RINO VENTRIGLIA
DAMIT DIE LIEBE LEBENDIG BLEIBT
Warnsignale in der
Partnerschaft erkennen
VERLAG NEUE STADT
MÜNCHEN · ZÜRICH · WIEN
Aus der Reihe LEBENSWERT!
Der Autor, Rino Ventriglia, ist Psychotherapeut und Neurologe mit jahrzehntelanger Erfahrung in Paar- und Familientherapie. Er ist Gründer des Centro Logos/Caserta (Italien), Autor mehrerer Publikationen und einem internationalen Publikum bekannt durch seine Vortragstätigkeit.
Originaltitel: Le spie rosse dell’amore. Cosa non fare nella vita di coppia,
© 2013, Città Nuova Editrice, Rom
Übertragung aus dem Italienischen: Stefan Liesenfeld
2016, 1. Auflage
© Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt GmbH, München
Gestaltung und Satz: Neue-Stadt-Grafik
ISBN 978-3-7346-1077-6
www.neuestadt.com
„Die Zeit ist zu langsam für die, die warten,
zu flüchtig für die, die sich fürchten,
zu lang für die, die trauern,
zu kurz für die, die sich freuen.
Aber für die, die lieben, ist Zeit Ewigkeit.“
Henry Van Dyke (1852–1933)
Im Leben kann es Augenblicke geben, die einem den Atem nehmen, Augenblicke, in denen man vor Freude weinen könnte und das Herz pocht, weil einem etwas ganz neu aufgegangen ist. Plötzlich wird einem klar, dass die zurückliegenden Jahre einen Sinn hatten. Ja, einen Sinn hatte auch der durchlebte Schmerz, einen Sinn hatten die Fragen und Zweifel, die Irrwege und die Grenzen, die dunklen Zeiten … Solche Augenblicke vermitteln eine Ahnung von Ewigkeit: Man merkt, dass einem etwas widerfährt, was man selbst nicht „machen“ konnte; es ist, als füge sich unversehens, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, das Puzzle zusammen, von dem zuvor nur einzelne teils dunkle, teils helle Teile zu sehen waren. Jetzt werden „die Linien sichtbar, die die Punkte verbinden“ (Steve Jobs), das Herz wird weit, die ganze Welt sieht anders aus …
Ein solcher Augenblick war für meine Frau und mich der 25. Jahrestag unserer Hochzeit, das „silberne Hochzeitsjubiläum“. Die Familie, Verwandte und Freunde feierten mit uns. Ein Höhepunkt sollte eine von unseren Kindern vorbereitete Powerpoint-Präsentation werden: „Unsere gemeinsame Geschichte“. Die Vorführung würde gleich beginnen. Mir wurde angst und bange: Vor meinem geistigen Auge tauchten plötzlich alle möglichen Bilder auf, wie zu Leben erweckte Gespenster: düstere, schmerzliche Bilder. Ich sah mich traurig und zornentbrannt. Ich spürte aufs Neue das Gefühl der Ohnmacht in manchen Zeiten, die düstere Hoffnungslosigkeit. Ich dachte an meine Bemühungen, dennoch zu lieben, dennoch Mut zu machen und Halt zu geben: vergebliche Bemühungen, wie mir schien. All das schwirrte wild in meinem Kopf herum, während die Präsentation anlief. Und allmählich machten die imaginären, chaotischen Bilder den realen Bildern Platz: Was da zu sehen war, das waren ganz andere Bilder; Bilder, aus denen Liebe, Licht, Hoffnung sprachen, alte Bilder, die wieder lebendig wurden.
Die in verschiedenen Momenten mit dem Fotoapparat eingefangenen Gesichter fügten sich zu einer Geschichte zusammen: zur Geschichte unserer Familie, zu unserem Weg als Paar und mit den Kindern, mit stillen Weggefährten, die auch in den schwierigsten Phasen da waren. Und die Bilder schienen mir immer bunter zu werden, die Gesichter schöner, reifer durch die inzwischen sichtbaren Falten, die groß gewordenen Kinder … Die Geschichte ging weiter – ins Hier und Heute. Am Ende, ich will es nicht verschweigen, flossen Tränen, im abgedunkelten Raum suchten sich unsere Hände und hielten sich fest; unsere Kinder waren dabei, meiner Frau und mir unsere Geschichte zurückzugeben, die – mit ihren Augen betrachtet – eine neue Bedeutung bekam: Es war, als hätten sie das Ganze in den Rahmen der Liebe gestellt. Es war ihr „Danke!“ an uns. Berührend der Satz am Schluss: „Euch nach all den Jahren so vereint und glücklich zu sehen, lässt uns hoffen, dass es möglich ist, an die ewige Liebe zu glauben.“
Dieses Buch ist die Frucht unserer eigenen Erfahrung als Ehepaar wie vieler anderer, die ich kennengelernt habe und mit denen ich ein Wegstück gegangen bin. Ich konnte die Freude über eine neu gewonnene Perspektive für den gemeinsamen Weg teilen; den Schmerz, sich verrannt und verloren zu haben; das Gefühl, in einem düsteren Tunnel ohne Licht zu sein und dennoch weiter zu hoffen und zu glauben – oder aber in einem solchen Nebel zu stecken, dass mit der Hoffnung auch der Glaube abhanden gekommen schien.
Warum, so könnte man fragen, sind die Wege von Paaren so unterschiedlich, wo sie doch so ziemlich alle so wunderbar begonnen haben: mit dem Verliebtsein!? Warum gehen einige froh und entschieden ihren Weg, auch wenn er manchmal steinig ist, während andere sich unendlich schwer tun? Warum bleiben viele stehen und geben irgendwann auf? Diese und andere Fragen waren der Anstoß, dieses Buch zu schreiben. Ich hoffe, dass die folgenden Beobachtungen und Gedanken helfen können, die eigene, vielschichtige Geschichte als Paar neu zu sehen.
Danken möchte ich jedem Paar, dem ich in diesen Jahren begegnet bin, jedem Einzelnen, der sich geöffnet hat und mich ein wenig in seine Seele hineinschauen ließ. Danken möchte ich besonders meinen ganz besonderen Weggefährten: meiner Frau Rita und meinen Kindern Giovanna und Gabriele. Mit ihnen habe ich viele Etappen zurückgelegt; ich habe erlebt, wie schön und wie beglückend es ist, Weggefährte und Vater zu sein. Ihnen verdanke ich auch die Entdeckung der grenzenlosen Horizonte der Liebe, des Vertrauens, des Mitlebens – und eine immer wieder aufkeimende Hoffnung.
Rino Ventriglia
Ein Hinweis: Die Namen der erwähnten Personen wurden aus verständlichen Gründen geändert.
„Was die Raupe Ende der Welt nennt,
nennt der Rest der Welt Schmetterling.“
Lao-Tse und Ricarda Huch zugeschrieben
Von einer guten Bekannten bekamen wir zu Ostern eine Karte mit dem Wunsch: „Dass es Euer schönstes Osterfest wird!“ Ganz einfache Worte, die viel bei mir ausgelöst haben. Denn mir kam dabei in den Sinn, wie oft ich Paare habe sagen hören: „Das war der schönste Tag in unserem Leben!“; „Wir waren einfach nur glücklich!“; „Wir haben uns angeschaut und wussten: Uns gehört die Welt!“ So sprachen sie von ihrem Hochzeitstag, und was sie ausdrückten, das war – damals – Wirklichkeit. Ein Traum war in Erfüllung gegangen, es war die Krönung einer Hoffnung: das Leben teilen, miteinander leben – für immer. So ist es jedenfalls am Anfang für viele, die sich gefunden und entschieden haben, das Leben mit einem Partner (bzw. einer Partnerin; dies ist im Folgenden natürlich immer mitgedacht) zu teilen, mit dem sie reden und sich auseinandersetzen wollen, mit dem sie gehen, laufen und manchmal auch innehalten möchten – im Bewusstsein, dass der bzw. die andere genau der oder die Richtige ist für den Weg durchs Leben. Es gibt keine logische Begründung, aber das Herz hat seine Gründe, es sieht über die bekannten Horizonte hinaus und hat eine leise Ahnung, dass sich hinter der Liebe ein großes Mysterium verbirgt …
Die Momentaufnahme vom Anfang mag wunderschön sein, oft verbunden mit dem Gefühl, dass die Sonne, die da aufgegangen ist, alle weiteren Schritte erhellen wird. Aber diese wunderbare Aufnahme ist Teil eines Films: unserer Geschichte. Einer Geschichte, die für einen jeden lange vorher begonnen hat, im Mutterschoß, und die dann weitergegangen ist. Jeder hat die ersten Beziehungen mit den als Gegenüber entdeckten Eltern verinnerlicht. Vieles hat uns geprägt: Überzeugungen und Informationen, Botschaften, Vorbilder, Wunden und Verletzungen, Träume und Ideale, Wünsche und Fantasien … – es ist ein vielschichtiges Bündel, das Geflecht unseres Lebens, an dem wir Tag für Tag, Stunde für Stunde weiterarbeiten, immer auf der Suche nach Sinn und Bedeutung. Diese mehr oder weniger bewusste Suche begleitet uns Menschenkinder zeit unseres Lebens.
So sind wir alle Frucht einer Geschichte, und die Beziehung mit dem Partner ist auch die Beziehung zweier Geschichten. Aus dieser Perspektive zeigen sich uns die Erwartungen und Enttäuschungen, der Ärger und die Konflikte in der Paarbeziehung in einem anderen Licht: All dies ist etwas Dynamisches, es bewegt sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, das „hier und heute“ spielt ebenso hinein wie das „damals dort“. In die „alten Schläuche“ unserer Lebensgeschichte kommt mit dem Partner „neuer Wein“, um ein Bild der Bibel zu gebrauchen. Und es kommen immer neue Aufgaben auf einen zu; die alte Identität wird aufgebrochen, wenn nun die Mutter- oder Vaterrolle einzunehmen ist oder wenn einem plötzlich bewusst wird, dass manches, was zu einem gehört, noch nicht gut integriert ist. Und dann? Von dem sonnendurchströmten Anfangsbild bleibt nicht viel, der Zauber entschwindet, und was sich am Horizont abzeichnet, weckt nicht gerade Zuversicht.
Doch was geschieht in solchen Phasen? Werfen wir einen Blick in die Natur, von der wir viel lernen können. Wie viele Beispiele gibt es doch, dass nur ein „Identitätsverlust“ Neues hervorbringt! Nehmen wir die Befruchtung: Eine Samenzelle muss etwas von sich „verlieren“, um in die Eizelle eindringen zu können, und diese muss sich verändern, um sie aufnehmen zu können. Dieses Muster finden wir immer wieder. Es zieht sich auch durch die folgenden Seiten, die Frucht von allerlei Schwierigkeiten und schmerzlichen Erfahrungen zahlreicher Paare sind, von Paaren, die manchmal am Nullpunkt angelangt waren. Auch der gesellschaftliche Kontext ist ja nicht gerade einfach; ob „Ehe und Familie“ überhaupt eine Zukunft haben, wird manchmal gefragt. Ich meine ja, und viele können es aus ihrer Erfahrung bestätigen: Die Liebe existiert, und das „für immer“ ist auch heute eine reale Möglichkeit.
„Nichts geschieht ein zweites Mal,
auch wenn es uns anders schiene.
Wir kommen untrainiert zur Welt
und sterben ohne Routine.
Und wären wir die dümmsten
Schüler auf ihren Pennen,
wir werden keinen Winter und
Sommer nachsitzen können.
Kein Tag wird sich wiederholen,
keine Nacht, denn sie entrücken,
es gibt nicht zwei gleiche Küsse,
zwei wiederholbare Blicke.
Als jemand deinen Namen
laut nannte bei mir gestern,
war’s mir, als fiel eine Rose
herein durchs offene Fenster.
Heute sind wir zusammen,
ich dreh mich zur Wand. Oh, nein!
Rose? Was ist eine Rose?
Ist’s eine Blume? Ein Stein?
Was mischst du dich, böse Stunde,
mit unnützem Angstgestöhn?
Du bist – also gehst du vorüber.
Du vergehst – also ist es schön.
Lächelnd wollen wir eins sein,
wenn wir uns halbwegs umfassen,
obwohl wir uns unterscheiden
wie zwei Tropfen reinen Wassers.“
Wisława Szymborska (1923–2012)
Zit. nach: Die Gedichte, Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1997, S. 31f. Zuerst erschienen in: Rufe an Yeti, 1957 (hg. und übertragen von Karl Dedecius).
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