Impressum
Autor:
Cornelius Molinar
Als Printmedium erschienen:
im Printsystem Medienverlag, D-71296 Heimsheim
Mail: info@printsystem-medienverlag.de
www.printsystem-medienverlag.de
ISBN 978-3-945833-52-0
E-Book-Verlag:
Joy Edition, E-BOOKS and more, Gottlob-Armbrust-Straße 7, D-71296 Heimsheim
Mail: info@joyedition.de
Copyright:
E-Book © 2016 by Joy Edition, E-BOOKS and more, Heimsheim
Buchgestaltung:
Grafik- und Designstudio der Printsystem GmbH unter Verwendung eines Bildes von Stefanie Molinar
Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form vervielfältigt, übersetzt, abgelichtet oder mit elektronischen Systemen verbreitet werden.
ISBN: 978-3-944815-73-2
Die handelnden Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
Übereinstimmungen mit tatsächlich existierenden Personen und Namen sind daher rein zufällig und ohne jede Bedeutung.
Als Jüngster seiner Klasse hatte Florian Schöllkopf schon im Alter von achtzehn Jahren das Abitur in der Tasche, denn aufgrund eines fragwürdigen Tests war er verfrüht eingeschult worden. Da ihn sein Vater sehr streng erzog und ihn stets zum Lernen anhielt, durchlief er dreizehn Klassenstufen, ohne auch nur ein einziges Mal sitzen zu bleiben. Dank seines Fleißes und seiner vielseitigen Begabung kam er im Unterricht gut mit und gehörte zu den besten Schülern seiner Klasse. Dennoch ging er nicht gerne zur Schule. Die strengen Erziehungsmethoden mancher Lehrer, die weder vor üblen Beleidigungen noch vor körperlicher Züchtigung zurückschreckten, setzten ihm gleichermaßen zu wie das Verhalten einiger Klassenkameraden. Vermutlich konnten sie nicht ertragen, dass ausgerechnet dem kleinsten und körperlich schwächsten unter ihnen das Lernen so leicht fiel, und so kompensierten sie ihre geistigen Defizite durch böswillige Hänseleien und den Einsatz roher Körperkräfte. Florian war noch ein halbes Kind, als er das ,Reifezeugnis‘ erhielt und mit durchweg guten Noten das Gymnasium verließ.
Als erste große Entscheidung in Florians Leben stand nun die Berufswahl an. Aber wie sollte ein Achtzehnjähriger wissen, für welche Aufgaben er sich am besten eignete, welche Tätigkeit am meisten seinen Neigungen entsprach? Aus Florians Zeugnissen konnte man keinen eindeutigen Begabungsschwerpunkt ablesen, denn sowohl in den mathematisch- naturwissenschaftlichen als auch in den sprachlichen Fächern hatten ihm seine Lehrer gute Leistungen attestiert. Besondere Freude bereitete ihm die Musik. Auf dem Klavier intonierte er mit Vorliebe Stücke von Bach, Mozart, Schubert und Beethoven. Begeistert sang er die neuesten Hits von Elvis Presley und den Beatles und spielte dazu auf der Gitarre. Am Sport dagegen, und zwar insbesondere am Geräteturnen, zeigte er wenig Interesse, denn allzu oft hatten ihn seine Klassenkameraden in der Turnstunde ausgelacht, wenn er mit seinen dünnen Armen und Beinen hilflos am Reck oder Barren hing. Diese Demütigung, weil er keinen Auf- oder Umschwung zuwege brachte, vergaß er sein Leben lang nicht.
Man sollte annehmen, bei Florians vielseitiger Begabung sei es einfach gewesen, den passenden Beruf für ihn zu finden. Am liebsten hätte er Geografie, Astronomie oder Musik studiert, doch sein Vater lehnte diesen Wunsch entschieden ab.
„Schlag’ dir diese Flausen aus dem Kopf, Junge“, erklärte er streng. „Nächtelang am Fernrohr zu sitzen oder Tag für Tag auf dem Klavier herumzuklimpern, das ist doch brotlose Kunst! Werde Volksschullehrer! Da hast du immer ein sicheres Einkommen, und wenn du alt bist, bekommst du vom Staat eine gute Pension und brauchst dir keine Sorgen um die Zukunft zu machen. Außerdem kann ich dir kein langes Universitätsstudium bezahlen. Vier Semester am Pädagogischen Institut reichen! So lange werde ich dich auch finanziell unterstützen. Danach musst du auf eigenen Füßen stehen!“
So zerplatzte Florians Traum vom Geografen oder Astromomen. Da er den Argumenten des Vaters nichts entgegensetzen konnte und außerdem Kinder sehr mochte, freundete er sich mit dem Gedanken an, den Lehrerberuf zu ergreifen. Als erstes ließ er sich bei der staatlichen Berufsberatung auf seine Eignung testen. Noch wusste er nicht, dass diese Einrichtung in erster Linie dem Zweck diente, die Berufswahl der Schulabgänger zu steuern. Wurden Polizisten gesucht, dann war jeder junge Mann geeignet für den Polizeidienst, mangelte es an Krankenschwestern, empfahl man allen Mädchen die Tätigkeit an einer Klinik. Es war wie in einem Hutgeschäft, wo man jedem Kunden einredet, wie gut ihm diese oder jene Kopfbedeckung passe, egal ob sie zu groß ist oder zu klein, ob sie dem Träger steht oder ihn wie einen Trottel aussehen lässt. Nun herrschte zu jener Zeit, als Florian die Berufsberatung aufsuchte, gerade akuter Lehrermangel im Lande Baden-Württemberg, und so war die Sache schnell entschieden. Vielseitig begabt? Kinderlieb? Freude an der Musik? Für solche Leute gab es den idealen Beruf: Volksschullehrer!
Florians Entscheidung für den Lehrberuf wurde in der Verwandtschaft sehr unterschiedlich aufgenommen. Die Bauern und Handwerker unter ihnen fanden es unangemessen, dass jemand aus der Familie zukünftig der Riege der ,studierten Herren‘ angehören sollte, jener Sorte von Leuten, die sich weder die Finger schmutzig machten noch eine Kuh melken konnten. Die Akademiker in der Familie sahen das ganz anders. Wie konnte ein so begabter junger Mann wie Florian ,nur‘ Volksschullehrer werden?
Am Pädagogischen Institut wurde aus dem guten Schüler Florian Schöllkopf ein schlechter Student. Der Überwachung seines Vaters entzogen und vom Lernstoff unterfordert, arbeitete er nach dem ,Minimax-Prinzip‘. Das hieß, mit geringstmöglichem Aufwand das Maximale herauszuholen, wochenlang ein faules Leben zu führen und kurz vor der Prüfung gerade so viel zu lernen, dass man mit Müh und Not bestand. Florian fand das Niveau der Studien ohnehin jämmerlich, den Lernstoff größtenteils uninteressant, und so verlor er bald den Spaß am Lernen. Entsprechend schlecht fielen seine Beurteilungen aus, worauf seine Motivation vollends in den Keller sank. Oft ging er abends spät ins Bett und war am nächsten Morgen noch müde, wenn um halb sieben der Wecker schellte. Dann drehte er sich einfach um und schlief noch ein Stündchen, und um halb acht und um halb neun verfuhr er ebenso. Es war sowieso einerlei, wann er im Institut erschien. Er würde sich ohnehin verspäten, da kam es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an. Die Kommilitonen und Kommilitoninnen schrieben fleißig mit, was der Professor erzählte, und überließen ihm gerne ihre Manuskripte. Florian fragte sich, wozu die Vorlesungen überhaupt nötig waren, da es doch seit der Zeit Gutenbergs genügend Bücher gab, die jedermann lesen konnte. Oder hielt man die Studenten etwa für Analphabeten?
Wenn Florian an manchen Tagen gelangweilt im Hörsaal saß und draußen die Sonne schien, ließ er einfach die folgenden Lehrveranstaltungen ausfallen und ging in den Anlagen spazieren. Ab und zu gelang es ihm sogar, seine Kommilitonin Friederike zu überzeugen, dass man im Institut sowieso nichts lerne und hinterher die Aufschriebe von den anderen übernehmen könne. Wozu gab es denn Kopiergeräte? Am liebsten gingen die beiden in den Stadtgarten. Dort setzten sie sich im Schatten der alten Bäume auf eine Bank und vertrieben sich die Zeit mit Plaudern und Flirten. Das fand Florian bedeutend anregender als im miefigen Hörsaal zu sitzen und gegen den Schlaf anzukämpfen. Überhaupt die Kommilitoninnen! Sie hatten es ihm angetan! Wie leicht fand er Kontakt zu ihnen! Als Absolvent eines reinen Jungengymnasiums holte er nun all das nach, was ihm in neun Jahren verwehrt geblieben war.
Auch unter seinen männlichen Mitstudierenden fand Florian gute Freunde. Die Semesterferien verbrachte er mit seinen Kameraden Jürgen und Dietmar in Spanien an der Costa Brava. Gebräunt und gut erholt kehrten die jungen Männer nach Stuttgart zurück. Ziemlich lustlos nahmen sie an den Vorlesungen teil. Im Gedränge des Hörsaals erspähte Florian sogleich seine Freundin Friederike, die in einer der vorderen Reihen saß. Er setzte sich zu ihr und anstatt aufzupassen, was der Professor oben auf dem Podium vortrug, unterhielten sich die beiden über den verflossenen Urlaub. Friederike hatte mit einer Freundin zwei Wochen in Rimini verbracht und erzählte von den Sehenswürdigkeiten der Gegend, dem feinen italienischen Essen, der Aufdringlichkeit der Papagalli. Natürlich hatte sie so manchen Tag am Strand verbracht, nach Herzenslust im Meer gebadet und sich im Liegestuhl gesonnt. Damit er sich eine rechte Vorstellung machen konnte, wie sie aussah, zeigte sie Florian ihre Bikinibilder, was dessen volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sodann musste verglichen werden, wer die intensivere Bräune besaß. Also hielten sie ihre entblößten Arme nebeneinander und bemerkten gar nicht, wie der Professor sie dabei beobachtete. Von dem ständigen Schwatzen und dem Bilderanschauen bereits gereizt, unterbrach er plötzlich seine Vorlesung und schimpfte ins Mikrofon:
„Haben Sie beide da unten in der vierten Reihe endlich festgestellt, wer von ihnen den bräuneren Arm hat?“
Florian und Friederike, vertieft in ihre Betrachtungen, merkten zuerst gar nicht, wem die Rüge galt. Erst als sich alle Blicke auf sie richteten, merkten sie, der Professor hatte sie aufs Korn genommen. Die Situation war für beide äußerst peinlich. Rasch krempelten sie ihre Ärmel wieder hinunter. Friederike lief rot an wie eine reife Tomate. Bei Florian geschah das Gleiche, aber niemand konnte es sehen, denn der Fidel Castro-Bart, den er sich in Spanien zugelegt hatte, bedeckte einen großen Teil seines Gesichts.
Fortan verlegten Florian und Friederike ihre Gespräche in den Stadtgarten, doch bald darauf erregten sie erneut Aufsehen. Vielleicht ein klein wenig in einander verliebt, vielleicht auch aus purem Spaß am Provozieren, standen sie nach der Vorlesung in enger Umarmung an der Haltestelle der Linie acht und turtelten wie ein Taubenpaar auf dem Markusplatz zu Venedig. Selbst als sich der Professor in ihrer Nähe aufhielt und etwas irritiert dreinschaute, setzten sie unbeirrt ihr Spielchen fort, worauf ein Kommilitone spaßhaft meinte:
„Hey! Es gehört sich nicht, hier in aller Öffentlichkeit zu knutschen!“
Sprach’s, nahm seine Aktentasche und versperrte so die Sicht auf die Kussszene. Andere Studenten und Studentinnen folgten lachend seinem Beispiel. Florian und Friederike hatten damit ihr Ziel erreicht, Aufsehen zu erregen. Bald kam der ,Achter‘ und auf dem Perron des Anhängers setzten sie zum Ärger der prüden und zur Freude der toleranten Fahrgäste ihr provokantes Spiel fort.
Man mag kaum glauben, was für Kindsköpfe Studenten bisweilen sind, und das als angehende Schulmeister, die ,unsere Jugend‘ erziehen sollten! Eines Tages kamen sie auf die Idee, die Blöße des marmornen Jünglings zu bedecken, der auf dem Brunnen gegenüber des Pädagogischen Instituts seine Arme graziös in die Höhe reckte. Allerdings fand man es langweilig, der Figur einen Herrenslip anzulegen. Damenunterwäsche würde ihr bestimmt besser stehen! Also nahm Florian gemeinsam mit einigen Kommilitonen und Kommilitoninnen die Statue unter die Lupe. Man beratschlagte, welche Konfektionsgröße ihr wohl passen könnte, wobei ein lebendes weibliches Modell als Vergleich diente. Schließlich meinte eine Studentin, sie hätte wohl ähnliche Maße wie die steinerne Grazie und würde gerne ihre Dessous spendieren. In der Nacht kletterten Florian und seine Kumpels auf das Denkmal und zogen dem Jüngling Slip und BH an. Beide passten prima – ihr Augenmaß hatte sie nicht getäuscht. Lediglich das Textil, das die Figur der Frauen krönt, blieb notgedrungen leer. Welch einen herrlich grotesken Anblick bot nun die Statue! Wie ein jugendlicher Transvestit stand sie auf ihrem Sockel. Endlich fand sie die gebührende Beachtung! Zwei Wochen lang liefen die Passanten unter ihr vorbei, je nach ihrer Einstellung bewundernd und belustigt oder beschämt und kopfschüttelnd. Eines Tages fehlten die Dessous. Wahrscheinlich hatten sie einen Liebhaber gefunden.
Wie üblich sprachen die Studierenden auch kräftig dem Alkohol zu, und das manchmal schon am frühen Nachmittag. Nun wohnte Friederike nicht allzu weit vom Pädagogischen Institut entfernt im Stuttgarter Westen, und wenn sie nach den Vormittagsstunden früh nach Hause kam, bereitete sie für Florian, Jürgen und zwei Freundinnen das Mittagessen zu. Als Geschenk brachten die Gäste gelegentlich eine Flasche Puschkin-Wodka mit, die zum ,Nachtisch‘ geleert wurde. Wie herrlich schmeckte das hochprozentige Gesöff zusammen mit den eingelegten Amarena-Kirschen! Und wie schnell stieg es zu Kopf! Eines Tages fuhr das lustige Quintett ziemlich benebelt zum Institut zurück. Kaum an Bord des ,Wagens von der Linie acht, schwarz- gelb, fährt ratternd durch die Stadt‘, kam Friederike auf die Idee, man könne noch ein wenig für die bevorstehende Musikstunde üben. Schon packte sie ihre Geige aus und fing an zu fiedeln. Florian und die beiden anderen Kommilitoninnen ließen sich nicht lumpen und begleiteten sie mit der Gitarre und zwei Flöten. Den Fahrgästen gefiel das Konzert und sie klatschten begeistert Beifall. Jürgen erfasste sofort die Situation, schnappte Friederikes Geigenkasten, lief durch die Reihen und bat um einen Obolus für die armen Studenten. Am Ende kamen sechzehn Mark zusammen. Dafür konnte man wieder zwei Flaschen Wodka kaufen.
An jenem Nachmittag fielen Florian und seine Freunde durch ihre herausragenden Leistungen auf. In der Musikstunde trugen sie ihre Stücke schwungvoll und fast fehlerfrei vor. Dann folgte die Sprecherziehung, die der Lockerung der Stimmbänder diente. Während die anderen Studenten und Studentinnen das läppische ,di-dabbi-dabbi-daaah‘ und ,uah-uah-uuuuuuh‘ eher verkrampft nachplapperten anstatt es mit schlabbrigen Lippen zu wiederholen, fielen Florian und seine Freunde durch ihre Lockerheit auf. Die Dozentin lobte sie in den höchsten Tönen und empfahl den anderen Kursteilnehmern, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Hätte sie nur geahnt, dass der Alkohol ihre Zungen gelöst hatte!
Natürlich wurde zwischendurch auch etwas gelernt, aber wie bereits gesagt, bewegten sich die Studien in fast allen Fächern auf sehr niedrigem Niveau. Während auf dem Gymnasium im Physikunterricht so anspruchsvolle Wissenschaftsbereiche wie Wellenlehre, Atomkernphysik und in Ansätzen sogar Einsteins Relativitätstheorie behandelt wurden, ging es am Pädagogischen Institut um Themen, die jeder kluge Grundschüler verstanden hätte. Eines Tages wollte Professor Haberkorn seinen Studenten mit Hilfe eines Experiments zeigen, wie beim Erhitzen von Wasser die Temperatur in Abhängigkeit von der Zeit ansteigt. Entsteht in der Graphik eine Gerade oder eine Kurve? Was geschieht beim Erreichen des Siedepunkts? Das waren die beiden wichtigsten Fragen, die es zu klären galt. Fünf pneumatische Wannen, der Laie würde sie als Aquarien bezeichnen, wurden mit Wasser gefüllt und auf metallenen Dreifüßen auf den Tischen platziert. Das Wasser sollte nun mit dem Bunsenbrenner erhitzt werden. Bevor es losging, riet Florian, man möge ein Asbestgitter über die Flamme legen. Doch Haberkorn winkte ab und meinte:
„Wozu auch? Das ist doch feuerfestes Glas!“
Nun begann das Experiment. Haberkorn gab das Zeichen ,Bunsenbrenner an!‘ Lustig flackerten die Gasflammen. Das Wasser wurde warm und wärmer und schließlich heiß. Dampf erfüllte den Physiksaal. Die Studierenden maßen in Abständen von zwanzig Sekunden die Temperatur, trugen die Werte in eine Tabelle ein und erstellten eine Graphik. Alle waren in ihre hochwissenschaftliche Arbeit vertieft, als man plötzlich ein Knacken von splitterndem Glas und ein Rauschen wie von einer Toilettenspülung hörte. Ein Schwall heißen Wassers ergoss sich über die ringsum ausgebreiteten Federmäppchen, Ringbücher und Lehrwerke. Alles starrte wie gebannt auf den Ort des Geschehens. Schon eilten einige mit Putzlappen und Papiertüchern herbei, um der Überschwemmung Einhalt zu gebieten, doch im nächsten Augenblick hörte man wieder das Krachen und das Rauschen und unmittelbar darauf diese Geräusche ein weiteres Mal.
„Dreht sofort die Bunsenbrenner ab!“, schrie Professor Haberkorn in Panik. Die Studenten folgten seiner Anweisung. Der Dampf legte sich, und nun sah man das Ausmaß des Schadens. Drei von fünf pneumatischen Wannen hatten das Experiment nicht überlebt, zahlreiche Bücher und Hefte lagen völlig durchnässt auf den Tischen, ein Großteil der sorgfältig angefertigten Aufschriebe war unbrauchbar geworden. Immerhin konnte man aus den Resten ableiten, dass der Temperaturanstieg in einer nach oben abflachenden Kurve verlief. Je heißer das Wasser wurde, desto mehr Energie musste zugeführt werden und desto länger dauerte es, bis sich die Temperatur um ein weiteres Grad erhöhte. Die kleinen Einsteins unter den Studenten fanden sogleich eine einleuchtende Erklärung: Das heiße Wasser gab mehr Wärme an die Umgebung ab als das kühlere. Welch eine bahnbrechende Entdeckung! Welch ein Fortschritt der Wissenschaft! Was allerdings beim Erreichen des Siedepunkts geschieht, wurde nie geklärt, denn vorher zerbrachen bekanntlich drei pneumatische Wannen und die Kurve blieb unvollendet.
Als reine Zumutung empfanden die Pädagogikstudenten die Vorlesungen in ,Allgemeiner Unterrichtslehre‘ bei Professor Eisele. Eines Tages dozierte der verknöcherte alte Mann über das anspruchsvolle Thema, wie sich eine Lehrerin vor ihrer Klasse präsentieren sollte: Zurückhaltendes Auftreten, keine Hosen, keine engen Pullis, eine hochgeschlossene Bluse, keinen Schmuck, keine lackierten Fingernägel, keine Schminke, keine offenen langen Haare. Wie eine pietistische Missionarsfrau aus Korntal, möglichst mit einem Knoten am Hinterkopf, so sollte die ideale Lehrerin nach Eiseles Vorstellung aussehen. Damit kam er bei den Studentinnen, die sich von einem Opa belehrt fühlten, gar nicht gut an. Schon ertönten die ersten Buh-Rufe, die zu lautem Protest anschwollen und schließlich in allgemeine Heiterkeit übergingen. So lächerlich hatte sich Eisele noch nie gemacht! Musste sich ein Professor eigentlich mit derart banalen Themen abgeben?
Am unterhaltsamsten fanden die angehenden Lehrerinnen und Lehrer die Vorlesungen des Psychologieprofessors Wilhelm Schuh, von allen liebevoll ,d’r Willi‘ genannt. Er hatte die Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ins Erwachsenenalter an seinen eigenen Kindern studiert und seine Erkenntnisse akribisch genau festgehalten. Er wusste, wovon er sprach und konnte sehr lebendig erzählen. Obendrein würzte er seine Vorlesungen mit praktischen Vorführungen. Einmal zeigte er, wie ein Kleinkind tollpatschig auf dem Boden herumkrabbelt, sich unter Aufbietung aller Kräfte an einem Möbelstück hochzieht, auf wackeligen Beinen steht und immer wieder hinfällt. Ein andermal ahmte er ein Kind nach, das soeben erst das Laufen gelernt hat. Wie ein Betrunkener torkelte ,Willi‘ auf der Bühne herum und hielt sich im letzten Moment, bevor er stürzte, am Rednerpult fest. Diese lustigen Szenen erregten große Heiterkeit. Um die Entwicklung des Sprechens zu veranschaulichen, imitierte der Professor die Laute, die ein Baby in den ersten Lebensmonaten von sich gibt. Er begann mit den sogenannten ,Lallmonologen‘ wie ,dada-dada-dada‘, ,baba-baba-babb‘ und ,plipp-plapp-plipp-plapp‘ und ging dann schrittweise zu den ersten verständlichen Worten über. ,Willi‘ konnte ein Baby so perfekt nachahmen, dass man glauben konnte, er sei selber eines. Eine beachtliche Leistung für einen fast Siebzigjährigen!
Ein andermal dozierte Professor Schuh über den Körperbau des Menschen, wobei er drei Grundtypen unterschied: die schlanken, hoch aufgeschossenen Leptosomen, die dicken, in die Breite gehenden Pykniker und die muskulösen Athletiker. Als ,Anschauungsmaterial‘ hatte er von einer nahegelegenen Schule drei Jugendliche mitgebracht. Die mussten nun auf der Bühne des voll besetzten Hörsaals die Hosenbeine hochkrempeln und ihre Hemden ausziehen, damit man die besonderen Merkmale des einzelnen Typus sehen konnte – hervorstehender Adamsapfel und deutlich sichtbare Gelenke bei dem einen, Fettwülste und Speckröllchen bei dem anderen, breite Schultern und Muskelpakete bei dem dritten. Zwar fanden viele Studierende diese Fleischbeschau entwürdigend, aber man musste ,Willi‘ zugutehalten, dass er die drei Jungs freundlich behandelte und sie hinterher mit Süßigkeiten reichlich belohnte.
Großes Kopfzerbrechen bereiteten Florian die Vorlesungen des Professors Doktor Braus. Zwar wusste der junge Student, dass die Philosophie als Königin der Wissenschaften gilt. Auch kannte er Geistesgrößen wie Kant, Schopenhauer und Nietzsche wenigstens dem Namen nach, aber mit den Ausführungen von Braus konnten er und die meisten seiner Kameraden nicht viel anfangen. Dazu fehlte ihnen die nötige Reife. Sie hielten die Braus’schen Ausführungen für sinnloses Geschwafel, und wenn sie mal wieder gar nichts verstanden hatten, dann hieß es: „Es braust schon wieder!“
Immerhin bemühte sich Florian zeitweilig, den Gedankengängen des Professors zu folgen. Eines Tages ging es um das Thema ,Sein oder Nichtsein‘. Braus dozierte an seinem Rednerpult:
„Sein und Nichtsein stehen einander wie Licht und Schatten oder Leben und Tod in einem dialektischen Verhältnis gegenüber. Daraus folgern wir: Ohne Sein gibt es kein Nichtsein und umgekehrt gibt es ohne Nichtsein kein Sein. Haben Sie bis dahin verstanden? Gut! Dann machen wir jetzt die Riesenwelle am Reck der Logik! Da nun das Nichtsein gar nicht existent sein kann, denn wäre es existent, dann wäre es kein Nichtsein, sondern ein Sein, kann es auch kein Sein geben, denn sonst wäre das Sein nicht der dialektische Gegenpol zum Nichtsein. Und was folgern wir daraus? Alles, was wir um uns herum wahrnehmen, ist gar nicht real existent. Es existiert nur in unserer Imagination. Wir unterliegen einer Sinnestäuschung!“
Bis hierher konnte Florian den Braus’schen Gedankengängen einigermaßen folgen, auch wenn ihm vor lauter ,Sein‘ und ,Nichtsein‘ der Kopf schwirrte. Von der ,Riesenwelle am Reck der Logik‘ bereits ermüdet, bekam er gar nicht mehr mit, wie es weiterging.
„Natürlich dürfen Sie nicht für bare Münze nehmen, was ich eben erklärt habe“, lachte Braus spitzbübisch. „Ich wollte Ihnen mit diesem Gedankenexperiment nur zeigen, wie man etwas beweisen kann, was völliger Unsinn ist. Die Welt um uns herum existiert tatsächlich in realer Form.“
Als die Vorlesung zu Ende ging, erwachte Florian wieder aus dem Halbschlaf. Irgendwie beschäftigte ihn die Braus’sche Theorie. Vielleicht konnte man daraus seine Folgerungen für das tägliche Leben ziehen. Wenn die Welt um uns herum gar nicht real existierte, dann gab es auch kein Pädagogisches Institut und keine Professoren, kein Schulgebäude und keine Schüler. Das hieß doch: Bin ich morgens noch müde, dann brauche ich nicht aufzustehen, kann mich wieder umdrehen und weiterschlafen, denn es macht doch keinen Sinn, sich zu einem Nichts zu begeben. Dieser Gedanke beschäftigte ihn auch während der Mittagspause, als wieder in Friederikes Studentenbude gemeinsam gegessen und Wodka getrunken wurde. Am Nachmittag stand dann bei Professor Braus die Übungsstunde an, in der die Fragen der Studenten diskutiert und individuell beantwortet wurden. Nun sah Florian die Gelegenheit gekommen, dem Professor seine phänomenalen philosophischen Gedankengänge darzulegen. Braus reagierte aufbrausend und erteilte Florian eine scharfe Rüge.
„Da haben Sie mal wieder nicht aufgepasst, Herr Schöllkopf! Ich sagte doch, es sei nur ein Gedankenexperiment! Selbstverständlich ist die Welt um uns herum real existent. Sie können also morgen nicht einfach den Vorlesungen fernbleiben und sollten auch später als Lehrer pünktlich zum Unterricht erscheinen. Vorausgesetzt natürlich, Sie bestehen die Prüfung, was allerdings unter den gegebenen Umständen nicht anzunehmen ist!“
Am meisten Spaß bereiteten Florian die schulpraktischen Übungen. Mal hielt er eine Lehrprobe an einer Schule im Stuttgarter Westen, dann wieder in Ostheim, ein andermal droben in Vaihingen. Einige Mitstudierende und der Klassenlehrer verfolgten von den hinteren Reihen aus den Verlauf des Unterrichts. Anschließend wurde besprochen, was man an der Stunde positiv fand und was man hätte besser machen können. Jeweils zum Semesterende ließ der Klassenlehrer dem Pädagogischen Institut eine schriftliche Beurteilung zukommen. Wie diese ausfiel, hing stark von subjektiven Faktoren ab. War der Mentor einem Studenten wohlgesonnen oder verstand es gar eine Studentin, sich bei ihm einzuschmeicheln, so wirkte sich das vorteilhaft auf die Notengebung aus.
Nun waren Florian und sein Kumpan Jürgen für das Wintersemester zur Schulpraxis an der Volksschule Zazenhausen eingeteilt. Einmal in der Woche fuhren sie zusammen mit dem ,Zwölfer‘ bis zur Endstation und liefen die wenigen Schritte zur nahegelegenen Schule. Dort erwartete sie bereits Fräulein Maier, eine alleinstehende alte Dame, die ihre Zöglinge wie ein treusorgendes Mütterchen behandelte. Jeden Morgen stimmte sie das gleiche Lied an und sang mit hoher Stimme:
„Glitzer-glitzer Funkel … Sonne, Mond und Stern … machen hell das Dunkel … hab’ sie alle gern.“
Florian und Jürgen fanden das Lied kindisch, steckten die Köpfe zusammen und lachten hinter vorgehaltener Hand, was Fräulein Maier mit Missfallen bemerkte. Danach folgte die rituelle Vogelfütterung. Drei Kinder liefen wie die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland in feierlicher Prozession zum Fenster hin und streuten Körner in das Vogelhäuschen. Bald schon kamen Sperlinge, Meisen und Finken in Scharen angeflogen und pickten das Futter auf. Wurde es später während des Unterrichts laut in der Klasse, wandte die Lehrerin einen faulen Trick an. Sie hielt den Zeigefinger der linken Hand vor den Mund, deutete mit dem der rechten zum Fenster und mahnte:
„Denkt doch an die armen Vöglein! Wenn ihr so laut seid, dann erschrecken die, fliegen weit weg und kommen nie mehr zurück. Dann müssen sie draußen im finsteren Wald bei Eis und Schnee verhungern und erfrieren.“
Diese Mahnung ging den Kleinen sehr nahe. Sie wurden augenblicklich mucksmäuschenstill, denn sie wollten nicht schuld sein am traurigen Ende der lieben Vöglein. Florian und Jürgen fanden solche Erziehungsmethoden dumm, läppisch, kindisch, einfach blöde. Nur mit Mühe konnten sie sich bisweilen das Feixen verkneifen. Auch dies registrierte Fräulein Maier mit bösem Blick. Die beiden jungen Männer und die alte Dame passten einfach nicht zusammen. Während sie mit den Kindern behutsam-fürsorglich umging, trieben Florian und Jürgen ihre Späße mit ihnen, erzählten spannende Geschichten und würzten ihren Unterricht mit lustigen Sprüchen. Das gefiel den Kleinen, und bald mochten sie die beiden Studenten mehr als ihre Lehrerin. Diese nahm die Sache übel, denn sie fürchtete um ihre Beliebtheit und ihren Einfluss in der Klasse. Entsprechend negativ fiel die Beurteilung aus, die sie dem Pädagogischen Institut zusandte. ,Schulpraktische Übungen mangelhaft‘ stand da schwarz auf weiß am Ende des vierseitigen Schreibens.
Nicht nur die Beurteilung von Fräulein Maier brachte Florian in arge Bedrängnis, denn auch in anderen Fächern wurden ihm schlechte Leistungen attestiert. Allein in Musik und Sprecherziehung erhielt er gute Noten, und der Dozent für Religionslehre gab ihm gnadenhalber eine Zwei. So bestand Florian die ,Erste Dienstprüfung‘ mit einem Schnitt von drei Komma neun gerade noch mit Ach und Krach. Zu jener Zeit war es tatsächlich schwierig, das Examen nicht zu bestehen, denn das Land brauchte dringend Lehrer und nahm so gut wie jeden Bewerber an. So verließ Florian das Pädagogische Institut schon nach vier Semestern, in denen er nicht viel Brauchbares für seinen späteren Beruf gelernt hatte. Bevor er irgendwo im Land eine Stelle antreten konnte, musste er beim Staatlichen Schulamt einen Eid auf die Verfassung des demokratischen Rechtsstaates leisten und ein notariell beglaubigtes Schreiben vorlegen. In diesem stand, dass sein Vater für jeden Schaden haftete, den der Sohn im Dienst verursachen würde. Schließlich war Florian damals erst zwanzig Jahre alt und damit noch nicht volljährig.