. Nur ein Grundverständnis der Fakten und dass ein Student vielleicht Tschechoslowakei richtig schreiben kann.
Er schließt den Papierbogen, schreibt die Punktzahl vorne auf die Seite – fünfundsechzig von hundert – und markiert sie. Jedes Jahr werden die Studenten kurz vor den Sommerferien hektisch und unruhig; Funken des Unmuts zischen auf wie Leuchtgeschosse und verglühen an den fensterlosen Wänden des Hörsaals. Ihre Aufsätze werden halbherzig, ganze Absätze laufen ins Leere, manchmal mitten im Satz, als könnten sie einem Gedanken nicht so lange folgen. War seine Arbeit nur Zeitverschwendung? All die ausgefeilten Vorlesungsnotizen, all die Farbfolien von MacArthur und Truman, die Karten von Guadalcanal. Nichts als lustige Namen, über die gekichert wurde, der ganze Kurs nur eine weitere Pflichtveranstaltung, die vor dem Examen abgehakt werden musste. Aber was konnte man schon von einem solchen College erwarten? Er legt den Aufsatz zu den anderen und lässt den Stift obendrauf fallen. Durch das Fenster sieht er in dem kleinen grünen College-Hof drei Frisbee spielende Studenten in blauen Jeans.
Als er jünger war und die Fakultät ihn noch nicht fest übernommen hatte, hielt man ihn oft für einen Studenten. Das ist schon lange nicht mehr passiert. Im nächsten Frühjahr wird er sechsundvierzig. Mittlerweile ist er fest angestellt, ein paar graue Strähnen haben sich in sein schwarzes Haar gemischt. Manchmal verwechselt man ihn allerdings immer noch. Einmal hielt ihn die Sekretärin im Büro des Verwaltungsdirektors für einen Diplomaten aus Japan und fragte, wie sein Flug gewesen sei. Er genießt die erstaunten Gesichter, wenn er Leuten erklärt, er sei Professor für amerikanische Geschichte. »Tja, und ich bin Amerikaner«, sagt er mit einem trotzigen Unterton in der Stimme, wenn sie ungläubig schauen.
Jemand klopft: Louisa, seine Lehrassistentin. Sie hat einen Papierstapel in der Hand.
»Professor Lee. Ich wollte Sie nicht stören, aber Ihre Tür war angelehnt.« Sie legt die Aufsätze auf seinen Schreibtisch und zögert. »Die waren nicht besonders gut.«
»Nein. Meine Hälfte auch nicht. Ich habe gehofft, Sie hätten alle As.«
Louisa lacht. Als er sie das erste Mal sah, in seinem Examenskurs im vergangenen Semester, hatte sie ihn verblüfft. Von hinten hätte sie seine Tochter sein können: Sie hatte ebenfalls dunkles, glänzendes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, und saß wie Lydia mit eng an den Körper gepressten Armen da. Aber als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht ganz ihres, schmal, nicht breit wie Lydias, und der Blick aus ihren braunen Augen war fest. »Professor Lee?«, hatte sie gesagt und ihm die Hand hingehalten. »Ich bin Louisa Chen.« Achtzehn Jahre am Middlewood College, hatte er gedacht, und hier ist meine erste asiatische Studentin. Er musste unwillkürlich lächeln.
Eine Woche später kam sie in sein Büro. »Ist das Ihre Familie?«, hatte sie gefragt und das Foto auf seinem Schreibtisch zu sich gedreht. Eine Pause entstand, als sie es betrachtete. Alle reagierten so, und deshalb ließ er es auf seinem Schreibtisch stehen. Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht auf dem Foto zu dem seiner Frau, dann zu dem seiner Kinder und wieder zurück. »Oh«, sagte sie wenig später, und er merkte, wie sie ihre Verwirrung zu verbergen suchte. »Ihre Frau ist – keine Chinesin?«
Auch das sagten alle. Von ihr hatte er allerdings etwas anderes erwartet.
»Nein«, sagte er und stellte den Bilderrahmen gerade hin, so dass er ihr direkter zugewandt war und in einem exakten Fünfundvierzig-Grad-Winkel zum Schreibtisch stand. »Nein, ist sie nicht.«
Trotzdem hatte er sie am Ende des Herbstsemesters gefragt, ob sie ihm beim Benoten der Grundsemesterarbeiten helfen wolle. Und im April hatte er sie gebeten, seine wissenschaftliche Hilfskraft für den Sommerkurs zu werden.
»Ich hoffe, die Sommerstudenten sind besser«, sagt Louisa jetzt. »Ein paar Studenten haben behauptet, die Kap-Kairo-Bahn befinde sich in Europa. Für College-Studenten haben sie erstaunlich wenig Ahnung von Geographie.«
»Wir sind eben nicht Harvard«, sagt James. Er legt die beiden Aufsatzstapel aufeinander und richtet sie wie ein Kartenspiel an der Schreibtischoberfläche aus. »Manchmal frage ich mich, ob nicht alles umsonst ist.«
»Es ist nicht Ihre Schuld, wenn die Studenten sich nicht bemühen. Und sie sind nicht alle so schlecht. Ein paar As sind auch dabei.« Louisa blinzelt und wird plötzlich ernst. »Ihr Leben ist nicht umsonst.«
Eigentlich hatte er nur den Einführungskurs gemeint, in dem meist Studenten sitzen, die nicht mal daran interessiert sind, die wichtigen Jahreszahlen zu lernen. Sie ist dreiundzwanzig, denkt er; sie weiß nichts vom Leben, ob verschwendet oder nicht. Aber ihre Bemerkung ist nett.
»Halten Sie mal still«, sagt er. »Sie haben was im Haar.« Ihr Haar ist kühl und ein bisschen feucht, noch nicht ganz trocken vom morgendlichen Duschen. Sie hält still, ihre offenen Augen sind auf sein Gesicht gerichtet. Es ist kein Blütenblatt, wie er zuerst dachte, sondern ein Marienkäfer. Als er ihn herauspickt, krabbelt er auf dünnen gelben Beinen über seinen Fingernagel und hängt dann kopfüber nach unten.
»Die blöden Viecher sind dieses Jahr überall«, meldet sich eine Stimme an der Tür. James blickt auf und sieht Stanley Hewitt, der den Kopf hereinstreckt. Er mag Stan nicht – ein Brocken von einem Mann mit rotem Gesicht, der immer laut und langsam mit ihm redet, als wäre er schwerhörig. Außerdem reißt er blöde Witze, die meistens so anfangen: George Washington, Buffalo Bill und Spiro Agnew gehen in eine Bar …
»Wollten Sie etwas Bestimmtes, Stan?«, fragt James. Ihm ist unangenehm bewusst, dass sein ausgestreckter Zeigefinger und Daumen wie eine Waffe auf Louisas Schulter gerichtet sind, und er zieht seine Hand zurück.
»Ich hab nur eine Frage zur letzten Aktennotiz vom Dekan«, sagt Stanley und hält ein kopiertes Blatt Papier hoch. »Wollte nicht bei irgendwas stören.«
»Ich muss sowieso los«, sagt Louisa. »Einen schönen Tag noch, Professor Lee. Wir sehen uns morgen. Ihnen ebenfalls, Professor Hewitt.« James sieht, wie sie an Stanley vorbei in den Flur huscht und dabei errötet. Er wird ebenfalls rot. Als sie weg ist, setzt sich Stanley auf die Schreibtischkante.
»Hübsches Mädchen«, sagt er. »Ist sie im Sommer auch wieder Ihre Assistentin?«
»Ja.« James spreizt die Hand, als der Marienkäfer auf seine Fingerspitze krabbelt und in Kringeln und Schleifen den Weg seines Fingerabdrucks nimmt. Am liebsten würde er Stanley einen Schlag in sein grinsendes Gesicht verpassen und spüren, wie ihm sein leicht schiefer Schneidezahn die Knöchel spaltet. Stattdessen zerdrückt er den Marienkäfer mit dem Daumen. Die Hülle knackt wie eine Popcornschale, und das Insekt wird zu einer schwefelgelben Masse. Stanley fährt mit dem Finger über die Buchrücken in James’ Zimmer. Später wird James sich nach der ahnungslosen Stille dieses Augenblicks sehnen, nach dieser letzten Sekunde, in der Stans anzügliches Grinsen sein größtes Problem war. Aber als das Telefon jetzt klingelt, ist er so erleichtert über die Unterbrechung, dass ihm die große Angst in Marilyns Stimme zunächst entgeht.
»James?«, sagt sie. »Könntest du nach Hause kommen?«
Die Polizei erklärt ihnen, dass viele Teenager ohne Vorwarnung von zu Hause ausreißen. In vielen Fällen seien die Mädchen sauer auf ihre Eltern, ohne dass die es überhaupt wüssten. Nath beobachtet, wie sie im Zimmer seiner Schwester umherlaufen. Er hatte Pulver und Staubwedel erwartet, Spürhunde und Lupen. Aber die Polizisten sehen sich alles nur an: die über dem Schreibtisch mit Reißzwecken befestigten Poster, die Schuhe auf dem Boden, die halb offene Schultasche. Dann legt der Jüngere seine Hand auf den runden rosafarbenen Deckel von Lydias Parfumflasche, als würde er den Kopf eines Kindes umfassen.
Die meisten Vermisstenfälle, sagt der ältere Polizist, klären sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf. Die Mädchen kommen von allein zurück.
»Was soll das heißen?«, fragt Nath. »Die meisten? Was soll das heißen?«
Der Polizist späht durch seine Gleitsichtbrille und sagt: »In der großen Mehrheit der Fälle.«
»Achtzig Prozent?«, fragt Nath. »Neunzig? Fünfundneunzig?«
»Nathan«, sagt James. »Es reicht. Officer Fiske macht nur seine Arbeit.«
Der jüngere Polizist schreibt in sein Notizbuch: Lydia Elizabeth Lee, sechzehn, zuletzt gesehen am 2. Mai, geblümtes Neckholder-Kleid, Eltern James und Marilyn Lee. Plötzlich mustert Officer Fiske James, und ihm fällt etwas ein.
»Sagen Sie, wurde Ihre Frau nicht auch mal vermisst?«, fragt er. »Ich erinnere mich an den Fall. Das war sechsundsechzig, oder?«
James wird heiß im Nacken, als würde sich Schweiß hinter seinen Ohren sammeln. Er ist froh, dass Marilyn unten am Telefon wartet. »Das war ein Missverständnis«, sagt er steif. »Eine Fehlkommunikation zwischen mir und meiner Frau. Eine Familienangelegenheit.«
»Verstehe.« Officer Fiske holt nun ebenfalls einen Block heraus und notiert sich etwas, während James mit dem Knöchel gegen Lydias Schreibtischecke klopft.
»Noch etwas?«
In der Küche blättern die Polizisten das Familienalbum durch und suchen ein gutes Porträt. »Das da«, sagt Hannah und zeigt auf ein Bild. Es ist ein Schnappschuss vom letzten Weihnachten. Lydia war schlecht gelaunt, und Nath hatte sie aufheitern und ihr durch die Kamera ein Lächeln entlocken wollen. Es war ihm nicht geglückt. Mit dem Rücken an der Wand sitzt sie allein neben dem Christbaum. Ihr Gesicht eine einzige Herausforderung. Der direkte Blick, ohne eine Andeutung von Profil, scheint zu sagen: Was guckst du so? Das Blau der Iris ist vom Schwarz der Pupillen nicht zu unterscheiden, auf dem glänzenden Papier gleichen ihre Augen dunklen Löchern. Nach dem Abholen der Bilder aus dem Drugstore bedauerte Nath, dass er diesen Augenblick festgehalten hatte, den harten Blick auf dem Gesicht seiner Schwester. Wenn er sich aber jetzt das Bild in Hannahs Hand ansieht, muss er zugeben, dass es typisch für sie ist – zumindest hatte er sie so zum letzten Mal gesehen.
»Das nicht«, sagt James. »Nicht, wenn Lydia so ein Gesicht macht. Die Leute werden denken, sie sieht immer so aus. Wir suchen ein schöneres.« Er blättert ein paar Seiten weiter und entfernt vorsichtig das letzte Foto. »Das ist besser.«
Es zeigt Lydia an ihrem sechzehnten Geburtstag in der Woche zuvor, wie sie mit geschminkten Lippen lächelnd am Tisch sitzt. Obwohl ihr Gesicht auf die Kamera gerichtet ist, blicken ihre Augen auf einen Punkt außerhalb der weißen Fotoumrandung. Was war so lustig?, fragt sich Nathan. Er erinnert sich nicht mehr, ob er es war, eine Bemerkung seines Vaters oder ob Lydia über etwas lacht, das keiner von ihnen ahnt. Sie sieht aus wie ein Model in einer Zeitschriftenwerbung, die dunklen, wohlgeformten Lippen, ein Teller mit einem appetitlichen Stück Kuchen in der zarten Hand, als ginge es ihr unglaublich gut.
James schiebt den Polizisten das Geburtstagsfoto über den Tisch zu. Der Jüngere steckt es in eine Aktenmappe und steht auf.
»Sehr gut«, sagt er. »Wenn sie bis morgen nicht auftaucht, erstellen wir einen Handzettel. Keine Sorge. Ich bin sicher, sie kommt wieder.« Er hinterlässt ein bisschen Spucke auf der Fotoalbumseite, und Hannah wischt sie mit dem Finger ab.
»Sie würde nicht einfach so weggehen«, sagt Marilyn. »Was ist, wenn es ein Verrückter war? Irgendein Psychopath, der Mädchen entführt?« Ihre Hand sinkt auf die Morgenzeitung, die noch immer auf dem Tisch liegt.
»Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen, Ma’am«, sagt Officer Fiske. »So etwas passiert wirklich selten. In der großen Mehrheit der Fälle –« Er schaut kurz zu Nath und räuspert sich. »Die Mädchen kommen fast immer zurück.«
Als die Polizisten gegangen sind, setzen sich Marilyn und James mit einem Stück Papier hin. Die Polizei hat ihnen empfohlen, sämtliche Freundinnen von Lydia anzurufen, alle, die wissen könnten, wo sie ist. Gemeinsam stellen sie eine Liste zusammen: Pam Saunders. Jenn Pittman. Shelley Brierley. Nath mischt sich nicht ein, aber diese Mädchen sind nie Lydias Freundinnen gewesen. Sie kennt sie zwar schon seit der Vorschule, und manchmal rufen sie auch an. Dann kichern sie schrill, und Lydia schreit durch die Leitung: »Ich hab’s kapiert.« An manchen Abenden sitzt sie stundenlang im Treppenhaus auf der Fensterbank, die Telefonstation auf dem Schoß, Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Wenn ihre Eltern vorbeigehen, senkt sie die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern und wickelt sich die Schnur um den kleinen Finger, bis sie weggehen. Nur deshalb, das weiß Nath, schreiben seine Eltern die Namen so zuversichtlich auf die Liste.
Aber er hat gesehen, wie Lydia in der Schule stumm dasitzt, während die anderen sich vergnügt unterhalten; wie sie ruhig ihr Heft in die Schultasche steckt, wenn die Mädchen die Hausaufgaben von ihr abgeschrieben haben. Nach der Schule geht sie allein zum Bus und setzt sich schweigend auf den Platz neben ihm. Einmal war er in der Leitung geblieben, nachdem Lydia abgenommen hatte, und hörte nicht etwa Geplapper, sondern die Stimme seiner Schwester, die pflichtgemäß Schulaufgaben herunterrasselte – den ersten Akt von Othello lesen, die ungeraden Aufgaben in Kapitel 5 – und dann Stille nach dem Auflegen. Als Lydia am nächsten Tag mit dem Hörer am Ohr auf der Fensterbank kauerte, hatte er den Nebenapparat in der Küche abgenommen und nur das leise summende Freizeichen gehört. Lydia hat nie richtige Freundinnen gehabt, aber das wissen ihre Eltern nicht. Wenn ihr Vater fragt: »Lydia, wie geht es Pam?«, erwidert sie: »Oh, sehr gut. Sie wurde gerade bei den Cheerleadern aufgenommen«, und Nath widerspricht ihr nicht. Er wundert sich nur über ihre ernste Miene und wie sie ohne mit der Wimper zu zucken lügen kann.
Seinen Eltern darf er das jetzt nicht sagen. Er beobachtet, wie seine Mutter Namen auf die Rückseite einer alten Quittung schreibt, und als sie ihn und Hannah fragt: »Fällt euch noch jemand ein?«, denkt er an Jack und sagt nein.
Lydia war das ganze Frühjahr mit Jack zusammen – oder umgekehrt. Fast jeden Nachmittag fuhr sie mit ihm in seinem Käfer durch die Gegend, kam gerade rechtzeitig zum Abendessen zurück und tat so, als wäre sie die ganze Zeit in der Schule gewesen. Sie war schnell entstanden, diese Freundschaft – ein anderes Wort mochte Nath dafür nicht benutzen. Jack und seine Mutter lebten seit der ersten Klasse an der Ecke, und anfangs dachte Nath, sie könnten Freunde sein. Es war anders gekommen. Jack hatte ihn vor den anderen Kindern gedemütigt, er hatte gelacht, als Naths Mutter verschwunden war und er dachte, sie würde nicht mehr zurückkommen. Als ob Jack, denkt Nath jetzt, als ob er auch nur das geringste Recht hätte, den Mund aufzumachen – schließlich hat er keinen Vater. Als die Wolffs einzogen, hatte die ganze Nachbarschaft getuschelt, dass Janet Wolff geschieden sei und Jack verwahrlosen würde, wenn sie im Krankenhaus in der Spätschicht arbeitete. In jenem Sommer hatten sie auch über Naths Eltern getuschelt – aber Naths Mutter war zurückgekommen. Jacks Mutter war immer noch geschieden. Und Jack verwahrloste immer noch.
Und jetzt? Erst letzte Woche, auf der Rückfahrt vom Einkaufen, hatte er Jack mit seinem Hund gesehen. Er war um den See gefahren und wollte gerade in die kleine Sackgasse einbiegen, als er Jack auf dem Uferweg sah, groß und schlaksig, der Hund rannte voraus zu einem Baum. Jack trug ein altes, verblichenes T-Shirt, und seine sandblonden Locken standen ungekämmt hoch. Als Nath vorbeifuhr, blickte Jack auf und nickte nur leicht, im Mundwinkel hing eine Zigarette. Eine Geste, weniger ein Gruß als ein Zeichen flüchtigen Erkennens. Der Hund an Jacks Seite hatte ihn angestarrt und lässig das Bein gehoben. Und Lydia hatte das ganze Frühjahr mit ihm verbracht.
Wenn ich ihnen das erzähle, überlegt Nath, dann sagen sie: Warum erfahren wir das erst jetzt? Dann müsste er erklären, dass er an den Nachmittagen, als er gesagt hatte: »Lydia lernt mit einer Freundin«, oder: »Lydia bleibt länger, sie macht noch Mathe«, eigentlich gemeint hatte: Sie ist bei Jack, oder: Sie fährt mit Jack durch die Gegend, oder: Sie ist weiß Gott wo mit ihm unterwegs. Und außerdem: Jacks Namen zu erwähnen würde bedeuten, etwas zuzugeben, und das möchte er eigentlich nicht. Dass Jack nämlich zu Lydias Leben gehörte, und zwar schon seit Monaten.
Auf der anderen Tischseite sucht Marilyn die Nummern im Telefonbuch und liest sie vor. James übernimmt die Anrufe und dreht langsam die Wählscheibe. Mit jedem Anruf wird seine Stimme unsicherer. Nein? Sie hat dir gegenüber nichts erwähnt, keine Pläne? Ah, verstehe. Na gut. Jedenfalls vielen Dank.
Nath betrachtet die Maserung des Küchentischs und das aufgeschlagene Album. Das fehlende Foto hinterlässt eine Lücke auf der Seite, ein transparentes Plastikfenster, durch das man auf den weißen Einband sieht. Seine Mutter fährt die Spalte im Telefonbuch abwärts, ihre Fingerspitze verfärbt sich dabei grau. Unterm Tisch streckt Hannah ihr Bein aus und stößt Nath mit dem großen Zeh. Ein tröstlicher Stupser. Aber er blickt nicht auf, sondern schließt das Album, während seine Mutter einen weiteren Namen auf der Liste streicht.
Nachdem James die letzte Nummer angerufen hat, legt er den Hörer auf. Er holt sich die Liste von Marilyn, streicht Karen Adler durch, halbiert das K in zwei ordentliche Vs. Trotz des Strichs ist der Name noch gut lesbar. Karen Adler. Marilyn ließ Lydia an den Wochenenden nur ausgehen, wenn sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte – und dann war es meistens schon Sonntagnachmittag. Manchmal traf sich Lydia an diesen Nachmittagen mit ihren Freundinnen in der Mall und überredete ihn, sie abzuholen: »Ein paar von uns gehen ins Kino. Annie Hall. Karen will den Film unbedingt sehen.« Er holte zehn Dollar aus seiner Brieftasche und schob ihr den Schein über den Tisch zu, was so viel hieß wie: Na schön, dann geh jetzt und amüsier dich. Ihm fällt ein, dass er nie eine abgerissene Kinokarte gesehen hat und dass Lydia, solange er sich zurückerinnern kann, immer allein am Straßenrand wartete, wenn er sie abholte. Oft stand er abends am Fuß der Treppe und lauschte Lydias Gesprächsfetzen von oben: »O mein Gott, ich weiß, okay? Und was hat sie dann gesagt?« Aber jetzt wird ihm klar, dass sie seit Jahren weder Karen noch Pam oder Jenn angerufen hat. Er denkt an die langen Nachmittage, als alle glaubten, sie wäre zum Lernen in der Schule geblieben. Gähnende Zeitlücken, in denen sie überall hätte sein, alles Mögliche hätte tun können. Plötzlich merkt er, dass er Karen Adlers Namen unter seinem schwarzen Gekritzel ausgelöscht hat.
Er hebt den Hörer wieder ab und wählt. »Officer Fiske bitte. Ja, hier ist James Lee. Wir haben Lydias –« Er zögert. »Wir haben alle angerufen, die sie aus der Schule kennt. Nein, nichts. Gut, vielen Dank. Ja, machen wir.«
»Sie schicken einen Polizisten los, um sie zu suchen«, sagt er und legt den Hörer wieder auf die Gabel. »Wir sollen die Leitung frei halten, falls sie anruft.«
Die Abendessenszeit kommt und geht, doch niemand denkt auch nur entfernt ans Essen. Es kommt ihnen vor wie etwas, das Leute in Filmen tun, etwas Schönes und Dekoratives, dieser ganze Akt des Gabel-an-den-Mund-Führens. Eine sinnlose Zeremonie. Das Telefon klingelt nicht. Um Mitternacht schickt James die Kinder ins Bett, und obwohl sie nicht widersprechen, bleibt er an der Treppe stehen, bis sie oben sind. »Zwanzig Mäuse, dass Lydia vor morgen früh anruft«, sagt er, ein wenig zu fröhlich. Niemand lacht. Das Telefon klingelt immer noch nicht.
Oben schließt Nath seine Zimmertür und zögert. Am liebsten würde er auf der Stelle zu Jack gehen, denn er weiß mit Sicherheit, wo Lydia ist. Aber er kann sich nicht davonstehlen, solange seine Eltern wach sind. Seine Mutter ist ohnehin nervös und zuckt bei jedem An- und Ausspringen des Kühlschrankmotors zusammen. Vom Fenster aus sieht er, dass bei den Wolffs kein Licht brennt. Die Einfahrt, in der Jacks stahlgrauer VW meist steht, ist leer. Und Jacks Mutter hat wie immer vergessen, das Haustürlicht anzuschalten.
Er versucht sich zu erinnern: Hatte sich Lydia am Abend zuvor seltsam verhalten? Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er vier ganze Tage allein verbracht und Harvard besucht – Harvard! –, wo er im Herbst studieren würde. In diesen letzten Semestertagen vor der reading period – »Zwei Wochen zum Büffeln und Party feiern vor den Prüfungen«, hatte Andy, sein studentischer Betreuer, gesagt – herrschte auf dem Campus eine unruhige, fast feierliche Atmosphäre. Das ganze Wochenende war er ehrfürchtig herumgelaufen, um möglichst alles in sich aufzunehmen: die geriffelten Säulen in der riesigen Bibliothek, die roten Backsteingebäude vor den saftig grünen Rasen, den süßlichen Kreidegeruch in den Hörsälen. Die zielstrebigen Schritte der Studenten, als wüssten sie, dass sie zu Großem bestimmt waren. Am Freitag hatte er in einem Schlafsack bei Andy auf dem Fußboden übernachtet und war um eins aufgewacht, als Wes, Andys Mitbewohner, mit seiner Freundin kam. Als das Licht anging, hatte er entsetzt zur Tür geblinzelt, wo ein großer junger Mann mit Bart und einem Mädchen an der Hand langsam aus dem blendenden Nebel erschien. Das Mädchen hatte langes rotes Haar, das in weichen Wellen ums Gesicht fiel. »Entschuldigung«, hatte Wes gesagt und das Licht gelöscht, dann hörte Nath ihre vorsichtigen Schritte durch den Gemeinschaftsraum zu Wes’ Zimmer. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, als er dalag und dachte: So ist es also im College.
Gestern war er kurz vor dem Abendessen aus Harvard zurückgekommen. Lydia hatte sich in ihr Zimmer verkrochen, und als sie sich an den Tisch setzten, hatte er sie gefragt, wie die letzten Tage so gewesen waren. Da sie nur die Schultern gezuckt und kaum von ihrem Teller aufgeblickt hatte, war er davon ausgegangen, das bedeute so wie immer. Er erinnert sich nicht mehr, ob sie überhaupt Hallo gesagt hatte.
In ihrem Zimmer, oben unterm Dach, beugt Hannah sich über die Bettkante und fischt ein Buch aus den Staubflocken unter dem Bett. Eigentlich ist es Lydias Buch: ›Schall und Wahn‹. Englisch für Fortgeschrittene. Nicht gedacht für Fünftklässler. Vor ein paar Wochen hatte sie es aus Lydias Zimmer gemopst, und Lydia hatte es nicht mal bemerkt. In den vergangenen zwei Wochen hat sie jeden Abend ein bisschen gelesen und die Worte ausgekostet wie ein Kirschbonbon, das sich langsam im Mund auflöst. Heute Abend ist das Buch irgendwie anders. Erst als sie zu der Stelle von gestern zurückblättert, versteht sie, warum. Lydia hat hin und wieder etwas unterstrichen oder manchmal eine Bemerkung aus dem Unterricht dazugeschrieben. Ordnung vs. Chaos. Korruption der aristokratischen Werte im Süden. Nach dieser Seite ist das Buch unberührt. Hannah blättert den Rest durch: keine Anmerkungen, kein Gekritzel, kein Blau unterbricht das Schwarz. An dieser Stelle hat Lydia aufgehört zu lesen, und deswegen hat sie auch keine Lust mehr dazu.
Gestern Abend, als sie wach im Bett lag, war der Mond langsam wie ein Ballon über den Himmel gezogen. Sie konnte nicht sehen, wie er sich bewegte, aber wenn sie wegschaute und dann wieder zum Fenster, war er an einer anderen Stelle. Nicht mehr lange, dann würde er sich auf dem Schatten der großen Fichte hinten im Garten selbst aufspießen. Es dauerte ziemlich lange. Sie schlief schon fast, als sie einen dumpfen Laut hörte, und einen Moment lang dachte sie tatsächlich, der Mond wäre mit dem Baum zusammengestoßen. Als sie aber nach draußen schaute, war er fast hinter einer Wolke verschwunden. Auf ihrem im Dunkeln leuchtenden Wecker war es zwei Uhr.
Sie hatte ruhig dagelegen und nicht einmal mit den Zehen gewackelt, nur gehorcht. Das Geräusch hörte sich wie das Schließen der Haustür an. Eine heikle Sache: man musste sie mit der Hüfte schubsen, damit sie zuschnappte. Einbrecher!, dachte sie. Durch das Fenster sah sie eine Gestalt vorne über den Rasen gehen. Kein Einbrecher, nur eine schmale Silhouette in der dunklen Nacht. Lydia? In Gedanken hatte sie sich kurz ein Leben ohne ihre Schwester vorgestellt. Sie würde den guten Platz am Tisch bekommen, von dem aus man die Fliederbüsche im Garten sah, und unten das große Zimmer in der Nähe der anderen. Beim Abendessen würde man ihr die Kartoffeln zuerst reichen. Die Witze ihres Vaters würden ihr gelten, sie würde die Geheimnisse ihres Bruders erfahren, ihre Mutter würde sie besonders liebevoll anlächeln. Dann erreichte die Gestalt die Straße und verschwand, und Hannah hatte überlegt, ob das alles nur Einbildung war.
Sie blickt auf die verwirrend vielen Buchstaben hinab. Es war Lydia, sie ist sich ganz sicher. Ob sie es ihren Eltern sagen sollte? Ihre Mutter würde sich aufregen, dass sie Lydia einfach hatte fortgehen lassen. Und Nath? Sie erinnert sich, wie er den ganzen Abend mit finsterer Miene dagesessen hatte und sich, ohne es zu merken, so fest auf die Lippe biss, dass sie aufplatzte und blutete. Er wäre ebenfalls wütend und würde sagen: Warum bist du nicht losgerannt und hast sie aufgehalten? Aber ich wusste doch nicht, wohin sie geht, flüstert Hannah in die Dunkelheit. Ich wusste nicht, dass sie wirklich geht.
Am Mittwochmorgen ruft James wieder bei der Polizei an. Gab es irgendwelche Hinweise? Sie überprüften alle Möglichkeiten. Konnte der Officer ihnen etwas sagen, irgendetwas? Sie rechneten immer noch damit, dass Lydia von allein zurückkehren werde. Sie würden die Sache weiter verfolgen und die Familie selbstverständlich auf dem Laufenden halten.
James hört sich alles an und nickt, obwohl ihm klar ist, dass Officer Fiske ihn nicht sehen kann. Er legt auf und setzt sich wieder an den Tisch, ohne Marilyn, Nath oder Hannah anzusehen. Aber er muss nichts erklären: Seiner Miene entnehmen sie, dass es nichts Neues gibt.
Irgendwie scheint es nur recht und billig, dass sie nichts tun und nur warten. Die Kinder gehen nicht zur Schule. Fernsehen, Zeitschriften, Radio: alles wirkt unangemessen angesichts ihrer Angst. Draußen scheint die Sonne, die Luft ist frisch und kühl, aber niemand schlägt vor, auf die Veranda oder in den Garten zu gehen. Selbst Hausarbeit fühlt sich verkehrt an: Ein Hinweis könnte im Staubsauger verschwinden oder eine Spur verwischt werden, wenn ein herumliegendes Buch aufgehoben und wieder ins Regal gestellt wird. Und so wartet die Familie. Sie sitzen am Tisch, meiden ängstlich die Blicke der anderen und starren die Holzmaserung der Tischplatte an, als wäre sie ein riesiger Fingerabdruck oder eine Karte, auf der eingezeichnet ist, was sie suchen.
Erst am Mittwochnachmittag bemerkt ein Spaziergänger das verlassene, auf dem windstillen See treibende Ruderboot. Vor vielen Jahren war der See das Staubecken für Middlewood, dann wurde der Wasserturm gebaut. Inzwischen dient das grasbewachsene Ufer im Sommer als Badestelle; die Kinder springen vom Landesteg ins Wasser, und für Geburtstagsfeiern und Picknicks bindet ein Parkwärter das vertäute Ruderboot los. Niemand denkt sich etwas dabei: ein loses Tau, ein harmloser Scherz. Nichts von Bedeutung. Eine Notiz wird aufgenommen, damit ein Polizist der Sache nachgeht; eine weitere Notiz wird aufgenommen, diesmal für den Beauftragten der öffentlichen Grünanlagen. Erst spätabends am Mittwoch, fast um Mitternacht, überfliegt ein Beamter den Zettel mit Unerledigtem von der Tagesschicht, stellt eine Verbindung her und ruft die Lees an. War Lydia manchmal am See bei dem Boot?
»Natürlich nicht«, sagt James. Lydia hatte sich geweigert, geweigert, Schwimmunterricht beim YMCA zu nehmen. Er selbst war als Teenager ein guter Schwimmer gewesen und hatte Nath das Schwimmen beigebracht, als er drei war. Bei Lydia hatte er zu spät angefangen, sie war schon fünf, als er sie das erste Mal mitnahm, ins seichte Ende des Beckens watete, das Wasser kaum bis zur Taille, und auf sie wartete. Lydia wollte nicht mal in die Nähe des Wassers. In ihrem Badeanzug lag sie am Beckenrand und weinte, bis er schließlich aus dem Wasser kam, mit tropfnasser Badehose und trockenem Oberkörper, und ihr versprach, sie müsse nicht springen. Obwohl sie ganz in der Nähe des Sees wohnen, geht Lydia selbst heute noch im Sommer nur bis zu den Knöcheln ins Wasser, um sich den Schmutz von den Füßen zu waschen.
»Natürlich nicht«, wiederholt James. »Lydia kann nicht schwimmen.« Und erst als er diese Worte in den Hörer spricht, wird ihm klar, warum der Beamte fragt. Noch während er spricht, erfasst die ganze Familie ein Schauder, als wüsste sie genau, was die Polizei finden wird.
Am frühen Donnerstagmorgen, kurz nach Tagesanbruch, durchsucht die Polizei den See und findet sie.
Wie hatte es angefangen? Wie alles: mit Müttern und Vätern. Mit Lydias Mutter und Vater, mit deren Müttern und Vätern. Weil vor langer Zeit ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater sie zurückgeholt hatte. Weil ihre Mutter sich sehnlichst gewünscht hatte, aus der Menge herauszuragen, und weil ihr Vater sich sehnlichst gewünscht hatte, ein Teil der Menge zu sein. Beides war nicht möglich gewesen.
In ihrem ersten Jahr in Radcliffe, 1955, hatte sich Marilyn für den Einführungskurs in Physik eingeschrieben, und ihr Berater hatte zögernd ihren Stundenplan angeschaut. Er war ein dicker Mann mit Tweedanzug, purpurroter Fliege und dunkelgrauem Hut, der mit der Krempe nach unten neben ihm auf dem Tisch lag. »Warum wollen Sie Physik studieren?«, fragte er, und sie erklärte schüchtern, dass sie gern Ärztin werden wollte. »Keine Krankenschwester?«, hatte er feixend erwidert. Er holte ihr Highschool-Zeugnis aus einer Mappe und studierte es. »Schön«, sagte er. »Wie ich sehe, haben Sie sehr gute Noten in Physik.« Sie war die Klassenbeste gewesen und hatte bei jedem Test die Notenanpassung bestimmt. Sie liebte Physik, aber das konnte er nicht wissen. Auf dem Zeugnis stand nur »A«. Sie hielt den Atem an und wartete, voller Furcht, er würde ihr sagen, Naturwissenschaften seien zu schwer, sie solle sich lieber für etwas wie Englisch oder Geschichte entscheiden. In Gedanken legte sie sich schon eine scharfe Antwort zurecht. Aber er sagte nur: »Na schön, warum versuchen Sie es nicht mit Chemie – wenn Sie glauben, Sie können das schaffen.« Dann unterschrieb er ihren Kurszettel und gab ihn ihr einfach so.
Als sie jedoch ins Labor kam, fand sie sich als einzige Frau unter fünfzehn Männern wieder. Der Dozent sagte missbilligend: »Miss Walker, binden Sie mal schnell Ihre blonden Locken zusammen.« Ein Kommilitone fragte: »Darf ich dir den Brenner anzünden?« Und dann: »Lass mich das Glas für dich öffnen.« Als sie am zweiten Kurstag ein Becherglas zerbrach, eilten drei Studenten zu ihr. »Vorsicht«, sagten sie. »Wir helfen dir lieber.« Bald merkte sie, dass alle versuchten, sie zu bevormunden: »Lass mich schnell die Säure eingießen.« – »Du solltest zurücktreten – das knallt.« Am dritten Tag beschloss sie, es ihnen zu zeigen. Sie lehnte dankend ab, wenn jemand ihre Pipetten dosieren wollte, und verbiss sich ein Grinsen, wenn sie zusahen, wie sie ihre Glasröhrchen über dem Bunsenbrenner schmolz und perfekt zugespitzte Tropfer formte. Während die anderen Studenten manchmal ihre Laborkittel bespritzten und sich Löcher in die Anzüge brannten, maß sie mit ruhigen Händen Säuren ab. Ihre Lösungen blubberten nicht auf dem Tisch wie Backsoda-Vulkane. Ihre Resultate waren am genauesten, ihre Laborberichte die vollständigsten. In der Mitte des Semesters bestimmte sie die Notenanpassung für jede Prüfung. Der Dozent grinste nicht mehr höhnisch.
Sie hatte es schon immer gut gefunden, andere auf diese Weise zu überraschen. In der Highschool war sie mit einer Bitte an den Schuldirektor herangetreten: Sie wollte Werken nehmen statt Hauswirtschaft. Es war 1952, und in Boston fing man gerade mit der Entwicklung einer Pille an, die das Leben von Frauen für immer verändern sollte – aber in der Schule trugen Mädchen immer noch Röcke, und in Virginia galt ihre Bitte als radikal. Hauswirtschaft war für jede Zehntklässlerin Pflichtfach, und Doris Walker, Marilyns Mutter, war die einzige Hauswirtschaftslehrerin an der Patrick Henry Senior High. Aus diesem Grund wollte Marilyn in den Werkenkurs zu den Jungen wechseln. Sie wies darauf hin, dass der Unterricht in derselben Stunde stattfand. Ihr Stundenplan wäre also nicht betroffen. Mr. Tolliver, der Schuldirektor, kannte sie gut; seit der sechsten Klasse war sie stets die Beste gewesen – unter Mädchen wie Jungen –, und ihre Mutter unterrichtete seit Jahren an der Schule. Er nickte und lächelte, als sie ihr Anliegen vortrug. Dann schüttelte er den Kopf.