Dieses Buch ist mir gewidmet.
Derek, ohne dich stünde ich nicht da, wo ich heute stehe.
Es lässt sich nicht in Worten ausdrücken, was ich dir für
die vielfältige Hilfe, die du mir hast angedeihen lassen, schulde – für deine Weisheit, deinen Witz, deinen scharfen Blick und deinen noch schärferen Verstand, deinen
Geschmack, deine Stärke, deine Integrität und deine Bescheidenheit. Nicht erwähnen werde ich deine
ehrenamtliche Arbeit, auch nicht deinen politischen
Aktivismus oder die Umweltprojekte, die auf deine Initiative zurückgehen. Und das nicht nur, weil du selbst nicht darüber redest – sondern weil es auch sonst keiner tut.
Du hast einen besseren Menschen aus mir gemacht.
Nein – du hast aus uns allen bessere Menschen gemacht.
Geh nicht gelassen in die gute Nacht,
Brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert;
Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.
Dylan Thomas
MEEK RIDGE
Fünf Uhr morgens, und Danny ist wach und rollt sich langsam aus dem Bett. Seine Augen sind halb offen, als seine bloßen Füße die Dielen berühren. So früh aufzustehen, fällt ihm im Winter noch schwerer, wenn die Kälte ihn wieder unter die Decke zu schieben droht. Der Winter in Colorado hat es in sich, pflegte sein lieber verstorbener Vater zu sagen, und Danny ist nicht der Typ, der seinem lieben verstorbenen Vater widerspricht. Aber die Sommer sind warm, und so sitzt er auf der Bettkante und zittert nicht einmal, und nach einer Minute Anlaufzeit zwingt er sich, die Augen weit zu öffnen, erhebt sich und zieht sich an.
Er geht nach unten, setzt Kaffeewasser auf und schließt den Laden auf. Jeden Morgen, außer sonntags, öffnet der kleine Supermarkt um fünf Uhr dreißig; die Kunden können kommen. So war es schon, als Danny noch ein kleiner Junge war und seine Eltern das Geschäft führten, und so ist es jetzt, da Danny siebenundzwanzig ist und seine Alten kalt und steif nebeneinander unter der Erde liegen. Wenn Danny einen seiner eher melancholischen Tage hat, denkt er gern, dass seine Träume mit ihnen begraben wurden. Aber er weiß, das ist unfair. Eigentlich wollte er Musiker werden. Deshalb ging er nach L. A. und gründete eine Band, und als nicht alles so lief, wie er wollte, schlüpfte er zu Hause wieder unter und übernahm das Familienunternehmen.
Er gab auf, und das hat er allein sich selbst zuzuschreiben.
Um sechs Uhr morgens ist die Innenstadt von Meek Ridge hellwach. Menschen kommen auf dem Weg zur Arbeit vorbei, und er redet mit ihnen, aber ohne diese Lockerheit und Leichtigkeit, für die seine Mutter berühmt war. Als sie noch lebte, lachte sie gern und konnte dem Teufel ein Ohr abschwatzen. Sein Dad war bedächtiger, reservierter, aber die Leute aus dem Viertel mochten ihn dennoch. Danny weiß nicht, was sie von ihm halten, von dem Möchtegernrockstar, der sich vom Acker gemacht hat, sobald er mit der Schule fertig war, und Jahre später mit eingezogenem Schwanz zurückgeschlichen kam. Ist wahrscheinlich besser so.
Der Morgen geht in den Vormittag über, und der Vormittag bekommt Flügel und wird ein irrsinnig heißer Nachmittag. Wenn nicht gerade ein Kunde die Regale durchstöbert, steht Danny mit einer kalten Dose Cola in der Hand in der Tür und beobachtet die Autos auf der Hauptstraße und die Leute, die vorbeigehen. Alle scheinen etwas zu tun und ein Ziel zu haben. Gegen drei ist wie immer mehr los im Laden, er ist beschäftigt und aus der Sonne, bis er irgendwann den Kopf hebt und es kurz vor sieben Uhr abends ist, seine liebste Zeit in der ganzen Woche.
Er holt die Liste heraus, obwohl das nicht nötig wäre. Nur um sicherzugehen, dass er nichts vergessen hat. Als er fertig ist, hat er zwei große Einkaufstaschen gefüllt – wiederverwendbare Stofftaschen, keine Papier- oder Plastiktüten. Er schließt ab, stellt die Taschen auf den Beifahrersitz seines verbeulten, alten Fords und fährt mit heruntergelassenen Fenstern aus Meek Ridge hinaus. Seine kaputte Klimaanlage vertreibt die eingeschlossene Hitze nicht besonders effektiv. Bis die Straße schmaler wird, schwitzt er bereits ein wenig, und als er auf dem kurvigen, unbefestigten Weg weiterfährt, spürt er zwischen den Schulterblättern die ersten Schweißbäche.
Endlich steht er vor dem verschlossenen Tor und wartet dort mit laufendem Motor. Er steigt nicht aus, um auf den Knopf der Sprechanlage zu drücken. Jede Woche zur selben Zeit ist er da, und sie weiß es. Irgendwo in den Bäumen oder Büschen versteckt ist eine Kamera auf sein Gesicht gerichtet. Er hat aufgehört, danach zu suchen. Er weiß einfach, dass sie da ist. Das Tor klickt, öffnet sich langsam, und er fährt durch.
Der Vorbesitzer der Farm starb, als Danny noch zur Schule ging. Die Gebäude verfielen, und auf den Feldern – es waren mehrere Hektar – wuchsen bald nur noch Unkraut und solche Sachen. Jetzt sind die Felder Wiesen, saftig und riesig und grün, und die Gebäude wurden entweder renoviert oder wieder ganz neu aufgebaut. Um das Gelände herum läuft ein Zaun, zu hoch, um ihn zu überklettern, zu stabil, um ihn zu durchbrechen. Überall sind Kameras versteckt, und auch der letzte Schuppen ist alarmgesichert. Als die neue Besitzerin der Farm einzog, wurde Meek Ridge von Gerüchten über sie überschwemmt wie von einer Flutwelle, und die Wogen haben sich noch immer nicht geglättet.
Manche behaupten, sie sei eine Schauspielerin, die einen Nervenzusammenbruch hatte, oder eine reiche Erbin, die den verschwenderischen Lebensstil ihrer Familie ablehnt. Andere glauben, sie sei im Zeugenschutzprogramm oder die Witwe eines europäischen Gangsters. Die Flutwelle hat Tümpel und Bäche voller Tratsch hinterlassen, in denen Gerüchte und Geschichten und faustdicke Lügen hin und her schwappen. Danny geht davon aus, dass keine einzige dieser Geschichten der Wahrheit auch nur im Entferntesten entspricht. Nicht, dass er die Wahrheit kennen würde. Die neue Besitzerin der Farm ist für ihn ein fast ebenso großes Rätsel wie für alle anderen in der Stadt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass er sie einmal pro Woche zu Gesicht bekommt.
Er stellt den Wagen vor dem Wohnhaus ab. Sie sitzt auf der Veranda im Schatten, und zwar in einem Schaukelstuhl, einem echten Schaukelstuhl. Die meisten warmen Abende genießt sie hier; ihr Hund liegt zusammengerollt neben ihr. Danny nimmt die Stofftaschen, eine in jede Hand, und geht die Stufen hinauf, während sie ihr Buch beiseitelegt und sich erhebt. Sie sieht aus wie neunzehn oder so, hat dunkles Haar und dunkle Augen, aber sie wohnt jetzt schon seit über fünf Jahren hier und hat sich kein bisschen verändert, weshalb er annimmt, dass sie ungefähr vierundzwanzig sein muss.
Hübsch ist sie, richtig hübsch. Wenn sie lächelt – was inzwischen nicht mehr ganz so selten vorkommt –, zeigt sich ein einzelnes Grübchen. Ihre Beine sind lang, kräftig und gebräunt. Sie trägt abgeschnittene Jeans und verschrammte Wanderstiefel, dazu an diesem Abend ein ärmelloses T-Shirt, auf dem der Name einer Band prangt, von der er nie etwas gehört hat. Auf dem linken Arm hat sie ein Tattoo, das von der Schulter bis zum Ellbogen reicht. Irgendetwas Ethnisches vielleicht. Seltsame Symbole, die fast wie Hieroglyphen aussehen.
„Hallo“, grüßt er.
Xena, die Schäferhündin, die ihr nie von der Seite weicht, knurrt ihn an und zeigt die Zähne.
„Still, Xena“, sagt sie. Sie spricht leise, aber bestimmt. Xena hört auf zu knurren, lässt Dannys Kehle aber nicht aus den Augen. Endlich wendet sie sich ihm zu. „Sie sind früh dran.“
Danny zuckt mit den Schultern. „Im Laden war nicht viel los. Da habe ich beschlossen, etwas früher Schluss zu machen. Das ist einer der Vorteile, wenn man sein eigener Herr ist.“
Sie sagt nichts dazu. Obwohl sie als junge Frau nur in Gesellschaft eines Hundes hier oben lebt, gehört sie nicht zu den Menschen, die Small Talk schätzen.
Sie zieht die Fliegentür auf, dann die Tür dahinter und bittet ihn ins Haus. Er trägt die Lebensmittel hinein. Xena trottet hinter ihm her wie eine bewaffnete Eskorte. Das Wohnhaus ist groß und alt und hell und sauber. Jede Menge Holz. Alles ist schwer und massiv, und zwar massiv von der Art, nach der man greifen würde, um nicht wegzutreiben. Manchmal hat Danny dieses Gefühl, als könnte er irgendwann einfach abtreiben, und niemand würde es merken.
Er stellt die Lebensmittel auf den Küchentisch, schaut auf und will etwas sagen und merkt, dass er mit dem Hund allein in der Küche ist. Xena sitzt auf den Hinterläufen, die Ohren gespitzt, der Schwanz flach auf dem Boden, und schaut ihn an.
„Hallo“, sagt er leise.
Xena knurrt.
„Hier“, sagt sie direkt neben ihm. Danny fährt herum und wendet sich rasch wieder der Hündin zu, falls sie seine schnelle Bewegung fälschlicherweise als Aggression deutet. Aber Xena sitzt einfach nur da, sie knurrt nicht mehr und sieht vollkommen unschuldig und vielleicht sogar ein wenig belustigt aus.
Danny lächelt verlegen, nimmt das Geld, das sie ihm hinhält. „Tut mir leid“, entschuldigt er sich. „Ich vergesse immer, wie leise Sie gehen. Wie ein Geist.“
Etwas an der Art, wie sie ihn anschaut, lässt ihn seine Wortwahl bedauern, doch bevor er versuchen kann, die Situation zu entspannen, packt sie bereits die Tüten aus.
Er steht unbeholfen da und sagt sich, dass es besser ist, den Mund zu halten. Inzwischen kennt er die Routine. Während sie damit beschäftigt ist, die Lebensmittel wegzuräumen, wird sie wie nebenbei fragen.
„Wie läuft es so in der Stadt?“
„Gut“, antwortet Danny, weil er immer so antwortet. „Es läuft alles ruhig, aber gut. Auf der Hauptstraße eröffnet bald ein Starbucks-Café. Etta, der das Café an der Ecke gehört, ist nicht gerade glücklich darüber. Sie hat versucht, eine Bürgerversammlung einzuberufen, um es zu verhindern. Aber es ist keiner hingegangen. Ich glaube, die Leute wollen ein Starbucks. Und sie können Etta nicht besonders gut leiden.“
Sie nickt, als nähme sie Anteil, und fragt dann wie immer: „Und neue Gesichter?“
„Lediglich die üblichen paar auf der Durchreise.“
„Niemand, der nach mir gefragt hat?“
Danny schüttelt den Kopf. „Niemand.“
Sie erwidert nichts darauf. Lächelt nicht und seufzt nicht und wirkt auch nicht enttäuscht. Es ist lediglich eine Frage, auf die sie eine Antwort braucht, eine Tatsache, die sie bestätigt haben muss. Er hat nie gefragt, auf wen sie wartet oder ob es gut oder schlecht wäre, wenn jemand nach ihr fragen würde. Danny fragt nicht, da er weiß, dass er keine Antwort erhalten würde.
Sie schließt die Speisekammer, legt die beiden Stofftaschen zusammen und gibt sie Danny zurück.
„Könnten Sie das nächste Mal ein paar Eier mitbringen?“, fragt Stephanie. „Ich glaube, ich hätte mal wieder Lust auf ein Omelette.“
Er lächelt. „Gern.“ Der irische Akzent hat ihm schon immer gut gefallen.
EIN SCHATTENDASEIN
Die flackernden Lampen des verwüsteten Supermarkts warfen aus dem Dunkel lange Schatten. Stephanie bahnte sich in dem Durcheinander einen Weg, eine Hand fest um das goldene Zepter gelegt. Ganze Regalreihen waren umgefallen wie Dominosteine und lagen jetzt mitten unter Konservendosen und Ketchup-Flaschen aufeinander. Der Geruch eines kleinen Essigsees stieg ihr in die Nase. Sie schaute nach rechts und sah gerade noch Nadelstreifen aufblitzen. Dann war sie wieder allein in diesem halb eingestürzten Labyrinth. Das einzige Geräusch kam vom leisen Summen der Tiefkühltruhen.
Sie schob sich durch die Dunkelheit und trat wieder ins Licht. Ein paar vorsichtige und leise Schritte, und schon schluckte die Dunkelheit sie erneut in ihrem kalten Hunger. Das Labyrinth öffnete sich, und vor ihr schwebte ein Mann einen Meter über dem Boden, als liege er auf einem unsichtbaren Bett. Er hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und die Augen geschlossen.
Stephanie hob das Zepter.
Ein Gedanke genügte, und ein schwarzer Blitz würde ihn pulverisieren. Ein einfacher Befehl, den sie noch vor nicht einmal einem Jahr ohne zu zögern erteilt hätte. Davos Rhadaman stellte eine Bedrohung dar. Er war eine Gefahr für sie und andere. Er hatte sich in den Beschleuniger gestellt, und die Verstärkung seiner Kräfte hatte ihn gewalttätig werden lassen. Labil. Früher oder später würde er jemanden vor den Augen der Öffentlichkeit umbringen, und schon wäre Magie offen erkennbar in einer Welt, die noch nicht dafür bereit war. Er war jetzt der Feind. Der Feind hatte den Tod verdient.
Und dennoch … sie zögerte.
Sie gehörte nicht zu denen, die an sich zweifelten. Sie neigte nicht zur Selbstkritik. Den Großteil ihrer Existenz hatte Stephanie lediglich als Oberfläche verbracht. Sie war das Spiegelbild, die Vertretung, die Kopie. Während Walküre Unruh da draußen in der Welt die Heldin spielte, ging Stephanie in die Schule, saß am Abendbrottisch und führte deren alltägliches Leben weiter. Man sah sie als gefühlloses Objekt. Sie war ein Es gewesen.
Doch jetzt, da sie eine Sie war, war plötzlich alles verwirrender. Nicht mehr so schwarz-weiß. Jetzt, da sie eine Person war, da sie wirklich lebte, merkte sie, dass sie keinem anderen Lebewesen die Gelegenheit dazu nehmen wollte – nicht, wenn sie es irgendwie verhindern konnte. Was, wie sie offen zugab, höchst lästig war.
Mit rabenschwarzer Miene verließ sie ihre Deckung und näherte sich Rhadaman langsam. Sie zog ein Paar Handschellen aus ihrer Tasche, wobei sie aufpasste, dass die Kette nicht klimperte. Das Zepter hielt sie auf ihn gerichtet – sie wollte zwar niemanden umbringen, wenn sie es verhindern konnte, aber blöd war sie auch nicht. Sorgfältig achtete sie darauf, wohin sie trat. Der Boden war übersät mit Schutt und Scherben aus dem Supermarkt. Die Hälfte der Strecke hatte sie bereits zurückgelegt, und Rhadaman hatte die Augen immer noch nicht geöffnet.
Je näher sie kam, desto lauter dröhnte ihr Puls in ihren Ohren. Sie war überzeugt, dass er gleich ihren Herzschlag hören würde. Und wenn nicht ihren Herzschlag, dann bestimmt ihren lächerlich lauten Atem. Wann hatte sie nur angefangen, so laut zu atmen? Atmete sie schon immer so laut? Das hätte doch schon mal jemand erwähnen können!
Als Stephanie noch drei Schritte entfernt war, hielt sie inne und schaute sich nach den Nadelstreifen um. Nichts zu sehen. Warum hatte sie nicht gewartet? Warum musste sie das allein durchziehen? Hatte sie wirklich so viel zu beweisen? Wahrscheinlich schon, wenn sie es sich jetzt so überlegte. Würde es sie zu einer ebenbürtigen Partnerin machen, wenn sie Rhadaman im Alleingang gefangen nahm? Würde dies in Zukunft ihre Existenz rechtfertigen?
Sie war es nicht gewohnt, dass ihr so viele widersprüchliche Gedanken durch den Kopf gingen.
Noch drei Schritte. Sie streckte die Hand aus, die Handschellen bereit zum Zuschnappen.
Rhadaman schlug die Augen auf.
Er starrte sie an. Sie starrte ihn an.
„Äh … Ist das ein Traum?“, fragte sie. Einen Versuch war es ja wert, doch eine Energiewelle warf sie nach hinten.
Sie stürzte, und ein schummriger Teil ihres Bewusstseins sagte ihr, dass ihre Hände leer waren. Als sie nicht mehr über den Boden schlitterte, schaute sie auf und sah Rhadaman mit dem Zepter vor sich stehen.
„Ich hab das schon in verschiedenen Büchern gesehen“, sagte er. Er war Amerikaner. „Es ist das Original, nicht wahr? Damit haben die Urväter die Gesichtslosen getötet und sie aus dieser Wirklichkeit vertrieben. Der echte Göttermörder.“ Er zielte damit auf Stephanie, als sie aufstand, und runzelte dann die Stirn. „Es funktioniert nicht.“
„Muss kaputt sein“, meinte sie. „Kann ich es wiederhaben?“
Sie streckte die Hand danach aus. Rhadaman betrachtete sie noch einen Augenblick länger. Seine Augen weiteten sich. „Du bist sie.“
„Nein.“
Er ließ das Zepter fallen, und seine Hände begannen zu glühen. „Du bist sie!“
„Bin ich nicht!“, widersprach sie rasch, bevor er angreifen konnte. „Du glaubst, ich sei Darquise, aber das stimmt nicht! Ich bin ihr Spiegelbild! Ich bin total normal.“
„Du hast meine Freunde getötet!“
„Stehen bleiben!“ Sie wies mit dem Finger auf ihn. „Bleib sofort stehen! Wenn ich Darquise wäre, könnte ich dich auf der Stelle umbringen, richtig? Ich bräuchte keine Handschellen, um dich zu fesseln. Hör mir zu. Walküre Unruh hatte ein Spiegelbild. Das bin ich. Walküre Unruh hat sich davongemacht, wurde böse und verwandelte sich in Darquise, aber ich bin immer noch da. Ich bin also nicht Darquise, und deine Freunde habe ich auch nicht umgebracht.“
Rhadamans Unterlippe zitterte. „Du bist kein Spiegelbild.“
„Doch. Zumindest war ich eines. Ich habe mich weiterentwickelt. Ich heiße Stephanie. Wie geht’s dir?“
„Das ist doch ein Trick.“
„Nein. Ein Trick wäre entschieden cleverer als das hier.“
„Ich sollte … ich sollte dich umbringen.“
„Warum denn? Ich arbeite mit dem Sanktuarium zusammen. Der Krieg ist vorbei, richtig? Daran erinnerst du dich doch, oder? Wir sitzen wieder alle im selben Boot, auch wenn ihr sozusagen verloren habt und wir das Sagen haben. Wenn ich dir also befehle, du sollst dich ergeben, ergibst du dich. Einverstanden?“
„Niemand erteilt mir mehr Befehle“, verkündete Rhadaman.
„Davos, du willst doch nichts tun, was du hinterher bereust. Der Beschleuniger hat deine magischen Kräfte verstärkt, aber er hat dich labil gemacht. Wir müssen dich zurückbringen und deinen Zustand überwachen, bis du wieder normal wirst. Du kannst im Moment nicht klar denken.“
„Ich kann sehr wohl klar denken. Wenn ich dich töte, macht das zwar meine Freunde nicht wieder lebendig, aber es verschafft mir todsicher ein gutes Gefühl.“
„Also das“, befand Skulduggery Pleasant und hielt Rhadaman den Lauf seines Revolvers an die Schläfe, als er neben ihn trat, „ist jetzt wirklich eine besorgniserregend ungesunde Sicht der Dinge.“
Rhadaman riss die Augen auf und erstarrte. Skulduggery stand da in seiner ganzen nadelgestreiften Pracht, den Hut in verwegener Schräglage. Sein Schädel spiegelte das Licht.
„Ich will nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst“, sagte Skulduggery. „Du bist mächtig, aber nicht so mächtig, dass dir eine Kugel im Kopf nichts anhaben könnte. Du bist verhaftet.“
„Lebendig kriegst du mich nie.“
„Ich glaube, du solltest dir wirklich besser überlegen, was du von dir gibst, bevor du es aussprichst. Du klingst, als seist du nicht ganz zurechnungsfähig. Stephanie, du hast anscheinend deine Handschellen fallen lassen. Würde es dir etwas ausmachen, sie aufzuheben und –“
Rhadaman bewegte sich schneller, als Stephanie es erwartete. Sogar schneller, als Skulduggery es erwartete. Von einem Augenblick zum nächsten schlitterte sein Revolver über den Boden. Er selbst wich Rhadamans zupackenden Händen aus.
„Ihr könnt mich nicht aufhalten!“, kreischte Rhadaman.
Skulduggerys Krawatte saß schief. Mit einer zackigen Bewegung rückte er sie zurecht. Er war verärgert. „Wir wollten dich ohne Gewaltanwendung in Gewahrsam nehmen, Davos. Mach es uns nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.“
„Ihr habt doch keine Ahnung, was es bedeutet, Macht in dieser Größenordnung zu besitzen.“ In Rhadamans Augen blitzte Wut auf. „Und ihr wollt, dass ich darauf verzichte? Wieder so werde, wie ich vorher war?“
„Du wirst nicht ewig auf diesem Level der Macht bleiben“, erklärte Skulduggery. „Und das weißt du auch. Sie lässt schon nach, merkst du es? In vierzehn Tagen wird es mehr Tiefen als Höhen geben, und bis zum Ende des Monats ist alles wieder so, wie es immer war. Dagegen lässt sich nichts machen, Davos. Also tu dir einen Gefallen und gib auf, bevor du größeren Schaden anrichtest. Wir werden dir die Hilfe zukommen lassen, die du brauchst, und wenn alles vorbei ist, nimmst du dein altes Leben wieder auf. Alternativ kannst du jetzt weitermachen, bis du jemanden verletzt. In diesem Fall verbringst du deine Zukunft in einer Gefängniszelle.“
„Ihr habt Angst vor meinen Kräften.“
„Die solltest du auch haben.“
„Weshalb sollte ich Angst haben? Das ist das Größte, was mir je passiert ist.“
„Das?“, fragte Skulduggery. „Im Ernst? Schau dich doch um, Davos. Wir stehen mitten in einem Supermarkt. Das Größte, was dir je passiert ist, und dir fällt nichts anderes ein, als einen Supermarkt zu verwüsten? Bist du wirklich so beschränkt?“
Rhadaman lächelte. „Das? Oh, das war ich nicht.“
„Nein? Wer war es dann?“
„Meine Freunde.“
Stephanie konnte es sich nicht verkneifen – sie musste sich umschauen.
„Und wo sind deine Freunde jetzt?“, fragte Skulduggery.
Rhadaman zuckte mit den Schultern. „Irgendwo in der Nähe. Sie entfernen sich nie allzu weit. Nach den vielen Schlachten gab es jede Menge von ihnen. Ich habe eine Gruppe entdeckt und mich ihrer angenommen. Sehr gesprächig sind sie nicht.“
Stephanie nahm einen schwachen Duft wahr. „Hohle?“
„Ich habe ihnen Namen gegeben“, erzählte Rhadaman. „Und ich habe ihnen Kleider angezogen. Ich hab sie nach meinen Freunden benannt, nach denen, die Darquise umgebracht hat. Ich glaube, es gefällt ihnen, dass sie jetzt Namen haben. Nicht dass sie es zeigen würden.“
„Hohlen gefällt gar nichts“, erwiderte Stephanie. „Sie denken nicht. Sie fühlen nicht.“
„Spiegelbilder sollten eigentlich auch nichts fühlen“, konterte Rhadaman. „Aber du behauptest, du hättest Gefühle. Also weshalb bist du anders als sie?“
„Weil ich ein richtiger Mensch bin.“
„Oder weil du dich dafür hältst.“
„Wenn du dich ergibst“, mischte Skulduggery sich wieder ein, „verspreche ich dir, dass wir deine Freunde mitnehmen und gut behandeln. Sobald die Wirkung des Beschleunigers nachlässt, bekommst du sie wieder. Sind wir im Geschäft?“
„Weißt du, was sie wirklich gern machen?“, fragte Rhadaman, als hätte er Skulduggery gar nicht gehört. „Sie schlagen gern Leute zu Brei. Sie schauen gerne zu, wenn das Blut spritzt. Sie lieben es, wenn Knochen in ihren Fäusten brechen. Das gefällt meinen Freunden. Das macht sie glücklich.“
„Das willst du nicht ernsthaft tun“, entgegnete Skulduggery.
Rhadaman lächelte, spitzte die Lippen und stieß einen kurzen kreischenden Pfiff aus.
Skulduggery lief auf ihn zu. Mit einer Drehung aus dem Handgelenk ließ er das Zepter in Stephanies Hände segeln. Rhadaman packte ihn, schleuderte ihn von sich und sprang ihm dann nach. Bevor Stephanie Skulduggery zu Hilfe eilen konnte, kamen die Hohlen schon durch einen Berg aus Müslischachteln gestolpert. Angekleidete Hohle, die in schlecht sitzenden Anzügen lächerlich aussahen, albern in weit schwingenden geblümten Kleidern.
Schwarzes Licht schoss aus dem Kristall im Zepter und pulverisierte drei von ihnen vollkommen geräuschlos. Immer wieder zuckten Blitze auf, doch der Zug der Hohlen nahm kein Ende. Sie waren inzwischen auch hinter ihr, rückten immer näher. Das war ihr Trick. Sie waren langsam und unbeholfen und dumm, doch gerade wenn man sie unterschätzte, waren sie am gefährlichsten.
Stephanie lief nach rechts, schoss sich einen Weg frei und duckte sich unter den schweren Händen weg, die nach ihr griffen. Sie führte die Hohlen einen schmalen Gang mit großen, schweren Gefriertruhen auf beiden Seiten hinunter, drehte sich zu ihnen um und wich weiter zurück, als sie schwankend wieder die Verfolgung aufnahmen. Zahlenmäßige Überlegenheit spielt keine Rolle, wenn der Feind nur einzeln angreifen kann. Das hatte Skulduggery ihr einmal beigebracht. Alles hing von der richtigen Wahl des Schauplatzes ab.
Der schwarze Kristall spuckte knisternde Energie aus. Die Urväter hatten mit ihm vor Jahrtausenden die Gesichtslosen aus dieser Wirklichkeit vertrieben. Wenn er mächtig genug war, verrückte Götter zu töten, deren Aussehen allein schon genügte, um Leute in den Wahnsinn zu treiben, hatten künstliche Wesen mit einer Haut aus ledrigem Papier und nicht einer einzigen Gehirnzelle im Kopf kaum eine Chance. Sie zerfielen zu Staub, der auf den Boden rieselte und auf dem ihre hirnlosen Brüder herumtrampelten. Sie blieben nicht stehen. Natürlich blieben sie nicht stehen. Sie kannten keine Angst. Sie hatten kein Selbstgefühl. Sie waren armselige, lebendigen Wesen nur nachempfundene Kreaturen, ganz ähnlich der Sorte, zu der Stephanie selbst einmal gehört hatte. Vor langer Zeit.
Doch Walküre Unruh gab es nicht mehr. Jetzt gab es nur noch Stephanie Edgley.
An einer anderen Ecke im Supermarkt, dort, wo Skulduggery gegen Rhadaman kämpfte, hörte sie es krachen. Sorgen machte sie sich keine. Skulduggery konnte sehr gut selbst auf sich aufpassen.
In die Schatten neben ihr kam Bewegung, und eine Faust traf ihren Arm. Ihre Hand öffnete sich, und das Zepter schlitterte unter ein umgestürztes Regal. Stephanie wich fluchend zurück. Ihre einzige andere Waffe war der geschnitzte Stock auf ihrem Rücken, ein Elektroschocker, der nur begrenzt einsatztauglich war und bei Wesen ohne Nervensystem nichts ausrichten konnte. Sie rannte an einem Regal mit Mikrowellen und Mixern vorbei, vorbei an Töpfen und Pfannen. Dort schnappte sie sich eine Schöpfkelle aus Edelstahl, die sich, was nicht überraschte, in ihrer Hand relativ nutzlos anfühlte. Sie ließ sie auch sofort wieder fallen, als sie die letzte verbliebene Schachtel mit Küchenmessern sah. Sie zerrte die Schachtel vom Regal und warf sie dem nächsten Hohlen an den Kopf. Die Messer fielen heraus und verteilten sich auf dem Boden.
Stephanie hob rasch die beiden größten auf, holte aus und schlitzte dem Hohlen den Hals damit auf. Grünes Gas strömte heraus wie die Luft aus einem kaputten Reifen. Schon beim Weiterlaufen spürte sie das Brennen des Gases in ihrem Hals.
Zwei Hohle waren vor ihr, einer mit Hemd und Krawatte, aber ohne Hose, der andere in einem seidenen Morgenmantel.
Sie ließ sich auf die Knie fallen, schlitterte zwischen ihnen hindurch und schlitzte ihnen dabei die Waden auf. Die beiden fielen gerade in sich zusammen, da war sie schon wieder auf den Beinen und stach mit dem Filetiermesser in die Brust eines anderen Hohlen im Pyjama. Hustend drehte sie sich von dem rasch ausströmenden Gas weg, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Etwas Verschwommenes bewegte sich vor ihr, sie stach zu und schob es weg. Stephanie sah immer weniger, ihre Lunge brannte, und ihr Magen rebellierte. Sie schmeckte Galle. Dann rutschte sie auf etwas aus. Fiel hin. Verlor eines der Messer.
Eine Hand packte sie an den Haaren und zog sie nach hinten. Sie schrie und versuchte, mit dem zweiten Messer zuzustechen, doch es verfing sich in ihrer Jacke, und dann war es ebenfalls verschwunden. Sie hob die Hände, spürte raue Haut, grub die Fingernägel hinein, versuchte sie einzureißen. Die Hand ließ ihr Haar los, dafür traf sie ein wuchtiger Schlag ins Gesicht. Die Welt blitzte auf und drehte sich. Stephanie wurde erneut geschlagen, versuchte, sich mit den Armen zu schützen und die gewaltigen Hiebe abzufangen. Mit jedem neuen Schlag wurde ihr Kopf durchgeschüttelt. Hätte sie magische Kräfte besessen, hätte sie den Hohlen inzwischen längst in Brand gesteckt oder ihn mit ihren Schatten auseinandergerissen. Aber sie besaß keine magischen Kräfte. Für sie gab es keinen solchen Luxus, auf den sie zurückgreifen konnte, der sie raushauen konnte, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Sie war nicht Walküre Unruh. Sie brauchte keine magischen Kräfte.
Stephanie drehte sich auf den Rücken und zog die Knie an. Der Hohle ragte als schwarzer Schatten über ihr auf. Seine Faust krachte mit der Wucht einer Abbrissbirne in ihren Bauch und hätte ihr den Atem genommen, wenn sie ihre gepanzerte Kleidung nicht getragen hätte. Sie stemmte die Füße gegen seine Beine, stieß sich ab und schlitterte aus seiner Reichweite. Nach einer Rolle rückwärts landete sie in der Hocke. Der Hohle schwankte leicht. Auf der Suche nach einer Waffe griff Stephanie in den Verkaufsständer neben sich. Ihre Finger schlossen sich um einen Staubmopp. Der Hohle kam auf sie zu, sie stand auf und schwang den Mopp wie einen Baseballschläger.
Wo waren die Mopps mit hölzernem Griff? Mopps mit hölzernem Griff wären schwerer gewesen – das Plastikteil in ihrer Hand federte lediglich locker vom Kopf des Hohlen zurück.
Sie drehte es um und rammte dem Hohlen den Stiel in den Mund. Dann drückte sie fester, bis er ins Wanken geriet, ließ das Teil los, wandte sich um und rannte denselben Weg, den sie gekommen war, wieder zurück. Inzwischen sah sie wieder etwas klarer und hatte nicht mehr das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Ein Hohler wandte sich ihr zu, sie wich ihm aus, stolperte, fiel und sah das Zepter. Sie warf sich nach vorn, griff unter das umgestürzte Regal und schloss die Finger um das Zepter. Sein Gewicht war beruhigend. Der Hohle wollte sie packen. Sie pulverisierte ihn.
Stephanie erhob sich, brachte den nächsten Hohlen zum Zerfallen und den hinter ihm auch. Drei weitere torkelten in ihr Blickfeld, und sie erledigte sie mit derselben Leichtigkeit. Dann war alles still. Die einzigen Geräusche kamen von Skulduggery.
Stephanie lief zu ihm und sah gerade noch, wie Rhadaman ihm einen Arm ausriss.
Skulduggery schrie, als seine Knochen klappernd auf den Boden fielen. Ein Energiestrahl hob ihn von den Füßen, und Rhadaman kam näher, bereit, den tödlichen Stoß abzufeuern.
„Keine Bewegung!“, brüllte Stephanie. Das Zepter zielte genau auf seine Brust.
Er schaute sie an und lachte. „Das Ding funktioniert nicht. Schon vergessen?“
Sie zielte auf die Tür hinter ihm und pulverisierte sie. „Es funktioniert nur bei seinem Besitzer, Blödmann. Und wenn du nicht willst, dass man deine Überreste in ein Kehrblech fegt, legst du dir jetzt selbst die Handschellen an.“ Mit der freien Hand warf sie ihm die Handschellen zu. Sie fielen vor ihm auf den Boden, doch er machte keine Anstalten, sie aufzuheben.
„Ich weiß, was du denkst“, sagte sie. „Du denkst: ‚Kann ich das Mädchen töten, bevor sie schießt?‘ Wenn du dir aber klarmachst, dass es sich hierbei um das Zepter der Urväter handelt, den mächtigsten Göttermörder der Welt, und er dich mit einem einzigen Gedanken in Staub verwandeln kann, musst du dich doch fragen …“
Skulduggery ließ den Griff seines Revolvers in Rhadamans Kiefer krachen. Rhadaman drehte sich um hundertachtzig Grad und brach zusammen.
Stephanie starrte ihn finster an. „Musste das sein?“
Skulduggery stupste Rhadaman mit dem Fuß an und vergewisserte sich, dass er bewusstlos war.
„Ich hatte gerade einen Lauf“, jammerte Stephanie. „Ich hatte ihn, und ich hatte einen Lauf. Ich hab mein Ding gemacht. Man unterbricht niemanden, wenn er sein Ding macht.“
„Leg ihm die Handschellen an“, sagte Skulduggery. Er steckte seinen Revolver weg, hob seinen Arm auf und schob ihn von unten in den Jackenärmel.
„Ich war kurz davor, meinen besten Satz loszuwerden, aber du … Okay.“ Stephanie steckte das Zepter in ihren Rucksack, ging zu Rhadaman und legte ihm die Handschellen an, als Skulduggerys Arm sich ins Gelenk einklickte.
„Autsch“, murmelte er, dann schaute er sie an. „Sorry, du wolltest etwas sagen?“
„Ich war so cool.“
„Das bezweifle ich.“
„Ich war echt cool, und ich wollte aus einem echt coolen Film zitieren, und du hast mir die Schau gestohlen.“
„Oh. Tut mir leid.“
„Nein, tut es dir nicht. Du erträgst es nur nicht, wenn andere Leute coole Sachen sagen, während du mit Schreien beschäftigt bist. Ist doch so, oder?“
„Er hat mir den Arm ausgerissen.“
„Dir reißt man doch ständig die Arme aus. Es passiert selten, dass ich etwas Cooles anbringen kann, und wenn, ist gewöhnlich niemand da, der mir zuhört.“
„Ich entschuldige mich. Bitte fahre fort.“
„Jetzt sage ich es nicht mehr.“
„Warum nicht? Es ist dir doch offensichtlich sehr wichtig.“
„Nein. Es hat sich erledigt. Er ist bereits gefesselt. Außerdem ist er bewusstlos.“
„Vielleicht fühlst du dich hinterher besser.“
„Ich würde mir bescheuert vorkommen. Ich kann doch zu einem bewusstlosen Mann keine coolen Sachen sagen.“
„Hier geht es nicht um ihn. Es geht um dich.“
„Nein. Vergiss es. Du würdest mich nur auslachen.“
„Ich verspreche dir, dass ich das nicht tun werde.“
„Ich hab gesagt, vergiss es.“
Er zuckte mit den Schultern. „Na gut, wenn du es nicht zu Ende bringen willst, musst du nicht. Aber du könntest dich hinterher besser fühlen.“
„Nein.“
„Na gut.“
Er stand da und schaute sie an. Sie blickte finster zurück, öffnete den Mund, um die Unterhaltung fortzusetzen, doch er drehte sich abrupt um und ging davon, als sei ihm gerade aufgefallen, dass sie zwar aussah und redete und klang wie Walküre Unruh, aber nicht Walküre Unruh war.
Und es nie sein würde.
DEN HANDSCHUH HINWERFEN
Roarhaven war eine junge Stadt – kaum mehr als drei Wochen alt. Sie hatte sich von ihren bescheidenen Anfängen als Kleinstadt neben einem toten See von einem Augenblick zum nächsten zu einem glanzvollen architektonischen Wunderwerk gemausert. In einer parallelen Wirklichkeit erbaut, war sie in unsere Wirklichkeit herübergeschwenkt worden und überlagerte die alte Stadt nun nahtlos. Die engen Gassen des alten Roarhaven waren jetzt breit, die kleinen Häuser prachtvolle Villen. Die Stadt erstreckte sich über ein riesiges Gebiet, und ihre Grenzen schützte eine gewaltige Mauer, die Roarhaven mit Wissenschaft und Magie und allerlei Tricks vor den neugierigen Augen Sterblicher abschirmte. Das Sanktuarium befand sich im Zentrum der Stadt, ein funkelnder Palast mit zahlreichen Türmen und Spitzen, um den die magischen Gemeinschaften auf der ganzen Welt Roarhaven beneideten.
Dies hätte die erste magische Stadt der neuen Weltordnung sein sollen. Ravel plante, weitere folgen zu lassen. Wenn die Warlocks mit der Ermordung Sterblicher begannen und die Sterblichen Retter brauchten, würden die Zauberer auf den Plan treten, die Horde zurückschlagen und als Helden gefeiert werden. Sie würden sich als außerordentlich wertvolle Verbündete im Kampf gegen die neu entdeckten Mächte der Dunkelheit erweisen. Zauberer und Sterbliche stünden Seite an Seite. Und dann würden die Zauberer nach und nach und kaum merklich die Sterblichen ausbooten und die Welt in Besitz nehmen. Aber wie lautete der Spruch, den Walküre Unruh einmal gehört hatte und an den sich Stephanie jetzt erinnerte?
Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt.
Die Zahl der Warlocks war weit höher gewesen als erwartet. Sie hatten den Schutzschild zerstört, die Mauer eingerissen und das Tor durchbrochen. Um der Übermacht etwas entgegenzusetzen, schickte Erskin Ravel Zauberer in den Kampf, deren Kräfte vom Beschleuniger verstärkt waren – doch diese energieüberladenen Agenten erwiesen sich nicht nur als Gefahr für den Feind, sondern auch für die eigenen Reihen. Und dann war Darquise aufgetaucht.
In dem darauffolgenden Chaos gab es viele weitere Opfer. Die Warlocks traten den Rückzug an und zerstreuten sich, nachdem sie gesehen hatten, dass ihr Anführer getötet worden war, neunzehn überspannte Zauberer flohen, und Darquise belegte Erskin Ravel mit der Strafe aller Strafen.
Roarhaven überlebte, doch der Traum war ausgeträumt.
Jetzt, sechzehn Tage nach dem Ende der Schlacht, war nur ein Bruchteil der verschwenderisch ausgestatteten Gebäude bewohnt. Auf den Straßen blieb es ruhig, die Menschen waren gedemütigt, verängstigt und beschämt. Man hatte ihnen Ruhm und eine Vormachtstellung versprochen; ihr Geburtsrecht als „heldenhafte Eroberer der Welt“ zugesagt. Was für ein Schock musste es gewesen sein, als sie entdeckten, dass sie in dieser Geschichte die Schurken waren.
Stephanie hatte jedoch keinerlei Mitleid mit ihnen. Sie mochten sich als Löwen gesehen haben, scharten sich jetzt aber zusammen wie Lämmer.
Was die Stadt betraf, hatte Stephanie sich allerdings noch keine Meinung gebildet. Ja, sie war beeindruckend und zum Teil sogar wunderschön, und dass sie praktisch leer war, verlieh ihr gewisse gespenstische Züge, die ihr, wie sie feststellte, gefielen. Doch der Bentley brauchte acht Minuten, um von den Stadttoren zum Sanktuarium zu gelangen. Und das lag nicht am Verkehr – der so gut wie nicht vorhanden war –, sondern an dem lächerlichen Gittersystem, nach dem sie die Straßen angeordnet hatten. Es wäre ja noch in Ordnung gewesen, wenn sie sich während dieser acht Minuten hätte unterhalten können, doch an diesem Morgen hatte Skulduggery eine seiner schweigsamen Phasen, und so saß Stephanie stumm neben ihm.
Sie erreichten das Sanktuarium – oder den Palast, zu dem das Sanktuarium geworden war –, fuhren die Rampe zum unterirdischen Parkplatz hinunter und nahmen den Aufzug hinauf in die Lobby. Man hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um den Besuchern zu zeigen, dass hier das Zentrum der Macht lag. Die Lobby war ein Traum aus Statuen und Gemälden, weißem Marmor und schwärzestem Obsidian. Grau gekleidete Sensenträger mit boshaft glänzenden Sensenblättern hielten Wache.
Tippstaff, der Administrator, kam herüber und begrüßte sie. „Detektiv Pleasant, Miss Edgley. Großmagier Sorrows wird in Kürze bereit sein, Sie zu empfangen.“
Skulduggery nickte, und Tippstaff ging schon wieder weiter und schaute auf seinem Klemmbrett nach dem nächsten Punkt auf seiner To-do-Liste. Skulduggery wartete mit den Händen in den Taschen. Er stand so still wie die Statuen ringsherum. Stephanie hatte nicht halb so viel Geduld und marschierte davon, froh um die Gelegenheit, sich verdrücken zu können. Es gab noch die humorvollen Momente, Momente, in denen der alte Skulduggery zum Vorschein kam, aber sie waren selten und kurzlebig. In Gedanken war er anderswo. In Gedanken war er bei Walküre Unruh.
Sie musste nicht in seiner Nähe sein, wenn er an sie dachte.
Deshalb verließ sie die hell erleuchteten Marmorflure und betrat den Bereich, der jetzt ‚das alte Sanktuarium‘ genannt wurde. Es handelte sich um die Reste des ursprünglichen Gebäudes mit seinen Betonmauern, den flackernden Lampen und tanzenden Schatten. Kaum ein Zauberer kam noch hierher, und genau das war der Grund, weshalb es Stephanie hier gefiel. Die anderen Zauberer betrachteten sie voller Unbehagen. Für sie war sie das Spiegelbild der Weltenzerstörerin, die billige Kopie des Mädchens, das sie alle töten würde. Sie trauten ihr nicht. Sie mochten sie nicht. Und ganz gewiss schätzten sie sie nicht.
Sie betrat das Beschleunigerzimmer.
„Hallo“, grüßte sie.
Der Ingenieur drehte sich um. Das Lachgesicht, das Clarabelle auf seinen glatten Metallkopf gemalt hatte, war immer noch da und verlieh dem Roboter einen liebenswert fröhlichen Ausdruck. An seinem mit Sigillen bedeckten Körper fehlten einige Teile, und in den Lücken pulsierte sacht, fast hypnotisch, ein bläulich weißes Licht.
„Hallo, Stephanie“, erwiderte der Ingenieur. „Wie geht es Ihnen heute?“
Sie zuckte mit den Schultern. Der Beschleuniger stand wie eine offene Vase mitten im Raum. Der oberste Rand seiner Außenhaut berührte fast die Decke. Darunter verliefen knisternde und hell leuchtende Schaltkreise. Er zog den Strom aus einem Loch zwischen dieser Welt und der Quelle aller Magie, ein Loch von der Größe eines Nadelstichs, um das herum die Maschine gebaut worden war.
„Er wird heller“, stellte sie fest.
„So ist es“, bestätigte der Ingenieur. „Die Stromstärke wächst mit jedem Durchlauf.“
Ursprünglich hatte er ihnen dreiundzwanzig Tage, acht Stunden, drei Minuten und zwölf Sekunden bis zur Überlastung des Beschleunigers gegeben. Nachdem man ihn beauftragt hatte, diese Deadline, falls irgend möglich, hinauszuzögern, hatte er an der Maschine herumgebastelt, den Stromfluss umgeleitet und die Nutzung verändert, bis dem Countdown weitere sieben Tage hinzugefügt werden konnten. Doch diese kurze Atempause war im Nu verstrichen.
„Wie lange haben wir noch bis zum großen Krachbumm?“, fragte Stephanie.
„Vierzehn Tage, sieben Stunden und zwei Minuten“, antwortete der Ingenieur. „Obwohl die Maschine nicht krachbumm machen wird. Falls es zu einer Überspannung des Beschleunigers kommt, wird das Geräusch aller Wahrscheinlichkeit nach ein sehr lautes Zisch sein. Möglicherweise auch ein Wumm.“
„Also nichts sonderlich Beeindruckendes.“
„In der Tat. Die Folgen werden jedoch äußerst eindrucksvoll ausfallen.“
„Genau. Die Kräfte sämtlicher Zauberer auf der Welt werden auf das Zwanzigfache ihres normalen Levels hochgepuscht. Sie verlieren dabei den Verstand, und der gesamte Planet ist erfolgreich dem Untergang geweiht. Das ist verdammt eindrucksvoll, keine Frage.“
„Sarkasmus ist Ihre Stärke, Miss Edgley.“
Sie lächelte. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Ingenieur. Hat sich schon jemand angeboten, seine Seele zu opfern, damit das Teil abgeschaltet werden kann?“
„Noch nicht.“
„Wahrscheinlich sind alle zu beschäftigt.“
„Das vermute ich auch.“
„Wir haben noch zwei Wochen. Ich bin sicher, dass die Freiwilligen Schlange stehen werden, wenn es sich erst herumgesprochen hat.“
„Zweifellos.“
Sie lachte. „Sie sind ein cooler Roboter, wissen Sie das?“
„Möglicherweise der coolste überhaupt. Sind Sie beschädigt?“
„Bitte?“
„Ihr Gesicht. Sie haben blaue Flecken.“
„Oh, das. Das ist gar nichts“, meinte sie. „Lediglich eine weitere Sonderzulage in meinem Job.“
„Tut es weh?“
„Nein. Eigentlich nicht. Nur wenn ich draufdrücke.“
„Dann sollten Sie das nicht tun.“
Stephanie grinste, wurde jedoch gleich wieder ernst. „Kann ich Sie etwas fragen? Zu den Symbolen auf Ihrem Körper? Sie stellen unter anderem sicher, dass Sterbliche Sie nicht sehen können, richtig?“
„Im Wesentlichen ja.“
„Aber ich bin sterblich und kann Sie trotzdem sehen.“
„Sie sind anders.“
„In welcher Hinsicht? Ich meine, ich besitze keine magischen Kräfte.“
„Aber Sie kommen aus der Magie“, erwiderte der Ingenieur. „Sie sind etwas, das aus Magie geboren wurde, genau wie ich. Doch im Gegensatz zu mir haben Sie Ihren ursprünglichen Zweck übertroffen. Sie wurden ein Mensch – so ähnlich wie Pinocchio in dem alten Kinderbuch.“
„Pinocchio“, wiederholte Stephanie. „Hm. So habe ich es bisher noch nicht gesehen.“
„Mein Schöpfer, Dr. Rote, hat mir abends immer daraus vorgelesen. Das war seine Lieblingsgeschichte. Jetzt ist es auch meine Lieblingsgeschichte.“
„Och, das ist ja richtig süß. Wollen Sie ein Mensch sein?“
„Ganz und gar nicht“, wehrte der Ingenieur ab. „Ich möchte eine Marionette sein.“
Stephanie sah Skulduggery auf der Krankenstation wieder, wo er im Gespräch mit Reverie Synecdoche war. Sie hielt Abstand. Dr. Synecdoche war eine echt nette Ärztin, allerdings so fasziniert von Stephanies unabhängiger Existenz, dass es nur noch nervig war. Deshalb ließ Stephanie Skulduggery reden und hielt sich im Hintergrund.
Die Krankenstation lag direkt neben dem naturwissenschaftlichen Flügel, und in diesem Teil des Sanktuariums waren alle ernst und fleißig und immer beschäftigt. Alle außer Clarabelle. Stephanie beobachtete sie bei der Arbeit – oder zumindest bei dem, was als Arbeit missdeutet werden konnte. Im Vergleich zu den Leuten ringsherum fehlte es ihren Bewegungen an Energie, und sie hielt ein leeres Klemmbrett im Arm. Dafür verriet ihr Gesichtsausdruck doppelt so viel Konzentration wie der aller anderen. Ihre Haare leuchteten heute knallgrün.
„Hallo, Clarabelle“, grüßte Stephanie.
Clarabelle blieb stehen, doch ihre Miene veränderte sich nicht. „Hi, Walküre.“
Stephanie schüttelte den Kopf. „Ich bin immer noch Stephanie, tut mir leid.“
„Warum tut es dir leid? Hast du etwas Falsches gemacht?“
„Das ist gut möglich“, antwortete Stephanie. „Du siehst aus, als hättest du viel zu tun.“
„Ich weiß. Ich übe. Von den Ärzten will mich keiner etwas machen lassen, bevor ich mich nicht bewiesen habe. Also tue ich so, als sei ich beschäftigt, damit sie sehen, dass ich das wirklich gut kann.“
„Glaubst du, das funktioniert?“
„Ich bin recht zuversichtlich“, meinte Clarabelle. „So habe ich Professor Grouse dazu gebracht, dass er mich eingestellt hat. Später hat er mir gesagt, dass er seine Entscheidung sofort bereut hätte, doch da hatte ich schon alle meine Sachen hergebracht. Mit den Ärzten hier kann man längst nicht so viel Spaß haben. Einer sieht aus wie ein Giftpilz. Man sollte eigentlich davon ausgehen können, dass man mit einem, der aussieht wie ein Giftpilz, Spaß haben kann, aber mit ihm nicht. Außerdem hat er es nicht gern, wenn man ihn Giftpilz nennt. Selbst Dr. Nye war umgänglicher als der Pilzkopf. Wo ist Dr. Nye überhaupt?“
„Im Gefängnis.“
„Wann kommt es wieder raus?“
„So schnell nicht.“
Clarabelle schürzte die Lippen und nickte dann. „Das ist wahrscheinlich gut so. Dr. Nye ist nicht besonders nett. Es experimentiert gern mit Dingen. Ich habe gehört, es hätte mal die obere Hälfte eines Zentauren mit der unteren Hälfte eines Minotaurs kombiniert. Die Kreatur sei entkommen, und man könnte sie manchmal noch hören, wenn sie nachts durch die Wälder streift und den Vollmond anheult …“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.“
„Trotzdem“, meinte Clarabelle im Weggehen. „Es macht nachdenklich, oder?“
„Stephanie“, rief Dr. Synecdoche und winkte sie herüber.
Stephanie unterdrückte ein Stöhnen und ging wenig begeistert zu ihr und Skulduggery.
Dr. Synecdoche suchte etwas in einem Schreibtisch. „Ich habe etwas für dich“, verkündete sie. „Ich persönlich bin nicht dafür, da ich Leben zu retten pflege und nicht zu beenden. Aber vor Kurzem wurde in einem der Hinterzimmer des alten Sanktuariums ein Gegenstand gefunden, und ich dachte, angesichts deiner Situation … Wo ist er nur?“
„Meine Situation?“, fragte Stephanie.
„Die Tatsache, dass du nicht über magische Kräfte verfügst“, erklärte Skulduggery. „Der Elektroschocker ist ganz nützlich, aber nur begrenzt einsetzbar, wenn man ihn nicht selbst aufladen kann. Und das Zepter ist zwar absolut tödlich, aber auf seine Art auch nur begrenzt einsetzbar. Es kann sein, dass du nicht genügend Platz hast zum Zielen und Schießen.“
„Da habe ich also etwas entdeckt und an dich gedacht“, erzählte Dr. Synecdoche. „Ah, da ist es ja. Was hältst du davon?“
Sie brachte eine Art Handschuh aus schwarzem Metall zum Vorschein.
Stephanies Augen weiteten sich, und selbst Skulduggery zuckte zusammen.
Dr. Synecdoche konnte ihre Reaktionen nicht übersehen. „Stimmt irgendetwas nicht?“
„Das ist der Handschuh, den ich in der Vision trage“, antwortete Stephanie.
„Zumindest scheint es so“, murmelte Skulduggery.
„Du hast diesen Handschuh in einer Vision gesehen?“, fragte Dr. Synecdoche. „Aber ich habe ihn erst gestern gefunden. Ich dachte mir, du wolltest ihn vielleicht als letztes Mittel zu deiner Verteidigung haben.“
Stephanie runzelte die Stirn. „Was kann er?“
Dr. Synecdoche zögerte. „Das alte Sanktuarium wurde von Zauberern erbaut, die einer eher mitleidlosen Rasse angehörten. Der Handschuh gehörte einem von ihnen. Es ist ein sogenannter Todeshandschuh. Wenn er aktiviert ist, tötet er mit einer einzigen Berührung. Normalerweise hätte ich ihn sofort vernichten lassen, aber angesichts dessen, was dir bevorsteht, dachte ich, du könntest alle Hilfe gebrauchen, die du kriegen kannst. Du hast gesagt, Mevolent hätte Darquise den Kopf abgerissen und sie hätte ihn sich wieder aufgesetzt, ja? Es ist ihr gelungen, ihre letzten klaren Sekunden zu nutzen, um sich zu heilen. Beim Todeshandschuh gibt es keine letzten klaren Sekunden. Physischer Tod und Gehirntod treten augenblicklich ein. Wenn Darquise also nicht weiß, was kommt, hat sie nicht die geringste Überlebenschance.“
Stephanie schaute Skulduggery an. „Wird die Zukunft, die wir gesehen haben, abgewendet, wenn ich ihn nicht trage?“
„Den Handschuh nicht zu tragen, hat höchstwahrscheinlich keinerlei Einfluss darauf, ob die Vision sich erfüllt oder nicht“, antwortete Skulduggery. „Wir haben gesehen, dass Teilaspekte der Vision sich geändert haben, aber das Ergebnis war immer dasselbe.“
„Egal, ich trage ihn nicht“, erklärte Stephanie. „Mein Entschluss steht fest. Können wir zu Cassandra gehen und sehen, ob die Vision immer noch genauso endet?“
Skulduggery nickte. „Ich gebe Cassandra Bescheid, dass wir kommen.“ Seine Stimme klang plötzlich optimistischer. „Vielen Dank für Ihre Bemühungen, Doktor Synecdoche, aber wie es aussieht, nehmen wir den Handschuh nicht.“
„Wie Sie wollen. Aber ich lege ihn für dich beiseite, Stephanie. Nur für den Fall.“
„Nicht nötig.“ Stephanie entfernte sich bereits. „Ich werde ihn bestimmt nie tragen.“
FREUND UND FEIND
China Sorrows erwartete sie im Prismensaal. Schmale Säulen aus angeschrägtem Glas reichten vom Boden bis zur Decke. In der Mitte des Raumes saß die Großmagierin höchstpersönlich, elegant in ihrem fließenden taubenblauen Kleid und mit einer Brosche am Ausschnitt, die auf ihren gehobenen Stand hinwies. Stephanie hatte gehört, wie Leute behauptet hatten, sie hätte diesen Raum als Empfangsraum für Gäste gewählt, weil es hier mehr Flächen als anderswo gab, in denen sich ihre ungewöhnliche Schönheit spiegeln konnte – ihr rabenschwarzes Haar, die eisblauen Augen, ihre ebenmäßigen Züge. Doch Stephanie wusste es besser. China hatte sich für diesen Raum entschieden, damit sie sehen konnte, falls sich jemand von hinten anzuschleichen versuchte. China war ein Killer, und nur Killer wissen, wie Killer ticken.
Hinter Chinas Thron – denn genau das war es – stand der Schwarze Sensenträger als stumme Bedrohung.