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Armin Öhri

Liechtenstein – Roman einer Nation

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © Baron Eduard von Falz-Fein – Amt für Kultur, Liechtensteinisches Landesarchiv

ISBN 978-3-8392-5208-6

Widmung

Für meine Muse

Leitsprüche

Es wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft, wer »in gehässiger Weise das Fürstentum Liechtenstein beschimpft oder verächtlich macht«.

Paragraf 248 des Liechtensteiner Strafgesetzbuchs

»Ich habe mir sagen lassen, die Liechtensteiner seien Weltmeister im Verdrängen. Politiker und Wirtschaftskapitäne, Zeitungsredakteure und Anwälte – unter allen finden sich alte Nazis, die sich mittlerweile den Anschein von Biederkeit geben und als aufrechte Demokraten auftreten. Man schweigt in diesem kleinen Lande und tritt niemandem auf die Füße.«

Armin Öhri, ›Die Entführung‹

»Wenn eine Kugel kommt, kommt sie von Hans-Adam.«

Heinrich Kieber, Datendieb

Liechtenstein ist »[e]ine fette Made, die von Scheiße lebt, aber nach außen hin weiß ist und glänzt.«

Michael Heinzel, Journalist

»[W]o immer es kracht und stinkt, sind Liechtensteiner mit von der Partie.«

Der Spiegel, Ausgabe 34/1976

»Ohne Fürst sind wir nichts!«

Klaus Wanger, Ex-Parlamentspräsident

»Wir sind nicht Entenhausen.«

Klaus Tschütscher, Ex-Regierungschef

»[I]n den vergangenen zweihundert Jahren haben wir immerhin schon drei Deutsche Reiche überlebt, und ich hoffe, wir werden auch noch ein viertes überleben.«

Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein.

»Liechtenstein ist zuallererst einmal ein Fliegenfurz auf der Landkarte.«

Mathias Ospelt, Kabarettist

»Dem Fürstendumm Scheißenstein und seinen Mafiadienern gilt all mein Hohn, Spott und tiefste Verachtung.«

Jürgen Hermann, mutmaßlicher Mörder des CEO der Bank Frick AG

»Für Gott, Fürst und Vaterland!«

Leitspruch des alljährlichen Staatsfeiertags an der Schlossmauer Vaduz

»Bevölkerungsexplosion in Liechtenstein, nachdem eine Frau Drillinge geboren hat!«

Schlagzeile der rumänischen Online-Satirezeitung ›Times New Roman‹

»Liechtenstein hat mehr beigetragen und größeren Einfluss, als der Größe des Landes entspricht. Darauf können Sie wirklich stolz sein.«

Ban Ki-moon, 8. UNO-Generalsekretär

»Sein Äußeres ist schmutzig, abgeschmackt, ungeschickt und bis zum Ekel schleppend.«

Landvogt Schuppler im Jahr 1815 über den typischen Liechtensteiner

Prolog – November 1947

23. November – Dass die Reaktionen der Delinquenten sich jedes Mal in so auffälliger Weise unterschieden, überraschte Oberst Malek immer wieder aufs Neue. Es gab jene, die zitterten und wimmerten, die sich mit aller Kraft sträubten und um sich schlugen, sodass man sie bändigen musste, manchmal mit Stricken oder brutaler Gewalt. Einige weinten gequält, voller Melancholie, oder sie schluchzten stoßweise. Andere blieben gelassen, als ob sie sich schon längst mit ihrem Schicksal versöhnt hätten.

Wann immer der Oberst in die Augen dieser Verurteilten blickte, konnte er jene unergründliche Ruhe ausmachen, die ihm, der ja überleben sollte, derart suspekt war, dass ihm stets ein unerklärlicher Schauder über den Rücken lief. Was aber diesen Arzt betraf, der in wenigen Minuten an der Reihe sein würde, so hatte sich Malek gezwungen gesehen, dem irren Toben mit dem Gewehrkolben ein Ende zu bereiten. Die Schreie waren unerträglich gewesen, doch das Wimmern, das auf den Schlag erfolgte, besserte die Lage auch nicht gerade. Der Oberst seufzte. Er griff in die Manteltasche, um ein Taschentuch hervorzuholen, mit dem er dem Mann die Schläfe abwischte. Zumindest dem Tod sollte dieser Verräter in die Augen sehen. Seine Knie waren eingesackt, nur noch die Fesseln an den Handgelenken hielten den Verurteilten aufrecht an dem Baumstamm, an den man ihn gebunden hatte.

»Polotskij, es dauert nicht mehr lange …«, warnte der Oberst, und der Angesprochene spuckte Blut, als er etwas erwidern wollte.

Malek trat zwei Schritte zurück, um dem Erschießungskommando Platz zu machen. Sein Blick schweifte kurz über die Umgebung. Das irisierende Licht des Himmels fiel ihm auf, welches ein nahendes Gewitter am Horizont ankündete. Die Luft war kühl geworden, schneidend, es war windig. Der Oberst schlug den Mantelkragen hoch. Der Waldrand, an dem sie sich befanden, wäre eigentlich schön gewesen, voller bezaubernder, anmutiger Details, wenn nicht das absurde Moment dieser Exekution die Atmosphäre vergiftet hätte.

Im Hintergrund hatten die Soldaten Aufstellung genommen. Malek gab die Schusslinie frei und stellte sich ein paar Meter entfernt hinter die Männer, die bereits ihre Gewehre anlegten. Er wollte noch einige Sekunden abwarten, bevor er den Feuerbefehl gab: Bei Verrätern war es ihm noch immer ein Anliegen gewesen, den Augenblick der Todesangst hinauszuzögern, zu dehnen, fast so lange, bis Wahnsinn die Männer ergriff. Dies war seine eigene, persönliche Art der Bestrafung. Er hob die Hand und zählte leise bis zehn. Als er sie sinken ließ, durchbrach der Lärm einer Gewehrsalve die Stille.

22. November – Das Zimmer des Untersuchungsgefängnisses war äußerst schäbig und erinnerte an die schmuddeligen Gelasse und Büros, über die zurzeit in den amerikanischen Hard-boiled-Krimis, die man für gutes Geld auf dem Schwarzmarkt erhielt, so oft geschrieben wurde. Dies jedenfalls war die erste Assoziation, die Oberst Malek in den Sinn kam, sobald er den Raum betrat, in welchem man den Verräter untergebracht hatte. Der Mann saß hinter einem Schreibtisch auf einem Stuhl, das Gesicht wirkte stoisch, die Hände zitterten leicht. »Darf ich etwas zu trinken haben?«, bat er höflich.

Malek überging geflissentlich die Frage.

»Sie sind Arzt?«, begann er das Verhör.

»Ich habe nichts Unrechtes getan«, entgegnete der Mann ruhig und beherrscht. »Was werfen Sie mir eigentlich vor?«

»Sind Sie Arzt?«, wiederholte der Oberst gereizt.

»Und wenn ich einer wäre …?«

Malek atmete tief durch. »Sie sind dem Aufruf zur Repatriierung gefolgt, Herr Polotskij, sehe ich das richtig?«

Der Mann auf dem Stuhl musterte ihn scharf. Malek führte sich das Bild vor Augen, das er von diesem Unbekannten hatte, als er die Beschreibung des Militärgeheimdienstes las. Die Angaben stimmten alle überein: Größe und Statur, Haarfarbe und Augenfarbe.

»Ja, ich bin Arzt«, kam schließlich zögerlich die Antwort.

»Sie standen in Kontakt zu Holmston-Smyslowskij?«

»Zu wem?«

Malek musste sich beherrschen. Diese Verhöre waren stets gleichermaßen ermüdend und eintönig und liefen mit einer irritierenden Gesetzmäßigkeit ab, die schon fast beängstigend war.

»Holmston«, wiederholte er scharf.

Jetzt schüttelte der Mann den Kopf.

»Holmston«, bekräftigte der Oberst mit scharfer Stimme. »Holmston-Smyslowskij, Boris Holmston. Oder besser gesagt: General Holmston.«

»Ich kenne keinen Mann dieses Namens.«

»Sie waren in der Russischen Nationalarmee«, stellte Malek energisch in den Raum.

»Nein«, entfuhr es dem Mann. »Ich kenne keinen General und war auch in keiner Nationalarmee.«

»Wo waren Sie im April 1945?«

»Irgendwo vor Berlin, später dann direkt in der Stadt.«

»Blödsinn! Sie waren in Nürnberg und Eschenbach und was weiß ich noch wo …«

»Himmel noch mal! Ich war in Berlin! Wie oft soll ich es noch sagen?«

Malek stand auf, ging um den Tisch herum und schlug seinem Gegenüber mit der offenen Handfläche ins Gesicht. Die Aktion erfolgte so überraschend und mit einer derart unerwarteten Heftigkeit, dass der Stuhl nach hinten kippte. Der Oberst stellte den Fuß auf den Brustkorb des Mannes, beugte sich nach unten und meinte mit einer leisen und kalten Gelassenheit: »Fangen wir also noch einmal von vorne an: Sie besitzen ein Dokument, das von der liechtensteinischen Regierung ausgestellt wurde?«

Schwer atmend nickte der Mann.

»Sie sind also Grigorij Polotskij, Arzt der Russischen Nationalarmee«, konstatierte der Beamte zufrieden.

»Nein, zum Teufel! Dieser Zettel gehört doch gar nicht mir! Den habe ich am Zoll gestohlen.«

Malek lachte auf. Die absurden Einfälle, die manche der Rückreisenden hatten, waren doch zu köstlich! Dieses Mal holte er mit dem Schuh aus, und ein lang anhaltender Schrei kündete vom Brechen zweier Rippen. Die Befragung sollte doch noch einfach werden …

21. November – Die Menge an Rückreisewilligen war in den letzten Monaten beinahe unüberschaubar gewesen. Manche saßen in Gruppen beisammen, meist waren es ganze Familien oder zumindest die überlebenden Teile von Familien, andere hockten in einer Ecke auf dem Boden und versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Die wenigen Bänke des Wartesaals waren von den Schnellsten und Stärksten in Beschlag genommen worden, sodass Schwangere und ältere Leute das Nachsehen hatten. Im ganzen Trubel gingen auch die vielen Diebe unter, die hier Pässe und Dokumente stahlen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Doch Woche für Woche hatte der Flüchtlingsstrom abgenommen, Tag für Tag wurden es weniger, die den Zoll passierten, und bald sollte sich die Lage normalisieren.

Oberst Malek schritt eine der Reihen ab. Mit eintöniger Routine hielt er den Leuten einen schäbigen speckigen Kartonbehälter hin, um die Reisedokumente einzusammeln. Nachdem sich ungefähr 30 Pässe, amtliche Zettel und Bescheinigungen in der Schachtel befanden, zog er sich in seine Kabine zurück, wo er die Unterlagen kontrollierte. Wie immer war er froh, durch das Schließen der Tür den Lärm hinter sich zu lassen, und er leerte den Inhalt der Schachtel gelangweilt auf den Tisch. Er griff nach dem ersten Dokument, überprüfte Datum und Stempel, verglich den Eintrag mit den Registrierungen seiner Behörde und legte ihn dann beiseite. Alles war so mechanisch, so eingeübt … Malek gähnte.

Zehn Minuten später war er hellwach.

Er nahm den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer und war für fünf Minuten äußerst konzentriert und angespannt in ein Gespräch vertieft. Als er den Hörer wieder auf die Gabel legte, atmete er erst einmal tief durch. Sein Blick wanderte über das Dokument, das vor ihm lag, und immer wieder las er den einen Namen, der da stand: Polotskij, Grigorij.

20. November – Das Warten hatte an ihren Nerven gezerrt. Jeder Muskel, jede Sehne am Körper war zu spüren. Die Sitze waren unbequem, hart und ohne Lehnen. Wilhelm Anton Risch, im Krieg unter dem Decknamen Polotskij bekannt, streichelte die Hand seiner Geliebten, während seine Augen unablässig durch den Raum streiften.

»Da drüben steht er«, flüsterte er. »Schon gestern fiel er mir auf. Er versuchte dreimal, einen Pass zu klauen. Ohne Erfolg.«

Seine Begleiterin schaute in die angegebene Richtung. »Der Mann im grauen Mantel?«, fragte Sylvia.

»Ja. Gib jetzt gut acht, was geschehen wird.«

Sie beobachteten den Fremden, der den Blick gesenkt hielt, während er durch die Sitzreihen schlenderte. Kurz vor dem abgesperrten Teil, welcher der Zollkommission vorbehalten war, machte er kehrt. Nach einigen Schritten blieb er stehen, um sich mit einem dreckigen Taschentuch die Nase zu schnäuzen.

»Er hat die richtige Größe«, überlegte Sylvia.

»Und meine Haarfarbe«, bemerkte Risch.

»Ich habe Angst«, sagte sie leise.

»Es wird nicht schiefgehen.«

»Darüber mache ich mir keine Sorgen«, meinte sie. »Aber es ist einfach nicht rechtens. Sie werden ihn vielleicht umbringen.«

»Sei still«, brummte er nur, und sie schwieg.

Der Mann war noch drei Reihen von ihnen entfernt. Wilhelm Anton Risch griff in seine Tasche und zog den Reisepass hervor, der auf seinen Decknamen ausgestellt war, und legte ihn gut sichtbar auf seinen Schoß. Seine Begleiterin stieß er leicht an, damit sie sich an ihn lehnte und die Augen schloss. Risch legte den Kopf schräg, öffnete leicht den Mund und gab ein paar verhaltene Schnarchgeräusche von sich.

Fast nichts war zu spüren, als der Fremde seinen Pass stahl.

Risch gab sich noch zwei Minuten, ehe er die Augen öffnete. Der Dieb war verschwunden. Der Bestohlene stupste seine Geliebte an. »Es hat geklappt«, meinte er. »Schon bald wird ein Mann namens Grigorij Polotskij die Grenze zur Sowjetunion übertreten und als Verräter verhaftet werden.«

»Es ist nicht richtig«, murmelte Sylvia, die den unglücklichen Dieb bedauerte, »es ist einfach nicht richtig.« Dennoch huschte der leichte Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht, als sie sich ihre Zukunft ausmalte, eine Zukunft in der Heimat, unbeschwert und unter neuem Namen.

Notfall – 3. September 1993

Hier endet meine Geschichte. Sie endet dunkel und verschwommen und sie mündet in eine sich nur langsam lichtende Finsternis. Unweigerlich frage ich mich, wie sie wohl begonnen hat …

Alles, was ich über den 3. September 1993 zu berichten weiß, liegt in meinem Gedächtnis wie ein schemenhaftes Bild vor mir. Wenn meine Gedanken zu jenem Tag zurückschweifen, leuchten blitzlichtartig Erinnerungsfetzen auf, die sich stroboskopisch in meine Netzhaut gebrannt haben. Ich vermag den Ablauf der damaligen Geschehnisse zeitlich nicht mehr einwandfrei einzuordnen. Sie erscheinen mir verlangsamt, teilweise in falscher Reihenfolge. Manchmal schiebt sich eine Geräuschkulisse vor eine andere, die eigentlich die richtige wäre, und oft verschwimmen die dazugehörenden Bilder wie die Farben eines soeben fertiggestellten Porträts, das man unter Wasser taucht.

Ich sehe mich auf einer Krankentrage. Regungslos. Benommen. Angeschnallt in einem dieser auffälligen rot-weißen Rettungswagen des Schweizer Sanitätsnotrufs. Neben mir sitzt ein Notarzt, links ein Mann in Zivil, dessen Körpergröße aus meiner horizontalen Lage heraus schwer einzuschätzen ist. Dennoch vermute ich, dass er mindestens 1,90 Meter misst. Obwohl ich weiß, dass meine Perspektive nicht stimmt, auf keinen Fall richtig sein kann, sehe ich mich von außen, durch die Augen einer inexistenten Person, die das Geschehen neutral beobachtet. Hinter dem Unbekannten erahne ich in dem schwarzen quadratischen Klotz einen Defibrillator mit EKG-Funktion. Ich sehe die unterschiedlichen Beatmungsgeräte, den Medikamentenschrank, den Behälter mit den Einweghandschuhen. Und schon sinke ich wieder in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Das Heulen des Martinshorns bringt mich zurück in die Wirklichkeit. Der Wagen beschleunigt, schert aus, überholt die Autos, die auf der A13 Richtung St. Gallen unterwegs sind und nun nach rechts auf den Pannenstreifen ausweichen, um uns vorbeizulassen, angestrahlt vom kalten Leuchten der Blaulichtbalken unseres Fahrzeugs.

»Er wacht auf«, stellt der Notarzt nüchtern fest.

»Weißt du jetzt, wer ich bin?«, fragt der Mann neben ihm. Sein schmales Gesicht wirkt besorgt, hilflos. »Kennst du mich nicht?« Und auf einmal versucht er es auf Französisch: »Tu te souviens de moi? Est-ce que tu sais qui je suis?«

»Non, monsieur, je n’en ai aucune idée.«

Ich schüttle den Kopf, betrachte die Infusionsschläuche an meinen Armen und rüttle an meinen Gurten. Sie halten. Auch die an den Beinen. Die Männer tauschen wortlos Blicke. Panik erfüllt mich, das vorherrschende Gefühl ist eine tief im Unterbewussten liegende archaische Angst. Ich beuge mich nach hinten, als ich mit dem Mund Luft einsauge, und dann nach vorn, wenn ich durch Nase und Mund ausatme. Meine Lippen flattern, und dem nicht existierenden Beobachter dieser Szene fällt neben der Schnappatmung auch meine violett angelaufene Haut auf: Zyanose an Fingerspitzen, Ober- und Unterlippen.

Und schon kommt es wieder – das Stroboskoplicht.

Dunkelheit.

Licht.

Dunkelheit.

Dann die Geräusche der Notaufnahme: das kratzende Rollen der Fahrtrage auf dem Krankenhausboden, das Öffnen einer automatischen Schiebetür, das Anbringen der Klettmanschette eines Blutdruckmessers. Natürlich auch die Befehle des diensthabenden Oberarztes. Puls, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung. Mein Augenlid wird hochgeschoben, der Pupillenreflex getestet.

Schließlich die Lumbalpunktion …

Ich nehme die Seitenlage ein, meine Beine sind angewinkelt wie in der Embryonalstellung. Kräftige Arme umschließen meine Oberschenkel, ein Körper lastet mit seinem ganzen Gewicht auf mir, packt meine Hände. Ellenbogen und Knie berühren sich, und ich bin unfähig mich zu bewegen. So gebeugt, ähneln die Dornfortsätze meiner Wirbelsäule den hoch aufragenden Berggipfeln einer Miniaturlandschaft. Ein kühler Sprühnebel aus einem Desinfektionsspray lässt mich die Punktionsstelle erahnen.

»Keine Anästhesie?«, vernehme ich eine Stimme.

»Nein.«

Eine lakonische Antwort.

Im unteren Rückenbereich fährt die Nadel zwischen die Lendenwirbel. Eine langsame Prozedur. In ihrer Bedächtigkeit äußerst schmerzhaft für einen Patienten, der sich wehrt, sich krümmt. Ich schreie, versuche auszuschlagen, ich weiß noch immer nicht, wo ich mich befinde.

Warum bin ich hier?

Die Tränen verwässern mir die Sicht, als die Nadel tiefer eindringt und die Nervenflüssigkeit aus meinem Körper nach außen tropft.

Was machen diese Menschen mit mir?

Stroboskop.

Ich öffne die Augen, man schiebt mich in einen Krankenhausflur.

Dunkelheit.

Neben mir am Krankenbett sitzt der Fremde aus dem Rettungswagen.

»Kennst du mich?«

Ich schüttle den Kopf.

»Ich bin’s. Papa.«

Die hellblaue Zimmerdecke über mir hätte einen neuen Anstrich nötig. So absurd es klingt, das ist das Erste, was mir durch den Kopf geht. Ich wende mich ab, schließe die Augen. Wo bin ich? Warum bin ich hier? Was wollen diese Leute von mir? Mein Papa? Wer soll das sein? Schließlich die letzte Frage, die wichtigste und in ihrer Schlichtheit schockierendste: Wer, zum Teufel, bin ich überhaupt?

Bestandsaufnahme – Februar 2014

Dreimal ist bisher das Grauen in die wohlgehütete Ordnung meines Lebens eingebrochen. Einmal, es war im Sommer 1999, als ich durch die Länder des ehemaligen Jugoslawiens trampte, schoss ein alter Bauer auf mich. Er sah mich an seinem einsam liegenden Hof vorbeiwandern, hob ohne Umschweife ein Jagdgewehr und drückte ab. Die Kugel fuhr vor mir in den staubigen Boden, Kiessplitter wirbelten auf. Das Echo des Schusses hallte lange nach. Ich hob die Hände, und nach vielerlei Erklärungen, dass ich weder ein Tschetnik noch ein ehemaliges Mitglied der JNA sei – mein Pass überzeugte den Bauern letztendlich, dass ich viel zu jung dazu war –, schlossen wir Brüderschaft. Josip tischte mir Pflaumen und Äpfel auf, servierte hausgemachte slawonische Räucherwurst und Mortadella mit Oliven.

Ein weiteres Erlebnis, das meinen Alltag durcheinanderbrachte, geschah noch zu Studienzeiten. Nach einer Ferienwoche, die ich zu Hause bei meinen Eltern verbracht hatte, fand ich die Tür zu meiner Wohngemeinschaft offen vor. Drei Beamte der Berner Stadtpolizei erwarteten mich im Flur, wo sie mich über den Verbleib meines Mitbewohners Walter ausfragten.

»Vermutlich bei seiner Freundin.«

Ich konnte keine exakte Antwort geben, und die Polizisten gaben sich äußerst bedeckt, was den Grund ihrer Ermittlungen anbelangte. Doch dass Walter verschwunden war und seit einigen Tagen polizeilich gesucht wurde, ließ sich zwischen den Zeilen herauslesen. Als sie gingen, nahmen sie alle Zahnbürsten mit. Das war Erklärung genug, dass die Geschichte wohl nicht gut ausgehen würde.

Zwölf Tage später fand man Walters Leiche.

Seine Freundin, Sekretärin beim Inselspital, gab nach einem mehrstündigen Verhör zu Protokoll, sie sehe sich selbst, wie sie eine schwere Last aus jenem Haus trage, in welchem sie mit ihrem Vater wohne. Sie sehe sich selbst, wie sie ein Loch beim Pferdegestüt schaufle. Sie sehe sich selbst, wie sie etwas mit Benzin überschütte und anzünde. Laut den Erkenntnissen der Gerichtsmedizin muss Walter gezielt niedergestreckt worden sein: zwei aufgesetzte Revolverschüsse, einen in den Rücken, einen in den Hinterkopf. Danach wurde er in einem Erdloch verbrannt und verscharrt. Später sprachen die Medien von einem Beziehungsdelikt, die Täterin wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Im letzten Beispiel meiner Aufzählung – chronologisch gesehen jedoch im ersten – stehe wiederum ich im Mittelpunkt. Als Schriftsteller, der vorwiegend historische Romane schreibt, weiß ich um die Momente und Phasen, in denen einen der Glaube an das eigene Medium oder das eigene Schaffen verlässt. Was Julius Bentheim, der Protagonist meiner Berlin-Krimis, erlebt oder was ihm angetan wird, mag noch zu spannender und unterhaltsamer Lektüre herhalten, denn er ist erfunden, eine Kunstfigur, mit der ich meiner Leserschaft bieten kann, wonach sie verlangt. Aber ich selbst? Kann ich mich zum Helden des vorliegenden Berichts aufschwingen, ohne den Fabuliergeist zu beschwören, der aus Tatsachen Märchen entstehen lässt? Bemüht man Tschechow als Richter in dieser Angelegenheit, so ist das Verdikt klar: Das geht nicht! Der russische Dichter hasste nämlich Biografien …

Dennoch will ich es versuchen. Wenn auch der Mensch Armin Öhri wenig interessant ist und hinter den farbenfrohen Viten seiner Romanhelden zurücksteht, vermag vielleicht seine Krankheitsgeschichte zu fesseln. Aber sind diese Seiten eigentlich für die Öffentlichkeit bestimmt? Zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift bin ich mir darüber noch im Unklaren, und so schreibe ich meine lose Assoziationsfolge einfach weiter.

Irgendwann in der Nacht vom 2. auf den 3. September 1993 erlitt ich eine Hirnblutung, die mich für mehrere Stunden in einen komatösen Zustand fallen ließ. Ich war 15 Jahre, elf Monate und ein paar Tage alt, weshalb der Rettungswagen das Kinderspital St. Gallen anfuhr, statt mich in der Erwachsenenabteilung des Kantonsspitals unterzubringen, das auf meinen Fall womöglich besser vorbereitet gewesen wäre. Ich konstatiere dies nur als Fakt, ohne Missmut oder Bitterkeit. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob mein Leben eine andere Wendung genommen hätte, wäre ich in besseren Händen gelandet.

Tatsache ist, dass meine Ärzte überfordert waren. Wenn ich Rückschau halte, treten mir Dinge vor Augen, die man heutzutage als undenkbar bezeichnen würde. Das vorherrschende Bild aus jener Zeit ist jenes eines verängstigten Teenagers. Sobald die Krämpfe in meinen Extremitäten einsetzten – beginnend mit den Beinen, dann übergreifend auf die Finger, schließlich auf die ganzen Arme – wurde ich stets von den Krankenschwestern mit Riemen an die Gestelle des Spitalbetts gefesselt.

»Wir tun dies, damit du dich nicht verletzt«, sagt eine von ihnen, die ich Schwester Vera nennen will. Ihr routinierter Blick soll wohl so etwas wie Fürsorge ausdrücken. Das Bett rasselt, meine Arme schlingern unkontrolliert hin und her. Untergebracht in einem Sechserzimmer, bestaunen mich die restlichen Kinder mit unverhohlener Neugier. Eines von ihnen beginnt zu weinen, ein anderes klammert sich an seinem Teddy fest.

»Los geht’s«, meint Schwester Vera voller Elan, als sie das Klinikbett auf den Stationsflur schiebt. Jedes Mal dieselbe Prozedur. Ziel der täglichen Ausfahrt ist die Abstellkammer der Putzequipe. Dort werde ich – die Beine voran – in den engen Schlund hineingeschoben. Patientenseitig links ist der sogenannte Bettseitenteil angebracht, der verhindert, dass ich aus dem Bett falle. Rechts erkenne ich mehrere Abstellflächen für Reinigungsmittel. In wilder Unordnung stapeln sich Schwämme, Flaschen mit Lösungsmitteln und Seifenlauge, Desinfektionssprays und Duftstoffe. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss, und ich bin allein.

Der Mittelfinger meiner Linken zittert, ich friere, da meine Decke verrutscht ist, bin schweißgebadet. Und völlig unerwartet schaltet sich das automatische Licht ab, sodass ich im Dunkeln liege. Hin und wieder geht die Tür auf. Fremdländisch aussehendes Putzpersonal beugt sich über mein Bett, hantiert mit Reinigungsmaterial herum und geht grußlos. Vor allem wenn die Besuchszeiten vorüber oder noch nicht angebrochen sind, werde ich auf diese Weise von den Schwestern und Pflegern versorgt – aus den Augen, aus dem Sinn. Die Ärzteschaft billigt dies ausdrücklich, und als meine Mutter mich nicht erwartungsgemäß im Zimmer auffindet, sondern zur Abstellkammer geleitet wird, reagiert sie empört.

Wer auch immer eine Tochter, einen Sohn hat, kann ihre Reaktion verstehen, sogar nachfühlen. Auch ich – inzwischen Vater eines kleinen Kindes – verspüre eine gewisse Unruhe, die mich packt, sobald ich recherchiere, was diesem 15-jährigen Jungen vor mehr als zwei Jahrzehnten widerfahren ist. Auf dem Bürotisch liegt ein riesiger Stapel Papier vor dem Computerbildschirm: meine Patientenakte. Bereits der erste Brief, geschrieben im abgehackten Ton der Mediziner, lässt meinen Atem rasen, wenn ich die Ereignisse von damals Revue passieren lasse: »Schwächesensationen in den Beinen, Zittern in den unteren Extremitäten. Patient zuckend und bewusstlos aufgefunden. Seither blieb er 24 Stunden bis zum nächsten Nachmittag nicht ansprechbar. Komatös. Das Zucken ließ bis zum Abend nach. Dann erneutes Zucken mit hüpfenden Bewegungen aus den Schultern, röchelndes Geräusch, Abklingen der Symptomatik bis 21.00 Uhr.«

Und an einer weiteren Stelle: »Zunehmendes Zucken mit verstärkter Intensität. Redet schwach, erkennt nichts, fragt, wer er sei. Auf der Fahrt ins Kinderspital St. Gallen mit der Ambulanz fragt der Jugendliche nach Namen und Begriffen, die ihm geläufig sein sollten. Er kann französisch sprechen und gibt auf die gestellten Fragen des Vaters auf Französisch Antwort.«

Je weiter ich vordringe, je mehr Blätter ich durchstöbere, desto klammer wird das Gefühl, das meine Herzgegend einengt. Die Vergangenheit scheint ein zäher Hund zu sein. Irgendwie hat sie es letzten Endes doch geschafft, sich an mir festzubeißen. Egal wie stark ich schüttle, sie lässt nicht los.

»Neurologie: Patient wirkt bedrückt, verunsichert, hat einen starren Blick, eine Hypomimie, nimmt die Umgebung kaum wahr, ist in sich gekehrt. Kennt seinen Namen nur, weil es ihm der Vater vorher erzählt hat, weiß nicht, wo er wohnt, ist örtlich und zeitlich nicht orientiert. Muskeltonus und Muskelkraft inzwischen regelrecht. Reflexe beidseitig symmetrisch. Kardiopulmonal: rhythmische normokarde Herzaktion, Vesikuläratmen über allen Lungenfeldern. Abdomen: weiches, indolentes Abdomen ohne Organomegalie. Urogenitale: bewusst nicht untersucht. Bewegungsapparat: wohlgestaltetes Skelett.«

Wenigstens das!, denke ich. Eine Augenweide für zukünftige Archäologen.

Und schließlich – der Befund.

»Patient wurde wegen einem akuten Apoplex mit anhaltendem Ausfall großer Bereiche des Zentralnervensystems sowie anschließender akuter retrograder Amnesie eingewiesen. Initial kannte Armin weder seinen Namen noch wusste er, wo er wohnt, noch kannte er seine Familienangehörigen. Während seiner Hospitalisation wirkt der Knabe depressiv kontrolliert und verunsichert.«

Das menschliche Hirn besteht laut medizinischer Standardwerke aus rund 100 Milliarden Nervenzellen. Jene Zellen, die diese Neuronen stützen und in Gang halten, die sogenannten Gliazellen, überwiegen dabei jedoch um das Zehnfache. Zentrum für unsere geistigen und seelischen Fähigkeiten ist das Großhirn, jener gefaltete, aus zwei Hemisphären bestehende Teil, der die übrigen Hirnregionen wie ein verrutschter Teppich überwölbt. In diesem Mikrokosmos aus Abermillionen von Neurotransmittern, Synapsen und plasmatischen Zellfortsätzen hatte im Sommer ’93 irgendwo zwischen Frontal- und Temporallappen ein einziges kleines Blutgefäß beschlossen, seinen eintönigen Dienst zu quittieren.

Wird die Durchblutung eingeschränkt oder unterbrochen, sinkt die Energiezufuhr ab und die Hirnzellen stellen ihre aktiven Funktionen ein – zunächst noch reversibel, bald jedoch endgültig. Bei mir betraf es jene Regionen, die für das deklarative Gedächtnis zuständig sind. Mein gesamtes Weltwissen, also die von mir unabhängigen allgemeinen Fakten des Lebens, war noch vorhanden. Ich konnte aus dem Stand mehrere Filme mit Montgomery Clift aufzählen. Ich wusste, dass der Wiener Schneidermeister Josef Madersperger als Erfinder der Nähmaschine gilt. Und im Schulunterricht hatte ich irgendwann aufgeschnappt, dass Bertrand Russell anscheinend Probleme damit gehabt hatte, wer denn nun wirklich der Autor von ›Waverley‹ sei … Ich konnte genau erklären, wie es in einem Haus drinnen aussah, welche Bilder dort an den Wänden hingen, wo man in die Stube oder in die Küche abzweigte, wie viele Zimmer es gab und wie sie eingerichtet waren. Aber ich wusste nicht, wer in dem Haus wohnte oder warum ich früher dort auf Besuch gewesen war.

Mein gesamtes episodisch-autobiografisches Gedächtnis war ausgelöscht, zudem waren die Nervenbahnen meiner Unterarme noch über Jahre hinweg gestört, sodass ich Hitze, Kälte und Schmerzen nicht mehr wahrnahm. Immer wieder testete ich aus, ob das Gefühl endlich zurückkehrte. Mit einem Feuerzeug fuhr ich vom Finger über die Handfläche bis hin zum Ellbogen. Die Flamme züngelte über die Haut, verbrannte die feinen Härchen. Ich zählte die Sekunden. Auch bei 20 spürte ich noch nichts. Keine Tränen in den Augen, bloß mein Verstand sagte mir, ich müsse endlich aufhören, bevor die Haut beginne, Blasen zu bilden.

Schritte ins neue Leben – 1993

Die Zeit nach meiner Entlassung aus dem Kinderspital St. Gallen lässt mich mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Nachbarn, Freunde, alte Bekannte – sie alle waren mir über Nacht fremd geworden. Für mich waren sie Menschen, die ich noch nie gesehen hatte. Ein kurzer Gruß da, ein Zunicken dort, und ich fragte mich, ob die Person mich kannte oder bloß freundlich war. Vor allem das Postautofahren – wenn ich nach Vaduz zum Jugendpsychologischen Dienst in die Therapie musste – wurde zum Spießrutenlauf. Während die gelben PTT-Busse zwischen dem Hauptort und Schaan im Feierabendstau steckten, vermeinte ich immer wieder, die Blicke von Fremden auf mir zu spüren. Verstohlen sahen sie sich nach mir um, begannen zu tuscheln.

»Ja, das ist er.«

Eine alte Frau aus meinem Heimatdorf zeigte auf mich: ’s Cläudile vo Ruggäll, die Besitzerin eines unverwüstlichen Tante-Emma-Ladens, die es irgendwie geschafft hatte, sich jahrzehntelang zwischen abgelaufenen Kaugummis, Damenstrümpfen und Zigarettenschachteln über Wasser zu halten. Ihr Geschäft besaß kein Konzept und war nichts als eine unsortierte Wühltruhe. Wenn sie wieder einmal ihre Brille verlegt hatte und die Schuljungen vertrauensselig nach den Schildern an den Produkten fragte, nannten diese einen viel zu niedrigen Preis, den ’s Cläudile ohne mit der Wimper zu zucken in ihre alte Registrierkasse einhämmerte.

»Das ist er«, meinte sie.

»Wirklich?«

»Wenn ich es dir doch sage.«

»Er sieht aber auch wirklich mitgenommen aus.«

Und das war ich auch. Dieser Jugendliche ohne Erinnerung war es müde, sich immer wieder aufs Neue rechtfertigen zu müssen, falls er jemanden nicht erkannte oder falls er so unanständig war, einen nicht zu grüßen. In der Folge igelte er sich immer mehr ein, wurde wortkarg und abweisend, schließlich sogar zynisch. Eine rasche Beleidigung ersparte ein langes, wahrscheinlich mühsam verlaufendes Gespräch. Es ist nicht leicht, sich immer erklären und gleichzeitig verteidigen zu müssen.

Die ersten Wochen daheim verbrachte ich vor dem TV-Gerät oder mit einem Buch in der Hand. Ich wollte abschalten, nichts mehr von meiner Umgebung hören, und das ging am besten, indem ich mich in andere Welten stürzte. Die Fiktion ersetzte mir das echte Leben, half mir, Gefühle und ungeschriebene Gesetze der menschlichen Kommunikation zu verstehen und wieder neu zu erlernen. Denn nebst meiner verschwundenen Biografie klaffte bei mir auch dort, wo im menschlichen Gehirn die Regionen für Emotion und Bewusstsein lokalisierbar sind, ein gewaltiges Loch. Was ist witzig? Was nicht? Wann macht man den Mund auf und wann schweigt man besser?

»Findest du, ich sei zu dick?«

»Ja.«

Ich fühlte mich verloren im Dschungel des Alltags. Fallstricke und Gruben, wohin man auch schaute. Hollywood und die Literatur halfen mir, die Natur der menschlichen Interaktion wenn schon nicht zu verstehen, so doch nachzuahmen. Während ich mich von Tag zu Tag hangelte und versuchte, die Stunden bis zum Einschlafen zu überstehen, genoss ich paradoxerweise die Epoche, in die es mich verschlagen hatte. Vor dem Hintergrund der globalen Paranoia, die durch die Anschläge auf das World Trade Center ausgelöst wurden, erscheinen mir die 1990er-Jahre im Gegensatz als buntes und ausgelassenes Jahrzehnt.

Mit verschränkten Armen, die Schläfe an die Scheibe gelehnt, saß ich auf dem Rücksitz des elterlichen Toyota, als Mama und Papa mich vom Spital nach Hause fuhren. Wir alle schwiegen und hingen unseren Gedanken nach. Die Stadt war mit Werbeplakaten von Spielbergs ›Jurassic Park‹ zugeklebt. Auch sonst herrschte die Dinomania: Plüschbrontosaurier hier, Spielzeug-Stegosaurier dort, hin und wieder ein brüllender T-Rex mit weit aufgerissenem Rachen. Aus dem Autoradio dröhnte unterdessen Axl Roses unverkennbare blecherne Stimme, gefolgt von Kurt Cobains beschwörendem Singsang: »No, I don’t have a gun«, von dem wir mittlerweile wissen, dass es gelogen war, seit er sich sein Hirn mit einer Browning an die Wand spritzte. Melodischer Hardrock war in, Grunge war in, aber auch Girl-Groups und Boy-Groups waren in. Und alle waren traurig darüber, dass es nun mit Robbie unweigerlich bergab gehen würde, nun da er Take That im Streit verlassen hatte. Außerdem breiteten sich Techno, Dancefloor und deutscher Hip-Hop aus. Die Musikwelt bestand aus einem Sammelsurium der unterschiedlichsten Stile und Richtungen, und auch in den Kinos herrschte purer Eskapismus, bedingt durch den Siegeszug der digitalen Spezialeffekte, die den Zuschauer in zuvor noch nie darstellbare Welten versetzten. Flüssiges Metall wurde mittels Morphing zu einem Terminator, Außerirdische sprengten das Weiße Haus in die Luft und die Titanic schipperte fotorealistisch über das Zelluloid. Im letzten Jahr dieser Dekade, quasi als krönender Abschluss, folgte die unerreichte Stilsicherheit der Matrix. Und niemand wäre auf die abwegige Idee gekommen, dass man Mel Gibson oder Tom Cruise einmal unsympathisch finden könne.

Wir alle sahen sorgenlos in die Zukunft. Dies auch deshalb, weil der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama – in einer gänzlich falschen Auslegung von Hegels Geschichtsphilosophie – das »Ende der Geschichte« verkündete. Die Sowjetunion war besiegt, die USA hatten im Golfkrieg ihre militärische Überlegenheit bewiesen und gezeigt, dass sich Demokratie und Marktwirtschaft auch in den entlegensten Ecken der Welt durchsetzen würden. Und tatsächlich war, so absurd es aus heutiger Sicht auch klingen mag, eine der weltbewegenden Fragen nicht die nach einer neuen Weltordnung oder die nach der Überwindung von Hunger und Armut, sondern jene nach dem präsidialen Blowjob: Hatte Bill Clinton gelogen, als er sagte, er habe »keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau, Miss Lewinsky« unterhalten? Das weitaus Befremdlichste an der ganzen Affäre war meiner Meinung nach jedoch der Umstand, dass Lewinsky über Wochen hinweg ihr mit dem Ejakulat des Präsidenten beflecktes Kleid nicht in die Wäsche gegeben hatte … 

Und dann dieser gewaltige Schub an technischer Innovation! Die Dotcom-Blase folgte erst um die Jahrtausendwende, und bis dahin wurden Unternehmen mit spektakulären Börsenzahlen dotiert. ›New Economy‹ war das Schlagwort der Stunde. Internet und Mobiltelefone wurden etabliert, wir richteten unsere ersten E-Mail-Konten ein, begannen zu chatten, zu surfen, kommunizierten immer mehr online. Während 1993 lediglich geschätzte drei Prozent der weltweiten Speicherkapazität für Informationen bereits digital waren, schaffte es die Menschheit neun Jahre später, erstmals mehr Daten im digitalen Format als im analogen zu speichern. Wir lebten mitten in der postmodernen Informationsgesellschaft, wurden derart von Wissen, Daten, Zahlen und Fakten überflutet, dass wir im Technikrausch bedenkenlos übersahen, wie wir damit umzugehen hatten.

Ja, die 90er!

Ich genoss sie über alle Maßen.

Mit jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat, die vergingen, verdrängte ich meinen Hirnschlag und fasste allmählich Fuß in der Gegenwart. Was geschehen war, lag immer weiter zurück, und die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden …

Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich mir des wirren Aufbaus meines Textes durchaus bewusst. Folgten meine historischen Kriminalromane noch durchgehend einer mehr oder minder linearen Chronologie, so bringe ich die Ordnung dieser Erzählung durcheinander, was mitunter wohl das Chaos in meinem Kopf widerspiegelt. Ich stauche die Zeit, dehne sie nach Belieben, stelle die Abfolge der Ereignisse um. Rückwendung und Vorausdeutung. Analepse und Prolepse. Szene, Raffung, Ellipse und Pause. Doch eine Treppe, die aufwärts führt, lässt sich auch abwärts begehen, und so hüpfen meine Gedanken hin und her, während ich meine Dokumente durchwühle und gedanklich in meine Jugend zurück schweife.

Von meinem ersten Schultag nach dem Infarkt ist mir vor allem eine Szene im Gedächtnis geblieben. Damit ich den Fragen und Nachstellungen meiner Schulkameraden aus dem Weg gehen konnte, brachte mich meine Mutter mit dem Auto ins Gymnasium Vaduz. Die Schulbusse aus Unter- und Oberland zirkelten bereits wieder aus dem Parkplatz, während Horden von pickligen Teenagern die Stufen zum Haupteingang hinaufschwärmten. Dort, bei dem Nadelöhr, das nach wie vor aus zwei zweiflügligen Glastüren mit schwarzer Metalleinfassung besteht, staute sich erwartungsgemäß der ganze Pulk. Nacheinander drängelten die Schüler in den engen Schlund.

»Soll ich mitkommen?«, meinte Mama fürsorglich.

Himmel, nein! Ich will doch nicht als Muttersöhnchen vor allen dastehen.

»Ist schon okay. Musst du nicht.«

»Aber du kennst den Weg nicht.«

»Faktuales Gedächtnis, Mama. Ich weiß, wo mein Klassenzimmer liegt.«

So stieg ich aus, winkte ihr und umging die Ansammlung an Schülern, indem ich rechts von der Treppe ebenerdig in den dunklen Zugang einbog, der zu den Fahrradständern führte. Einmal nach links, dann gleich nach rechts, schließlich geradeaus, hinein in den Trakt mit den Räumlichkeiten der Realschule Vaduz. Von dort zum Treppenhaus in die oberen Stockwerke. Ab hier ließ es sich nicht mehr umgehen, womöglich auf bekannte Gesichter zu stoßen. Oder auch auf unbekannte Gesichter – wie man’s nimmt.

Der Strom an Gymnasiasten riss mich mit sich, sobald ich den ersten Stock erreicht hatte: lärmende, kreischende Erstklässler, alle einen Kopf kleiner als ich. Weltklug und sophisticated auftretende Achtklässler, die neun Monate vor der Matura standen. Mittendrin der Rest, eine Melange aus Oberstüflern und Unterstüflern, ein Knäuel aus unterschiedlichsten Modestilen und Weltbildern. Es gab die Eleganten mit ihren klassischen dunklen Vestons, die Neo-Hippie-Szene mit bunten fröhlichen Kleidern. Bauchfreie Häkelwesten bei den Mädchen, knallige Farben und abwechslungsreiche Muster bei den Knaben. Um mich herum sah ich Piratentücher und Bandanas um die Stirnen, falsch aufgesetzte Baseballkappen, verwahrlost wirkende Rabauken in ihrer Grunge- oder Neo-Gothic-Kleidung. Vor mir fiel ein Knabe auf die Stufen, da er über seine Baggy Pants gestolpert war: tief, bis in die Knie hinab hängende Hosen, deren Besitzer von hinten aussah, als hätte man ihn soeben beim Onanieren erwischt. Ich selbst trug durchlöcherte, ausgefranste Jeans, versehen mit Ansteckern und einem aufgebügelten Bugs-Bunny-Sticker: ›What’s up, Doc?‹ Dazu ein schwarzes T-Shirt, darüber ein in Grüntönen kariertes, viel zu langes Holzfällerhemd, das weit über die Hüften reichte.

Das Liechtensteinische Gymnasium ist ein Gebäudekomplex, der von vielen aufgrund seiner unverputzten Fassade aus ziegelroten Backsteinen als Gefängnis verschrien wird. In regelmäßigen Abständen melden sich überfürsorgliche Eltern zu Wort, da sie um das seelische Wohl ihrer Kinder besorgt sind. Es ist eine beinahe schon lästige, immer wiederkehrende Angelegenheit, den Bau zu verteidigen, und der Lehrkörper verweist mit Stolz auf den berühmten Architekten, den Zürcher Ernst Gisel. Phrasen werden bemüht, nach denen die Backsteine eine tiefe Verbundenheit zur Erde ausdrücken sollen und das Ziegelrot für Freude, Energie, Wärme und Leidenschaft stehe. Mir gefiel dieses Gefängnis, das mit seinem humanistischen Bildungsideal jedem Absolventen das nötige Rüstzeug für das zukünftige Leben mit auf den Weg gab. Der lange, im Winter düstere Gang zum Trakt mit den ehemaligen Wohnungen der Fratres des Maristenordens aus dem bayerischen Furth, die das Gymnasium aufgebaut hatten. Die verwinkelten Flure in den Kellergeschossen, wo sich die Werkstätten und die Lagerräume der Didaktischen Medienstelle befanden. Der Anbau an den Mensa- und Verwaltungstrakt Richtung Innenhof. All dies wurde mir in den nächsten fünf Jahren zu einer zweiten Heimstätte, bevölkert von guten Freundinnen und Freunden, ersten Schulschätzchen und zukünftigen Arbeitskollegen.

Im dritten Stock kam ich an den Zimmern 31 bis 35 vorbei. Letzteres war der Fachschaftsraum für die Lateinlehrer. Die Tür war offen. Poster vom Kolosseum und der berühmten grünen Schieferbüste von Julius Cäsar hingen dort, vorn über dem Wasserbecken war mit Klebstreifen eine lateinische Konjugationstabelle angebracht. Auf der Wandtafel standen noch unsichere Übersetzungsversuche von Catulls Liebesgedichten an seine Lesbia. Im Schulgang saßen mehrere Schüler, einige auf der ins Mauerwerk eingelassenen Holzbank, andere im Schneidersitz am Boden. Es mochten insgesamt etwas mehr als vier Dutzend Gymnasiasten sein. Fast jeden Morgen staute es hier, da der angrenzende Unterrichtstrakt, der abends immer der Fachhochschule Liechtenstein vorbehalten war, bis etwa eine oder zwei Minuten vor Schulbeginn abgeschlossen blieb. Dies vor allem deshalb, weil unsere Pauker sich nach dem Aufenthalt im Kopierraum meistens noch einen Kaffee im Lehrerzimmer gönnten und fast immer erst auf die letzte Sekunde bei uns eintrafen. Durch eine Glastür konnten wir Schüler in den kargen grau gehaltenen Anbau spähen, die Erweiterung des viertelrunden Klassentrakts im Nordwesten. Dort drüben hatte ich montags Unterricht, dort drüben hätte ich jetzt eigentlich sein müssen – auf der anderen Seite.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass nicht nur ich hier wartete, sondern in logischer Konsequenz auch meine gesamte Klasse, die 4A. Verstohlen sah ich mich um, fixierte einige Mädchen und Knaben, ließ meinen Blick wieder schweifen, bemerkte ihr fröhliches Lachen, die Unbeschwertheit ihrer Plaudereien. Mittendrin immer wieder einige, die sich abrupt abwandten und den Augenkontakt mieden. Die gehörten ganz sicher dazu … Warum sprachen sie mich nicht an?

Jetzt, mehr als zwei Jahrzehnte später, verstehe ich ihr Schweigen, das auf Unsicherheit beruhen mochte, immer besser. Krankheit betrifft nicht nur den Erkrankten. Sowohl seine Familie wie auch sein Freundeskreis werden dadurch tangiert. Je schwerwiegender und langwieriger die Krankheit, desto gewaltiger der Strudel, den sie erzeugt, um das Umfeld des Patienten hineinzuziehen. Wie spricht man jemanden an, der einen nicht kennt? Meine Klassenkameraden ignorierten meine Anwesenheit. Ich wüsste nicht, wie ich an ihrer Stelle reagiert hätte, denn solange ich schweige, gehe ich allem Unangenehmen aus dem Weg.

Den Schulranzen mit beiden Händen fest umklammert, warte ich einfach ab. Irgendjemand wird die Verbindungstür schon öffnen kommen. Schließlich ist es mein Geschichts- und Religionslehrer, der aufschließt, ein verständiger Walliser und ehemaliger Pater, welcher der Liebe wegen aus dem Kirchendienst ausgetreten ist. In Absprache mit der Schulleitung wird mein Fall im Klassenverbund nicht thematisiert. Wir betreten den Raum, ich nehme am Rand an der Fensterfront Platz. Wie immer am Montag muss der Ordnungsdienst die Kreidespuren von der Wandtafel wischen, welche die Erwachsenen von der Fachhochschule zurückgelassen haben, und dann heißt es: Medias in res.

»Aufschlagen, bitte! ›Fragen an die Geschichte‹, Band 3, Seite 251. Wir fahren fort mit der Einigung Italiens.«

Vorzeichen – August 1993

Noch immer ist mir unklar, wohin mich diese Notizen führen werden. Schreibe ich für mich? Oder für die Allgemeinheit? Der Literat in mir erkennt die dankbare Vorlage: Hunderte von vorgeblichen Erfahrungsberichten und tränendrückenden Krankheitsgeschichten tummeln sich in den Auslagen der Buchläden. Trivialliteratur in pastellfarbenen Umschlägen. Mögen sie noch so schwülstig oder holprig geschrieben sein, sie verkaufen sich dennoch. Aber bisher hat mich keine dieser Geschichten zu fesseln vermocht. Das Schicksal der Betroffenen wird nicht fassbar, die Tragik der Person wird zu wenig tief ausgelotet.

»Wieso schreibst du schon wieder?«, unterbricht mich meine Freundin. »Komm doch runter in die Stube. Jonas hat nach dir gerufen. Das ›Sandmännchen‹ fängt gleich an.«

Für wen schreibe ich also?

Für andere? Nein.

Für mich? Vielleicht.

Für meine Familie? Wahrscheinlich.

Der Blick in mein Innenleben, bisher so streng gehütet und verborgen gehalten, ist wohl das Kostbarste, was ich meinem kleinen Sohn zu bieten vermag. Irgendwann wird er lesen und verstehen können; momentan spielt er mit Holzeisenbahnen. Zudem sägt er, hämmert und bohrt und bekommt leuchtende Augen beim Anblick eines Traktors oder Baggers. Zum Ärger der Verwandtschaft habe ich ihm auch beigebracht, ›toter Mann‹ zu spielen. Dabei zieht Jonas die Augenlider nach unten, rollt die Augen, bis man nur noch das Weiße sieht, und röchelt wie ein Zombie.

Ich will nicht, dass sein Blick einzig der Blick in einen Abgrund aus Einsamkeit ist, den nur er zu füllen vermag. Mein Sohn soll einfach verstehen, wie sein Vater zu der Person wurde, die er ist. Und schon bewege ich mich erneut im Kreis. Bevor mein Sohn dies verstehen kann, muss ich es verstehen, muss ich recherchieren, nachhaken, auf die Suche gehen.

»Kam mein Hirnschlag eigentlich aus heiterem Himmel?«, frage ich meine Mutter, als sich einmal Gelegenheit dazu bietet. Wir sitzen bei ihr im Wohnzimmer, sie auf der Fernseh-Couch, ich auf der warmen Bank des Kachelofens. Jonas tollt mit seinem Opa unterdessen durchs Haus. Immer wieder schauen sie sich die gewaltige Sammlung an Miniaturautos an, mal die Vitrinen im Keller, mal die im zum Wohnbereich ausgebauten Dachboden. Es sind Hunderte von Exponaten, alles Spielzeugautos der Firma Matchbox im Maßstab 1:43. Pferdefuhrwerke und dampfbetriebene Wagen aus der Frühzeit der Motorisierung.

»Nein.« Mamas Antwort kommt viel zu schnell, als dass es den Anschein hat, sie müsse lange überlegen. Auch ihr ist noch alles präsent nach all der Zeit. »Immer nach einer körperlichen Aktivität hattest du Probleme. Kopfschmerzen, zuckende Muskeln, Ohnmachtsanfälle.«

»Du sagst: immer. Ist das mehrmals aufgetreten?«

»Über Wochen hinweg.«

»Und da hat niemand bemerkt, dass sich ein Infarkt anbahnte?«, hake ich ungläubig nach.

Mama schweigt.

»Mama?«

Ich weiß, dass sie nicht darüber reden möchte, ich glaube, ihr geht die Sache näher als mir. Meine Erinnerung ist weg, ein gelöschtes Band. Nicht einmal Flimmern ist zu sehen, bloß schwarze Leere. Aber sie hat alles noch präsent vor Augen: ihr Kind, das in ihr eine Fremde sieht.

»Stell dir vor, die Fragen, die die uns gestellt haben! Ob wir dich am Gängelband halten würden, ob wir dich schlagen oder daheim einsperren, wenn du am Wochenende ausgehen wolltest. Was dachten diese Ärzte denn von uns? Dass wir Monster seien?«

»Das ist ihr Job, Mama. Das gehört zur Anamnese. Bitte erzähl weiter.«