Markus Matzner
LiebeHassMord
Kriminalroman
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1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Clint Spencer / istockphoto.com
ISBN 978-3-8392-5124-9
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Wie viel der Fund der Leiche mit der Klimaerwärmung zu tun hatte, überließ er den Gelehrten. Für ihn reichte die Tatsache aus, dass es einen außerordentlich regenarmen Frühling brauchte, der das Land und damit auch die letzten Reste des Moores beim Katzensee austrocknen ließ, damit sie zum Vorschein kam. Dem Ermittlungsleiter der Zürcher Kriminalpolizei Abteilung Nord, Severin Martelli, war es im Moment sogar egal, ob es sich wirklich um eine Moorleiche aus der Bronzezeit handelte oder ob sie erst seit Kurzem hier lag. Er kämpfte im Moment mit sich selber. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, dennoch trug er über einem kurzärmligen T-Shirt ein Sakko. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er befürchtete, dass seine bleichen Arme zum Gespött der ganzen Mannschaft werden würden. Aus diesem Grund litt er lieber unter der Hitze und schmorte in seinem unpassenden Kleidungsstück. Er war froh, dass sich der Fundort der Leiche in der Nähe eines Waldstücks befand, sodass er nicht in der prallen Sonne stehen musste.
Schon von Weitem erblickte er die beiden Kollegen vom IRM, dem Institut für Rechtsmedizin, die vorne beim Ufer wie weiße Marsmenschlein herumwuselten. Dass sie in ihren bis oben geschlossenen Overalls steckten, ließ ihm die Hitze etwas erträglicher erscheinen. Als er näherkam, drehte sich ein Mediziner in seine Richtung um. Er schlug die Kapuze zurück und stapfte auf ihn zu. Zu Martellis Überraschung war es eine Frau. Ihre schwarzen gelockten Haare waren nach hinten gebunden, ihr ungeschminktes Gesicht glänzte vom Schweiß, doch Martelli sah nur ihre Augen: zwei schwarze Perlen, die ihn augenblicklich gefangen nahmen.
»Wohl noch nie eine Gerichtsmedizinerin gesehen, was?«, fragte sie mit norddeutschem Akzent.
»Nein, das heißt doch. Ist verdammt heiß heute«, stöhnte er.
»Wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Nasrin Nabashi, bin die Neue bei der Rechtsmedizin.«
Sie streckte ihm ihren Unterarm entgegen, um den Kontakt mit ihrer handschuhbewehrten Hand zu vermeiden. Der Ermittlungsleiter griff ungelenk nach dem entgegengestreckten Körperteil und stellte sich ebenfalls vor.
»Ah, Sie sind das!«, sagte sie mit einem Augenaufschlag, der bei Martelli noch mehr Verwirrung auslöste.
»Wie meinen?«, war alles, was der Polizist entgegnen konnte.
»Ah nichts!«, winkte sie mit einem schelmischen Lächeln ab und stülpte sich wieder die Kapuze über den Kopf. »Ach übrigens«, fügte sie an, »es handelt sich um eine Frau.«
Und weil Martelli nicht gleich antwortete, sondern nur belämmert dastand, glaubte sie, sich wiederholen zu müssen: »Es ist eine tote Frau, die hier liegt!«
Als Martelli beiläufig nickte, drehte sie sich weg und gesellte sich wieder zu ihrem Kollegen, um in Bälde die Leiche aus dem Moor zu befreien.
Derweil stand Martelli etwas ratlos da und wusste nicht, was er denken sollte. Wie ein Artefakt, eingebrannt auf seiner Retina, sah er nur Nasrins Augen. Um sich abzulenken, suchte er seine beiden Mitarbeiter, Lena Salzmann und Jean-Jacques Trümpi, und ging zu ihnen hinüber. Sie standen beim Wäldchen und unterhielten sich mit der Primarlehrerin von Watt. Die hagere Frau, die auffällig rote Ohrringe aus Plastik trug, erzählte in kurzen Sätzen, wie sie zur Feier des Abschlusses der 3. Klasse mit ihren zwölf Schützlingen unterwegs zur Badeanstalt am Katzensee gewesen war. Sie fuhren mit ihren Fahrrädern den asphaltierten Weg nach Katzenrüti entlang, als ein Kind wegen einer Reifenpanne anhalten musste, sodass der ganze Tross stehenblieb. Während die Lehrerin den Reifen wieder aufpumpte, schärfte sie den Schülern ein, bei den Velos zu bleiben. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatten sich ein paar Jungs nicht an die Anweisung gehalten. Sie durchquerten eine Hecke und gelangten zum oberen Ende des Sees, wo sie Enten erschrecken wollten. In der Folge stolperte ein leicht übergewichtiger Junge förmlich über den Kopf der Leiche. Ihr Anblick schien ihn allerdings weniger zu schockieren als die Pädagogin, die er herbeigerufen hatte.
Sie war nach wie vor kreideweiß und mit den Nerven am Ende, als sie befragt wurde. Der Junge spielte nur wenige Meter daneben mit seinen Kollegen Fangen.
Die Gerichtsmedizinerin und ihr Assistent schafften es in der Zwischenzeit, den toten Körper behutsam aus dem Moor zu befreien. Nasrin rief Martelli herbei, der sich absichtlich etwas Zeit ließ, um nicht wie ein mit dem Schwanz wedelnder Hund zu erscheinen, der sofort alles stehen und liegen ließ, wenn ihn sein Herrchen rief. Dabei bemerkte er, wie ihn diese Frau anzog, als wäre sie ein Magnet und er ein simples Stück Eisen. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Beziehungsweise schon lange nicht mehr. Und es irritierte ihn. Eine Hitzewallung schoss durch seinen Körper, er war verwirrt, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Doch Nasrin schien nichts zu bemerken. Sie sprudelte gleich los, als er in Hörweite gekommen war:
»Diese Tote ist nie und nimmer eine Moorleiche im engeren Sinne«, dozierte sie, »sondern liegt allerhöchstens 20 bis 25 Jahre hier!«
»Woran sehen Sie das?«
»Moorleichen heißen so, weil sie durch das Moor gleichsam mumifiziert werden.« Nasrin war sichtlich in ihrem Element und Martelli hörte gerne zu. Der Inhalt war ihm im Moment fast egal. Sie hätte irgendetwas erzählen können.
»Infolge des sauren Milieus«, fuhr sie unbeirrt fort, »werden die Knochen im Laufe der Zeit völlig entkalkt und aufgelöst. Demgegenüber bleibt die Haut dank der Huminsäure, die in humusreichen Böden vorkommt, intakt. Sie wird regelrecht gegerbt. Bei dieser Leiche hier ist es jedoch offensichtlich, dass der Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist. Sie weist noch Knochenartefakte auf.«
Martelli nickte vorsorglich, weil er nicht als komplett verblödet wirken wollte. In seinem Innern hoffte er nur, dass diese Frau nie mehr aufhören würde, sich mit ihm zu unterhalten. Er beobachtete ihren Mund, ihre hübsche Nase, die sich beim Reden lustig auf und ab bewegte, die von langen Wimpern umspielten schwarzen Augen und die klar geformten kräftigen Augenbrauen, die das ganze Gesicht konturierten. Er hing an ihren Lippen, badete in ihrem Redefluss.
»Hören Sie mir überhaupt zu?« Nasrins Stimme war plötzlich schneidend.
»Sicher«, beeilte sich Martelli zu entgegnen.
»Also«, fasste sie zusammen, als käme sie zum Höhepunkt ihres Vortrags, »das Spezielle an dieser Toten ist, dass sie in einem Taucheranzug steckt. Das wirft mehrere Fragen auf: Könnte es sein, dass wir die Tote an einem Ort finden, der vor einigen Jahren noch ein Teil des Sees war? Oder hat man sie im Moor nur begraben? Und wenn Letzteres zutrifft: Wie ist sie gestorben? Im Wasser oder an Land?«
»Sie werden es sicher bald herausfinden!«, hörte sich Martelli in einem Reflex antworten und zwang sich, seinen Blick von Nasrin zu lösen. Er betrachtete die weibliche Leiche mit ihrem erstaunlich gut erhaltenen Gesicht, bei dem tatsächlich eine gewisse Mumifizierung stattgefunden haben musste. Etwas befremdend, ganz so, als wäre die Tote ein amphibienhafter Alien aus einer fremden Welt, wirkte der brüchige Rest des Taucheranzugs, der sich an weiten Stellen des Körpers wie eine zweite Haut erhalten hatte.
»Wann höre ich von Ihnen?«
»Kommen Sie gegen vier Uhr im IRM vorbei. Dann weiß ich mehr.«
Dora Handschins Gesicht glich einer Tuschzeichnung, die ins Wasser gefallen war. Sie konnte ihre Tränen nach dem Urteilsspruch einfach nicht mehr zurückhalten. Die aufgestaute Wut brach sich ebenso Bahn wie die Erleichterung, diesen schrecklichen Tag hinter sich gebracht zu haben. Ihre Anwältin hatte sich sogleich verabschiedet, im Gehen viel Glück und Zuversicht gewünscht. Sie war wie in einem emotionalen Vakuum zum Auto gegangen, hatte sich hineingesetzt und minutenlang in ihrem bedenklichen Zustand verharrt, ehe sie sich zusammenreißen konnte. Und während die Tränen trockneten, stieg unwillkürlich eine einzige klare Emotion auf: Hass. Am liebsten hätte sie ihm einen Dolch in den Bauch gerammt und die Klinge nach oben gezogen. Aber schön langsam, dass er auch richtig litt und Blut spuckte. Ja, sie hätte ihn in diesem Moment töten wollen, wenn es möglich gewesen wäre.
Wie sie im abendlichen Verkehr den Weg vom Zürcher Bezirksgericht nach Küsnacht zurückgelegt hatte, wusste sie hernach nicht mehr. Sie fuhr wie in Trance, war trotz des durch Tränenschleier beeinträchtigten Blicks schneller als erlaubt unterwegs gewesen, hatte abrupt die Spuren gewechselt, gehupt, über die lahmen Enten geflucht, die ihr mit ihren fetten Autos den Weg versperrten. Es war der schrecklichste Tag ihres bisherigen Lebens. Dabei hatte sie fast alles erreicht, was sie wollte. Ihre Anwältin war während der Gerichtsverhandlung großartig gewesen, konnte aus dem Vollen schöpfen und spielte auf der Klaviatur des Mitleids, schilderte Doras derzeitige Situation, die es schlicht nicht erlauben würde, dass sie nebst der Betreuung der beiden Kinder noch arbeiten ginge. Sie schob einen sogenannten Beweis nach dem anderen ein, der aufzeigte, dass sie das Opfer und er der alleinige Täter war, der die volle Verantwortung für das Scheitern der Ehe übernehmen musste. Genüsslich flocht die Anwältin einige Anekdoten seines angeblich ausschweifenden Sexlebens ein, erzählte vom versuchten Seitensprung mit einer der besten Freundinnen der Ehefrau. Dabei wusste sie genau, dass im heutigen Scheidungsrecht der Grund für die Zerrüttung der Ehe keine Rolle mehr spielte.
Sie gewann auf der ganzen Linie. Er musste einen beachtlichen Teil des siebenstelligen Vermögens sowie die Hälfte der Pensionskassengelder abgeben, die Gerichtskosten übernehmen, das geräumige Haus abtreten und ihr darüber hinaus monatliche Alimente in der Höhe von 5800 Franken zahlen. Außerdem wurde er dazu verpflichtet, pro Kind bis zum Erreichen ihrer Erstausbildung monatlich 3.500 Franken abzuliefern. Natürlich würden die Beträge, so fügte der Richter am Ende des Urteilsspruch lakonisch an, dem Landesindex für Konsumentenpreise angepasst, was nichts anderes bedeutete, als dass sie sich alljährlich um ein bis drei Prozent erhöhten.
Dora hatte ihrem Ex-Mann dank des zwar pingeligen, aber eben mit weiblichem Perfektionismus zusammengetragenen Plädoyers die Hose runtergezogen. Tom stand da, als wäre er nackt. Zur Salzsäule erstarrt.
Dass Dora dennoch keine unbändige Freude verspürte – mindestens nicht sogleich –, lag einzig daran, dass die Zeit der Trennung eine unerhört emotionale Erfahrung gewesen war. Sie wurde von ihrer inneren Anspannung fast zerrissen, litt unter Schlaflosigkeit, futterte kiloweise Schokolade. Aus diesem Grund benötigte sie eine Zeit der Erholung, musste zuerst wieder Abstand vom Prozess und von der Ehe mit diesem Versager erlangen, den sie einst geliebt hatte.
Sie kam fix und fertig in Küsnacht an und hielt vor dem Haus, in dem ihre Freundin Lisa Camenzind wohnte. Der Blick in den Rückspiegel machte ihr dringlich klar, dass sie sich zuerst frisch machen musste. Als sie wenig später wieder einigermaßen normal dreinschaute, ging sie zur Eingangstür. Sie stand offen, was sie gar nicht zu irritieren schien. Dora trat ein und schritt die moderne Betonstiege hoch. Oben angekommen, blickte sie ins abgedunkelte Wohnzimmer und wunderte sich, wo ihre Freundin steckte, als plötzlich ein lautes Plopp ertönte und dann das Licht anging.
Zu ihrer grenzenlosen Überraschung stand ein halbes Dutzend ihrer Freundinnen im großzügig gestalteten Wohnraum. Allesamt schon geschieden und deshalb im Bilde, was so ein Tag bedeutete. Sie ließen sie hochleben, als hätte sie Geburtstag, schenkten ihr ein Glas Champagner ein und feierten mit ihr zusammen den Triumph, den sie über ihren Gatten errungen hatte. Nach und nach konnte sie sich entspannen, erzählte vom Gerichtstermin, schilderte genüsslich den Ablauf und endete beim Urteil, das auf dem Gesicht ihres Ex einen herzerwärmenden Abdruck fand.
»Er war außerstande, auch nur ein Wort zu sagen, blickte wie weggetreten in eine unbestimmte Ferne, sein Gesicht war bleich und fahl«, bilanzierte sie triumphierend das Finale des Prozesses, und ihre Freundinnen applaudierten, als hätte sie eben den Nobelpreis erhalten oder als erste Frau den Mond betreten.
Die Kühle im Institut für Rechtsmedizin tat gut, dennoch verlangsamte er seinen Schritt, als müsste er es sich nochmals überlegen, ob er wirklich zu den Sezierräumen vordringen sollte. Er wusste, dass ihm der chemische Geruch noch Stunden später in den Nasenflügeln haften würde. Aus diesem Grund hatte Martelli den Weg zu den ›Leichenfledderern‹, wie er sie intern abschätzig zu bezeichnen pflegte, wenn immer möglich gemieden und seine Untergebenen geschickt. Doch heute erklärte er den Gang ins IRM zur Chefsache, was seine Mitarbeiter zwar überraschte, aber nicht weiter beschäftigte. Wie hätten sie auch wissen sollen, dass er ihn nicht wegen der toten Taucherin unternahm, sondern einzig, um diese Frau mit dem unwiderstehlichen Namen wiederzusehen.
Nasrin Nabashi kam ihm zu seiner leichten Enttäuschung sehr distanziert vor. Als spürte sie seine geheimen Gedanken nicht, sprach sie sachlich und vermied es, ihn länger als nötig anzusehen. Sie bilanzierte ihre Erkenntnisse, als müsste sie eine Prüfung bestehen. Der Polizist durchschaute nicht, dass sie nur deshalb so kühl agierte, weil ihr Chef in Hörweite an einem anderen Seziertisch arbeitete. Und während sie erklärte, dass die junge Frau mit großer Wahrscheinlichkeit schon mindestens 20 oder mehr Jahre im Moor gelegen hatte, dachte Martelli nur darüber nach, ob er sie auf ein Glas Wein einladen könnte. Vielleicht heute Abend? Je länger Nasrins Vortrag dauerte, desto nervöser wurde Martelli, weil die geeignete Gelegenheit einfach nicht kam.
Nasrin bemühte sich, die Fakten und Folgerungen möglichst professionell vorzutragen, und sie glaubte, dass ihr das auch gelungen war. Umso mehr brachte sie die merkwürdige Frage des Ermittlungsleiters aus dem Konzept. Sie schaute sich hilflos um. Ihr Chef, ein grauhaariger Mann um die 60, warf ihr einen überraschten Blick zu, schien gleichsam ihr die Schuld zu geben, dass der Kriminale, den er seit Jahren als emotionsfrei und professionell agierend kannte, derart wirres Zeug faselte. Aber was konnte sie denn dafür, dass er ihren Vornamen gegoogelt und herausgefunden hatte, dass er auf Persisch ›wilde Rose‹ bedeutete. Und in einer weiteren Deutung für das Gleichnis stand, dass man zwei Falken nicht gleichzeitig einfangen könne.
Sie lachte hilflos auf, als er sie allen Ernstes fragte, ob die beiden Falken mit dem berühmten Janusgesicht zu vergleichen wären, oder ob es sich mehr um zwei gegenläufige Charaktereigenschaften handeln würde. Dann schwieg sie einen Moment lang und überlegte, wie sie aus dieser merkwürdigen Situation herauskommen sollte, schließlich war sie noch in der Probezeit und musste ihrem Chef und allen anderen Kollegen erst beweisen, dass sie ihr Handwerk beherrschte. Martelli seinerseits verstand Nasrins Sprechpause als Aufmunterung, selbst weiterzufahren. Und als seine nächste Frage über sie hereinbrach, bejahte sie sie einfach nur deshalb, um wieder Luft zu bekommen und heil aus diesem Albtraum zu erwachen.
Kurze Zeit später zog der Polizist mit hochroten Ohren, aber augenscheinlich glücklich strahlend, von dannen. Sie stand noch eine Zeitlang regungslos da, wusste nichts mehr. Außer, dass sie sich mit ihm verabredet hatte. Heute Abend um 19 Uhr. Wenigstens schien ihr der Chef das merkwürdige Schauspiel nicht allzu übel zu nehmen, denn er verlor kein Wort darüber, sondern bat sie, ihm bei den Vorbereitungen für die morgendliche Vorlesung behilflich zu sein. Sie sollte den Medizinstudenten die Kennzeichen einer Gift-Tötung nahebringen. Da zufällig eine frische Leiche ins Haus gekommen war, die diese Merkmale aufs Trefflichste präsentierte, hatte sie noch viel zu tun. Die Moorleiche konnte warten, schließlich war sie schon geraume Zeit tot und schien bei den Ermittlern auf kein allzu großes Interesse zu stoßen.
Eine Stunde nach Martellis Abgang tauchte erneut ein Polizist auf, um nochmals dieselben Informationen einzuholen. Nasrin schüttelte den Kopf. Dieser Martelli muss ein absoluter Chaot sein, dachte sie. Im Gegensatz zu seinem Chef war dieser Beamte, der sich mit Reto Zuppinger vorgestellt hatte, ausschließlich an den Fakten über die Tote interessiert. Er zuckte nur mit den Schultern, als ihn Nasrin gespielt ärgerlich fragte, wofür sie das Ganze seinem Chef schon vorgetragen habe.
»Hat denn dieser Martelli ab und zu Erinnerungslücken?«, fragte sie schnippisch. Zuppinger reagierte äußerst diskret und schüttelte den Kopf, auch wenn er sich sehr wohl vorstellen konnte, warum sich Martelli beim Anblick dieser Frau vergaß. Doch er riss sich zusammen, blieb sachlich, widmete sich ganz der toten Taucherin, die vor ihm auf dem Schragen lag.
Nasrin ihrerseits nahm sich vor, Martelli heute Abend nicht so schnell vom Haken zu lassen. Er würde seinen albernen Auftritt noch zu spüren bekommen, schwor sie sich, auch wenn sie gleichzeitig ein gewisses Kribbeln spürte. Denn dass Martelli über ein attraktives Äußeres verfügte, war ihr nicht verborgen geblieben. Als sie nach ihrem Arbeitstag frisch geduscht das Institut verließ und durch den Irchelpark zur Tramhaltestelle schlenderte, ließ sie ihre Situation nochmals Revue passieren. Unvermittelt wurde sie von einem schwermütigen Gefühl eingeholt. Da hatte sie nicht zuletzt wegen eines Mannes Freiburg im Breisgau verlassen und war nach Zürich gekommen, um fachlich, aber vor allem persönlich wieder etwas Auftrieb zu bekommen, und dann lief ihr schon am dritten Arbeitstag ein Mann über den Weg, der wegen ihr zum Teenager wurde und jede Professionalität vermissen ließ. Lag es wirklich an ihr, dass Männer in ihrer Gegenwart entweder zu eifersüchtigen Machos oder zu dummen Hanswursten mutierten? Was konnte sie dafür, dass sie eine derartige Wirkung auf das männliche Geschlecht besaß?
»Muss das sein?«
Die Stimme des 38jährigen TV-Reporters Mario Ettlin klang alles andere als erfreut. Was ihm Urs Imgrüt, der Chefredakteur des Deutschschweizer Fernsehens, antrug, grenzte an eine Strafversetzung. Er sollte für ein paar Monate die Leitung der Redaktion »In-People« übernehmen, weil sich die Redaktionsleiterin bei einem Autounfall ein schweres Schleudertrauma zugezogen hatte und für unbestimmte Zeit ausfiel. Und weil der Zwist zwischen dem jungen und talentierten TV-Journalisten Mario und seinem Redaktionsleiter eskaliert war, weil der ihn wiederholt auf unmögliche Geschichten ansetzte, hielt es auch Imgrüt für sinnvoll, wenn sich der junge Mann anderswo die Hörner abstreifte.
»Was soll ich bei dieser Prosecco-Redaktion? Das sind doch alles weich gespülte Verlautbarungsjournalisten!«
»Genau deshalb will ich dich auch als Redaktionsleiter dort haben. Wenigstens ad interim!«, versuchte Imgrüt, seinem Untergebenen den Wechsel schmackhaft zu machen.
»Bei allem Respekt«, versuchte es Mario ein weiteres Mal, »aus ›People‹-Geschichten, die doch nur Nabelschauen sind, einigermaßen gewichtige Meldungen zu machen, das ist unmöglich. Ehrlich gesagt wundert es mich ohnehin, wieso diese Sendung überhaupt im Portfolio der Informationsabteilung zu finden ist und nicht schon längst zur Unterhaltung abgeschoben wurde.«
»Schau«, antwortete Imgrüt mit einem schalen Lächeln, »unser Direktor will das eigentlich schon seit Langem, aber bei der Unterhaltungsabteilung verkäme die Sendung vollends zu einem ›Seichtigkeits-Je-ka-mi‹. Ich hingegen wünsche mir, gegen diesen Trend der allgemeinen Volksverblödung anzugehen, Relevanz zu schaffen und auch an Orten der unkritischen Promi-Abfeierung Dinge wie Moral und Anstand, Nachhaltigkeit und Verantwortung zu thematisieren. Das würde auch die Kritiker dieser Sendung verstummen lassen, was gerade in der jetzigen Zeit von Vorteil wäre! Um das zu erreichen, müssten sie jedoch klandestin vorgehen. Gleichsam inoffiziell.«
Mario glaubte sich verhört zu haben. War sein oberster Chef nun vollends in den Orden der »Naivitisten« übergetreten? Die ganze Welt verlor sich gerade im jämmerlichen Bestreben, den Narzissmus zur neuen Weltreligion zu erheben, und da erschien Imgrüt, der Don Quijote der journalistischen Aufrichtigkeit, und wollte Gegensteuer geben? Mario kam sich plötzlich wie Sancho Pansa vor. Eine Rolle, die ihm gar nicht behagte. »Und wieso ich? Ich habe so gar nichts mit dieser Promiwelt am Hut!«
»Genau deswegen!« Imgrüt wurde nun ernst und nachdenklich. Fast verschwörerisch fügte er an: »Unser Sender hat sich in einen äußerst schwierigen Zustand manövriert. Als Gebührenempfänger muss er seine Zuschauer tagtäglich überzeugen, dass sie ihr Geld zu Recht bei uns liegen lassen. Doch was machen wir? Wir kriechen bei den politischen Machthabern zu Kreuze, wollen es allen Recht machen und bemerken gar nicht, dass wir das Gegenteil erreichen. Kein Wunder monieren viele Zuseher, dass wir ihnen zu wenig für die Gebühren bieten, sondern wie die Privaten nur seichten Mainstream zelebrieren. Wollen wir in fünf oder zehn Jahren noch über denselben Etat verfügen, dann müssen wir uns diesem würdig erweisen. Aus diesem Grund will ich mehr Relevanz, mehr Eigenleistung, mehr Journalismus. Bei In-People fangen wir jetzt an. Mit dir als neuem Redaktionsleiter!«
Eine halbe Stunde später stand Mario in der Kantine und machte sich an der Selbstbedienungsmaschine einen Kaffee. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken herum, sodass er die vielen bekannten Gesichter, die ihn grüßten, kaum wahrnahm. Immer wieder versuchte er, sich die Frage zu beantworten, was er als Redaktionsleiter der ›People‹-Sendung anders machen sollte. Und immer wieder kam er nur auf die alberne eine Antwort: abschaffen. Gleichzeitig war der Honig süß, der ihm von Imgrüt um den Mund geschmiert wurde. Für seine Karriere wäre es sicherlich kein Nachteil, wenn er im recht jugendlichen Alter von 38 bereits Redaktionsleiter werden würde. Andererseits entfernte er sich automatisch von dem Teil seiner Arbeit, den er am liebsten machte: dem Produzieren von Filmen und Beiträgen, mithin vom Kern des Fernseh-Machens. Während er grübelte und sich den Kaffee schluckweise einverleibte, klingelte sein Handy. Zu seiner Überraschung war sein alter Mentor und Freund Nico Vontobel am Apparat.
»Das muss Vorsehung gewesen sein«, meinte Mario belustigt, als er abgenommen hatte. »Denn ich brauche deinen Rat!«
Nico, der sich erkundigen wollte, ob auch sein junger Freund eine Vorladung zur Zeugenaussage am Bezirksgericht erhalten habe, spitzte seine Ohren. »Welcher Art soll denn dieser Rat sein?«
»Imgrüt will, dass ich wenigstens vorübergehend die ›People‹-Sendung leite, die am Vorabend ausgestrahlt wird.«
»Ich kenne das Portfolio unseres Senders«, stellte Nico mit einem Schmunzeln klar, »ich fand es schon vor zehn Jahren falsch, der Information dieses Magazin anzuhängen. Ihr Inhalt ist, gelinde gesagt, ein Hohn an die Intelligenz!«
»Du sprichst mir aus dem Herzen. Wie kann ich da als Leiter fungieren?«
»Gute Frage – und berechtigt. Hast du Alternativen?«
»Nein, außer in der alten Redaktion zu bleiben und mit diesem Zündel den Grabenkrieg weiterzuführen, bis einer von uns beiden aufgibt.«
»Das ist keine Alternative, sondern eine Zeitverschwendung. Und was erwartet Imgrüt von dir?«
»Dass ich den Inhalt bei In-People umkremple. Die Sendung journalistischer mache.«
»Das hieße ja, der Cervelat-Prominenz1 einen Spiegel vorzuhalten und sie ziemlich ruppig in den Senkel zu stellen!«
»Ja, diesen Teil des Auftrages würde ich gerne umsetzen. Diesen Botox-Tussen ihre Überheblichkeit um die Ohren zu schlagen, wäre spaßig. Auch wenn ich mir im Klaren bin, dass ich mir damit keine Freunde schaffe …«
»Viel Feind, viel Ehr. So gesehen wäre es ja eine fast spannende Herausforderung!«
»Schon, aber würdest du mich nicht verachten, wenn ich diesen Job annähme?«
»Verachten, weil du einen Krieg gegen die Verdummung führst? Wie käme ich dazu?«
»Okay, danke! Du hast mir sehr geholfen. Ich werde es mir nochmals überlegen und mal abchecken, was Sara dazu meint. Sie kennt die Promiszene von vielen Anlässen, an denen sie schon gearbeitet hat, und verachtet dieses Schickimicki-Getue mindestens so vehement wie ich. Sie wird eine harte Nuss zu knacken werden.«
»Erklär es ihr, wie du es mir erklärt hast. Mit all deinen eigenen Gefühlen und Gedanken. Dann wird sie es verstehen. Außerdem verdienst du ja mehr, und es ist nur ad interim.«
1 Cervelat-Prominenz: In der Schweiz gebräuchliche, ironisch gemeinte Bezeichnung für die medial bekannten Promis, die sich auf den ›People‹-Seiten tummeln. Cervelat ist eigentlich eine beliebte Wurst.
Tom Handschin erlebte den schrecklichsten Tag in seinem bisherigen Leben! Er rollte mit den blauen Augen, fuhr sich über das leicht schüttere rote Haar, das er nach hinten gekämmt hatte. Am liebsten hätte der 40-jährige Werber zuerst diese Anwältin gekillt, dann seine Ex-Frau Dora. Dass sie, wie es den Anschein machte, seit ihrer Trennung einige Kilos zugenommen hatte, war der einzige Lichtblick gewesen. Hoffentlich Kummerspeck, der nie wieder weggeht, dachte Tom höhnisch. Doch dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Er hörte eben, wie der Richter, diese Karikatur eines Pantoffelhelden, die Anwältin mit einem freundlichen Blick rügte, sie solle sich bemühen, nur Fakten zu erwähnen, und emotionale Begebenheiten, welche ihre Mandantin sicherlich erlebt habe, aber zur Sachlage nichts beitrügen, wegzulassen. Das Gericht sei gewieft genug, sich auch ohne derartige Details ein klares Bild machen zu können. Sie lächelte leicht kokett und fuhr mit ihrem unter die Gürtellinie zielenden Plädoyer fort, als hätte sie des Richters Worte überhört. Als sie dann vom selbstgerechten und überheblichen Charakter des Tom Handschin sprach, als säße der nicht drei Meter neben ihr, und über sein liederliches Gebaren als Geschäftsmann herzog, platzte ihm der Kragen. Diese Inkarnation einer Vogelscheuche behauptete unwidersprochen, dass er sich trotz der nachvollziehbaren Bedenken seiner Frau nicht davon hatte abbringen lassen, sich mit seiner Werbeagentur am teuersten Standort der Stadt einzunisten und viel zu lange aufgrund seines charakterlichen Starrsinns weiter zu wursteln. In der irrigen Meinung, die Großen im Markt verdrängen zu können.
Beinahe hätte der Richter die Verhandlung unterbrochen. Nur mit Mühe ließ sich Tom von seinem Anwalt beruhigen. Mit eindringlichem Blick versprach dieser, das von der Anwältin vorgebrachte Plädoyer zu zerpflücken.
Diese legte derweil dar, wie schlimm es für ihre Mandantin gewesen war, dass sie von ihren Eltern während einigen Monaten finanziell unterstützt werden musste, weil sie sonst die Hypothek des teuren Einfamilienhauses nicht mehr hätten zahlen können. Und sie betonte, wie schwierig es für Dora gewesen war, erneut in eine finanzielle Abhängigkeit zu ihren Eltern zu rutschen und den gewohnten Lebensstandard nicht mehr halten zu können.
Tom rastete erneut fast aus, als dieses Weibsstück, das sich Anwältin schimpfte, es natürlich zu erwähnen unterließ, dass die Eltern zu den reichsten Familien von Zürich gehörten und die paar tausend Franken aus der Portokasse hätten zahlen können. Ebenso vorsätzlich vergaß sie anzufügen, dass Tom dank besserer Geschäftsgänge schon zwei Jahre später die Schulden wieder begleichen konnte. Außerdem hatte er selber eingesehen, dass seine Agentur nicht an der Bahnhofstraße domiziliert sein musste. In der Folge mietete er, sobald es der abgeschlossene Mietvertrag erlaubte, ein günstigeres Büro im boomenden Norden von Oerlikon.
Für den 40-jährigen Tom war das Plädoyer der gegnerischen Anwältin eine Tortur. Fast nach jedem Satz hätte er eine Korrektur vornehmen, die Vorwürfe ausdiskutieren und richtigstellen wollen, doch bei diesem absurden Spiel war das nicht vorgesehen. Alles, was er tun konnte, war, ärgerlich mit den Augen zu rollen und mit seinem Anwalt zu tuscheln, er solle dieses infame Spiel unterbinden. Der wiegelte stets ab und vertröstete ihn auf später, sodass Doras Anwältin fortfuhr und vor dem Richter unwidersprochen behaupten konnte, dass Tom das Geld stets mit beiden Händen auszugeben wusste, sodass sich ihre Mandantin und die beiden kleinen Kinder am Monatsende nicht mal mehr einen McDonald’s-Besuch leisten konnten und stattdessen billige Sandwiches im Supermarkt kaufen mussten, wenn sie in die Badeanstalt oder den Zoo gingen.
Der Richter nahm alles zur Kenntnis, machte Notizen und befand, dass es keiner Diskussion bedürfe, weil Frau Anwältin die Sachlage ja ausreichend klar geschildert habe. Tom kam die Galle hoch. Er wollte protestieren, doch der Richter wies ihn erneut zurecht. Er solle sich beruhigen, schließlich sei nun sein Anwalt an der Reihe, das Plädoyer vorzutragen, das ja ebenfalls schriftlich vorliege.
In der Folge ratterte sein Anwalt seinen juristischen Erguss herunter, als trüge er die Lottozahlen vor, stets darauf bedacht, seine Argumente möglichst sachlich und bar jeder Emotionalität vorzulesen. Tom konnte es nicht glauben! Wurde denn dieser Mensch von ihm oder von der Gegenseite bezahlt? Und bevor dieser auch nur mit einem Wort die ungeheuerlichen Vorwürfe der Gegenanwältin richtig gestellt hätte, kam er zum Schluss und beendete seinen Vortrag.
Tom blickte ihn entgeistert an. Und er wähnte sich vollends im falschen Film, als er den Richter sagen hörte, da nun ja alle Fakten auf dem Tisch lägen, seien weitere Erörterungen unnötig. Das Gericht würde sich für eine halbe Stunde zur Beratung zurückziehen und hernach das Urteil fällen. Um 15.30 Uhr gehe die Verhandlung weiter.
Das Urteil war keine Klatsche. Es war eine Tracht Prügel. Tom wurde ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, er musste blechen und würde seine Kinder nur noch alle zwei Wochen sehen dürfen, sofern es der psychische Zustand der labilen Kinder, wie es irgendein von seiner Ex-Frau bestochener Kinderarzt in einem Gutachten behauptet hatte, erlaubte. Die Mutter könne dies, wie der Richter befand, am besten beurteilen und sei daher frei in der Entscheidung, wann sie es für angebracht hielt, die Kinder dem Vater in Obhut zu geben. Tom war sofort klar, dass er gegen das Urteil Berufung einlegen wollte. Er war wütend auf die ganze Welt und insbesondere auf seinen Anwalt, diesen Penner, der so mies verhandelt hatte, obwohl er 340 Franken in der Stunde einsackte. Umso fassungsloser machte es ihn, als ihm selbiger in einem kurzen Zwiegespräch klarzumachen versuchte, dass er gut weggekommen sei. Bei seinem Einkommen, seiner florierenden Firma und den Rückstellungen, die er dank des gut laufenden Aktienmarktes während der Zeit der Ehe machen konnte, wäre in vier von fünf Fällen eine weitaus höhere Zahlung ausgesprochen worden. Er hätte wohl eines der geerbten Ferienhäuser im Bündnerland oder der Toskana verkaufen oder seine Jacht veräußern müssen. Dieser Richter sei eben einer der alten Garde, der noch das Augenmaß besitze. Zudem könne er die Alimente von den Steuern abziehen, was ihm über den Finger gepeilt eine Steuererleichterung von über 10 Prozent einbringe. Tom war sprachlos und unterzeichnete in der Folge sogar die Vereinbarung, keine weitere Instanz mehr zu bemühen. Danach verließ er das Gericht, fuhr mit seinem Maserati in die Innenstadt, um sich in einer Bar volllaufen zu lassen. In diesem Zustand wollte er nicht alleine sein, deshalb bot er seine besten Freunde Eli und Dario auf, um mit ihnen über das unergründliche Wesen Frau zu debattieren. Auch jenen steckten deren Scheidungen noch in den Knochen, sodass sie sich dank des reichlich fließenden Biers schon bald mit Ideen überboten, wie sie ihre Ex-Frauen genüsslich ins Jenseits befördern könnten.
Immer wieder kamen sie aufs anstehende Wochenende zu sprechen und freuten sich an der Tatsache, dass es Eli geschafft hatte, sie zum Seminar des Männerverstehers Rick Gernsheim anzumelden. Die Aussicht auf drei Tage im abgelegenen Münstertal hellte ihre Welt wieder auf, zumal die Nachfrage bei Gernsheims Kursen riesig war.
Es sei wieder mal typisch für Eli, meinte Tom mit Anerkennung in der Stimme, dass er einen Dreh gefunden hatte, sie da reinzubringen.
»Beziehungen sind eben das A und O im Leben«, relativierte der Gebauchpinselte im Affekt und war sich seines Talents bewusst, sein Beziehungsnetz stets weiter auszubauen und daraus eine Geschäftsidee zu machen. Denn globale Player sehnten sich nach Zwischen-Relais, welche die persönlichen Vernetzungen herstellten. Alles, was man hierfür brauchte, war ein gutes Gedächtnis, sprachliche Fähigkeiten, das nötige Äußere und ein gewisses Maß an Gerissenheit.
»Sag bloß, du kennst Rick persönlich?«, fragte Dario ehrfürchtig.
»Ihn nicht, aber ich habe vor einigen Jahren seinen langjährigen Assistenten Larry beim Tauchen kennengelernt. Ein Australier wie er im Buche steht: gesellig, trinkfest und mit einer verdrängten homoerotischen Seite. Aber wehe, du hast einen wie ihn zum Feind! Dann bist du geliefert.«
Wie üblich saßen Martellis Leute für die Abschlussbesprechung im Sitzungszimmer 1 der Polizeikaserne. Der Chef schien im Gegensatz zu anderen Tagen nicht ganz bei der Sache zu sein, sodass er bei der Analyse für einmal nicht der Schnellste war. Das Denken übernahm die Jüngste im Team, die 27-jährige Lena Salzmann. Ihr machte anscheinend auch die schwülheiße Luft nichts aus, die im Zimmer hing. Selbst das Öffnen der Fenster hätte nichts gebracht, denn draußen war es noch heißer. Lena, die ihre mittellangen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, schien nicht mal zu schwitzen. Dies im Gegensatz zu den meisten anderen Teilnehmern der Sitzung. Dem bulligen Zuppinger lief der Schweiß herunter, außerdem roch er nicht mehr ganz frisch, was selbst Martelli bemerkte. Auch wenn er keine Lust dazu hatte, musste er es ihm wohl wieder mal unter vier Augen klarmachen, dass die äußere Erscheinung mindestens so wichtig war wie die innere Einstellung. Letztlich waren sie Dienstleister für die Allgemeinheit und wurden von Steuergeldern bezahlt. Ergo mussten sie auch entsprechend auftreten.
Lena hatte eben auf der großen Wandtafel die Fakten aufgelistet und mit verschiedenfarbigen Zetteln grafisch illustriert. Die Tote wurde ertränkt, das ergab der Befund der Gerichtsmedizin klar, dozierte sie. Möglicherweise während eines Tauchgangs im Katzensee. Weitere Untersuchungen müssten diesbezüglich noch gemacht werden. Sie wurde im Moor in etwa einem Meter Tiefe verbuddelt. Der Zeitraum der Tat liege etwa 20 bis 25 Jahre zurück.
Bei diesen Worten schreckte Martelli hoch. Wie spät war es? Leicht nervös blickte er auf seine Armbanduhr, beruhigte sich sogleich wieder. Es blieb ihm noch eine halbe Stunde Zeit, bis er sich mit Nasrin treffen würde.
Nach Lena kam Jean-Jacques Trümpi an die Reihe. Er hatte zwischenzeitlich die Vermisstenfälle der letzten Jahre durchgesehen. Seine Stirn war scharlachrot und verriet, dass der Kopf zu lange an der gleißenden Sonne gewesen war, dennoch wirkte er leicht unterkühlt, als er meinte:
»Speziell an unserem Fall ist, dass in der Zeit zwischen 1990 und 1996 weit und breit keine Frau vermisst wurde, die mit der gefundenen übereinstimmt!«
Mit einem leicht enttäuschten Augenaufschlag fügte er an, dass auch die Forensiker, welche die DNA ausgewertet hatten, nichts sagen konnten. »Das Einzige, das sie mit großer Bestimmtheit herausfanden: Die Tote war eine Weiße, von den genetischen Stammdaten her dem Typ der Rothaarigen zuzuordnen. Mit anderen Worten muss es sich um eine Touristin mit nordeuropäischen Genen handeln.«
»Dann wäre sie doch im Computer erfasst«, wunderte sich Martelli.
»Nicht, wenn sie zum Beispiel aus einer der ehemaligen britischen Kolonien gekommen war«, dozierte Trümpi ungerührt, weil er diese Frage erwartet hatte, »also aus Australien, Südafrika oder Neuseeland.«
Dann kam Baldini, der Älteste im Team, an die Reihe und schilderte seinen Stand der Dinge. Er hatte mit mehreren Tauchclubs der Umgebung Kontakt aufgenommen und von allen dieselbe Aussage erhalten: Aufgrund der unspektakulären Sicht sei der Katzensee kein beliebter See für Taucher. Mit anderen Worten, so erlaubte er sich eine Deutung, wurde die Tote in Ermangelung eines besseren Ortes hier begraben, hätte aber auch anderswo verscharrt werden können.
»Es soll ein Zufall sein, dass die Tote hier versenkt wurde? Das glaubst du ja selber nicht!« Martellis Stimme klang fast wie zu früheren Zeiten, als er sich in jeden Fall mit Akribie hineingebissen hatte. Baldini reagierte nur mit einem Achselzucken, um anzufügen:
»Na ja, die Fakten sprechen für sich. Wieso hätte sie im Katzensee tauchen sollen, wo man doch nichts sieht?«
»Könnte es noch einen anderen Grund geben? Vielleicht einen ganz banalen?«, nahm Zuppinger den Faden wieder auf. »Vielleicht wollte die Frau nur mal Erfahrungen mit ihrem Tauchgerät machen. Vielleicht hatte sie es neu gekauft und wollte es testen?«
»Taucher müssen eine Prüfung bestehen«, meinte Martelli ohne emotionale Beteiligung, »da müsste es doch ein zentrales Register geben. Vielleicht haben die sogar Fotos für die Ausweise abgelegt. Wer kann sich darum kümmern?«
Baldini nickte fast unmerklich. »Werde mal schauen, was sich finden lässt«, brummte er.
»Gut. Ist das alles für den Moment? Wenn ja, dann machen wir Schluss für heute!« Das Team blickte fragend in Richtung seines Chefs, der sonst nicht dafür bekannt war, eine Sitzung vorschnell abzuschließen. Keiner ließ sich zweimal bitten. Schon Minuten später waren sie in alle Winde zerstreut und gönnten sich einen verhältnismäßig frühen Feierabend.
*
Über der Stadt hing eine Gluthitze. Es schien, als würde die Sonne auf jeden Jagd machen, der es wagte, aus dem Schatten herauszutreten. Das Thermometer zeigte um halb sieben noch 30 Grad an. Obwohl das Jahr zuvor kaum kühler war, überschlugen sich die Medien über diesen Jahrhundertsommer, verglichen ihn mit dem Jahr 2003. Auch damals wurde das Wasser knapp, und die Felder verdorrten. Mit fetten Lettern und teilweise plumpen Bildern erteilten die Onlineportale Ratschläge, wie man die Hitze überstehen könnte. Die Spitäler meldeten einen akuten Anstieg an Kreislaufproblemen und Dehydrierungen. Insbesondere bei alten Menschen. Man solle viel trinken und die Sonne meiden, lautete der banale Tenor, und Martelli fragte sich angesichts dieser einfachen Maßnahmen, warum sich dann immer noch so viele Menschen einen Sonnenbrand holten. Doch er hielt sich nicht mit den Unvernünftigen auf, ebenso wenig mit den Untergangspropheten, die die Klimaerwärmung als Geißel Gottes anprangerten. Er wollte sich voll auf Nasrin konzentrieren, ihr gefallen und – wer weiß – vielleicht die Basis für etwas Dauerhaftes legen.
Pünktlich wie die Bundesbahnen erreichte er das Terrasse beim Bellevue und setzte sich in den von hochstämmigen Bäumen umsäumten Garten. Er blickte sich um. Nasrin war augenscheinlich noch nicht da. Ein gutes Zeichen, wie er fand, weil er dadurch einen strategischen Vorteil besaß. Er überblickte den Garten, konnte zur Ruhe kommen, bestellte ein Mineralwasser, um sich ein wenig von der Hitze zu erholen. Fünf Minuten vergingen, dann zehn. Etwas irritiert blickte Martelli auf seine Uhr. Hatte sie ihn falsch verstanden? Kannte sie vielleicht das Restaurant nicht? Ärgerlich musste er sich eingestehen, dass er nicht mal ihre Telefonnummer erfragt hatte, somit konnte er sie auch nicht anrufen. Langsam wurde er etwas nervös. Er hasste es, versetzt zu werden. Als es gegen Viertel vor sieben ging, stürmte sie zum Garten herein. Sie wirkte, wie es Martelli schien, etwas gehetzt, blickte sich nervös um. Als sie ihn entdeckte, schlenderte sie gemächlich heran, als bräuchte sie die paar Meter, um den Puls herunterzuschrauben. Sie lächelte scheu, als sie Martellis entgegen gestreckte Hand ergriff und seiner Aufforderung folgte, sich hinzusetzen.
»’tschuldigung«, hauchte sie etwas verlegen, »habe die Verkehrswege in Zürich noch nicht im Griff, bin zuerst in die falsche Straßenbahn gestiegen, also eigentlich in die richtige, aber in die falsche Richtung. Jedenfalls dauerte es eine Weile, bis ich das bemerkt habe.«
»Kein Problem«, meinte Martelli versöhnlich, »das wird schon. Übrigens heißt die Straßenbahn bei uns Tram. Sonst erkennt man sofort, dass Sie eine Auswärtige sind. Was möchten Sie trinken?«
»Wasser wäre schön«, antwortete Nasrin artig wie ein Mädchen und strich sich leicht verlegen durchs dichte schwarze Haar, spürte, dass sie schwitzte. Am liebsten wäre sie kurz auf die Toilette verschwunden, um sich frisch zu machen, doch wollte sie den Ermittlungsleiter nicht noch länger warten lassen.
Ganz Mann von Welt bestellte Severin in der Zwischenzeit Mineralwasser und dazu zwei Gläser eines fruchtigen Weißweins aus Italien. »Sie trinken doch Alkohol, oder?«, fragte er fast rhetorisch.
»Wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.«
»Und wie gefällt Ihnen unsere Stadt?«
»Habe noch nicht so viel gesehen, bin erst seit einer Woche hier.«
Martelli war fasziniert. Nasrins Wesen umfing ihn erneut wie eine Wolke, er bekam den Tunnelblick, drohte die Kontrolle über sich zu verlieren. Ein Umstand, den er hasste und deswegen vermied. Er kannte sich, es war nicht das erste Mal, dass eine Frau eine solche Wirkung auf ihn ausübte. Doch er wusste nur zu gut, dass das letzte Mal in einer Katastrophe geendet hatte. Binnen weniger Wochen war er zu einem eifersüchtigen Hüter seines Schatzes mutiert, hatte die Frau mit Zuneigung überhäuft und ihr dadurch die Luft genommen, bis sie sich nicht mehr erwehren konnte und floh. Er wollte es nicht wahrhaben, war ihr auf Tritt und Schritt gefolgt, konnte ihre Absage einfach nicht hinnehmen, krepierte fast. Als es nicht mehr zum Aushalten war, hatte sie ihm ein Ultimatum gestellt. Entweder würde er augenblicklich von ihr lassen, oder sie würde ihn wegen Stalkings anzeigen. Erst diese Androhung brachte ihn zur Besinnung, weil eine Anzeige auch schlecht für seine Karrierechancen gewesen wäre.
Der Kellner hatte zwischenzeitlich die Getränke gebracht. Martelli griff nach dem Weinglas und streckte es Nasrin entgegen: »Prost!«, sagte er, »übrigens, ich heiße Severin.«
»Nasrin«, antwortete sie und nippte am Glas. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr hübsches Gesicht.
»Was für ein Sommer!«, rief er, um einfach etwas zu sagen und das Gespräch ein wenig in Gang zu bringen. Dabei hätte er tausend Fragen gehabt, hätte alles über diese Frau erfahren wollen, doch er ging vorsichtig ans Werk, hielt den Ball flach.
»Ja, ich mag die Sonne und die Hitze. Dort, wo ich herkomme, war es mir häufig zu kalt.«
Martelli überlegte, wo es im Iran kalt war. Da er das Land nicht kannte, malte er sich aus, dass es im Nordosten, in Richtung Afghanistan, kälter war, als er es erwartet hätte. »Hatte sicher hohe Berge dort, nicht?«
»Nein«, entgegnete sie überrascht, »keineswegs. Alles war flach wie eine Flunder, also im Gegensatz zur Schweiz.«
»Und ich dachte immer, im Iran sei es heiß.«
»Iran? Wieso Iran?«
»Kommst du nicht von da?«
Nasrin lachte auf. »Nein, wo denkst du hin! Meine Eltern sind Anfang der 1970er-Jahre nach Hamburg ausgewandert. Ich bin deutsche Staatsbürgerin. Seit Geburt. Iran ist für mich eine terra incognita, wohl auch weil meine Familie nichts mit dem Ayatollah-Staat am Hut hatte.«
»Und würde es dich reizen, mal dort hin zu fahren?«
»Grundsätzlich schon. Isfahan, die Stadt meiner Familie, muss sehr schön sein.« Nasrins Gesicht verdunkelte sich, sie nahm einen großen Schluck Wasser, als müsste sie einen Kloß im Hals wegschwemmen. »Aber es ist viel passiert in den letzten Jahrzehnten, zu viel, um ohne Ressentiments hinzufahren.«
Martelli nickte. Irgendwie musste er vom Thema wegkommen, und weil ihm nichts Besseres einfiel, meinte er: »Übrigens muss ich mich noch für meinen Auftritt heute Nachmittag entschuldigen. Normalerweise bin ich nicht so begriffsstutzig.«
Nasrins Antlitz hellte sich augenblicklich auf. »Ja, ich wunderte mich schon ein bisschen!«, antwortete sie lachend.
»Ich muss gestehen«, fuhr Severin weiter und bereute sogleich seine Wortwahl, »dass ich von dir komplett verzaubert worden bin.«
Die junge Frau runzelte ihre Stirn und blickte ihm verständnislos in die Augen.
»Das war nicht meine Absicht. Sorry. Du musst wissen, ich suche keinen Mann, bin eben erst einer Beziehung entkommen.«
Martelli nickte. Er hätte sich ohrfeigen können, gleich so plump mit der Tür ins Haus zu fallen. Gleichzeitig wusste er, dass dieser Abend gelaufen war. Nasrin blickte auf die Uhr. »Oh, es ist schon spät, ich muss dann wieder. Mein Prof erwartet noch ein Paper von mir. Was kostet der Wein?«
»Den übernehme ich«, sagte der Polizist und stand auf, um ihre Hand zu ergreifen, die sie ihm entgegenstreckte.
»Tschüss«, sagte sie.
»Ja tschüss. Vielleicht ein anderes Mal?«
»Mal sehen«, sagte sie mit einem undefinierbaren Lächeln.
Er blickte ihr hinterher, beobachtete, wie sie leichtfüßig zwischen den Tischen des Restaurants vorbeihuschte. Es blieb ihm auch nicht verborgen, dass sich jeder Mann, aber auch die meisten Frauen nach ihr umdrehten.