Inhalt
Kapitel 1 – Die Welt schien …
Kapitel 2 – Während die Ostfriesland …
Kapitel 3 – Lars Kleinschnittger hatte …
Kapitel 4 – In der Quarantänestation …
Kapitel 5 – »Der Schollmayer«, Moderator …
Kapitel 6 – Dr. Maiwald warf …
Kapitel 7 – Chris hatte sich …
Kapitel 8 – »Warum behandelt er …
Kapitel 9 – Die Fernsehnachrichten machten …
Kapitel 10 – Chris wartete draußen …
Kapitel 11 – Da Altbundeskanzler Gerhard …
Kapitel 12 – Der NDR übertrug …
Kapitel 13 – Die Ostfriesland III …
Kapitel 14 – Das Video mit …
Kapitel 15 – Chris wusste nicht, …
Kapitel 16 – Carlo Rosin und …
Kapitel 17 – Tim Jansen verfolgte …
Kapitel 18 – Die langweiligen Reden …
Kapitel 19 – Holger Hartmann, im …
Kapitel 20 – An Bord der …
Kapitel 21 – Mit ihrer Gitarre …
Kapitel 22 – So aufgebracht hatte …
Kapitel 23 – Dr. Maiwalds Lachfältchen, …
Kapitel 24 – Margit Rose hielt …
Kapitel 25 – Ole Ost hoffte, …
Kapitel 26 – Ubbo Jansen hatte …
Kapitel 27 – Tim wartete schon …
Kapitel 28 – Bettina Göschl wollte …
Kapitel 29 – Chris wusste gar …
Kapitel 30 – Auch Charlie zog …
Kapitel 31 – Sie kamen nicht …
Kapitel 32 – Das Herannahen seines …
Kapitel 33 – Chris hatte Durst, …
Kapitel 34 – Dr. Maiwalds glasige …
Kapitel 35 – Ole Ost und …
Kapitel 36 – Ubbo Jansen hatte …
Kapitel 37 – Mit jedem vergeblichen …
Kapitel 38 – Lukka hatte noch …
Kapitel 39 – Um eine Ausbreitung …
Kapitel 40 – Als der Polizist …
Kapitel 41 – Oskar Griesleuchter rannte …
Kapitel 42 – Fokko Poppingas Nase …
Kapitel 43 – Tim Jansens erster …
Kapitel 44 – Ubbo Jansen ließ …
Kapitel 45 – Diplom-Betriebswirt Gesundheitsmanagement Niklas …
Kapitel 46 – Erst war es …
Kapitel 47 – Während Carlo Rosin …
Kapitel 48 – Bettina Göschl hörte …
Kapitel 49 – Eins war für …
Kapitel 50 – Wie aus dem …
Kapitel 51 – Knubbelnase Witko Atkens …
Kapitel 52 – Ubbo Jansen hatte …
Kapitel 53 – Henning Schumann sprach …
Kapitel 54 – Noch immer war …
Kapitel 55 – »Entwaffnet den Mann!«, …
Kapitel 56 – Chris war immer …
Kapitel 57 – Oskar Griesleuchter nahm …
Kapitel 58 – Carlo Rosin hatte …
Kapitel 59 – Carlo Rosin kam …
Kapitel 60 – Im Susemihl-Krankenhaus erlitt …
Kapitel 61 – Chris konnte keinen …
Kapitel 62 – Regula kollabierte. Für …
Kapitel 63 – Heinz Cremer hatte …
Kapitel 64 – Der Flugplatz war …
Kapitel 65 – Benjo versuchte, sich …
Kapitel 66 – Der Wind legte …
Kapitel 67 – Frau Dr. Husemann …
Kapitel 68 – Dr. Maiwald wurde …
Kapitel 69 – Rainer Kirsch suchte …
Kapitel 70 – Bettina ließ sich …
Kapitel 71 – »Sie braucht Wasser«, …
Kapitel 72 – Je näher sie …
Kapitel 73 – Ein Mathematiklehrer aus …
Kapitel 74 – Akki stand auf …
Kapitel 75 – Chris erreichte Benjo …
Kapitel 76 – Das Knistern des …
Kapitel 77 – Oskar Griesleuchter ritzte …
Kapitel 78 – Leon schlief und …
Kapitel 79 – Die Flugkapitänin blieb …
Kapitel 80 – Ostfriesland erlebte einen …
Kapitel 81 – Heinz Cremer drängte …
Kapitel 82 – Diese Körper waren …
Kapitel 83 – Die Dunkelheit veränderte …
Kapitel 84 – Chris fröstelte. Es …
Kapitel 85 – Der Learjet drehte …
Kapitel 86 – »Runter, verdammt! Bringen …
Kapitel 87 – Eine einmotorige Cessna …
Kapitel 88 – Doris Becker machte …
Kapitel 89 – Von der Promenade …
Kapitel 90 – Im Fallen begriff …
Kapitel 91 – Thorsten Gärtner war …
Kapitel 92 – Dann war es …
Kapitel 93 – Der Learjet setzte …
Kapitel 94 – Bürgermeisterin Kerstin Jansen …
Kapitel 95 – Dr. Maiwald befürchtete, …
Kapitel 96 – Thorsten Gärtner kannte …
Kapitel 97 – Von der Promenade …
Kapitel 98 – Als die Bürgermeisterin …
Kapitel 99 – Doris Becker verließ …
Kapitel 100 – Bürgermeisterin Jansen befürchtete, …
Kapitel 101 – Es musste eine …
Kapitel 102 – Das Gefühl, in …
Kapitel 103 – Noch immer glitten …
Kapitel 104 – Charlie saß immer …
Kapitel 105 – Henning Schumann leistete …
Kapitel 106 – »Bitte«, sagte Benjo, …
Kapitel 107 – Einen winzigen Moment …
Kapitel 108 – Die Stille zwischen …
Kapitel 109 – Tim Jansen erreichte …
Kapitel 110 – Der lang gezogene …
Kapitel 111 – Als Chris in …
Kapitel 112 – Als die Schwester …
Kapitel 113 – Der Wind drehte …
Kapitel 114 – Als Dr. Maiwald …
Kapitel 115 – Gegen vier Uhr …
Kapitel 116 – Die Stadt war …
Kapitel 117 – Carlo Rosin hatte …
Kapitel 118 – Die Museumsschiffe lagen …
Kapitel 119 – Lukka wachte im …
Kapitel 120 – Am anderen Ende …
Kapitel 121 – Tim Jansen erhielt …
Kapitel 122 – Charlie stand im …
Kapitel 123 – Thorsten raste auf …
Kapitel 124 – Niklas Gärtner hatte …
Kapitel 125 – Sie brachten Bürgermeisterin …
Kapitel 126 – Die Fronten auf …
Kapitel 127 – Ubbo Jansen parkte …
Kapitel 128 – Bettina Göschl sah …
Kapitel 129 – Ubbo Jansen stand …
Kapitel 130 – »Für eine kurze …
Ein Spiel der Fantasie
Ein Exorzismus gegen unsere Angst
1 Die Welt schien noch völlig in Ordnung zu sein, als Benjamin Koch, genannt Benjo, die Fähre nach Borkum bestieg. Ostfriesland zeigte sich von seiner besten Seite. Am blauen Julihimmel wirbelte der Westwind ein paar Schäfchenwolken zu einem grinsenden Gesicht zusammen.
Die Schiffssicherheit wurde nach strengen Regeln kontrolliert und dokumentiert und die Mitarbeiter an Bord der Ostfriesland III waren bestes nach internationalen Standards geschultes Personal. Jeder von ihnen war ausgebildet in Advancend Fire Fighting, Rescue Boat, Basic Safety, Crowd and Crisis und natürlich in Erster Hilfe.
Alle verfügten über Seetauglichkeitsbescheinigungen. Die Nautiker unter ihnen zusätzlich über Funkzeugnisse, Radar-Simulator-Lehrgänge und SAR-Grundlagenseminare, aber auf das, was ihnen jetzt bevorstand, hatte sie niemand wirklich vorbereiten können.
Benjo stieg zum Oberdeck hinauf. Die Röcke der drei Eis schleckenden Touristinnen, die vor ihm die Treppen emporstöckelten, waren kurz und der Wind meinte es gut mit Benjos Blicken. Er hatte fast tausend Euro in der Tasche und das Doppelzimmer auf Borkum war bereits bezahlt. Chris wartete dort seit zwei Tagen auf ihn. Sie hatte ihm gerade eine SMS geschickt:
Ich liebe Dich nicht einfach, nein, ich bin echt heiß auf Dich, Benjo.
Dann kam ein Foto hinterher. Chris mit Kussmund. Darunter: Knutsch!
Obwohl die drei jungen Frauen sich an Deck gemeinsam auf eine Bank setzten und gleichzeitig die Beine übereinanderschlugen, als hätte ein Regisseur das lange vorher mit ihnen geübt, schloss Benjamin Koch kurz die Augen und dachte an Chris. Sie hatten jetzt vierzehn gemeinsame Tage! Eine Ewigkeit!
Sie wollten einen Liebesurlaub machen.
Liebesurlaub, welch ein Wort! Sie hatte es erfunden. Sie schrieb Gedichte und die meisten schickte sie ihm. Er erwartete die glücklichsten vierzehn Tage seines Lebens. Er ahnte nicht, dass die nächsten Stunden und Tage sein ganzes Leben verändern würden und das vieler anderer Menschen ebenfalls. Eine ganze Gesellschaft war kurz davor, auf die Probe gestellt zu werden. Das, was sich unaufhaltsam näherte, würde das Schlimmste, aber auch das Beste in den Menschen bloßlegen.
2 Während die Ostfriesland III mit zweimal 1300 PS und 256 Passagieren an Bord auf Borkum zusteuerte, wurde auf dem Festland, in Emden, im Susemihl-Krankenhaus, eine junge Frau eingeliefert. Sie hatte extrem hohes Fieber und halluzinierte.
Was zunächst nach einer Überdosis irgendeiner chemischen Droge aussah, entpuppte sich dank der sauberen Diagnose sehr schnell als das, was schon kurze Zeit später nur noch mit dem Satz »Der Horror, der das ganze Land im Griff hat!« bezeichnet wurde.
3 Lars Kleinschnittger hatte von Strandpartys auf Borkum gehört, bei denen es das geben sollte, wofür es sich seiner Meinung nach allein zu leben lohnte: Sex und Drogen bis zum Abwinken. Von wegen Rentnerinsel! In der Szene galt Borkum als Geheimtipp. All die Schulmädchen, die ihre Eltern in den Urlaub begleiten mussten und es leid waren, brav zu sein, versammelten sich nachts am Nordstrand. Sie waren, so hatte er sich sagen lassen, wild entschlossen, sich zu amüsieren, und nicht so abgezockt wie die Gymnasiastinnen in Köln.
Er hatte fünfzig Gramm selbst angebauten Shit in der Tasche, obwohl er sicher war, auf Borkum genug Haschisch kaufen zu können. Schließlich war Holland nah und die vielen Touristen aus den Niederlanden ließen sich in Deutschland nicht nehmen, was bei ihnen zu Hause legal war.
Lars Kleinschnittger stand auf dem Oberdeck der Fähre und hatte schon ein Auge auf die jungen Frauen geworfen. Die Rothaarige mit den langen Beinen gefiel ihm besonders. Sie hieß Lukka, so viel hatte er schon herausbekommen. Er wollte auf Borkum ein paar Jungfrauen knacken. Sie sah aber nicht wie eine aus. Wobei er sich jetzt grinsend fragte, wie man eigentlich eine Jungfrau erkannte. Nur an ihrem Verhalten? Er bildete sich ein, einen sechsten Sinn dafür zu haben.
Wenn ihm jemand gesagt hätte, dass die schönste Zeit seines Lebens bereits hinter ihm lag, wäre Lars Kleinschnittger vermutlich in homerisches Gelächter ausgebrochen, denn er glaubte genau an das Gegenteil.
Benjo tippte in sein Nokia: Ich komme, meine Süße! Ich halte es kaum noch aus.
Er schloss die Augen und dachte an Chris. Seine Chris.
Margit Rose, die in ihren besten Zeiten von ihren Freundinnen Blümchen gerufen worden war, hatte schon seit Langem keine echten Freunde mehr.
Sie hatte knapp zwei Jahre und fünfhundert Flaschen Gin gebraucht, um jede noch so gutmütige Beziehung zu zerstören. Den körperlichen Entzug hatte sie mit Medikamentenunterstützung gut hinter sich gebracht. In zwei Monaten Gruppen- und Einzeltherapie war sie nicht drum herumgekommen, sich die Hölle in sich selbst anzusehen, aber das, was jetzt vor ihr lag, kam ihr ungleich schwieriger vor. Sie musste das Vertrauen ihrer Kinder zurückgewinnen, ihnen wieder eine richtige Mutter werden …
Sie musste es einfach schaffen …
Vielleicht – so hoffte sie – wäre Kai, ihr Nochehemann, sogar bereit, die eingereichte Scheidung zurückzuziehen …
Es gab nur diese eine, einzige Chance und sie durfte sie auf keinen Fall vermasseln. Sie war nervös wie nie zuvor in ihrem Leben.
Ihre albtraumhafte Abiturprüfung war nichts dagegen gewesen und die Aufregung vor der ersten Liebesnacht nur ein Witz.
Eine Woche Borkum war nicht gerade viel Zeit, um zu beweisen, dass sie ihre Krise überwunden hatte und ein besserer Mensch geworden war.
Am Anfang wollte Kai ihr nicht einmal diese eine Woche zugestehen und er hatte alle Trümpfe in der Hand. Die frustrierten Damen vom Jugendamt fraßen dem jungen Musiklehrer, der seine beiden Kinder allein erzog, aus der Hand.
Sogar eine Haushaltshilfe hatte er bezahlt bekommen, so eine Art studierter Putzfrau mit Diplom in Sozialarbeit und Psychologie. Familienhilfe nannte sich das. Garantiert hatte er mit der schmalhüftigen Tussi geschlafen. Margit konnte es ihm nicht vorwerfen; sie musste dankbar sein, dass er ihr überhaupt noch eine Chance gab. Er hatte jedes Recht der Welt, sie zu hassen.
Das Verhalten ihrer Kinder tat ihr besonders weh. Die beiden sahen sie nicht mehr an. Sie schauten bewusst weg und wichen auch ihren Berührungen aus. Dennis hatte fiebrige Augen und drehte den Kopf abrupt zur Seite, als sie jetzt eine Haarsträhne aus seiner Stirn kämmen wollte.
»Deine Stirn ist ganz heiß, Dennis«, sagte sie. Der Junge brummte nur etwas und sah seinen Vater an. Der antwortete für ihn. »Den Kindern geht es gut.«
Seit sie wieder bei ihnen war, gaben Dennis und Viola nur knappe, widerwillige Antworten, wenn sie sie etwas fragte. Beide sprachen sie von sich aus nie an. Wenn sie etwas wollten, wendeten sie sich demonstrativ an ihren Vater.
Was muss ich ihnen in meinem Alkoholnebel angetan haben?, fragte Margit sich. Meine Kinder misstrauen mir zutiefst.
Sie blickte sich um und entdeckte eine freie Bank, Platz genug für alle vier.
»Schaut mal«, rief sie betont fröhlich, »das ist ja wie gemacht für uns! Also ich habe jetzt Hunger auf ein richtig großes Eis! Was meint ihr? Das Wetter schreit doch förmlich danach. Wem soll ich eins mitbringen?«
Dennis und Viola setzten sich auf die Bank und verzogen keine Miene, sie taten unbeteiligt und wippten mit den Beinen gegen die Rucksäcke, die sie vor sich auf den Boden gestellt hatten.
»Hey, was ist? Ihr guckt, als hätte ich euch kalten Spinat mit Speck angeboten. Wir reden von einer Riesenportion Eis in einer knusprigen Waffel. Guckt euch mal an, was die drei jungen Frauen da schlecken.«
Da ihre Kinder nicht antworteten, wandte sich Margit Rose an die fröhlichen Girlies. Lukka, Antje und Regula winkten lachend zurück. Die drei hatten gestern das Open-Air-Konzert in Emden besucht und wollten jetzt einen Song von Otto Groote nachsingen.
»Das ist das beste Himbeereis, das ich seit New York gegessen habe!«, rief Antje.
Dankbar nahm Margit den Satz auf. »Na, seht ihr«, sagte sie zu ihren Kindern.
»Angeberweiber!«, zischte Dennis.
»Wie bitte?«, hakte Margit ungeschickt nach, froh darüber, dass überhaupt mal eine Reaktion kam.
Dennis sah konsequent an ihr vorbei zu seinem Vater und sagte: »Das sind blöde Angeberweiber. New York?!« Er machte eine Bewegung mit dem Kopf, als sei es völlig absurd, dass jemand, der schon einmal in New York war, sich an Bord der Ostfriesland III befinden konnte.
Seine jüngere Schwester, die ihren Bruder bewunderte, ahmte die trotzige Kopfdrehung nach, was eigentlich zuckersüß aussah, aber Margit erlebte die Situation – wieder einmal – als eine Niederlage. Um dem noch die Krone aufzusetzen, tönte ihr Nochehemann so laut, dass es selbst die Rentnertruppe hinter den Mädchen mit den langen Beinen und den kurzen Röcken hören musste: »Glaubst du, du kannst dir die Liebe deiner Kinder erkaufen? Ist dir das nicht selbst peinlich?«
Margit federte von der weißen Sitzbank hoch und drehte sich weg. Sie biss in ihren Handrücken und kämpfte mit den Tränen. Vielleicht war dies der Moment, in dem sie begriff, dass sie siebenundzwanzig Jahre alt war und ihr Leben in Schutt und Asche lag. Sie hatte nicht nur alle Freunde verloren, sondern auch die Liebe ihrer Kinder.
Sie stand da wie erstarrt. Auf keinen Fall konnte sie sich zu Mann und Kindern umdrehen. Sie hätte es nicht ausgehalten, jetzt ihre Gesichter zu sehen.
Sie stellte sich vor, dass ihr Mann die Kids lobend ansah, weil sie sich so glashart ihrer Mutter gegenüber verhielten und ihr auch nicht das kleinste Fitzelchen entgegenkamen.
Auf einmal wusste sie gar nicht mehr, wie sie die Woche auf Borkum in der Ferienwohnung mit den dreien durchstehen sollte. Am liebsten wäre sie in die Nordsee gesprungen und dort ertrunken. Sie wusste, dass sie es nicht tun würde, trotzdem machte sie ein paar Schritte auf die Reling zu. Dort stand Benjamin Koch und lächelte sie freundlich an. Sie sog dieses Lächeln gierig auf. Schmerzhaft spürte sie, wie sehr sie sich nach etwas Zuwendung sehnte.
Sie stolperte und hätte selbst nicht sagen können, ob ihr wirklich kurz schwindelig wurde oder ob dies nur eines aus der Vielzahl ihrer Manöver war, um Männer kennenzulernen.
Benjo fing sie auf, dabei fiel sein Handy auf die Planken. Er bückte sich rasch danach, ohne sie loszulassen.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Oh, danke, ich glaube, es geht schon. Ich habe nur ein bisschen wenig getrunken.«
»Bei dem Wetter ist das gefährlich«, sagte er fürsorglich.
Sie lud ihn auf einen Kaffee ins Bordrestaurant ein.
Lars Kleinschnittger spürte sofort, dass Margit Rose das war, was er »eine scharfe Schnitte« nannte. Es war so etwas in ihrem Blick und in der Art, wie sie ihre Hüften bewegte …
Er kannte das. Als er fünfzehn war, hatte seine Nachhilfelehrerin Angelika ihn verführt. Sie war zweiundzwanzig Jahre älter als er. Die Geschichte zwischen ihnen hatte fast ein halbes Jahr gedauert. Er schaffte es nicht, Schluss mit ihr zu machen. Angelika gab ihm das Gefühl, ihn zu brauchen und nicht ohne ihn leben zu können.
Er durfte nicht darüber sprechen. Sie war eine Freundin seiner Mutter und die durfte nichts davon erfahren. Aber dann erzählte sein Freund Felix ihm, dass er auch etwas mit ihr hatte. Es endete hässlich, mit Schuldgefühlen, Beschimpfungen und dem Zerbrechen einer Freundschaft. Seitdem stand Lars nur noch auf junge Mädchen. Er hatte sich Angelika so unterlegen gefühlt, dass er nie wieder in solch eine Situation geraten wollte. Schon eine gleichaltrige Frau machte ihm Angst.
Er wollte keine mehr, die nicht wenigstens fünf Jahre jünger war als er. Am liebsten hatte er gut erzogene Schülerinnen. Er flüsterte ihnen gerne Schweinkram ins Ohr, verpackt in Liebeserklärungen. Dirty talking. Er mochte es, wenn sie rot wurden und sich verschämt umsahen.
Er guckte hinter Margit her und sah ihr ungeniert auf den Po. Sie würde den Typen vernaschen, da war Lars sich sicher.
Obwohl Margit ihn eingeladen hatte, stellte Benjo sich in die Schlange, holte zwei Kaffee mit Milch ohne Zucker und dazu ein stilles Mineralwasser für seine neue Bekanntschaft. Margit hielt einen Platz am Fenster frei und winkte ihm, als sie seinen suchenden Blick sah.
Sie wischte sich einmal übers Gesicht und überprüfte im Fenster ihr Make-up. Sie fand, dass sie grässlich aussah und verheulte Augen hatte. Sie fühlte sich klein, verstoßen und nicht liebenswert … Das kannte sie aus ihrer Kindheit. Es war ein sehr altes Gefühl. Manchmal gefiel es ihr, sich darin häuslich einzurichten, aber meist versuchte sie, dagegen anzugehen. Sie hatte in der Gruppentherapie gelernt, offen über ihre Gefühle zu sprechen. Es tat ihr gut und verschaffte ihr zumindest kurzfristig Erleichterung.
Benjo stellte die Getränke vor ihr auf dem Tisch ab und verschüttete ein bisschen von dem Kaffee. Sie nahm den Pott, schlürfte einen Schluck von der viel zu heißen Brühe und ergriff wie unwillkürlich Benjos Hand.
Sie blickte ihm offen in die Augen, als sie sagte: »Darf ich einen Moment Ihre Hand halten? Mir ist gerade, als würde mein ganzes Leben den Bach runtergehen, und ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann.«
Fast ein bisschen erschrocken dachte Benjo: Mensch, die geht aber ran!
Er fragte sich, ob Chris ihn am Kai abholen würde. Wahrscheinlich nicht. Vermutlich wartete sie am Bahnhof. Bestimmt saß sie jetzt bei dem Wetter draußen vor dem Hotel »Vier Jahreszeiten«, trank Milchkaffee und las einen Kriminalroman oder blätterte in ihrem geliebten Ostfriesland Magazin. Von dort war es nicht weit zu ihrem Hotel, dem »Kachelot« in der Goethestraße. Er stellte sich vor, sie würden sich – kaum dass er angekommen war – sofort in ihrem Zimmer lieben und danach duschen und zum Strand gehen, um anschließend bei »Leo’s« oder im »Kartoffelkäfer« an der Promenade mit Blick aufs Meer und den Sonnenuntergang Wein zu trinken und gut zu essen. Chris lebte ja fast ausschließlich von Salaten, aber er brauchte ab und zu ein ordentliches Stück Fleisch, am liebsten blutig.
Etwas in den Augen von Margit Rose erreichte ihn so sehr, dass er verunsichert weggucken musste. Er hielt auf dem Tisch nur ganz kurz ihre Hand, doch die Berührung wirkte lange nach. Während sie redeten, simste er unter der Tischplatte an Chris: Ich liebe dich! Nur dich!
Warum mache ich das heimlich?, fragte er sich. Irgendetwas an dieser Frau verwirrt mich total.
Auch Margit war irritiert. Dieser Junge passte eigentlich gar nicht in ihr Beuteschema. Die meisten kurzen Affären hatte sie mit verheirateten Männern gehabt. Häufig waren sie zehn, ja zwanzig Jahre älter als sie gewesen. Margit mochte es, wenn sie sich hinterher schämten und Angst hatten, alles könnte herauskommen.
So gewann nie jemand Macht über sie und sie wurde die Männer rasch wieder los, wenn sie es wollte. Sie waren ihr dankbar, dass sie nicht klammerte und irgendwelche Ansprüche an sie stellte.
Die meisten Männer hatten viel zu verlieren: eine Ehefrau, eine gemeinsame Firma, ein Einfamilienhaus, von den Kindern gar nicht zu reden. Solche Kerle zogen sie an und machten ihr keine Angst, aber in der Klinik hatte sie sich kurz mit einem Zivildienstleistenden eingelassen, seitdem wusste sie, dass auch jüngere Männer ihr helfen konnten, sich lebendig zu fühlen.
Sie setzte sich plötzlich anders hin, drückte ihren Rücken durch und blies in ihren Kaffeepott. Kai und ihre beiden Kinder kamen in den Restaurantbereich. Im Schlepptau hatten sie die drei Girlies. Die mit dem möhrenroten Rattenkopf hatte Viola an der Hand und zeigte ihr den Weg zur Toilette. Viola nannte sie Lukka.
»Er hat schon wieder Ersatz für mich gefunden«, sagte sie trocken zu Benjo. »Ich bin so austauschbar …«
Die Kinder beachteten ihre Mutter jetzt demonstrativ nicht und scherzten laut mit ihren neuen Freundinnen.
Kai warf einen verächtlichen Blick hinüber zu seiner Frau. Er hätte drei Monatsgehälter gewettet, dass diese Urlaubswoche überhaupt nichts brachte. Wenn das hier erst vorüber war, würden sie sich wie geplant scheiden lassen und er würde das Sorgerecht ganz allein bekommen. Diese »Borkum-Aktion« war nur eine Goodwillveranstaltung von ihm, weil die Kinderpsychologin vom Jugendamt ihm dazu geraten hatte. Er hätte jetzt zu gern mit den jungen Mädchen eine Zigarette geraucht, aber an Bord war das Rauchen überall verboten, sogar hier auf den Außendecks.
Benjo verstand nicht, warum Kai seine Frau so schnitt. Er spürte die Eiseskälte zwischen den beiden und fröstelte.
4 In der Quarantänestation des Susemihl-Krankenhauses in Emden brach Hektik aus. Eine kurze Antwort auf eine einfache Frage hatte eine Kette von Verstrickungen zur Folge. Niemand betrat den Raum mehr ohne Schutzkleidung.
Die Patientin, deren Zustand sich inzwischen dank einiger Infusionen stabilisiert hatte und die klar zu Zeit und Raum orientiert war, hieß Rebecca Grünpohl. Sie war mit dem Lufthansa-Flug LH 408 aus New York vom Flughafen Newark gestern Morgen planmäßig um sechs Uhr und zwölf Minuten in Düsseldorf gelandet, in einem Businessclass-Direktflug.
Um zehn nach acht war sie mit knapper Verspätung zum Hauptbahnhof Düsseldorf gefahren, hatte dort im Starbucks gefrühstückt und dann den durchgehenden Intercity nach Emden genommen. Dort wurde sie von vier Mitgliedern ihrer Wohngemeinschaft abgeholt. Trotz Jetlag nahm sie an einem Open-Air-Festival teil, mit Konzerten der Gruppe Laway und des Otto-Groote-Ensembles. Sie aß ein Krabbenbrötchen und einen frischen Matjes, holte sich an zwei verschiedenen Bierständen jeweils ein Pils, das sie mit Cola mischte, weil sie hoffte, so länger wach zu bleiben. Geschätzte Personenkontakte an diesem Tag zwischen fünfhundert und eintausend.
Der vermummte Arzt klärte sie zunächst auf. In ihrem Blut wurde das Virus H501 nachgewiesen, besser bekannt als Auslöser der Hühnergrippe. Man hatte ihr antivirale Neuraminidase-Hemmer gegeben, und falls die Erreger dagegen nicht resistent waren, hatte sie das Schlimmste bereits überstanden. Ihr Fieber war mit 39,2 immer noch ziemlich hoch, aber sie halluzinierte nicht mehr.
Die Frage des Arztes war routinemäßig: »Hatten Sie engen Kontakt mit Vögeln oder Hühnern?«
Trotz seines Atemschutzes verstand sie ihn deutlich. Ihre unmissverständliche, aber schockierende Antwort lautete: »Nein.«
Rebecca Grünpohl registrierte den Blick des Doktors. Er war jung, wirkte wie eine Frohnatur, die sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen ließ, und hatte sympathische Lachfältchen um die Augen. Er sah sie an, als hätte sie ihm von der Landung Außerirdischer auf dem Wochenmarkt erzählt, aber bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Gern hätte sie seinen Mund gesehen.
Dr. Maiwald hakte nach: »Waren Sie vielleicht in einer Wohnung zu Gast, in der Vögel in Käfigen gehalten wurden?«
Rebecca schüttelte stumm den Kopf.
Maiwald bemühte sich um ein verbindliches Lächeln, es gelang ihm aber nicht wirklich. »Bestimmt haben Sie einen Zoo besucht oder … vielleicht waren Sie spazieren, haben einen toten Vogel am Wegrand liegen sehen und ihn …«
»Ganz sicher nicht, Herr Doktor. Ich bin allergisch gegen jegliche Art von Federn. Als Kind bekam ich Asthmaanfälle, wenn ich dem Bett meiner Eltern zu nahe kam, weil die Daunenkopfkissen hatten. Ich durfte nicht einmal indianischen Kopfschmuck tragen. Einmal hat mir eine Freundin einen Traumfänger geschenkt. Ich habe ihn mir übers Bett gehängt. Ich wäre in der Nacht fast erstickt.«
»Wissen Sie«, fragte er, »was das bedeutet?«
Sie hustete. »Ja. Ich habe keine Hühnergrippe, sondern einfach nur eine schwere Erkältung und einen Schwächeanfall – kein Wunder nach dem langen Flug, und dann das Konzert … Ich habe mich einfach übernommen.«
»Schön wäre es«, erwiderte er. »Aber ich fürchte, die Wahrheit ist unendlich viel schlimmer.«
»Nämlich?«
Er sah sie nicht an, als er es sagte: »Es ist die Hühnergrippe und sie überträgt sich von Mensch zu Mensch. Das, was wir alle seit Jahren befürchtet haben, ist eingetreten.«
Plötzlich schien er Hoffnung zu schöpfen. »Haben Sie in New York mit irgendjemandem … also, haben Sie Körperflüssigkeiten ausgetauscht?«
Trotz ihrer Krankheit musste Rebecca Grünpohl lachen. Daraus wurde eine Hustenattacke, die sie erst einmal an einer Antwort hinderte.
»Ich meine … ich muss das fragen … Hatten Sie ungeschützten Geschlechtsverkehr oder haben Sie mit jemandem Zungenküsse ausgetauscht?«
Sie bekam ihre Atmung wieder unter Kontrolle.
»Ich weiß, was Sie meinen, Doc. Nein, ich hatte keinen Geschlechtsverkehr. Nicht ungeschützt und nicht geschützt. Ich habe auch keine Küsse ausgetauscht. Zungenküsse schon gar nicht. Ich war allein in New York, ohne meinen Freund. Ich habe das MoMA besichtigt und das Guggenheim Museum. Ich studiere Kunstgeschichte und …«
Der Arzt stöhnte und nahm deutlich mehr Abstand zu ihr ein. »Das bedeutet, wir haben es mit einer äußerst aggressiven Verbreitungsweise zu tun. Wie bei einer ganz normalen Grippe, durch die Luft, durch Händeschütteln oder …«
Ohne sich zu verabschieden, verließ er den Raum und Rebecca Grünpohl kam sich irgendwie schuldig vor, als hätte sie soeben absichtlich und aus sehr egoistischen Gründen die Apokalypse losgetreten.
5 »Der Schollmayer«, Moderator von Hit Radio Antenne, meldete sich mit der Schreckensnachricht. Er verlas eine Presseerklärung des Gesundheitsamtes. Die Teilnehmer vom Emder Open-Air-Festival sollten sich bei ersten Anzeichen einer Grippe isolieren und einen Arzt verständigen; es sei nicht auszuschließen, dass das H501-Virus sich inzwischen von Mensch zu Mensch übertrage. Eine Teilnehmerin des Festivals sei im Susemihl-Krankenhaus eingeliefert worden. Passagiere des Lufthansa-Fluges LH 408, New York, wurden aufgefordert, sich umgehend an das nächste Krankenhaus zu wenden.
Der sonst stets zu Scherzen aufgelegte Schollmayer hatte eine merkwürdig belegte Stimme beim Sprechen. Entweder war ihm die Tragweite der Meldung schon bewusst oder er brauchte dringend einen Schluck Wasser und ein Halsbonbon.
6 Dr. Maiwald warf vorbeugend Tamiflu ein. Er ahnte, dass er sich bereits mitten in einer heraufziehenden Katastrophe befand. Er hatte Geburtstagskuchen dabei, von seiner Mutter selbst gebackenen. Sie vergaß an keinem seiner Geburtstage den Gugelhupf für ihn. Da er bei der Einnahme des antiviralen Mittels mit Magen-Darm-Problemen rechnete, biss er zwei große Stücke ab und kaute seinen Lieblingskuchen, ohne ihn wirklich zu schmecken.
Sein Magen reagierte immer nervös und empfindlich auf fast jedes Medikament. Er kannte Studien aus England, von der Health Protection Agency, bei denen 248 Schulkinder getestet worden waren, denen man Tamiflu gegeben hatte. Vierzig Prozent klagten über Magen-Darm-Probleme. Bei vielen traten »neuropsychiatrische Nebeneffekte« auf, was ein sehr schönes Wort war für Albträume, Angstzustände und Bewusstseinsstörungen.
Maiwald wusste, dass die Food and Drugs Administration in den USA Todesfälle nach der Einnahme untersucht hatte. Ein siebzehnjähriger junger Mann war vor einen Lkw gesprungen und ein vierzehnjähriger Schüler vom Balkon.
Er nahm Tamiflu trotzdem. Alle Mittel hatten Nebenwirkungen. Alles andere war eine Lüge der Pharmaindustrie. Etwas Besseres als Tamiflu war nicht auf dem Markt und er musste fit bleiben in den nächsten Tagen und Stunden, wenn der Run beginnen würde.
Der hauseigene Notfallplan trat sofort in Kraft. Die Quarantäneräume wurden auf einen größeren Ansturm vorbereitet. Maiwald kannte das Infektionsschutzgesetz praktisch auswendig. Er hatte sich seit Langem mit der Frage beschäftigt, wie die Medizin mit solch einem Grippeausbruch fertig werden könnte. Er wusste viel darüber und war sich im Klaren, dass die Gesellschaft fast wehrlos vor dem stand, was jetzt auf sie zukam … Da wurde kostspielig Militär ausgebildet, eine unglaublich große Riege von Wissenschaftlern der ganzen Welt hatte sich damit beschäftigt, immer neue Waffensysteme zu entwickeln, noch schnellere Flugzeuge, die sogar fürs feindliche Radar unsichtbar waren. Intelligente Bomben. Unbemannte Drohnen, die per Fernsteuerung in ihr Ziel geschickt wurden …
Ach, diese unglaubliche Vergeudung von wissenschaftlichem Potenzial hatte ihn schon immer traurig gemacht, denn der eigentliche Feind, der die Menschheit bedrohte, war nicht mit Flugzeugen und Radar zu bekämpfen. Er war winzig klein, fürs menschliche Auge unsichtbar. Er hatte keine Strategie und keine Moral. Er kannte keine Ländergrenzen und interessierte sich nicht für Regierungsformen. Nationalitäten und Hautfarben waren ihm egal. Der eigentliche Feind war für das bloße Auge unsichtbar und hatte nicht einmal einen eigenen Stoffwechsel. Der eigentliche Feind waren die Viren. Sie mussten sich als Parasiten in den Zellen anderer Lebewesen einnisten, das machte ihre Bekämpfung schwer. Es gab Viren, die Bakterien befielen. Andere nisteten sich in Pilzen und Algen ein. Eine Gruppe griff Pflanzen an, eine andere Tiere und wieder eine andere Spezies Menschen. Aber meist blieben sie auf ihre Gruppen begrenzt und sprangen nicht auf andere über.
Inzwischen aber hatten sich auch Viren entwickelt, die Pflanzen und Tiere attackierten. Alle Wissenschaftler wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann die ersten Viren so viel gelernt hatten, dass sie sich von Tieren auf den Menschen übertragen konnten.
Selbst das Letztere war in den Griff zu kriegen. Man konnte betroffene Tiere keulen und somit ganze Bestände vorsorglich vernichten. Wenn aber nun so ein aggressives Virus von Mensch zu Mensch übertragen wurde, dann zogen solche Methoden nicht mehr. Die menschlichen Bestände ließen sich nicht so einfach keulen. Selbst eine Isolierung von Betroffenen war nicht ganz einfach. Wer wollte eine Stadt wie zum Beispiel Frankfurt abriegeln, damit das Virus nicht auf Darmstadt und Wiesbaden übersprang?
Mit genau solchen Fragen hatte Maiwald sich immer und immer wieder beschäftigt. Die Pläne der WHO fand er, freundlich ausgedrückt, »niedlich« angesichts der Bedrohung. Es sollten örtliche Krisenstäbe gegründet werden, um die Ausbreitung lokal in den Griff zu bekommen. Da hat man eine Weltgesundheitsorganisation, aber wenn es knallt, dann soll alles vor Ort entschieden werden.
Er war Mitglied in diesem Krisenstab für die Region und er wusste, das Ganze hatte vor allen Dingen nur den einen Sinn: Die Damen und Herren der Bundespolitik wollten sich aus der Verantwortung stehlen und die Drecksarbeit nach unten delegieren. Ja, vielleicht war es ungerecht, aber so sah er das. Es gab maximal für zwanzig Prozent der Bevölkerung Medikamente und die Verteilung sollte von den örtlichen Krisenstäben organisiert werden.
Dr. Maiwald verschluckte sich an Kuchenkrümeln und hustete, bis sein Gesicht rot anlief. Dann telefonierte er mit seiner Mutter und riet ihr, in den nächsten Tagen besser nicht zum Markt zu gehen, am besten den ganzen Einkauf ausfallen zu lassen und sich aus der Tiefkühltruhe zu versorgen. »Wer sich zu Hause in seiner Wohnung einschließt«, sagte er, »dem kann nichts passieren.«
Linda betrat den Raum. Maiwald mochte sie und ihre praktische Art. Sie arbeitete in der Krankenhausverwaltung. Sie war klug und weit unterfordert mit dem, was sie da tat. Gleichzeitig erstickte sie fast in einem Wust von Formularen. Sie versuchte, die schlimmsten Auswüchse der Bürokratie vom Personal fernzuhalten, und verzweifelte manchmal an den immer neuen »Reformen«, die jeweils eine neue Papierflut mit sich brachten.
Sie gehörte zu den sympathischen Menschen, die noch der Meinung waren, ein Krankenhaus sei dazu da, Kranke gesund zu machen. Mit dieser Meinung standen sie und Maiwald manchmal ziemlich allein da. Denn inzwischen setzte sich die Ansicht durch, Krankenhäuser seien dazu da, Gewinne zu machen.
Linda sah ihn besorgt an. »Stimmt das oder ist es ein Gerücht?«
Er antwortete nicht. Es war auch nicht nötig. Sein Gesicht sprach Bände.
Sie nickte und legte die Bäckereitüte auf den Tisch. Er aß Marzipanteilchen genauso gerne wie sie. Sie kaufte immer zwei davon und trank gern Kaffee mit ihm. Es war wie ein Ritual zwischen ihnen.
»Also absolute Urlaubssperre und alle aus den Ferien zurückbeordern?«
»Ja. Wir sollten uns rasch vorbereiten. Viel Zeit wird uns nicht bleiben.«
Maiwald massierte sich die Schläfen. Er bekam Kopfschmerzen, heftig und anfallartig. Eine Geräuschempfindlichkeit, die er von sich nicht kannte, brachte ihn fast dazu, sich die Ohren zuzuhalten. Selbst das Geraschel der Tüte, aus der Linda jetzt die Marzipanschnecken nahm, nervte ihn, statt seine Vorfreude zu wecken. Hörte er die Sirenen der Rettungs- und Notfallwagen heute öfter als sonst oder kam ihm das nur so vor? Waren sie lauter geworden?
7 Chris hatte sich gegen ihren weinroten Push-up-BH und den dazu passenden String aus softer Mikrofaser mit Spitzenblende entschieden. Die Unterwäsche saß zwar perfekt und sah verführerisch aus, aber es war ihr ein bisschen too much für den ersten gemeinsamen Abend mit Benjo nach so langer Zeit.
Der superbequeme BH ohne Bügel und die schlichten weißen Panties erschienen ihr passender. Außerdem hatte die ostfriesische Sonne ihre Haut fast gleichmäßig gebräunt. Durch den Kontrast wirkte die weiße Wäsche geradezu strahlend.
Jetzt pellte sie sich wieder aus der Jeans und probierte noch einmal das weiße Leinenkleid an. Es war vorn geknöpft und gab ihr viel Beinfreiheit.
Sie schaltete den Fernseher ein, um den Wetterbericht zu hören, während sie die passenden Schuhe aussuchte. Die Flip-Flops passten nicht zum Kleid, die braunen Sandalen aber eigentlich auch nicht. Es wurde Zeit, mal wieder so richtig in Ruhe shoppen zu gehen.
Chris betrachtete sich im Ankleidespiegel. Sie war nicht wirklich zufrieden mit sich. Trotzig schob sie die Hüfte vor. Sie wollte schön sein für Benjo, aber aufdonnern wollte sie sich auf keinen Fall. Also blieb es bei dem Kleid.
Entwickelte sich da neben ihrer Nase ein kleiner Pickel oder war das nur ein Mitesser? Sie wollte sich den Störenfried gerade genauer anschauen, da sogen die Fernsehbilder ihre ganze Aufmerksamkeit auf.
In einem New Yorker First-Class-Hotel, in Manhattan, nahe beim Central Park, waren die Gäste unter Quarantäne gestellt worden. Niemand durfte das Hotel verlassen. Die Eingesperrten wurden von Hilfskräften versorgt, die aussahen wie die ersten Astronauten in ihren Raumanzügen bei der Mondlandung.
Zwei Leichen wurden in merkwürdigen Särgen aus dem Hotel gebracht. Angeblich hatten beide Männer zwei Tage zuvor ein Edelbordell in Harlem besucht, was etwas mit ihrem Tod zu tun haben könnte, wie der Nachrichtensprecher mutmaßte. Jedenfalls war das Bordell geschlossen worden und nach dem Besitzer und seinem Personal wurde gefahndet. Ein dritter Mann, der mit den beiden unterwegs gewesen war, wurde fieberhaft gesucht.
Der Manager einer texanischen Bank hatte vor dem Hotel die Absperrungen durchbrochen, um sich zum Flughafen durchzuschlagen. Mit Waffengewalt hatte er einen Taxifahrer gezwungen, ihn aus Manhattan rauszubringen. Über den Bildschirm gingen jetzt ein paar mit dem Handy aufgenommene Szenen. Die Flucht des Mannes endete an einer Straßensperre in einem Feuergefecht mit den Sicherheitskräften.
Der Bericht aus New York endete und ein Virologe vom deutschen Robert-Koch-Institut wurde hinzugeschaltet. Er sah gar nicht aus, wie Chris sich einen Wissenschaftler vorstellte, sondern eher wie ein Marathonläufer. Er erklärte, die weltweite Verbreitung der hoch infektiösen Viren sei nur noch durch einen Stopp der ungebremsten Reiseströme möglich.
Auf einer Karte wurden rote Punkte eingeblendet. Dort überall sei es zu Ausbrüchen der ansteckenden Krankheit gekommen. Es seien Grippesymptome, aber der Verlauf sei ungewöhnlich hart. Hohes Fieber mit Todesfolge durch Organversagen. Der Virologe empfahl allen Menschen, »die nicht unbedingt verreisen müssen, zu Hause zu bleiben«.
Der ist gut, dachte Chris, mitten in den Sommerferien. Die Leute haben längst gebucht und freuen sich auf ein paar schöne Tage. Die Sonne knallt vom Himmel und der erzählt was von »Reisestopp«.
Sie nahm jetzt doch die Flip-Flops. Sie wollte das TV-Gerät ausschalten, aber dann kamen Bilder von den Flughäfen Düsseldorf und Frankfurt, wo Passagiere aus New York von Ärzten in Schutzkleidung in Empfang genommen und in Quarantänestationen geleitet wurden. Ihre aufgebrachten Angehörigen, die die Heimkehrer abholen wollten, beschwerten sich vor laufender Kamera, weil ihnen Informationen über den Gesundheitszustand ihrer Liebsten vorenthalten wurden.
Paris hatte sämtlichen Flügen aus New York die Landeerlaubnis entzogen, was eine Maschine in deutliche Schwierigkeiten brachte, weil auch Ausweichflughäfen abwinkten. Schließlich landete die Maschine mit fast leeren Tanks in Brüssel. Ein Anwalt sprach von einem eklatanten Verstoß gegen internationales Flugrecht und von politischen Konsequenzen.
Die Luft im Zimmer war drückend. Chris öffnete das Fenster und der Nordseewind blähte die Vorhänge auf. Sie schickte noch eine SMS an Benjo.
Sag dem Käpt’n, er soll sich beeilen, Liebster. Ich halte es nicht länger aus ohne dich.
8 »Warum behandelt er Sie so ignorant?«, fragte Benjamin Koch. »Sie sind so eine tolle Frau. Was zieht er hier für eine Nummer ab?«
Margit fächelte sich mit dem Unterteller von ihrem Kaffeepott Luft zu und öffnete einen Knopf ihrer Bluse. Benjo hatte jetzt einen freien Blick auf ihr Dekolleté. Statt seine Frage zu beantworten, sagte sie: »Sollen wir uns nicht duzen?«
Benjo war sofort einverstanden. Sie schlug vor, er solle sie »Blümchen« nennen. Irgendwie passte der Name nicht zu ihr, fand er – aber vielleicht war er genau deswegen völlig richtig.
Eine Schweißperle rollte an ihrem Hals hinunter und verschwand zwischen ihren Brüsten im Halbschalen-BH. Benjo hätte gern woanders hingeguckt, aber es gelang ihm nicht. Sie beugte sich über die Tischplatte weiter zu ihm vor und gewährte ihm großzügig einen tiefen Einblick.
Etwas in ihr, das die Stimme eines kleinen Mädchens im Kindergartenalter hatte, wollte in den Arm genommen und beschützt werden, aber da war noch eine andere Stimme, laut, schrill und höhnisch. Die lachte: Ja bravo! Du weißt, wie man Männer manipuliert. Jetzt wird er alles machen, was du willst. Er hat nur noch eins im Sinn. Er kann an gar nichts anderes mehr denken.
Aber das stimmte nicht ganz. Benjo ging zur Toilette, auch um die SMS von Chris in Ruhe lesen und beantworten zu können. Neben ihm erleichterte sich eine Frohnatur aus dem Ruhrgebiet. Der Mann war höchstens Mitte zwanzig, hatte aber bereits einen Bierbauch und den Ansatz einer Glatze. Er roch nach einem Rasierwasser mit Weihrauchnote und stöhnte beim Pinkeln wie ein Möbelpacker, der die letzte schwere Kiste auf den Dachboden geschleppt hat.
»Junge, Junge«, sagte er, »deine Chancen möchte ich haben.«
»Hä? Was?«
»Ja sach ma, merkst du das nicht?«
»Was denn?«
»Da, diese Sahnetorte, die so unplugged aussieht, die baggert dich doch die ganze Zeit an wie irre. Ihr Mann ist schon total sauer. Ich krieg das Drama volle Kanne mit. Is wie Fernsehgucken, nur spannender …«
»Das mit ihrem Mann ist nicht wegen mir.«
»Na, ich an seiner Stelle wäre jedenfalls ganz schön sauer und hätte der Süßen längst gezeigt, wo der Hammer hängt.«
Benjo antwortete nicht. Was sollte er auch dazu sagen? Die Sache ging schließlich nicht von ihm aus.
Der Typ aus dem Ruhrgebiet wusch sich jetzt die Hände. Er benützte nicht die Luftdüse, um sich die Finger zu trocknen, sondern wischte sie sich lieber an der Jeans ab. Dann hielt er die Rechte Benjo hin. »Ich bin der Charlie.«
Benjo nahm die Hand und nannte seinen Namen.
»Benjo? Wer um alles in der Welt nennt einen denn Benjo? Das klingt wie Jo-Jo.«
»Ich heiße Benjamin und die meisten nennen mich eben Benjo.«
»Und wieso nicht Ben?«
»Keine Ahnung. Habe ich nie drüber nachgedacht.«
»Du bist töffte«, lachte Charlie. »Du gefällst mir. Willz ’n Pils? Ich geb auch ein’ aus.«
Benjo winkte ab.
»Klar.« Charlie nickte verständnisvoll. »Du hast was Besseres zu tun. Junge, wenn du wüsstest, wie sehr ich dich beneide.«
Als Benjo zum Tisch zurückging, machte der Kapitän eine Durchsage. Backbord auf der Sandbank seien Seehunde zu sehen. Benjo sah, wie Margits Sohn mit seinem Vater nach rechts zum Bullauge lief und sich hochheben ließ, um besser Ausschau halten zu können. Aber Dennis wurde schnell unruhig, denn er fand die Seehunde nicht.
»Wo sind sie denn, Papa? Wo?«, schrie er ungeduldig.
Kai Rose hielt die Beine von Dennis fest, weil der wie verrückt strampelte. »Du bist wie deine Mutter«, schimpfte er. »Nun hab doch mal ein bisschen Geduld!«
Margit hatte alles verstanden und vermutlich war Kais Antwort sogar für ihre Ohren bestimmt gewesen. Es war ein altes, ihr gut bekanntes Spiel. Alle schlechten Eigenschaften hatten die Kinder von ihr. Alle guten natürlich von ihrem Vater.
Sie stand auf, ging über das Deck, blieb ganz nah hinter Dennis und Kai stehen, so als ob sie mit ihnen flüstern wollte, aber dann sagte sie laut und belehrend: »Backbord ist links und Steuerbord ist rechts. Wenn du die Seehunde sehen willst, Dennis, dann musst du dort rüberkommen, wo Mami sitzt. Wenn du dich auf den Stuhl stellst, kannst du die Seehunde sehen. Komm …«
Dennis ging nicht mit ihr. Geschlagen kehrte Margit zu Benjo zurück, wie eine Boxerin nach einer verlorenen Runde in die Trainerecke.
9 Die Fernsehnachrichten machten Tim Jansen euphorisch. Es hielt ihn kaum im Rollstuhl. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er wieder so viel Leben in sich, dass er am liebsten aufgesprungen wäre, um zu tanzen, so wie er es vor dem Unfall oft bis zur völligen Erschöpfung auf den Open-Air-Konzerten an fast jedem Wochenende getan hatte. Er wollte hüpfen, springen und schreien, headbangen im Rhythmus der Nachrichten.
Es war geschehen. Er hatte es immer und immer wieder prophezeit. Jetzt würden ihm alle glauben müssen, seine Schwester und sein ignoranter Vater und der Rest der Welt.
Seine letzte Videobotschaft lautete: Der Mensch ist der Teufel des Tieres geworden.
Nur diese provozierenden Worte, sonst nichts. Kein Geschwätz. Es war alles längst gesagt. Die Bilder sprachen für sich. Hühner, zusammengepfercht in der Legebatterie. Er hatte sie gefilmt, die sogenannte »artgerechte« Käfighaltung, mit der sein Vater sechzigtausend Lebewesen völlig legal quälte. Und er hatte die Bilder ins Netz gestellt.
Weil er nicht tanzen konnte und ihn die gelähmten Beine im Rollstuhl festhielten, drehte er die Räder mit den Händen, fuhr vor und zurück, schaffte eine dreifache Schraube, obwohl der Teppich im Büro bremste. »Handgeknüpft«, wie sein Vater gern betonte. Eine teure Rarität. »Kinderarbeit, an der Blut klebt«, nannte Tim das.
An seinem Rollstuhl hatte er rechts eine Digitalkamera angebracht und links einen Laptop, sodass er seine Filme und Bilder sofort verschicken und ins Netz stellen konnte. Über Skype sprach er fast täglich mit Kira, seiner Schwester. Er wählte sie an und sofort erschien ihr Bild auf seinem Bildschirm.
Sie sah geschafft aus, fettige Haare, schwarze Ringe unter den Augen. Sie saß in Mumbai in der Flughafenhalle des Chhatrapati Shivaji International Airport und war kurz davor zu heulen. Seine Schwester, die immer alles so toll im Griff hatte und in Indien bei einem Entwicklungshilfeprojekt mitmachte, natürlich in einer Nichtregierungsorganisation, einer NRO, die sie aber immer englisch NGO, für Non Governmental Organization, aussprach, wusste nicht weiter. Er genoss den Augenblick fast. Fast, denn ein bisschen tat sie ihm auch leid.
Er kannte sie nur stark und überlegen und reflektiert. Er war immer derjenige, der auf Hilfe angewiesen war, der Mist baute, in der Schule Schwierigkeiten hatte und um den man sich Sorgen machen musste.
»Hey, meine Große, wie siehst du denn aus, was ist los? Ich hab schon Tee aufgesetzt. Ich dachte, du bist gleich hier.«
Seine Worte munterten sie nicht auf. »Ich häng seit zwölf Stunden hier auf dem Flughafen fest. Keiner weiß etwas Genaues. Die informieren uns nicht richtig. Erst dachten wir schon, es sei ein Anschlag, irgend so ein Terroristenscheiß, aber hier gehen kaum Maschinen ab. Nur Inlandsflüge. Ist das wegen der Vogelgrippe in den USA?«
Tim Jansen lachte bitter. »Nein, weil die Stones ihr zweihundertstes Abschlusskonzert geben … Wenn du mich fragst, Schwesterchen, die machen jetzt ganz Europa dicht. Glaube kaum, dass die euch noch reinlassen.«
»Ja, toll, mach mir Mut. Genau das brauch ich jetzt. Ich bin vier Stunden mit dem Bus bis hierher unterwegs gewesen. Glaubst du, ich fahr jetzt zurück und kaum sitz ich im Bus, geht hier mein Flieger vielleicht doch noch ab?«
»Ich würde dich ja gerne hier haben, aber …«
»Sei mal ruhig, die machen gerade eine Durchsage.«
Kira stand auf. Sie war aus dem Bild verschwunden, dafür erschien ein fetter indischer Bengel, der sein Gesicht vor die im Laptop eingebaute Kamera hielt und Grimassen schnitt.
»Du weißt genau, dass ich dich sehe, du kleiner Wichser. Kannst du mich auch verstehen?«
Der Junge versuchte, wie ein Vampir auszusehen, dem schlecht geworden war, weil er Rattenblut getrunken hatte. Er würgte und presste irgendwelche Laute oder Worte hervor, die Tim aber nicht verstand. Dann zeigte ihm der Junge den Stinkefinger. Entweder war das inzwischen ein internationales Symbol oder der Junge war schon öfter in Europa gewesen.
Tim zappte kurz durchs laufende Fernsehprogramm. Im Ersten lief jetzt ein Gespräch mit einem Trompeter, der angeblich sehr berühmt war, aber Tim, der Volksmusik hasste, kannte ihn nicht. Er wunderte sich nur, warum keine Sondersendungen ausgestrahlt wurden. Schon den ganzen Tag über nicht. Wer etwas wissen wollte über diesen Grippevirus und darüber, was draußen passierte, musste ins Internet ausweichen.
Schon war Kira wieder da, schob den Jungen weg und sagte schlecht gelaunt: »Auf ungewisse Zeit verschoben. Aber es soll in zwei Stunden eine Maschine nach London gehen. Ich werde versuchen, mich da auf die Warteliste setzen zu lassen. Die werden das ja wohl kostenlos umbuchen, nachdem wir hier so lange festhängen.«
»Toi, toi, toi!«
Tims Vater, Ubbo Jansen, betrat jetzt das Zimmer und ärgerte sich sofort. Erstens hasste er, der fleißige Geschäftsmann, es, wenn tagsüber das Fernsehgerät lief. Das hatte immer so etwas von Müßiggang an sich, als gäbe es nichts zu tun, und für jemanden wie ihn, der nie genug Zeit fand, um alles zu erledigen, was in seinen Augen getan werden musste, wirkte das wie eine Provokation. Zweitens sah er auf Tims Bildschirm das Gesicht seiner geliebten Tochter Kira, und genau jetzt, als er hereinkam, schaltete Tim ab.
Er fuhr seinen Sohn sofort an. »Was ist? Ich versuch seit Stunden, Kira zu sprechen. Sie ruft nicht an und du …«
»Mit mir hat sie geredet. Sie sitzt in Mumbai fest. Die stornieren alle Flüge.«
Ubbo Jansen ballte seine rechte Faust. Er hatte als Jugendlicher in einem Verein geboxt und noch jetzt empfand er sein Leben als ständigen Kampf im Ring. Manchmal wurden die Regeln geändert, aber es blieb ein Kampf. Wer aufgab oder k. o. ging, hatte verloren. Er stand immer noch aufrecht und hoffte, nicht von seinen Gegnern und von den Punktrichtern erledigt zu werden.
Ubbo Jansen, zweiundfünfzig Jahre alt, zehn Punkte in Flensburg, trotz Konkurs und Scheidung still fighting. So sah er sich selbst. Einmal, vor vielen, vielen Jahren, als es ihm gut ging und seine Ehefrau noch nicht seine Ex war, als die Firma noch blendend lief und seine Konten gut gefüllt waren, da hatte er mit einem Freund Angelurlaub im Indischen Ozean gemacht. Gemeinsam nahmen sie am Hemingway-Cup teil und fischten auf Haie und Blue Marlins. Als sie einen heftigen Biss hatten, kämpften sie zwei Stunden, bevor der Fisch zum ersten Mal sprang und sich zeigte.
Alle Teilnehmer des Wettbewerbs waren längst wieder im Hafen und feierten ihre Fänge, doch die zwei meldeten sich immer wieder über Funk und hatten für ihre Mitbewerber nur eine kurze Durchsage: »Still fighting.«
Das war sein Lieblingsausdruck geworden, als würde sich sein ganzes Leben darin spiegeln. Immer wieder, wenn es später schwierig für ihn geworden war, hatte er sich selbst diese Worte zurückgeholt: »Ubbo Jansen, still fighting.«
Kurz bevor sie den Blue Marlin damals an Bord ziehen konnten, keine zehn Meter mehr vom Motorboot entfernt, tauchte ein Marco auf. Der Hai griff den Blue Marlin von der Seite an und zerteilte ihn mit einem Biss. Der Schwanz schwamm im Wasser, den prachtvollen Kopf mit dem langen Schwert zogen sie eilig an Bord und mit dem Rest tauchte der Marco ab.