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Christiane Gref

Die Blutlüge – Ludwig Tessnow

Biografischer Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind zu Teilen fiktional.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl

ISBN 978-3-8392-5136-2

Widmung

Für Urmeline, die von Anfang an dabei war

Kapitel 1

Greifswald, 4. Juli 1902.

Kurz nachdem der Richter das Todesurteil verkündet hatte, erlitt der Angeklagte, Ludwig Tessnow, einen Anfall.

Am Abend berichtete der Geschworene Weber seiner Frau, was sich an jenem Tag im Gerichtssaal ereignet hatte. »Du kannst es dir nicht ausmalen. So vorhersehbar. Da ging es dem Kindsmörder noch gut, doch schon einen Moment später, als der ehrenwerte Richter das Urteil verlas, kippte der Tessnow nach hinten um und lag alsdann zuckend am Boden. Er ist ein Simulant, das steht für mich fest.«

»Warum hat sich niemand erbarmt und dem Leiden gleich ein Ende bereitet?«, warf Elisabeth ein. »Dass solche Verbrecher einen Prozess erhalten … da müsste mal jemand was machen!« Allein die Vorstellung, ihre Jungs wären dem Schlächter über den Weg gelaufen, trieb ihr das Grausen in die Glieder. Stolz erfüllte sie, dass ihr Gatte mithalf, den armen Grawerts Satisfaktion zu geben.

Zwar belebte dies die beiden Söhne der Fuhrmannsleute auch nicht wieder, doch zumindest konnte der Galgenvogel nie wieder morden. Elisabeth räumte den Tisch ab.

»Können Sie mich hören?«, fragte Doktor Beumer. Er befand sich in der Gefängniszelle und schwenkte eine Kerze vor Tessnows Augen hin und her. Dessen Pupillen reagierten kaum. Beumer fühlte dem Angeklagten den Puls, der unregelmäßig war. Die Haut am Handgelenk war eiskalt. »Wärter«, rief er. Und als der Gerufene die Klappe öffnete, fügte Beumer hinzu: »Der Gefangene ist unterkühlt. Wir brauchen eine warme Decke und Suppe.« Er wusste, die Gefangenen waren hier nichts als lästiges Übel. Man sorgte dafür, dass sie nicht verhungerten. Wenn sie krank wurden, verlegte man sie kurzerhand in die Hospitäler. Das sparte Geld und Mühe. Nach 20 Minuten erschien die Wache tatsächlich mit einer Schale Suppe und einer Decke, die zwar nach Schimmel roch, doch dicht gewebt war. Beumer lagerte Tessnow mit dem Oberkörper erhöht, indem er die reguläre Gefängnisdecke zusammenrollte und ihm unter den Rücken schob. Dann flößte er dem Gefangenen die Suppe ein. »Besser?«, wollte er wissen. Tessnow nickte schwach und schluckte brav Löffel um Löffel. Zufrieden stellte Beumer fest, dass das Gesicht seines Patienten ein wenig an Farbe gewann. Er wagte einen Vorstoß, obgleich er sich bewusst war, dass es womöglich zu früh war. »Was ist im Gerichtssaal heute Nachmittag geschehen?«

Tessnow runzelte die hellen Augenbrauen. »Gerichtssaal«, wiederholte er. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Beumer tastete seine Manteltaschen ab, doch bedauerlicherweise hatte er sein Notizbuch vergessen. Das Buch, das Abbildungen der verstümmelten Kinder enthielt. Jedes Mal, wenn er mit Tessnow zu tun hatte, kamen ihm die grausamen Details der Morde in den Sinn. Es war schwierig, ihn nicht als Bestie, sondern als Patienten zu betrachten. Beumer räusperte sich. »Können Sie sich daran erinnern, wie Sie den heutigen Tag begannen?«

Wieder dauerte es eine Weile, bis Tessnow schleppend zu sprechen begann: »Ja, das weiß ich wohl noch.«

»Und?«

»Ich kämmte mich und kratzte mir die Wanzenbisse blutig, damit sie nicht jucken, wenn ich den feinen Leuten gegenübersitze. Und dann gab es Essen.«

Beumer dachte nach. Zwischen dem Frühstück und dem Prozessbeginn lagen gut und gerne zwei Stunden.

»Was taten Sie nach dem Essen?«, wandte er sich erneut an Tessnow.

»Ich kann mich nicht erinnern. Es ist alles durcheinander. Als hätte mir einer im Kopfe herumgerührt.«

Beumer nahm sich vor, den Direktor sofort nach diesem Gespräch um ein Blatt Papier und einen Stift zu bitten. Nicht was der Tessnow sagte, erregte seine Aufmerksamkeit, sondern wie er sich verhielt. Die Augenlider fielen ihm zu, er kratzte sich unkoordiniert, wobei er zusammenzuckte, als er eine Stelle über seinem linken Auge erwischte. Er lallte wie trunken und machte lange Pausen zwischen den einzelnen Wörtern.

»Schlafen Sie sich erst einmal aus. Ich komme morgen wieder«, sagte Beumer und erhob sich. Er musste sich dringend mit seinen Kollegen besprechen. Hatte er sich geirrt, indem er Ludwig Tessnow als Simulanten dargestellt hatte?

Kapitel 2

Stettin, Februar 1872.

Die Wehen waren fürchterlich und dauerten schon viel zu lange. Immer wieder verschwamm die Welt vor ihren Augen. Die Hebamme, eine ältere Frau, die streng aus dem Mund roch, sprach ihr gut zu. Emma hörte nicht hin, viel zu sehr war sie mit ihrem eigenen Leid beschäftigt. Fast war sie sicher, kein Menschenkind, sondern eine Schimäre zu gebären. Recht geschah ihr. Was hatte sie geleistet in ihrem Dasein? Strafte Gott sie nicht immerzu mit Kopfschmerzen und Ohnmachten? Und dann diese Schatten, die sie heimsuchten. Alles eine Prüfung. Aber warum sie? Früher hatte sie geglaubt, dass der Teufel und der Herrgott einen Streit um ihre Seele ausfochten. Da hatte sie sich wichtig gefühlt, ja, einzigartig. Heute sah sie die Dinge anders. Sie war gewöhnlich, mehr noch, sie löste sich nach und nach auf. Ihre Stimme wurde immer leiser, ihr Mann und ihr Schwiegervater immer lauter, ihre Haut immer blasser, während die Adern auf den Nasen der Männer rot und lila wurden. Ihr Stiefsohn, Bernhard, tat jetzt schon, was er wollte. Ihr Wort galt überhaupt nichts. Erst die Schläge des Vaters brachten Gehorsam in das Kind. Emma wurde nicht oft geschlagen. Was habe er schon davon, eine schwache, gestörte Person zu züchtigen? Wenn er so sprach, kam sie sich noch kleiner vor.

»Und jetzt, pressen. Feste pressen.« Die Hebamme atmete ihr schwer ins Gesicht. Ein Schwall übler Gerüche drang Emma in die Nase. Der Schmerz schien sie in der Mitte zerreißen zu wollen. Sie hielt die Luft an.

»Atmen«, rief die Hebamme. »Immer schön weiter atmen.«

Emma schwanden die Sinne, das Gesicht der Hebamme zerfaserte vor ihren Augen, der Schmerz war zwar immer noch da, doch er wurde ihr egal. Schwarze Schlieren schoben sich in ihr Gesichtsfeld.

Ein Anfall. Bitte, lieber Herrgott, nicht jetzt!, flehte sie still. Plötzlich erscholl ein Quäken, das sie nur am Rande wahrnahm. Ein kühler Windzug strich über ihren verschwitzten Arm und die Halsbeuge. Da erst wurde Emma bewusst, dass die Hebamme von ihrer Seite gewichen war. Emma blinzelte mehrmals.

»Ein Junge. Etwas dürr, weil er vor der Zeit gekommen ist, aber den kriegen wir schon hin.« Die Hebamme streckte ihr hilfsbereit einen Arm entgegen, an dem sich Emma in die Höhe zog. Und dann hielt Emma ihren Sohn im Arm, der sie angreinte und alsbald gierig nach ihrer Brustwarze schnappte.

Als der kleine Ludwig, denn so wollte sie ihn nennen, später in seiner Wiege lag, faltete Emma die Hände und dankte dem Himmel für den glimpflichen Ausgang der Geburt. In der Nacht begann der Kleine zu zittern. Emma packte ihn unter ihre Bettdecke, doch er fror weiter. Er verweigerte außerdem das Trinken. Kalter Schweiß kroch auf die Stirn des Kindes. Emma zitterte im Laufe der verrinnenden Stunden ebenso heftig wie der Säugling. Schließlich weckte sie ihren Mann.

»Hol’ die Hebamme. Sie muss nach Ludwig sehen. Ich glaub’, das Kind stirbt!«

Ausnahmsweise reagierte ihr Mann sofort.

Die Hebamme hielt die Lampe dicht über das Gesicht des Säuglings. Es wirkte ausgezehrt. Aus dem anfänglichen Geschrei war ein klägliches Wimmern geworden. »Es ist krank. Am besten holen wir den Pfarrer, dass er’s tauft.«

Da begann Emma Tessnow bitterlich zu schluchzen. Sie wusste, was eine Nottaufe bedeutete.

Als sich Emma, Friedrich, Bernhard und der Pfarrer am Morgen um das Taufbecken versammelten, lag der kleine Ludwig apathisch in Emmas Armen. Sein Atem ging stoßweise. »So ein kleines Wesen«, sagte der Pfarrer und blickte Emma bedauernd an. Emma hielt das Kind über das Becken. In dem Moment, als der Pfarrer ihm das geweihte Wasser über das Köpfchen goss, umklammerte der kleine Ludwig fest Emmas Zeigefinger.

Kapitel 3

Es war ein heißer Sommer im Jahr 1875. Emma Tessnow hatte einen guten Frühling ohne jedwede Anfälle verlebt. Sie hatte sich als Küchenhilfe verdingt, ein paar einfache Näharbeiten für den ansässigen Schneider ausgeführt und war dieses Mal so schlau gewesen, die Münzen vor ihrem Liebhaber Tebesius zu verstecken, der sich als schäbiger Säufer entpuppt hatte. So wie alle ihre Männer. Für einen Moment presste sie grimmig die Lippen aufeinander, konnte an diesem schönen Tag allerdings nicht im Groll schwelgen.

Vermutlich wurde sie durch das Sonnenlicht und das müßige Brummen der Insekten betäubt. Sie ging zum offenen Fenster und sah ihrem Sohn beim Spielen zu. Eine zeitlang hatte er einen Kreisel über die Straße getrieben. Doch jetzt hatte er offenbar etwas Interessanteres entdeckt. Emma ahnte auch, was das war. Hatte sie doch selbst am Morgen einen großen Schritt darüber gemacht. Ludwig ging in die Hocke und betrachtete die, von einer Kutsche, überrollte Taube im Rinnstein. Neugierig bohrte er mit seinem Zeigefinger in der offenen Bauchhöhle des toten Vogels herum. »Ludwig, lass das!«, rief Emma und hieb die Faust auf das Fensterbrett.

Langsam, als koste es ihn unendliche Kraft, den Blick von dem Tierkadaver abzuwenden, hob Ludwig den Kopf und sah Emma mit seinen hellen Augen an. Ohne die geringste Gefühlsregung. Emma wurde unruhig, aber sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden und seiner stummen Missbilligung mit mütterlicher Härte zu begegnen. Nach einer gefühlten Ewigkeit senkte Ludwig den Kopf und gleichsam seinen Zeigefinger erneut in die Innereien der Taube. Emma schloss das Fenster und wandte sich seufzend ab.

Am Abend polterte Friedrich in die Wohnung, stolperte über die Schwelle, fluchte und riss beim Versuch sich abzufangen den Krug vom Tisch. Den einzigen, den Emma Tessnow besessen hatte. Fassungslos schaute sie auf die Scherben. Friedrich indessen polterte weiter, riss die Tür zum Zimmer der Buben auf und holte die schlafenden Kinder aus dem Bett. Sie konnte Friedrich nicht abgewöhnen, immer noch bei ihr aufzutauchen, obgleich sie jetzt mit dem wahren Vater von Ludwig zusammenlebte. Leider erhielt sie keinerlei Unterstützung, weder von ihrem Vater noch von Tebesius, der die Anwesenheit Friedrichs als leidiges Übel betrachtete.

»Friedrich, was tust du?«, sprach Emma den trunkenen Mann ruhig an.

»Es wird Zeit, dass die beiden das Leben sehen, wie’s halt ist.«

Emma konnte sich keinen Reim darauf machen, was Friedrich damit meinte. »Es ist spät. Nimm sie doch morgen zur Arbeit mit.«

»Was weißt du denn schon«, raunzte Friedrich und starrte die Kinder mit glasigen Augen an. »Zieht euch an, wir gehen raus«, wandte er sich nun an die beiden, die sich schlaftrunken die Augen rieben. Bernhard fasste sich als Erster und griff nach seiner Hose, die über dem Schemel lag. Ludwig allerdings verweilte in seinem Träumerland, wie Emma insgeheim jenen Ort nannte, an den sich Ludwig auch zuweilen tagsüber zurückzog. Friedrich bohrte mit dem Zeigefingernagel zwischen seinen Vorderzähnen. »Wenn du mitwillst, Bankert, dann zieh dir Hose und Hemd an. Ansonsten kannst du mir gestohlen bleiben.« Emma sah, wie die Ader auf Friedrichs Stirn zu pochen begann. Eilig half sie ihrem Jüngsten beim Ankleiden, der noch immer mit abwesendem Blick durch das Zimmer starrte. Friedrich schob die Kinder zur Tür hinaus. Die Geräusche der Kinderfüße waren neben Friedrichs Getrampel kaum zu hören. Emma setzte sich an den Tisch neben dem Herd, bedeckte die Augen mit den Handflächen und fühlte den Schmerz hinter den Augenhöhlen herantosen.

Rufen und penetrantes Klopfen an der Wohnungstür weckten Emma auf. Ihr Kopf war in der Nacht irgendwann vor Erschöpfung auf den Tisch gesunken. Es war kalt, und Emmas Genick schmerzte, als sie sich aufrichtete. In ihren Ohren rauschte das Blut. Steif humpelte sie zur Tür. Davor stand ein Mann in einem durchschwitzten, derben Hemd. Er trug den kleinen Ludwig auf seinen ausgestreckten Armen. Emma biss sich beim Anblick des bleichen Kindes auf die Fingerknöchel. Bernhard lehnte mit rotgeweinten Augen an der Seite des Mannes. Sein Hemd war blutbesudelt. Auch Ludwigs Kleidung zeigte große bräunlich-rote Flecken. »Was, um Gottes willen, ist geschehen?«, stieß Emma hervor.

»Mein Name ist August Wachter. Ich kenne Friedrich von der Arbeit. Wir hatten für die Werft Innenteile zu fertigen. Friedrich wurde von der Polizei geholt.«

»Kommen Sie rein«, bat Emma. Sie wollte nicht, dass Herr Wachter die unselige Geschichte im Treppenhaus erzählte, die Nachbarn waren sowieso zu neugierig. Gemeinsam mit Wachter, brachte Emma die Kinder zu Bett. Sie schliefen sofort ein.

In der Küche stellte sie ein kleines Glas vor den Gast und füllte vom Selbstgebrannten ein. Dankbar nickte Herr Wachter und trank in einem Zug den Schnaps aus. Dann wischte er sich mit der Hand über den Mund und sah Emma ernst an. »Der Friedrich steht im Verdacht, einen Mann ermordet zu haben.«

Ein Beben ergriff von Emma Besitz. Es begann merkwürdigerweise im Kinn und setzte sich über den Oberkörper, den Bauch und schließlich die Beine fort. Ihre Kopfhaut prickelte. »Und die Kinder haben das gesehen?«

Herr Wachter zuckte mit den Schultern. »Ja, scheint so.«

Schweigend saßen sie noch eine Weile, dann stand Wachter auf und verabschiedete sich. Emma blieb wie festgenagelt auf ihrem Stuhl sitzen. Ihre Beine waren taub, ihr Herz klopfte schwer und langsam. Die Finger zitterten. Das erste Mal seit Jahren trank sie Schnaps, obwohl sie wusste, dass sie für die paar Schlucke teuer würde bezahlen müssen. Vielleicht wollte sie ja genau das. Sie hatte versagt, hatte als Mutter ihre Kinder nicht vor dem Bösen schützen können.

Bernhard gebärdete sich seitdem wie toll. Eines Morgens, es war etwa eine Woche vergangen, kam er heulend in die Küche. In seinen Händen hielt er Emma etwas entgegen.

»Er ist tot. Tot!«, schrie er aufgebracht.

Sie legte den Kochlöffel beiseite und beugte sich zu Bernhard herunter. Emma brauchte eine Weile, um in den rosigen Fetzen, an denen Fell hing, den Stallhasen Piet zu erkennen, Bernhards Liebling.

»Meine Güte, wer war das?«

»Er hat mich so komisch angeschaut«, stieß Bernhard hervor. Dann rannte er aus der Küche. Emma sah ihm nach und entdeckte Ludwig, der still an der Tür gestanden und alles mitbekommen hatte. Mehr erschreckte sie jedoch sein versonnenes Lächeln.

Kapitel 4

Es war Ende Januar des Jahres 1876, als ein schweres Wintergewitter Stettin heimsuchte. Die Straßen standen unter Wasser, Vorräte wurden aus vollgelaufenen Kellern geborgen. Alte Bäume lagen kreuz und quer. Der Wind hatte sie geknickt wie Kienspäne. Seit drei Stunden tobte das Unwetter bereits. Viele Leute waren aus ihren Häusern gekommen, um die Eingänge mit Sandsäcken gegen das einbrechende Wasser abzudichten. Auch Emma und Tebesius schleppten Säcke. Bernhard war nirgendwo zu sehen, Ludwig harrte im trockenen Eingangsbereich aus und spähte auf die Straße.

Die Luft roch nach Regen und legte sich wie ein kühler Mantel auf das Gesicht. Manchmal verirrte sich ein Spritzer zu Ludwig. Er hauchte in seine eiskalten Hände. Ein weiterer Blitz zerriss den Himmel, der Donner folgte fast augenblicklich. Plötzlich rasten zwei glühende Punkte auf Ludwig zu. Er schrie und warf sich zur Seite. Er fühlte Fell unter sich, das einen modrigen Geruch ausströmte. In das Fell kam Bewegung, ein qualvolles Bläken quoll dumpf unter Ludwigs Leib hervor. Dann fuhren mit einem Mal Messer aus dem Fellball und der Teufel zerschnitt ihm das Gesicht. Ludwig fuhr hoch, Kratzen auf Fliesen war zu hören, eine huschende Bewegung, nur zu erahnen. Ludwig schrie nach seiner Mutter. Die Straße lag menschenleer da. Was, wenn das Gewitter sie alle aufgefressen und dafür diese teuflischen Kreaturen auf die Erde gespuckt hatte? Ludwig jammerte unartikuliert und drückte seine Hände auf die brennenden Wunden in seinem Gesicht.

Jemand zog ihm die Hände fort. Ludwig strampelte, schrie und boxte um sich. Eine schallende Ohrfeige war die Reaktion.

»Was ist denn hier los? Kann man dich nicht mal fünf Minuten allein lassen? Wie sieht überhaupt dein Gesicht aus?«

Ludwig antwortete nicht. Er schlang die Arme um seine Mutter, barg sein Gesicht in ihrer Halskuhle und weinte bitterlich. Seit diesem Tag hasste er Katzen, denn er hatte ihr wahres Wesen erkannt.

Stettin, 1878. Ludwig drehte seinen Schuh so, dass sich das Sonnenlicht am frisch polierten Leder brach. Es fühlte sich ungewohnt an, festes Schuhwerk zu tragen. Seine Mutter hatte die dunkelbraunen Schuhe durch Zufall günstig erstanden und sich alle Mühe gegeben, sie so aussehen zu lassen, als wären sie gerade erst vom Schuster gefertigt worden. Auch wusste er, dass sie für den großen Tag in den vergangenen Nächten heimlich Äpfel kandiert und Rumrosinen hergestellt hatte. Aber das sagte er ihr nicht, weil er ihr nicht die Überraschung verderben wollte. Dann würde sie wieder so traurig schauen. Auch, dass Bernhard schon wieder die halbe Nacht durch Stettins Straßen gestromert war, verschwieg er ihr lieber. »Ludwig, kommst du?«

Ludwig zog den Fuß vom Fensterbrett, griff nach der Schiefertafel, die nur ein klitzekleines bisschen am Holzrahmen gesplittert war, und lief in den Flur. Seine Mutter trug ihr gutes Sonntagskleid, das etwas um ihre Leibesmitte schlotterte. »Du passt gut auf und meldest dich, wenn du etwas zu sagen hast. Und höre immer auf das, was der Lehrer sagt, ja? Und benimm dich anständig. Nicht so wie dein Bruder.«

»Ja, Mutter«, sagte er gottergeben. Seine Mutter seufzte. »Ach, was bist du so schnell groß geworden. Kaum konntest du laufen, kommst du schon in die Schule. Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht.«

»Ja, Mutter.«

»Viel sprichst du zwar immer noch nicht, aber ich bin dem Arzt von damals sehr dankbar, dass er dich nach Rügen verschickt hat, ohne dass es uns einen Taler gekostet hätte.«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Nun ja, du warst erst drei. Die Hauptsache ist doch, du bist wieder gesund geworden.« Ludwig hasste es, wenn seine Mutter ihm durch die Haare fuhr. Unwillig trat er beiseite. »Was ist eigentlich mit Bernhard?«

»Der schläft noch.«

»Aber er muss doch auch zur Schule!« Seine Mutter stieß mit geschlossenen Augen die Luft aus. »Wie auch immer. Wir müssen uns eilen«, sagte sie gepresst. Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Ohne Bernhard.

Vor der Schule sammelten sich die Eltern mit ihren Sprösslingen. Ludwig kannte ein paar der Kinder flüchtig. Seine Mutter hielt sich abseits. Er wusste, sie hasste Menschenmengen. So wie er auch. Die Nähe zu anderen erstickte ihn. Jetzt stand er gehorsam neben seiner Mutter, den Lärm der aufgeregten Kinder schied er von sich ab wie den Rahm von der Milch und merkte erst auf, als seine Mutter ihn an der Schulter rüttelte. »Ludwig«, sagte sie. »Wo warst du denn mit deinen Gedanken?«

Ludwig zuckte mit den Schultern. »Der Direktor ruft die Kinder zu sich und teilt sie in die Klassen ein.«

Tatsächlich. Vorne stand ein rundlicher Mann, um die 50 Jahre mochte er wohl zählen, und rief Namen auf, die er von einer Liste ablas. »Tessnow, Ludwig, hier herüber.« Er deutete auf eine durcheinanderredende Schar Jungen, die sich neben einem hageren Lehrer zusammendrängte. Ludwig musterte die Kinder. Einerlei. Gesichter waren unwichtig. Er stellte sich an den Rand und überhörte die Fragen nach seinem Namen, wo er wohne, wie alt er sei. Die Fragen hörten irgendwann auf, und er konnte in Ruhe den Rest der Aufteilung verfolgen. Die Gruppen, es gab insgesamt drei Klassen mit neuen Sprösslingen, setzten sich im Gänsemarsch in Bewegung. Vor Rührung weinende Mütter und Väter mit grimmig zusammengepressten Kiefern oder letzten Ermahnungen auf den Lippen blieben zurück. Seine Mutter sah ihm still nach. Keine Träne verließ ihren Augenwinkel. Keine Regung, kein Winken. Ludwig drehte sich um und blickte nach vorne. Dem Eingang des Schulgebäudes entgegen, der imposant von zwei Säulen flankiert war.

Kapitel 5

Als der Kastanienbaum im Schulhof ein paar Wochen später begann, seine stachelige Fracht abzuwerfen und die Kinder begeistert die braunglänzenden Kastanien sammelten, kam kein Kind mehr zu ihm und wollte seinen Namen wissen. Ludwig stand meist am Zaun, mit dem Rücken zur Straße, und betrachtete das Geschehen rings um sich. Ein Junge geriet eben in Streit mit Bernhard. Es sah ernst aus. Sein Bruder wurde gegen den Hals geboxt, fiel um wie ein nasser Sack und blieb japsend liegen. Der andere setzte sich rittlings auf ihn und hieb ihm die Faust ins Gesicht. Ludwig eilte los, schubste unterwegs Kinder zur Seite, erreichte schließlich die Kämpfenden. Der andere bemerkte ihn nicht. Ludwigs Sichtfeld engte sich ein, das Licht verblasste. Bernhards Blut, das von der geballten Faust des Angreifers tropfte, war fast schwarz. Ein Spritzer flog weg und zerplatzte im Sand des Hofes. Ludwig war selten so konzentriert gewesen wie in diesem Augenblick. Er holte weit mit dem rechten Bein aus und trat dem Peiniger seines Bruders so fest er konnte gegen den Hinterkopf. Es knackte, als die Schuhsohle mit dem Schädelknochen kollidierte. Der Tritt katapultierte den Jungen von Bernhard herunter. Er überschlug sich und blieb reglos liegen. Blut floss aus einer Wunde am Kopf. Die Zuschauer, die einen Kreis um die Raufbolde gebildet und sowohl Bernhard als auch den anderen Jungen angefeuert hatten, verstummten plötzlich. Sein Bruder rappelte sich hoch und klopfte Ludwig anerkennend auf die Schulter. »Du hast echt Mumm. Das hätte ich von dir nicht gedacht.« Dann besah er sich den wie tot Daliegenden. »Aber ganz so arg hättest du nicht zutreten dürfen.«

»Hab ich auch nicht«, sagte Ludwig leise, drängte sich durch die Gaffer und nahm seinen angestammten Platz am Zaun wieder ein. Nur wenige Minuten später wurde er zum Direktor gerufen. Der dicke Mann war mit einem Mal gar nicht mehr so gemütlich. Er musterte Ludwig mit wütender Miene durch ein Monokel. »Tessnow, ich weiß, dass du deinem Bruder helfen wolltest. Aber findest du es nicht unsportlich, ja geradezu infam, dich hinterrücks anzuschleichen und zuzutreten?«

Ludwig senkte den Blick und schwieg.

»Ich finde das sehr bedenklich und kann es mir nur dadurch erklären, dass du einem Familienmitglied beistehen wolltest und dir der Konsequenzen nicht bewusst warst. Du hast großes Glück, dass du noch nie als Krawallmacher aufgefallen bist. Die Lehrer sagen, du seist ein stilles und friedliebendes Kind. Daher belasse ich es bei einer satten Strafarbeit und werde auf einen Schulverweis verzichten. Sollte so etwas jedoch noch einmal vorkommen, werde ich dich umgehend vom Unterricht suspendieren. Hast du mich verstanden, Tessnow?«

Ludwig nickte.

»Gut, du kannst gehen.«

Als Ludwig nach Hause kam, war Bernhard ausnahmsweise zu Hause. »Und, was gab’s beim Direktor?«

»Hab eine Strafarbeit bekommen.«

»Karl liegt im Krankenhaus. Du hast ihm wohl den Schädelknochen kaputt getreten.« Bernhard konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Wo ist Mutter?«, wollte Ludwig wissen.

»Na in der Schule, du Blödmann.«

»Warum denn?«

»Ich fliege von der Schule.« Ludwig erschrak. Bernhard erweckte allerdings nicht den Eindruck, als würde ihm die Suspendierung allzu viel ausmachen.

»Du hast doch gar nichts gemacht, der hat dich doch verhauen!«

»Es war eben eine Rauferei zu viel. Dem Direktor hat es gereicht. Der konnte mich eh noch nie leiden. Ist mir egal. Ich suche mir halt irgendeine Arbeit.«

»Du bist aber erst zehn.«

»Na und?«

Ludwig wusste, dass es sinnlos war, seinem Bruder zu widersprechen. Beide warteten still auf die Rückkehr der Mutter.

Kapitel 6

Es war ein milder Wintertag. Die Sonne schien, und Ludwig öffnete das Fenster, um den Geruch des Holzofens herauszulassen. Die Sonne spiegelte sich in der Fensterscheibe. Es war amüsant, er bewegte die Scheibe hin und her, ließ den Sonnenstrahl immer schneller aufblitzen. Plötzlich spürte er, wie es ihm im Kopf ganz leicht zumute wurde. Dann mischte sich eine diffuse Angst hinzu, und dann verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Es fühlte sich an, als kröchen Schlangen unter seiner Haut. Er kippte nach hinten, spürte, wie er sich den Hinterkopf an der Tischkante anschlug – und dann nichts mehr.

Als er zu sich kam, gähnte er als Erstes. Sein Hemd war nass auf der Brust. Sein Kiefer schmerzte. Eine Trägheit steckte ihm in den Knochen, als habe er den ganzen Tag beim Schleppen von Kohlensäcken geholfen. Aber dabei hatte er doch nichts geschleppt. Oder doch? Er konnte sich an den bisherigen Verlauf des Tages nicht erinnern. War er in der Schule gewesen? Er keuchte entsetzt auf, als er feststellte, dass er sich in die Hose gemacht hatte. Nicht nur die Hose war durchweicht, auch in die Bodendielen war Urin eingesickert. Mit schamroten Wangen setzte sich Ludwig auf und zog sich am Tisch hoch. Aus der stehenden Perspektive betrachtet, sah der Boden noch schlimmer aus. Denn dort, wo Ludwig mit dem Kopf gelegen hatte, war Blut. Er griff sich an den Hinterkopf und besah sich seine Finger. Sie waren rot. Seinen Plan, die Küche zu wischen, verwarf er. Er war krank. Und wenn man krank war, musste man zu Bett. Das hatte ihm seine Mutter oft genug eingebläut. Sie selbst hielt es schließlich auch so. Er zog seine Schuhe aus und legte sich hin.

Blitze zuckten vor seinen geschlossenen Lidern. Er fand nur in unruhigen Schlaf, und er litt entsetzlichen Durst, konnte sich aber nicht bewegen. Seine Arme und Beine lagen bleischwer auf der Matratze. Als seine Mutter nach Hause kam, konnte er auf ihr Rufen nur wimmernd antworten. Zu viel Kraft kostete eine laute Äußerung.

»Ludwig, was ist denn geschehen?« Sie setzte sich auf die Bettkante.

»Schwindlig. Hingefallen. Wehgetan.« Mehr bekam er nicht heraus, und selbst diese wenigen Wörter hörten sich an, als hätte sein Vater sie nach dem siebten Schnaps ausgesprochen.

Vorsichtig tastete Mutter seinen Kopf ab. Als ihre Finger die Wunde berührten, sog er scharf die Luft ein. Sie erwärmte ein wenig Wasser auf dem Herd und säuberte die Haut um die Verletzung. »Du hast Glück gehabt. Das hat von selber aufgehört zu bluten.« Ludwig konnte sich darüber angesichts der hämmernden Schmerzen nur mäßig freuen.

Dann half sie ihm, sich zu waschen und saubere Kleidung anzuziehen. Ludwig brannte eine Frage schon seit seinem Erwachen auf der Zunge: »Bin ich sterbenskrank, Mutter?«

»Ich hatte schon öfter den Verdacht, dass du meine Fallsucht geerbt hast. Jetzt ist es wohl offiziell. Machen kann man nicht viel. Aufregung sollte man meiden, aber ach …« Sie stieß spöttisch die Luft aus. »Das geht wohl nur, wenn man reich ist. Sorgt man sich täglich um den Lebensunterhalt, ist es mit der Ruhe schnell vorbei.«

Ludwig überlegte. Seine Mutter war schon über 30 und lebte noch. Das bedeutete, dass die Krankheit wohl nicht tödlich war. Allerdings hatte sie manches Mal Anfälle, nach denen sie tagelang im Bett lag. Er fühlte sich, sah man einmal von den Kopfschmerzen und den lästigen Blitzen ab, wieder ganz wohl. Er wusste wieder, dass er in der Schule gewesen war – und leider fiel ihm bei der Gelegenheit auch ein, dass er noch Hausaufgaben anfertigen musste.

Der Anfall hatte ihn sensibel für seine körperlichen Zustände gemacht. Er spürte, wenn sich die Melancholie anschlich, die ihn meist in den dunklen Monaten überfiel. Er widersetzte sich der Lähmung, die dann auch seinen Geist und seinen Körper befiel. Er ging hinaus, wenn es soweit war, weil er das Gefühl hatte, die Wände kämen beständig näher und wollten ihn erdrücken. Sein Zimmer bewohnte er nunmehr allein. Bernhard verbrachte die Nächte meist in irgendwelchen Spelunken oder beim Vater mit seinen stets wechselnden Geliebten. Kaum, dass er sich zu Hause blicken ließ – und wenn, dann nur, um die Mutter um Geld anzubetteln. Eines Tages bekam die Mutter Post, die sie zum Weinen brachte. Sie las den Brief, zerknüllte ihn und warf ihn in den Ofen. »Mutter, warum verbrennst du den Brief?«, fragte Ludwig. »Das hast du doch noch nie gemacht. Du hebst doch sonst alles sorgsam auf.«

»Es ist böse Post, und dem Bösen muss man mit Feuer begegnen.«

Ludwig verstand die Welt nicht mehr. »Wer sollte dir denn finstere Dinge schreiben? Du hast doch nichts Schlimmes getan.«

»Doch, ich habe Bernhard zur Welt gebracht. Und obgleich er auf Abwege geraten ist, kann ich nicht aufhören, ihn zu lieben. Das ist meine Schuld. Vielleicht wird das Gefängnis ihn läutern.«

An jenem Tag ging seine Mutter sehr früh zu Bett. Ludwig verstand nicht, warum sie sich die Schuld gab. Sie war doch nicht Bernhard. Ihm fiel auf, dass Tebesius schon wieder nicht nach Hause kam. Wo steckte der Mann bloß?

Kapitel 7

Ludwig spürte, dass er immer zorniger wurde. Dabei brauchte die Wut keinen Anlass. Sie schlich sich leise an, sammelte sich wie Wasser in einer Regentonne. Mit Grausen erinnerte er sich an das Räuber-und-Gendarm Spiel mit den anderen Kindern. »Ha, Tessnow, ich hab dich«, hatte Fritz Unkelbach gegrölt und Ludwig fest umklammert. Da bekam es Ludwig mit der Angst zu tun. Er wand sich im festen Griff, was Fritz dazu animierte, nur noch fester zuzudrücken. Ludwig glaubte zu ersticken. Die Arme von Fritz waren wie Schraubstöcke und schienen jede Zelle zermalmen zu wollen. Ludwig konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und das Zittern nicht länger unterdrücken. »Schaut mal, der Tessnow heult wie ein Mädchen«, machte sich Fritz lustig. Die anderen Kinder lachten und zeigten vergnügt mit dem Finger auf ihn. Ludwig glaubte vor Scham sterben zu müssen. Seitdem hatte er nie wieder mit den anderen Kindern gespielt. Sein Wutfass begann vollzulaufen.

Sommer 1884. Ludwig war zwölf Jahre alt und hatte das Basteln mit Holz für sich entdeckt. In der Schreinerei die Straße runter gab es immer das eine oder andere Stück Buche oder Eiche, das der Tischler ihm schenkte. Ludwig schnitzte aus einer handtellergroßen flachen Scheibe ein Schiff. Dieses wollte er, wie ein Bild, an einer Schnur befestigen und als Schmuck an seine Wand hängen. Noch war es freilich nicht fertig, und Ludwig musste wohl noch viel Geduld aufbringen, bis man die grobe Kontur erahnen mochte. Er konnte sie die ganze Zeit über sehen, brauchte keinen Stift zum Vorzeichnen. Es war, als hätte das Holz ihm die Form eingeflüstert. So saß er nach der Schule in seinem Zimmer am Tisch, den er ans Fenster gerückt hatte, und vertiefte sich in seine Bastelei.

Kurz nachdem Ludwig in die sechste Klasse gekommen war, interessierte sich das erste Mal ein Mädchen für ihn. Sie hieß Elsa und wohnte im Haus gegenüber. Ludwig fiel auf, dass Elsa oft am Fenster saß und zu ihm herüber sah. Meist tat er so, als sähe er sie nicht. Was auch der Fall sein konnte, denn sein Schiff forderte ihm nun einiges an Geschick ab. Er schnitzte behutsam mit der Messerspitze feine Linien aus dem Holz. Vom Schweiß seiner Hände war das Werkstück ein wenig nachgedunkelt, die Maserung kam besonders schön zur Geltung. Wenn sein Blick doch auf Elsa fiel, lächelte sie ihn an und winkte. Ludwig wusste nicht recht, ob er zurückwinken sollte.

Am Abend schickte seine Mutter ihn den Abfallkübel im Hof zu entleeren. Lustlos schlenderte Ludwig die Treppe herunter und ließ den Eimer immer wieder gegen das Geländer pendeln. Die Schläge hallten dumpf durch das Treppenhaus. Frau Castell aus dem Erdgeschoss hatte nur darauf gewartet. Sie riss ihre Wohnungstür auf und fing sofort an zu schimpfen: »Ungehobelter Bengel, willst du wohl aufhören, einen solchen Lärm zu veranstalten? Unglaublich. Hast du etwa mit dem dreckigen Eimer gegen das saubere Geländer geschlagen? Na warte, Bürschchen, das erzähle ich deiner Mutter. Gleich geh ich mit hoch.«

Ludwig ging wortlos an ihr vorbei, kippte den Eimer auf den Komposthaufen und wollte gerade wieder durch den Hintereingang ins Haus gehen, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Ludwig fuhr herum, in Erwartung, Frau Castell Aug’ in Aug’ gegenüberzustehen. Doch es war Elsa. Ihr Lächeln war so von Herzen rein und das Rot ihrer Wangen gesund. Zu einer solchen Färbung brachte er selbst es nur, wenn ihn hohes Fieber plagte, was etwa alle zwei Monate der Fall war. Doch Elsa schien weder Fieber noch eine andere Krankheit zu haben. Da stand sie vor ihm. Und lächelte ihm zu.

»Was gibt’s?«, sagte er.

»Ich wollte dich aus der Nähe sehen, ob du wirklich so aussiehst, wie ich dich mir vorgestellt habe.« Sie legte den Kopf schief und betrachtete tatsächlich jeden Zentimeter seines Gesichts. Ludwig war zutiefst verunsichert, wusste nicht, wo er hinsehen sollte. In Elsas große, braune Augen jedenfalls nicht. »Ich bin 14 und du?«, fragte sie, ohne in ihrem Gesichtsstudium innezuhalten.

»Zwölf.«

»Siehst aber älter aus.«

»Wahrhaftig?«

»Glaub mir, ich habe schon viele Jungengesichter angesehen. Ich mag das.«

Ludwig wurde es unheimlich zumute. Was meinte sie wohl damit? Und warum mochte sie es, in Gesichter zu sehen. Er war froh, wenn er keines anschauen musste.

»Komm mit«, sagte sie und zog ihn beiseite. Ludwig wusste nicht, wohin mit dem Eimer. Er nahm ihn kurzerhand mit. Elsa zog ihn zu der kleinen Remise, die sich an die Hofwand schmiegte. Die Tür quietschte, und Ludwig warf unwillkürlich Blicke zu den Fenstern. »Was ist denn da drin?«

»Das siehst du gleich«, gab Elsa frech zurück.

Die Remise war nahezu leer. Lediglich ein paar verrostete Gerätschaften fristeten ein fades Dasein in dem Verschlag. Elsa zog die Tür zu. Durch die Ritzen der Bretter fiel gedämpftes Abendlicht. Die Enge der Remise ließ einen Abstand zwischen ihren Körpern nicht zu. Es roch nach Staub und festgetretenem Lehmboden, leicht dumpf. Und leicht metallisch der Geruch von viel Sonne auf Haut. Elsa knöpfte ihr Kleid auf und entblößte ihre Brüste, die sich weiß von ihrem gebräunten Dekolleté abhoben. Dann griff sie nach Ludwigs Händen und legte sie auf das pralle Fleisch. »Drück sie.«

Ludwig schrie auf und entriss ihr seine Hände. »Ich will das nicht, hörst du. Das ist eklig!« Er stemmte sich gegen die Tür, überquerte keuchend den Hof und rannte ins Treppenhaus. Dort nahm er zwei, drei Stufen auf einmal, gelangte in seine Wohnung, warf die Tür hinter sich ins Schloss und stemmte sich mit dem Rücken dagegen. Schon hörte er Tritte auf der Treppe. Dann klopfte es vernehmlich. »Was ist denn los?«, fragte seine Mutter. Sie kam aus der Küche und wischte sich mit einem Tuch Mehl von den Fingern. »Mach nicht auf, bitte«, flehte er.

Seine Mutter runzelte die Stirn. »Was hast du ausgefressen?«

Es klopfte heftiger, ein nervtötendes Geräusch. »Und ob ich öffne, Freundchen.«

Sie schob ihn kurzerhand zur Seite und drückte die Klinke. Ludwig raste in sein Zimmer und verbarrikadierte die Tür, in dem er die schwere Truhe davorschob. Dann hörte er durch das Dröhnen seines Herzschlags die Stimme von Frau Castell. »Gott sei Dank«, flüsterte er. »Nicht die Elsa.« Siedend heiß fiel ihm ein, dass er den Müllkübel in der Remise vergessen hatte.

Kapitel 8

Zwei Wochen später sah er Elsa mit einem älteren Jungen poussieren, der, wie Ludwig wusste, Klempnergeselle war. Es ging ihr gut, das beruhigte ihn. Und doch blieb ein unterschwelliges Ekelgefühl, wenn er ihr begegnete. So ging es ihm überhaupt mit allen Mädchen. Während seine Klassenkameraden begannen, die Welt jenseits des Schulzauns zu erkunden, wenn sie sich in der Pause auf den Hof begeben mussten und den Mädchen auf der Straße Scherzworte zuriefen, hielt sich Ludwig zurück. Ihn interessierten die jungen Damen nicht. Ihm genügte es zuzusehen, wenn der Wind in das welke Laub fuhr und es davonwirbelte. Woher kamen diese Windkreise? Manchmal spürte er es in der Luft. Ein Prickeln, wie kurz vor einem Gewitter, wenn sich die Härchen auf den Armen aufstellten und die Haut abwechselnd warm und kalt wurde. Manchmal sah er sie auch. Diejenigen, die dafür verantwortlich waren. Sie traten als Schatten in Erscheinung, immer gerade abseits des Blickfeldes, aber doch zu ahnen, wenn man schnell den Kopf drehte. Einmal wollte er seiner Mutter einen dieser Schatten zeigen, der in der Küchenecke stand und menschliche Umrisse besaß. Sie hatte ihm gesagt, er dürfe niemandem erzählen, dass er die Schatten sah. Sonst käme er ins Irrenhaus. Ludwig unternahm keinen weiteren Versuch, seine Umwelt auf das Phänomen aufmerksam zu machen, vielmehr kostete er es für sich aus. Es war sein privates Vergnügen, dass er nicht hergeben, mit anderen Menschen teilen oder sich dazu rechtfertigen musste. Er genoss es, die Magie als Privilegierter zu spüren, und fühlte sich dadurch den Mitschülern überlegen. Natürlich fiel es im Laufe der Zeit auf, dass er kein Mädel hatte, für das sein Herz schlug. Dann pflegte er zu sagen, dass er nur auf die Richtige warte. Meist verstummten die kritischen Stimmen. Ludwig begann, sich Notizen zu den einzelnen Sensationen zu machen, derer er ansichtig wurde. Da waren zum Beispiel die Lichtbögen, die sich manchmal im Himmel aufspannten, meist zeigten sie sich, bevor ihn ein Anfall niederstreckte. Seine Mutter sah keine Lichter, also schloss Ludwig aus, dass die Erscheinungen etwas mit der Krankheit zu tun hatten. Wohl aber unterhielt sich seine Mutter mit jemandem, den Ludwig nicht sehen konnte. Ferner behauptete sie, es spuke in der Tessnow’schen Wohnung.

Ludwig war in der letzten Klasse der Volksschule, kurz vor dem Ende seiner Schulzeit, als der Direktor vor die Schüler trat und wissen wollte, welche Lehre sie denn anstrebten. Ludwig fiel das Buch wieder ein, dass er fünf Jahre zuvor zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Es hieß ›Was willst du werden‹(21) und stammte aus einem Berliner Verlag. Oft hatte sich Ludwig die Bilder angesehen. Einige stießen ihn auf Anhieb ab, beispielsweise das der Lohgerber. Er wusste, dass es aus den Gerbergruben scharf roch und viele Gerber krank wurden und unter schrecklichen Schmerzen starben. Aber der Tischler gefiel ihm gut. Er liebte Holz und konnte sich gut vorstellen, das Möbelfertigen zu erlernen. Außerdem kannte er keinen, der früh gestorben war. »Tischler«, sagte Ludwig folglich, als der Direktor ihn fragte. Die Schreibfeder des Direktors kratzte über das Papier. Niemand sonst aus seiner Klasse strebte diesen Beruf an. Dafür gab es gleich fünf Bäckeranwärter. Ludwig feixte innerlich. Bäcker mussten mitten in der Nacht aufstehen und auch an den Feiertagen backen. Das hatten seine törichten Mitschüler natürlich nicht bedacht.

»Ihr werdet in den nächsten Tagen eine Liste mit den Anschriften der Meister erhalten, die Lehrbuben nehmen. Ihr seid angehalten, nach der Schule die Meister aufzusuchen und dort vorstellig zu werden. Und mit viel Fleiß und gutem Willen ist es jedem von euch vergönnt, eine Lehrstelle zu erhalten.«

Zwei Wochen später stand Ludwig vor der Tischlerwerkstatt. Aus der Halle hinter den großen Fenstern waren schleifende Geräusche zu hören, dann ein Poltern. Es roch herrlich nach Kiefernholz. Als er gerade die Tür öffnen wollte, wurde sie aufgestoßen, und zwei junge Männer rannten ihn beinahe um. »Tschuldigung«, bellte ihn der eine an. Sie trugen einen massiven Balken über der Schulter. Den Gesichtern nach zu urteilen musste dieser sehr schwer sein. War dieser Beruf vielleicht doch nicht für ihn geeignet? Ludwig scheute schwere Arbeit. Er vergewisserte sich, dass der Weg frei war, und betrat die Werkstatt. Drei Männer unterschiedlichen Alters waren in ihre Arbeit vertieft. Einer, Ludwig vermutete, dass er schon Geselle war, arbeitete ein wunderbares Relief aus einer Schranktür. Der Stichel fuhr ruhig und gleichmäßig in das Holz. Mit einem Tuch wischte der Mann immer wieder die Späne ab und hielt kurz inne, um den Fortschritt seines Werkes zu betrachten. Ludwig war es, als sei das Bild am Leben, so detailgetreu waren die Figuren herausgearbeitet. »Suchst du jemanden?«, wurde er angesprochen. Ludwig riss sich von der Betrachtung des Reliefs los und wendete sich der Stimme zu. Ihm gegenüber stand ein Mann um die 40, dessen Gesicht die größte Nase verunzierte, die Ludwig jemals gesehen hatte. Ludwig nahm seine Mütze ab. »Ich heiße Ludwig Tessnow und möchte höflichst um eine Lehrstelle ersuchen«, sprudelte er die zurechtgelegten Worte hervor.

Der Mann musterte ihn kritisch. »Warum sollte ich einen Hänfling wie dich einstellen?«

»Ich mag Holz.«

»Ich nicht!«, tönte es aus der Ecke der Werkstatt. Die Männer lachten. Ludwig spürte, wie Hitze von den Ohren zum Hals kroch.

»Nichts für ungut«, fuhr der 40-Jährige fort, »aber Holz zu mögen reicht mir nicht.«

Ludwig fiel das Schiff ein, das er vor zwei Jahren gefertigt hatte. »Darf ich nochmals bei Ihnen vorsprechen und Ihnen zeigen, was ich gefertigt habe?«

»Ja, sicher, tu das. Schaden kann’s gewiss nicht.«

Am nächsten Tag sprach der Knollennasige anders. Er drehte Ludwigs Schiff in den Händen und murmelte: »Nicht schlecht, gar nicht schlecht für einen Ungelernten. Ich will dich wohl einstellen. Am ersten August fängst du an. Hand drauf.«

Kapitel 9