Für Adam:
Nie schmiedete Liebe ein besseres Herz als das deine.
1
Freitag, 13. Februar 1920
Der Mann im eleganten grauen Anzug materialisierte sich im Kinderzimmer neben dem schlafenden Säugling und sog die süße, milchduftende Nachtluft ein. Er hätte jede Gestalt annehmen können, nach der ihm der Sinn stand: die eines Spatzen, einer Schnee-Eule oder sogar die einer gewöhnlichen Stubenfliege. Doch obwohl er die Welt von Berufs wegen oft auf Schwingen bereiste, zog er die menschliche Form vor.
Der Besucher, der allseits unter dem Namen Liebe bekannt war, blieb unter dem bleiverglasten Fenster stehen, zog eine kleine, mit einer Perle verzierte Anstecknadel aus seiner Krawatte und stach sich damit in den Finger. Ein Tropfen Blut quoll hervor, in dem sich die schmale, niedrig am Spätwinterhimmel hängende Mondsichel spiegelte. Er beugte sich über die Wiege und schob seine blutende Fingerspitze in den Mund des Kleinen. Das Baby, ein Junge, fing sofort an zu nuckeln, die Stirn krausgezogen, die kleinen Händchen zu Fäusten geballt.
»Schhh«, machte der Mann. »Ganz ruhig.« Er konnte sich nicht entsinnen, je eine von seinen Spielfiguren, seinen Spielern, mehr geliebt zu haben.
Nach einer Weile zog Liebe den Finger aus dem Mund des Jungen, zuversichtlich, dass sein Blut ihm ein standhaftes Herz verliehen hatte. Er ließ die Krawattennadel zurück an ihren Platz gleiten und betrachtete das Kind. Dann holte er ein Notizbuch aus der Tasche, kritzelte einige Zeilen hinein und steckte es wieder weg. Als es wirklich Zeit zum Aufbrechen wurde, sprach er nur zwei Worte, leise wie ein Gebet: »Sei tapfer.«
Eine Nacht darauf, in einem kleinen grünen Haus am anderen Ende der Stadt, traf seine Gegenspielerin ihre Wahl. Hier gab es keine Bleiglasfenster. Kein vornehmes Kinderzimmer, keine Krippe mit schmiedeeisernen Beschlägen. Das Kind, ein Mädchen, schlief in einer alten Apfelkiste – und es war zufrieden damit, weil es nichts anderes kannte.
Im zweiten Schlafzimmer des Hauses lag die Großmutter des Kindes in unruhigem Schlaf; ein stets wachsamer Teil ihres Geists lauschte auf die heimkehrenden Eltern des Mädchens: eine knarzende Tür, gedämpfte Stimmen, Schritte auf Zehenspitzen.
Doch heute sollte die alte Frau vergebens darauf warten.
Mit ihren weichen Lederhandschuhen griff Liebes Gegenspielerin, allenthalben bekannt als Tod, nach dem Kind und nahm es hoch. Es wachte auf und blinzelte verschlafen in das fremde Gesicht über ihm hinauf. Zu Tods großer Erleichterung fing die Kleine nicht an zu schreien, sondern blickte sie bloß erstaunt an. Tod hob ihre Kerze, damit das Mädchen sie besser sehen konnte. Es kniff die Augen zu, sah sie dann noch einmal an, lächelte und streckte die Hand nach der Flamme aus.
Erfreut stellte Tod die Kerze ab, drückte das Baby fest an ihre Brust und schritt mit ihm an das nackte Fenster, hinter dem eine weißbepuderte Welt unter einem Himmel wie aus silbernem Flanell lag. Gemeinsam mit dem Baby betrachtete sie den fallenden Schnee. Schließlich schlief das Kind in ihren Armen ein.
Tod konzentrierte sich auf ihre Aufgabe, bis sie endlich den verräterischen Druck hinter den Lidern spürte. Nach beträchtlicher Anstrengung schimmerte eine einzelne schwarze Träne in ihren Wimpern. Tod nahm die Zähne zu Hilfe, um ihren Handschuh auszuziehen, der nahezu lautlos zu Boden fiel, und streifte die Träne mit dem Zeigefinger ab.
Ihre Fingerspitze schwebte über der glatten, warmen Stirn des Babys. Langsam, sorgfältig schrieb sie dem Kind ein Wort auf die Haut, das unsichtbar bleiben sollte. Doch dieses Wort würde Macht über das Mädchen haben und über die Frau, die später aus ihm werden sollte. Es würde sie lehren, sie formen. Die zehn Buchstaben glitzerten im Kerzenschein.
Irgendwann.
Sie flüsterte dem Baby ins Ohr: Irgendwann wird jeder, den du liebst, tot sein. Alles, was du liebst, zu Staub werden. Dies ist der Preis des Lebens. Dies ist der Preis der Liebe. Das einzig mögliche Ende jeder wahren Geschichte.
Das Wort versank in der dunklen Haut des Mädchens, und bald war es, als hätte es nie dort gestanden.
Tod legte den Säugling wieder in sein Bett, zog auch noch den zweiten Handschuh aus und ließ beide auf dem Boden liegen, wo die Großmutter sie finden und für die der Mutter halten sollte. Die Handschuhe waren das Einzige, was sie dem Mädchen hinterließ, obwohl sie ihm so viel genommen hatte und in den folgenden Jahren noch mehr nehmen sollte.
In den nächsten siebzehn Jahren taten Liebe und Tod nichts anderes, als ihre Spielfiguren zu beobachten. Und darauf zu warten, dass das Spiel begann.
2
Freitag, 26. März 1937
Henry Bishop stand auf dem weichen Untergrund des Innenfelds, während sich über ihm eine dichte Wolkendecke zusammenbraute. Der Platz zwischen der ersten und der zweiten Base war ein guter Ort zum Nachdenken. Dort roch es nach frisch gemähtem Gras, und das von hohen Douglastannen umstandene Außenfeld schirmte ihn vom Lärm der restlichen Welt ab. Henry schluckte, ging in die Hocke und boxte in seinen Handschuh, als der Pitcher seinen Wurf abfeuerte. Der Schlagmann holte aus und traf – pock! Der Ball prallte vom Schläger ab und flog über das Innenfeld. Henry sprang und reckte den Arm, doch der Ball sauste unbeirrt über seinen Handschuh hinweg.
Als seine Füße wieder auf dem Boden landeten, verstand Henry mit einem Mal den Rhythmus von Baseball und warum ihm das Spiel so viel bedeutete.
Alles war miteinander verbunden. Ohne die Reaktion des Schlagmanns war die gesamte Arbeit des Pitchers umsonst. Der Wurf des Feldspielers wiederum fand seine Bestimmung im Handschuh des Fängers oder im Gras. Die Verbindung vervollständigte den Takt. Zwei gegensätzliche Kräfte, jede mit einem eigenen Ziel, die aufeinandertrafen und dabei etwas Unvorhersehbares schufen. Einen Triumph, eine Niederlage, gebrochene Herzen, Freude. Im Grunde war Baseball nichts als eine Liebesgeschichte. Nur dass es um eine andere Art von Liebe ging als die, nach der er suchte.
Er erreichte die Grasfläche, während Ethan Thorne, der Center Fielder seiner Mannschaft, den Wurf aus vollem Lauf mit der bloßen Hand auffing, eine Folge selbstverständlicher Bewegungen für seine langen Gliedmaßen. Ethan schleuderte den Ball gerade noch rechtzeitig zu Henry weiter, sodass dieser den gegnerischen Läufer noch knapp vor der zweiten Base erwischte. Henry liebte das Gefühl, ein Teil dieses verschlungenen Wesens, bestehend aus den Händen und Füßen seiner Schulkameraden, zu sein.
»Klasse gefangen«, rief der Trainer, der eine Kappe, einen Pullunder und eine Krawatte trug, die ihm fast bis zur Hüfte reichte. »Aber benutzen Sie beim nächsten Mal Ihren Handschuh, Mr Thorne. Mit solchen Heldentaten ruinieren Sie sich sonst nur die Fingerknöchel.«
»Ja, Sir«, erwiderte Ethan. »Ich dachte bloß, so kriege ich den Ball schneller ans Ziel.«
Der Trainer schnaubte nur und schüttelte den Kopf. Dann sah er zum Himmel hoch, verzog das Gesicht und musterte seine Spieler. Das Spiel lief noch ein paar Minuten weiter, als sich mit einem Mal etwas in der Luft veränderte. Henry spürte es genau, einen plötzlichen Druckanstieg. Der Regen wuchs von leichtem Nieseln zu einem ausgewachsenen Schauer an, der die Schultern der Spieler dunkel färbte. An den tiefer gelegenen Stellen des Felds bildeten sich prasselnd Pfützen.
Als könnte er sich damit vor dem Regen schützen, hob der Trainer sein Klemmbrett über den Kopf und blies in seine Pfeife. »Alle Mann ab unter die Dusche! Bishop, Sie bleiben noch.«
Henry joggte hinüber und blickte auf seinen Trainer herunter.
»Wie immer: Ausrüstung reinbringen und Schläger und Bälle sauber machen. Sehen Sie nur ja zu, dass Sie den Matsch abkriegen und alles ordentlich abtrocknen, sonst brauchen wir neue Sachen, und das ist im Moment nicht drin.« Er warf einen Blick auf Henrys hinuntergerutschte Strümpfe.
»Ja, Sir«, sagte Henry, der sich nicht gewundert hätte, wenn der Regen auf seinen erhitzten Wangen zu Dampf verpufft wäre.
Ein Stückchen weiter landete ein Spatz auf dem Rasen und zupfte an einem Wurm, den die niederklatschenden Tropfen hervorgelockt hatten. Der Vogel legte den Kopf schief und betrachtete Henry interessiert. Dieser zog seine Strümpfe hoch.
»Wenn alles erledigt ist, können Sie gehen«, sagte der Trainer. »Ich bin dann drinnen. Ist ja der reinste Weltuntergang hier.«
Henry nickte und bückte sich, um einen Ball aufzuheben. Er schleuderte ihn in einen Eimer, dann den nächsten und den nächsten. Kein einziger Wurf ging daneben, selbst dann nicht, als er sich immer weiter entfernte. Bunk, bunk, bunk, sammelten sich die Bälle im Eimer. Rhythmus. Verbindung. Sie folgten ihm überallhin, wie Schatten, wie Geister.
Henry pfiff bei der Arbeit vor sich hin, das Motiv eines russischen Balletts, das sie mit dem Schulorchester gespielt hatten. Er nahm seine Kappe ab, um sich das Wasser von der Stirn zu wischen, und machte sich daran, die Schläger zu Sträußen zu sammeln, die er im Gehen hin und her schwang. Er spülte sie sauber, trocknete sie ab und legte sie in einen Rollwagen, den er mit einer Hand in den Lagerschuppen schob. In der anderen hielt er den Eimer mit den Bällen, das Gesicht vor dem stetigen Regenstrom gesenkt.
Der Anblick der Schule, einer Privatakademie ausschließlich für Jungen, erfüllte ihn immer wieder mit Ehrfurcht. Das Gebäude war eine Sinfonie aus rotem Backstein und weißer Farbe, eingebettet in einen immergrünen Wald. Ein herrliches Bild, selbst an einem Regentag. Er war dankbar für das Stipendium, das ihm seinen Platz am Rande dieser Pracht ermöglichte, und hoffte auf ein weiteres, das ihm im Herbst an die Universität von Washington verhelfen sollte.
Als Henry die Umkleidekabine betrat, war nur noch Ethan da, in ein weißes Handtuch gewickelt. Alle anderen waren schon gegangen.
»Ich hätte dir helfen sollen«, sagte er und rubbelte sich mit einem weiteren Handtuch das triefende Haar trocken. »Manchmal bin ich so ein Esel.«
»Das ist meine Aufgabe«, widersprach Henry. »Nicht deine.«
»Aber das ist doch Mist!«, schimpfte Ethan. »Du bist nass bis auf die Haut. Und deine Schuhe … Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach meine alten nimmst. Die sehen noch wesentlich besser aus –«
»Ist schon in Ordnung so, Ethan. Wirklich.« Henry legte seine Kappe auf die Bank, zog sich das durchweichte Hemd über den Kopf und ließ es auf den Betonboden klatschen. »Keine Sorge.«
Als Henry aus der Dusche kam, war Ethan angezogen. Er wirkte schick und selbstbewusst in seiner Schuluniform, das Haar sorgfältig gescheitelt. Er trat an den beschlagenen Spiegel, rieb mit der Faust einen Kreis in den Dunst und zog seine bereits makellos sitzende Krawatte glatt.
»Noch Lust auf einen Milchshake?« Er betrachtete Henrys verschwommenes Spiegelbild. »Um die Zeit drängen sich bei Guthrie’s die Mädchen.«
»Ach, nein«, lehnte Henry ab und frottierte sich so vehement das Haar, dass es zu Berge stand.
»Sicher?« Doch noch während er die Frage aussprach, stahl sich ein eigentümlich erleichterter Ausdruck auf Ethans Gesicht. Ethan konnte kompliziert sein, besonders wenn es um ihre gemeinsame Freizeitgestaltung ging. Henry fragte lieber nicht mehr nach. Sachte bewegte er die Finger der linken Hand, übte die Melodie eines neuen Stücks, an dem er arbeitete. Er sehnte sich nach seinem Kontrabass. Ihn in den Armen zu halten, das ganze Ritual des Spielens, hatte eine angenehm beruhigende Wirkung auf ihn.
»Hast du etwa was anderes vor?«, fragte Ethan mit leicht gekränkter Miene. Ethan konnte es nicht ertragen, wenn Henry etwas ohne ihn unternahm, so als könnte dieser sich einen anderen besten Freund suchen. Was er nie tun würde.
Henry wollte nicht zugeben, dass er den Abend gerne in der Remise verbringen würde, um zu üben. Dafür würde er sich von Ethan ganz schön was anhören müssen. »Ach so, ich wollte noch fragen, wie es mit deinem Englischaufsatz läuft.«
»Henry, der ist erst in über zwei Wochen fällig, und außerdem ist heute Freitag. Meine Güte, wir haben Wochenende.« Ethan schlang sich seine Schultasche über die Schulter.
»Muss ja auch nicht gleich heute Abend sein«, sagte Henry. »Ich dachte nur, du möchtest vielleicht bald anfangen.«
Ethan raufte sich die Haare und ruinierte den sauberen Scheitel. »Nein, nein. Ich weiß schon, was ich schreiben will. Also keine Eile. Aber komme ich dir da nicht mit deiner eigenen Schularbeit ins Gehege? Ich kann das bestimmt auch –«
»Nein, kein Problem«, entgegnete Henry. Er knüllte sein Handtuch zusammen und pfefferte es in den Wäschekorb. »Ich helfe dir gern. Mach dir keine Gedanken.«
Ethan grinste. Er trommelte mit den Fingerspitzen einen schnellen Rhythmus an den Türrahmen und lehnte sich nach draußen. Der Regen hatte aufgehört, aber Henry kam es immer noch so vor, als wäre alles um ihn kurz davor, zu zerplatzen. Er eilte seinem Freund hinterher. Sollte die Welt ruhig zusammenbrechen. Ethan – und auch jeder sonst – konnte darauf zählen, dass Henry seine Rolle spielte.
3
Flora Saudade stand auf dem unteren Flügel der buttergelben Beechcraft Staggerwing C17B, bereit, das Flugzeug aufzutanken. Sie ließ die Hände über die obere Tragfläche gleiten und bewunderte, wie sie erst ein Stück hinter der unteren ansetzte. Dieses kleine Detail war die Krönung. Kein anderer Doppeldecker war so gebaut. Es machte die Staggerwing zu einer Kuriosität, was genau der Grund war, weshalb Flora, die selbst eine Kuriosität war, sie so liebte.
Die Flügel ließen das Flugzeug schnell aussehen, und das war es auch – flink wie ein Pfeil. Im Vorjahr hatten zwei Pilotinnen in einem ähnlichen Modell das ganze Land überquert und die Bendix Trophy gewonnen, einschließlich des Preisgelds von siebentausend Dollar. Allein der Gedanke daran entfachte ein Feuerwerk in ihrer Brust. Schön wär’s.
Aber dieses Flugzeug gehörte nun mal nicht ihr. Sondern Captain Girard, der zusammen mit ihrem Vater im Krieg gekämpft hatte und seit ihrer frühesten Kindheit eine Art Ersatzvater für sie war. Nachdem sie ihm ihren Traum vom Fliegen gestanden hatte, hatte er ihr alles beigebracht, was er über Flugzeuge wusste. Er hatte sie sogar als Mechanikerin eingestellt. Allerdings beschäftigte er auch einen offiziellen Piloten, der mit der Maschine Geschäftsmänner zu ihren Terminen quer durchs Land flog, weil diese Art des Reisens schneller war und man damit mehr Eindruck schinden konnte als mit einer Zugfahrt.
Keiner von diesen Geschäftsmännern hätte sich von Flora fliegen lassen, obwohl sie ihr alle, ohne es zu wissen, ihr Leben anvertrauten. Denn Flora war diejenige, die dafür sorgte, dass die Männer das Flugzeug sicher besteigen konnten, was ebenso wichtig war. Die Menschen waren schon seltsam in ihren Überzeugungen: Was sie nicht sehen konnten, war schlicht nicht da. Oder es hatte zumindest keinen Einfluss auf sie. Aber so funktionierte die Welt nun mal nicht, oder? Man war stets von Dingen umgeben, die man nicht sehen konnte, und diese Dinge hatten Macht. Flora konnte sie spüren.
Und so würde es, der Großzügigkeit des Captains zum Trotz, wohl noch Jahre dauern, bis sie sich von ihrem Mechanikergehalt und den Einkünften aus ihrer zweiten Beschäftigung als Sängerin im Domino ein eigenes Flugzeug würde leisten können. Eine Staggerwing kostete siebzehntausend Dollar. Da müsste sie schon so etwas wie die Bendix Trophy gewinnen, allein um sich die Anzahlung leisten zu können. Was wiederum ohne eigenes Flugzeug nicht möglich war.
Flora streckte sich verdrossen, um den Gastank an der oberen Tragfläche zu befüllen, und sog die bläulichen Dämpfe des Neunzig-Oktan-Benzins ein. Ihr Blick fiel auf den Himmel, und sie runzelte die Stirn. Diese Wolken sahen gar nicht gut aus. Sie hoffte, sie würden sich noch ein, zwei Stunden zurückhalten, damit sie einen kurzen Flug unternehmen konnte. Aber dem Frühlingshimmel über Seattle war nie zu trauen.
Flora sprang ab und landete knirschend im Kies der Startbahn. Dann kletterte sie auf den anderen Flügel, um den Tank auf der gegenüberliegenden Seite zu füllen. Das dauerte bei diesem Flugzeug immer eine Weile: Vierhundert Liter Benzin brauchten ihre Zeit, und die Männer auf dem Flugplatz waren ungefähr ebenso wild darauf, ihr zu helfen, wie sie im Cockpit zu sehen.
Sie überprüfte die Knöpfe an ihrem blauen Leinenoverall. Alle fest verschlossen. Das war so ein Aberglaube von ihr. Wenn schon an ihr nicht alles seine Ordnung hatte, dann konnte sie das auch vom Rest nicht erwarten. Und obwohl sie sich keine Illusionen machte – alles und jeder musste irgendwann sterben –, so hoffte sie doch, dass dieser Tag für sie noch in ferner Zukunft lag. Allein der Gedanke daran bereitete ihr Kopfschmerzen.
Das Flugzeug sah gut aus, also drehte sie per Hand die Propeller, um sicherzugehen, dass sich in den unteren Zylindern kein Öl angesammelt hatte und einen Motorschaden verursachte. Zufrieden öffnete sie die Tür auf der Backbordseite und kletterte hinter den beiden Rücksitzen ins Cockpit. Wie immer vor einem Flug regten sich die Schmetterlinge in ihrem Bauch, und sie ging nach vorn, wo das blankpolierte Holz der Instrumententafel lockte.
Sie schnallte sich an und warf einen Blick durch die Windschutzscheibe. Noch regnete es nicht, aber es würde sicher bald so weit sein. Sie konnte es spüren, diese Spannung in der Luft, die auf eine Veränderung hindeutete. Da die Maschine ein Spornfahrwerk hatte, konnte sie den Boden vor sich nicht sehen, aber sie hatte sich vorher vergewissert, dass alles frei war. Einer von Captain Girards Männern gab mit der Flagge das Startsignal und Flora beschleunigte. Bei vierzig Meilen pro Stunde löste sich das Spornrad vom Boden, und sie hatte bessere Sicht. Sie gab noch etwas mehr Gas, und als sie die sechzig Meilen erreichte, erhob sich das Flugzeug in die Luft. Noch schneller, und sie schwebte dahin.
Flora lächelte. Dieser Moment, an dem sie den festen Boden verließ, war jedes Mal wie ein Wunder. Sie zog das Steuer zu sich heran, stieg noch höher, und die Schwerkraft presste ihr in den Magen, als sie Richtung Süden schwenkte. Wären die Wolken nicht im Weg, hätte sie den Mount Rainier sehen gekonnt, den schneebedeckten Vulkan, der über der Stadt thronte wie ein spitzschädeliger Gott. Unter ihr streckte der Lake Washington seine Glieder, ein lang gezogenes grüngraues Gewässer, dessen Form sie an einen Tänzer erinnerte. Das Südende des Sees sah aus wie ein erhobener Arm, während der nördliche Teil einem Paar gebeugter Knie ähnelte. Er war von spitzen Douglastannen und struppigen Zedern gesäumt. Dahinter folgten mäandernde Straßen zwischen winzigen Häusern mit all dem Leben und Chaos, das sich darin abspielte.
Sie atmete aus. Der Himmel gehörte ihr. Ihr allein. Er erstreckte sich bis in die Unendlichkeit, und wenn sie in der Luft war, wurde auch sie Teil von etwas Ewigem, Unsterblichem. Solange sie gut auf das Flugzeug achtgab, würde es ihr denselben Dienst erweisen. Fliegen war kein bisschen wie die Jazzmusik, zu der sie allabendlich sang und die nie dieselbe war: manchmal wunderschön, dann wieder quälend, je nach den Launen und Einfällen anderer Leute, beeinflusst durch die Wünsche des Publikums.
Diese Abhängigkeit gefiel ihr nicht. All die Menschen, die ihre Nerven aufrieben, sie enttäuschten oder schlicht im Stich ließen, nicht selten für immer. Der Staggerwing vertraute sie wie einem Teil ihres eigenen Körpers. Sie liebte selbst das Dröhnen des Motors. So dissonant es für ihre Musikerohren auch klang, seine Beständigkeit vertrieb alle trüben Gedanken aus ihrem Kopf.
Heute jedoch würde sie nicht lange fliegen. Ein Temperaturwechsel ließ den Himmel erzittern. Der Motor rasselte, kurz und unaufdringlich wie ein fallendes Würfelpaar. Dann kam der Regen. Ein Tropfen klatschte auf die Windschutzscheibe, dann noch einer und noch einer, bis das Glas mit Wasserschlieren überzogen war. Und obwohl es vermutlich kein Gewitter geben würde, wusste Flora, dass sie das Flugzeug landen musste. Donner und Eis waren in der Luft ihre ärgsten Feinde.
Über Funk gab sie ihr Vorhaben bekannt, wendete und kehrte zum Flugplatz zurück. Als sie die Höhe verringerte, war ihr Magen für einen Moment schwerelos. Rasend schnell kam die Landebahn in Sicht. Zuerst setzte sie die beiden Vorderräder auf, dann das hintere, eine kompliziertere Landung, als wenn sie alle drei auf einmal hätte den Boden berühren lassen, dafür aber sicherer und kontrollierter, und sie beherrschte sie perfekt. In dem Moment, als sie aus dem Cockpit stieg, öffnete der Himmel vollends seine Schleusen, fast als sei er genauso traurig wie sie über ihre Rückkehr zur Erde.
4
Nicht lange vor Floras Flug hatte Liebe sich in Venedig materialisiert, einer Stadt, die durch die Tatsache, dass sie zum Untergang verdammt war, nur noch an Schönheit gewann. Er stand auf dem Markusplatz vor einer kunstvoll verzierten Kirche, benannt nach dem Jünger, der nach Jesu Gefangenname nackt aus dem Garten Gethsemane geflüchtet war. Die Gebeine des heiligen Markus waren in einem Fass mit gepökeltem Schweinefleisch in die Kirche geschmuggelt worden – eine seltsame Art, das Gedenken an einen Mann am Leben zu halten. Doch was war die Menschheit schließlich, wenn nicht zutiefst seltsam?
Aus ebensolchen menschlichen Knochen hatten sie die Würfel für ihr Spiel gefertigt. Zwei Stück, handgeschnitzt und makellos glatt geschliffen, die Augen eine weinrote Mischung aus Liebes Blut und Tods Tränen. Liebe trug sie immerzu bei sich. Auch jetzt klapperten sie in seiner Tasche, während er auf den Campanile zuging, dessen Glocken geläutet wurden, um Politiker zu Sitzungen zusammenzurufen, die Mittagszeit zu verkünden oder auch um Hinrichtungen bekanntzugeben.
Gerade schlug es Mittag, als er vorbeikam und seine Schritte auf dem Steinboden einen Schwarm Tauben aufscheuchten. Gurrend und flügelschlagend stoben sie in den silbernen Himmel auf.
Liebe verbrachte einen angenehmen, wenn auch kühlen Nachmittag im nebelverhangenen Labyrinth der Gassen um die Accademia, halb in der Erwartung, jeden Moment seine Gegenspielerin hinter der nächsten Ecke auftauchen zu sehen. Bei einem Hutmacher kaufte er eine handgefertigte Melone und setzte seinen alten Hut einem dünnen Romajungen auf, der zu einem legendären Verführer von Frauen und Männern gleichermaßen heranwachsen sollte. Noch Jahre später bereute es Liebe, dem Jungen nicht auch seine Hose geschenkt zu haben.
Im Schreibwarenladen nebenan erstand er ein kleines Glas himmelblauer Tinte, weil sie ihn an die Farbe derjenigen erinnerte, mit der Napoleon seine Briefe an Joséphine verfasst hatte. Liebe wollte sich damit Notizen in das kleine Büchlein machen, das er stets bei sich trug; vielleicht würde ihm das Glück bringen. Vielleicht würde er dieses Mal, im Gegensatz zu all jenen zuvor, tatsächlich gewinnen.
Er fragte sich, ob sie ihn wohl vergessen hatte, und machte in einer Bar halt, wo er sich einen kleinen Imbiss aus hauchdünnem Parmaschinken und mildem Käse genehmigte, gefolgt von einem Glas Perlwein. Sein unsterblicher Körper benötigte zwar keinerlei Nahrung, aber er nahm sich gern die Zeit für solche irdischen Freuden. Appetit war etwas grundlegend Menschliches, und es tat ihm gut, das Gefühl zu verspüren, zu verstehen.
Als er aus der Bar trat, noch das Prickeln von Salz und Wein auf der Zunge, stand die Sonne bereits tief am Horizont, kurz davor, der Welt ihre Wärme und Farben zu entziehen. Da er befürchtete, dass Tod sich nicht mehr zu ihm gesellen würde, löste Liebe sich in Luft auf und kam in einer glänzend schwarzen Gondel wieder zum Vorschein, sehr zur Überraschung des Fahrers, der gerade seinen letzten Passagier für den Tag abgesetzt hatte. Der Gondoliere hatte sich eigentlich eine Zigarette drehen und ein Weilchen hinauf in den Himmel blicken wollen, bevor er das Boot zurück an seinen Liegeplatz ruderte. Doch nun war da auf einmal dieser neue Gast, der es sich bereits auf der schwarzgoldenen Sitzbank bequem machte.
Der Mann seufzte. »Solo voi due?«
Nur Sie beide?
Zu spät bemerkte Liebe den süßen Hauch, der über dem Kloakengeruch des Kanals schwebte. Lilien. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
»Sì, solo noi due«, stimmte Liebe zu.
Sie stieg die schiefen hölzernen Stufen zur Gondel hinunter. In ihrem langen winterweißen Mantel sah sie aus wie ein Engel. Ihre Handschuhe und Stiefel, beides aus Lammleder, hatten dieselbe Farbe. Der einzige Farbtupfer war der Schal um ihren Hals: roter Kaschmir. Sein Herz verkrampfte sich bei dem Anblick.
»Hallo, alter Freund«, begrüßte sie ihn.
Liebe half ihr in die Gondel. Da er sie diesmal auf etwa siebzehn Jahre schätzte, passte er ihr sein eigenes Erscheinungsbild an. Seine Entscheidung, in der Gestalt eines Mannes mittleren Alters zu reisen, hatte die Erschöpfung widergespiegelt, die er seinem Schicksal gegenüber empfand. Eine Ewigkeit lang immer wieder zu verlieren, würde wohl jedermanns Verhältnis zur Zeit trüben. Doch je jünger er sich nun fühlte, desto mehr wuchs seine Zuversicht, dass Tod vielleicht doch zu schlagen war. Das musste er sich merken.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte der Gondoliere, die dünne Selbstgedrehte schon zwischen den Lippen.
»Nur zu«, antwortete Tod.
Und da war es, ihr Mona-Lisa-Lächeln, das den Künstler zu seinem Meisterwerk inspiriert hatte. Eine Flamme flackerte, der säuerliche Duft brennenden Tabaks stieg auf, ein Streichholz versank leise zischend im Kanal – ein weiteres Licht auf der Welt, das für immer verlosch.
Der Gondoliere, rauchend und in seine Gedanken vertieft, stieß sein Boot von der Anlegestelle ab und steuerte es weg vom Canale Grande durch die verschwiegenen schmaleren Wasserstraßen, die sich malerisch durch das Viertel schlängelten.
»Was für eine hoffnungslose Stadt«, sagte sie.
Tod wusste, wie sehr er Venedig liebte. Um ihr nicht zu zeigen, dass sie ihn verletzt hatte, verpasste Liebe sich einen prächtigen Zwirbelbart. Tod konterte mit einem hängenden Exemplar à la Dr. Fu Manchu, verzog dabei jedoch keine Miene. Liebe gab sich geschlagen und beide Schnurrbärte lösten sich wieder in Luft auf.
»Es muss dir nicht unangenehm sein«, erklärte sie in der Sprache, die nur sie beide kannten. »Deine Hingabe zu allem, was dem Untergang geweiht ist, hat durchaus ihren Reiz.«
»Vielleicht sehe ich ja Dinge, die dir nicht auffallen«, erwiderte er.
»Mag sein.« Sie zog einen Handschuh aus und fuhr mit dem Fingerknöchel durchs Wasser.
»Sie sind bereit«, sagte er und dachte an seine Spielfigur in deren weit entfernter Heimatstadt, einer Stadt, deren Uhrenturm am Bahnhof dem Venediger Campanile nachempfunden war.
»Wenn du meinst«, sagte Tod.
Die Sonne war verschwunden und mit ihr alles Licht. Morgen würde sie wieder aufgehen und die Illusion erwecken, die Welt sei neu erstanden, der Kreislauf gehe von vorn los. Aber die Zeit war kein Kreislauf. Sie bewegte sich nur in eine Richtung, vorwärts ins Dunkel, ins Unbekannte. Liebe spürte, wie seine Laune ins Wanken geriet, und konzentrierte sich auf das Geräusch des Wassers, als das Boot hindurchglitt. Ein Geräusch wie unzählige kleine Küsse.
Er blickte ins Herz des Gondoliere und fand dort die Frau, die der Mann über alles liebte. Ihr Bild legte er nun über das Boot wie eine weiche Decke. Solch ein kleiner Trost würde Tod doch sicherlich nicht stören. Der Gondoliere schnippte seine Zigarette in den Kanal und begann zu singen.
Liebes Licht breitete sich über ihnen aus, und am dunkler werdenden Himmel stieg eine Mondsichel auf, so schmal, dass sie kaum da zu sein schien. Von Menschen gemachte Lampen spiegelten sich im Wasser wie lange glitzernde Finger, die das Boot im Vorübergleiten streichelten, während sein Führer vom Strahlen der Sonne seines Herzens für seine Geliebte sang.
Liebes Puls beruhigte sich wieder. Er nahm Tods Hand, sodass sie besser in sein Inneres blicken konnte, und gemeinsam sahen sie zu der Stadt am jüngeren Ende der Welt hinüber. Seattle. Sie hatte etwas Wildes an sich. Versank in Korruption, natürlich. Aber da waren auch Fantasie und Hoffnung und Staunen, was diejenigen Menschen anzog, die etwas Größeres, Besseres aus ihrem Leben machen wollten. Unendliche Reichtümer winkten, ob aus Wäldern geschlagen oder aus Goldminen gehackt.
Und auch für die Armen gab es Aufstiegsmöglichkeiten. Die Landschaft selbst spiegelte dies wider. Stille, tiefe Seen und schäumende Flüsse. Schneebedeckte Berge, deren Schönheit über ihre explosive Entstehungsgeschichte hinwegtäuschte. Wenn es je einen Ort gegeben hatte, wo das Alte dem Neuen weichen würde, wo Liebe Tod schlagen konnte, dann war es dieser.
Er wünschte, er könnte genauso in Tods Geist blicken wie sie in seinen. Doch dieses Geheimnis blieb ihm verschlossen. Die Fahrt ging zu Ende, und Liebe entlohnte den Gondoliere fürstlich. Arm in Arm stiegen die beiden Unsterblichen aus dem Boot, die Stufen hinauf und gingen bis zum höchsten Punkt der Ponte dell’Accademia, ihre Schritte kaum hörbar über dem Schwappen des Wassers.
»Papier?« Sie streckte die Hand aus.
Liebe riss ein Blatt aus dem Notizbuch, das er immer bei sich trug.
»Du zuerst«, sagte sie.
Liebe stach sich in den Finger und streckte ihn ihr hin. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und rieb mit der Fingerspitze über seine. Liebe reichte ihr das Blatt Papier und den Füllfederhalter, den er zuvor gekauft hatte. Sie tauchte die Feder in die gemeinsam geschaffene Tinte und schrieb damit zwei Namen nieder. Das Ritual verlief schnell, beinahe beiläufig, denn sie hatten es schon so oft durchgeführt, und vor allem kannten sie einander gut.
Sie blies die Tinte trocken. »Solange dieses Papier unversehrt ist, bleiben die Spieler am Leben. Wenn die Zeit abgelaufen ist, zerstöre ich es.«
»Nur falls du gewinnst«, erinnerte Liebe sie.
»Wenn ich gewinne. Und worin besteht ein Sieg deinerseits?«
Liebe zögerte. In der Vergangenheit hatte er einen Kuss gewählt. Oder eine vollzogene Ehe. Aber beides schien ihm nicht genug. »Sie müssen Tapferkeit beweisen«, antwortete er. »Sie müssen sich füreinander entscheiden, auch wenn es sie alles andere kostet. Wenn sie das tun, so gewinne ich.«
»Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll«, sagte sie.
Liebe beschloss, es ihr mittels eines Gedankenbilds zu erklären. Er legte die Hände an Tods Wangen und konzentrierte sich auf die Spielfiguren. Rein äußerlich betrachtet waren sie ein unmögliches Paar. Sie kamen aus völlig verschiedenen Welten. Aber Liebe wusste etwas, was Tod nicht bekannt war, zumindest, wenn es um Herzen ging. Die der beiden waren Zwillinge. Er zeigte ihr, wie es aussehen würde, wenn diese beiden Herzen zueinander fanden. Das Licht in ihnen würde hervorbrechen und aufsteigen, zwei Flammensäulen, die sich ineinander verwanden wie die Stränge der Materie, die jeglichem Leben zugrunde lag. Es war wie ein Miniaturecho der Entstehung des Universums und zugleich eine Vergrößerung der Bestandteile des Lebens. Es war die Quelle von allem, Liebe und Tod mit eingeschlossen.
Wenn Liebe gewann, würde das die Welt von Grund auf verändern, jedenfalls für die Spieler.
Tod löste sich aus seinem Griff. »Mach das nie wieder.« Sie betastete ihre Wangen. »Es versteht sich von selbst, dass sie nie von dem Spiel erfahren dürfen.«
Er nickte. Es ihnen zu sagen, würde alles verändern. »Und was ist diesmal der Einsatz?«
Ihre Antwort kam prompt. »Wenn ich gewinne, fordere ich das Leben meiner Spielerin.«
»Wenn ich gewinne«, erwiderte Liebe, »leben beide Spieler weiter.«
Sie zuckte mit den Schultern. Ihre Macht war weitaus größer als seine und das Spiel für sie nichts anderes als eine amüsante Zerstreuung.
»Gibt es irgendetwas, das nicht erlaubt ist?«, wollte sie wissen.
Er hasste diese Frage. Wie oft hatte er schon die falsche Entscheidung getroffen. »Die gewohnten Einschränkungen. Vor Ablauf der Zeit darfst du keinen der Spieler mit einer Berührung töten, genauso wenig wie ich Liebe in ihnen wecken kann.«
»Es sei denn …« Tod hob den Zeigefinger.
»Es sei denn, was?« Sie war eine gerissene Kontrahentin.
»Es sei denn, dein Spieler entscheidet sich für mich. Dann darf ich ihn mit einem Kuss töten.«
Liebe lachte. Henry würde niemals den Tod dem Leben vorziehen. Schon gar nicht, wenn Liebe im Spiel war. Schließlich war er dafür geboren. »Wie du wünschst. Hast du dich schon auf eine Gestalt festgelegt?«
»Du stehst vor ihr. Zumindest vor einer von ihnen.«
In der fast vollkommenen Dunkelheit musterte Liebe Tods Gesicht. Sternenbleiche Haut. Ein eleganter, gewellter schwarzer Pagenkopf. Dunkle Augen. Dieser breite, freche Mund. Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, nur wo? Und zweifellos würde sie auch hin und wieder als schwarze Katze auftauchen. Wie immer blieb es ein Rätsel, wie ihre verschiedenen Gestalten die Spieler beeinflussen sollten.
»Lass uns sehen, wie lange das Spiel andauern wird«, sagte Tod. »Du hast die Würfel?«
Liebe holte die Würfel aus der Tasche. Knöchern klackten sie gegeneinander. »Du fängst an.«
»Gut, ich wähle den Monat.« Sie schüttelte die Würfel und warf sie auf den Holzboden der Brücke. »Drei und vier. Das Spiel läuft also bis Juli. Welcher Tag, liegt bei dir.«
Er konnte die Augen entweder addieren oder multiplizieren, solange die Endsumme nicht die Länge des Monats überschritt. Er hatte nicht gern die Wahl. Lieber würde er dem Schicksal die Schuld geben.
Er schloss fest die Faust um die Würfel, drückte einen Kuss auf seine Finger und ließ los. Das Klappern hallte übers Wasser.
Tod sah nach. »Wie nett. Gleichstand.«
Selbst die Zahlen waren dieselben, eine Vier und eine Drei. Liebe war kurz davor, den zwölften Juli als den Tag zu wählen, an dem das Spiel enden sollte. Das würde ihm mehr Zeit verschaffen, genau wie er es sich immer wünschte. In manchen Fällen hätten schon Minuten zu einem anderen Ergebnis geführt.
Doch die Symmetrie der beiden Siebenen übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Also vertraute er darauf. Das Spiel würde am siebten Juli um Mitternacht enden.
»Wann sehen wir uns wieder?« Er blieb gern über ihre Handlungen auf dem Laufenden, sodass er entsprechend einschreiten konnte.
»In zwei Tagen«, sagte sie.
Liebe nickte. Zwei Tage – ein Paar –, das erschien ihm passend.
Tod verschwand, wie immer, wenn sie genug von ihm hatte, und Liebe schlenderte wie benommen in die andere Richtung davon, bis er sich vor einem fast leeren Café wiederfand. Er aß allein auf dem uralten Platz, einen schlichten Teller Gnocchi, dazu ein Glas säuerlichen Rotwein, und sah zu, wie die Sterne einer nach dem anderen aus dem dunklen Nachthimmel hervorbrachen.
Das Spiel hatte begonnen. Die Spieler hatten sein tiefstes Mitgefühl.
5
Samstag, 27. März 1937
Eine kalte Pfeife im Mund, saß Ethans Vater am Schreibtisch im Arbeitszimmer seiner Villa in Seattle. Vor ihm lag eine aufgeschlagene New Yorker Zeitung, die er nun mit finsterem Blick zusammenfaltete und zur Seite schob. Draußen auf dem Fensterbrett landete ein Spatz und lugte herein.
»Ethan!«
Keine Antwort.
»Ethan!«
Mrs Thorne betrat den Raum und stieß einen vielsagenden Seufzer aus. »Ethan bringt Annabel Krocketspielen bei«, informierte sie ihn. »Henry ist in der Remise.«
»Wo auch sonst?«, erwiderte er. »Was hat der Junge bloß immer mit diesem grauenhaften Instrument? Das ist doch bestenfalls Zeitverschwendung. Und wenn wir Pech haben, ruiniert –«
»Ach, Bernard«, unterbrach sie ihn, stützte die flachen Hände auf den Schreibtisch und gab ihm einen Kuss auf die glänzende Stirn. »Damit tut er doch niemandem weh. Denk nur an die wirklichen Probleme auf dieser Welt.«
»Dieses verfluch–«
»Bernard.«
Mrs Thorne marschierte zum Bücherregal neben dem Schreibtisch. Sie arrangierte eine Gruppe gerahmter Fotos neu und stellte das Bild eines verschmitzt grinsenden, schwarzhaarigen und dunkeläugigen Mädchens so, dass es direkt zur Zimmermitte gewandt war.
»Hol mir Ethan her«, sagte Bernard und zündete seine Pfeife an. »Henry –«
»Henry interessiert sich ebenso sehr für die Zeitung«, warf sie ein.
»Henry interessiert sich für seine Musik.« Er sprach es aus wie ein Schimpfwort. »Und er ist nicht –«
»Er ist genauso dein Sohn wie Ethan. Also wirklich, nach all diesen Jahren. Sein Vater war dein bester Freund. Sogar dein Trauzeuge!«
»Hol mir Ethan«, beharrte er.
»Wie wäre es mit einem kleinen ›Bitte‹?« Sie legte den Kopf schief, offenbar amüsiert über die schlechte Laune ihres Mannes.
»Dann hol mir verdammt noch mal bitte Ethan her«, bellte er. »Sag ihm, ich habe eine Aufgabe für ihn.«
Die Sonne schien durch die Fenster der Remise und beleuchtete Henrys Notenblatt von hinten. Er musste blinzeln, um noch etwas erkennen zu können, hörte jedoch nicht auf zu spielen. Er zog den Bogen über die tiefste Basssaite und entlockte dem Instrument Töne, die ihn im Innersten aufwühlten. Gerade übte er seinen Part von Elgars Enigma-Variationen für das Schulorchester und vervollständigte in Gedanken die anderen Stimmen: den Gesang der Geigen und Bratschen, das Klagen der Celli, die Trompeten und das donnernde Schlagwerk.
Seit Mr Sokoloff ihnen vor ein paar Wochen die Noten ausgeteilt hatte, war er wie besessen von dem Stück. Dabei war es nicht einmal das beste, das er je gespielt hatte. Mahler, Tschaikowski, Schostakowitsch, Rachmaninow, Beethoven, Mozart … Die Liste interessanterer Komponisten war lang. Doch zum ersten Mal schien ihm das, was er spielte, mehr als nur Musik zu sein – es kam ihm vor wie eine Art Chiffre. Ein Geheimnis. Ein Rätsel, das er lösen musste.
Er war sicher, dass sich hinter diesen Melodien, die einen Satz mit dem nächsten verbanden, eine besondere Bedeutung verbarg. Der Ausgangspunkt war offensichtlich: Jeder Satz war einer Person gewidmet, die nur durch ihre Initialen in der Partitur identifiziert war. Doch allein dadurch hatte sich das Werk wohl kaum den Titel »Enigma« verdient. Jeder, der den Komponisten kannte, würde das Rätsel innerhalb kürzester Zeit lösen. Es musste noch mehr dahinterstecken. Und so hatte Henry in den vergangenen Tagen unablässig darüber nachgegrübelt.
Neugierig war er ins Archiv der Zeitung gegangen, um ein Interview mit Elgar herauszusuchen, und was er darin las, machte ihn stutzig. Der Mann verglich das Stück mit einem Drama, in dem »der wichtigste Charakter niemals auftritt«. Henry fiel kein Beispiel eines solchen Theaterstücks ein. Selbst in Hamlet erschien doch der Geist. Henry hielt inne. Draußen erhob sich eine Windbö und ließ die frühlingsgrünen Blätter an den Bäumen rascheln. Er erhaschte den Duft jungen Grases.
Wieder ergriff er fest seinen Bogen, verlor sich in der Musik. Er ließ sie für ihn sprechen, beachtete den Schweiß nicht, der sich auf seiner Stirn bildete, um ihm schließlich in einer dicken Perle über die Wange zu rinnen. Sogar die Fliege, die seinen Kopf umschwirrte wie ein Flugzeug auf der Suche nach einem Landeplatz, ignorierte er. Es gab so viel, was er mit diesen Tönen sagen wollte.
Henry spielte, bis es an der Tür klopfte. Dam dam dadam-dam. Dieser Rhythmus war Ethans geheimes Zeichen. Henry sollte eigentlich mit einem dam-dam für »Herein« antworten, doch so lange wartete Ethan nie ab, und Henry wollte sein Spiel sowieso nicht unterbrechen. Die Tür öffnete sich knarzend, und die Fliege sauste durch den Spalt.
»Gar nicht schlecht.« Ethan stand in einem hellen Rechteck aus Nachmittagssonne, die den Boden in der Remise zum Glänzen brachte. Sein Schatten reichte bis an Henrys Füße.
Henry spielte den Satz zu Ende. Er hätte gern noch ein bisschen länger seine Ruhe gehabt, aber wenn er schon unterbrochen werden musste, dann war Ethan seine erste Wahl. Jedenfalls war er ihm lieber als die kleine Annabel oder Ethans Eltern, die keinen Hehl aus ihrer Meinung machten, dass seine Liebe zur Musik in diesen finanziell unsicheren Zeiten nicht besonders klug war, eine Zeitverschwendung, die ihn nur von allem wirklich Wichtigen ablenkte, nämlich seiner Ausbildung und seiner Zukunft. Darum saß er ja überhaupt hier in der Remise: Sie hatten ihm erklärt, sie wollten ihm nicht den Eindruck vermitteln, dass sie sein Steckenpferd guthießen, würden es jedoch mit etwas Abstand dulden, solange er seine schulischen Pflichten nicht vernachlässigte.
Der letzte Ton, lang und tief. Henry ließ ihn einen Augenblick in der Luft hängen. Erst nachdem er vollends verklungen war, hob Henry den Kopf und sah, wie Ethan ihn mit eigentümlichem Gesichtsausdruck musterte.
»Wieso starrst du mich so an?«, fragte Henry. »Ich mag das Stück.«
Ethan zuckte mit den Schultern. Er lehnte sich an eine Werkbank, die die gesamte Raumbreite einnahm und voller Sägespäne, Lampen, bei denen das Öl nachgefüllt werden musste, und krummer Nägel war. Das Fenster hinter seinem Kopf verlieh ihm einen perfekten Rahmen und verwandelte seine blonden Locken in einen Heiligenschein. Kein Wunder, dass sämtliche Mädchen mit den Wimpern klimperten und zu tuscheln begannen, wenn Ethan ein Zimmer betrat. Er sah aus wie ein Hollywoodstar.
»War doch klasse, das Liedchen«, sagte er. »Du wirst immer besser mit diesem Ding.«
Henry lachte. »Herzlichen Dank, dass du mich und mein Liedchen so lobst.«
»Ich will bloß nicht, dass du es dir zu Kopf steigen lässt. Du weißt selbst, wie gut du bist.« Ethan stemmte sich hoch, bis er auf der Werkbank saß. »Also. Wir sollen eine Reportage machen.«
»Sollen wir?«, fragte Henry. Es war allgemein bekannt, dass Ethan einmal den Inquirer übernehmen sollte und dass Henry … nun ja, auf Almosen angewiesen sein würde.
»Ja, mein Vater hat gesagt, es ist in Ordnung, wenn du mitkommst.«
Henry bemühte sich, ruhig zu bleiben. Ethan konnte schließlich nichts dafür, dass sein Vater sie so unterschiedlich behandelte.
Ethan grinste. »Ist sogar ein ganz interessantes Thema. Flugzeuge.«
Mit den Fingerspitzen der linken Hand steuerte Ethan den Cadillac auf den Flugplatz zu, während seine rechte lässig hinter Henry über der Rückenlehne lag. Sie waren von der Villa der Thornes auf dem Capitol Hill aus über eine grüne Zugbrücke gefahren, die sich über den Montlake Cut spannte und den Blick auf die Berge zu beiden Seiten des Sees freigab.
»Also, die Dinge liegen wie folgt«, fing er an und beobachtete Henry aus dem Augenwinkel. »Eine Zeitung aus New York ist dem Inquirer zuvorgekommen, worüber Vater natürlich Gift und Galle spuckt. Draußen in Sand Point gibt’s ein Flugzeug, das anscheinend zu den schnellsten auf der Welt gehört. Die andere Zeitung hat einen Artikel darüber gebracht, wie irgendein Mechaniker den Motor umgerüstet hat, und jetzt sollen wir den Jungs von der Ostküste zeigen, dass wir auch ordentlich Tinte im Blut haben.«
»Sollte doch zu machen sein«, überlegte Henry.
»Und ob das zu machen ist. Unser Reporter, der die Sache verschlafen hat, hat dafür einen saftigen Tritt in den Allerwertesten kassiert, und jetzt will Vater ihn noch mal so richtig vorführen, indem er die Story uns Grünschnäbeln gibt. Eigentlich fühle ich mich ziemlich mies deswegen. Ist ja nicht so, als hätte der arme Kerl ein Flugzeug übersehen, das bis zum Mond fliegen kann.«
»Als ob das je passieren könnte.« Etwas Schrecklicheres konnte Henry sich gar nicht vorstellen; er blieb lieber mit beiden Beinen auf der Erde.
»Hast du dein Notizbuch dabei?«, vergewisserte sich Ethan.
»Natürlich.«
So sah ihre Zusammenarbeit aus. Ethan stellte die Fragen, und Henry notierte die Antworten. Dann verfasste Ethan den Artikel im Kopf und diktierte ihn Henry, der ihn fehlerfrei abtippte. Das war ihr System, ihr Geheimnis.
Mr Thorne war im Glauben, sein Sohn hätte seinen Kampf mit dem geschriebenen Wort schon vor langer Zeit gewonnen, aber in Wahrheit hatte Ethan immer noch Mühe damit. Was nicht an mangelnder Intelligenz oder zu wenig Einsatz lag. Er war einer der klügsten Menschen, die Henry kannte, entdeckte in allem blitzschnell Muster und Verbindungen, anhand derer er sich ein rationales Urteil bilden konnte. Aber irgendetwas in ihm war falsch gepolt, sodass die Buchstaben ihn in helle Verwirrung stürzten. Henry hatte schon lange, bevor er bei der Familie Thorne untergekommen war, Ethans Arbeiten gelesen und neu geschrieben – seit dem Tag, an dem er Ethan weinend hinter dem Schulgebäude gefunden hatte, die Handrücken blutig vom Rohrstock eines Lehrers, der ihn der Faulheit bezichtigt hatte.
Weder Henry noch Ethan hatten eine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte, wenn Ethan eines Tages das Familiengeschäft übernahm. Ein Zeitungsverleger, der nicht lesen und schreiben konnte – das war undenkbar, es sei denn, sie fanden einen Weg, weiter zusammenzuarbeiten. Derzeit redeten sie sich noch ein, dass dieser Tag in ferner Zukunft lag und sich schon eine Lösung finden würde, wenn es so weit war.
»Da ist sie ja!« Ethan deutete in Richtung eines gelben Doppeldeckers mit gläserner Kabine und dicken Gummireifen. Er hielt den Wagen in einiger Entfernung an, sprang heraus und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Henry folgte seinem Beispiel, aber seine Aufmerksamkeit galt nicht dem Flugzeug. Er sah das Mädchen an, das mit einem Schraubendreher in der Hand auf dem oberen Flügel kauerte. Bei ihrem Anblick durchfuhr ihn ein seltsam rauschhaftes Gefühl, von dem er noch nicht sagen konnte, ob es gut oder schlecht war.
»Kennst du sie?«, fragte Henry.
»Was? Wen?«
»Das Mädchen, auf das du eben gezeigt hast«, sagte Henry. Er konnte sich nicht vorstellen, wo er sie schon einmal gesehen haben sollte, und doch hatte er das Gefühl, sie so gut zu kennen wie den Klang eines tiefen Ds.
»Welches Mädchen? Wo? Ich meinte die Maschine, du Holzkopf.«
Ethan war – natürlich – voll und ganz auf das Flugzeug und ihre Reportage konzentriert. Nie ließ er sich von Mädchen ablenken. Niemals. Henry bemühte sich stets, ihm nachzueifern, jedoch mit wenig Erfolg. Sein Blick schweifte immer wieder zu ihnen, unablässig suchte er nach der einen, die ihm das Gefühl geben würde, er habe seine fehlende Hälfte gefunden. Sein ganzes Leben sehnte er sich schon danach und konnte doch mit keinem Menschen darüber reden. Dieses Mädchen … es hatte … irgendetwas an sich, etwas dermaßen Lebendiges. Gerade marschierte es von der Spitze des oberen Flügels in die Mitte und ließ sich vollkommen mühelos von dort auf den unteren gleiten.
»Sei nicht albern«, mahnte Ethan.
»Was?«
»Henry, manchmal kannst du so ein Trottel sein.« Ethan deutete auf sein eigenes Gesicht.
Henry begriff nicht, was er ihm damit sagen wollte.
»Sie ist tabu, Henry. Also hör auf, von eurer Hochzeit zu träumen. Meine Mutter würde einen hysterischen Anfall bekommen, wenn sie dich hier glotzen sähe wie einen Goldfisch.«
»Ich hab doch gar nicht – das ist …« Natürlich war ihm ihre Hautfarbe nicht entgangen. Doch zu seinem eigenen Erstaunen war ihm das egal, obwohl er wusste, dass jeder außer ihm das anders sehen würde.
»Na ja, mach wenigstens den Mund zu.«
Henry klappte den Kiefer hoch, während Ethan schon auf einen Mann in einem marineblauen Anzug zuging, ein Lächeln im Gesicht, die rechte Hand ausgestreckt. Er ließ sie jedoch schnell wieder sinken, als ihm auffiel, was auch Henry jetzt bemerkte: Der Mann im Anzug besaß keinen rechten Arm.
»Ich bin Captain Girard«, stellte der Mann sich vor. Sein französischer Akzent war unüberhörbar und sein Tonfall gut gelaunt, als sei er an solche, wenn auch unabsichtliche Taktlosigkeiten gewöhnt. »Verzeihung, ich kann Ihnen nicht die Hand schütteln, meine habe ich im Krieg verloren. Wie ich jedoch sehe, haben Sie schon erkannt, was hier die wahre Sensation ist. Diejenige, die diese New Yorker Jungs übersehen haben.«
»Und zwar?«, fragte Ethan.
»Nun, das Mädchen. Sie ist eine hervorragende Pilotin. Die beste im ganzen Staat. Vielleicht sogar talentierter als Amelia Earhart. Sie sehen, nicht nur auf die Schnelligkeit des Flugzeugs kommt es an, sondern auch auf die Fähigkeiten und den Wagemut des Piloten, und da kann ihr niemand das Wasser reichen. Sie versteht den Motor so gut, als wäre er ein Teil von ihr.«
Henry zog sein Notizbuch aus der Tasche, um mitzuschreiben, was der Captain erzählte. Ethan, der sein Gesicht noch nie gut unter Kontrolle gehabt hatte, blickte irritiert. Sie waren wegen einer Reportage über ein Flugzeug gekommen, nicht über ein Mädchen. Es bestand nicht der Hauch einer Chance, dass Mr Thorne sie über eine weibliche Pilotin schreiben lassen würde, schon gar nicht über eine mit dieser Hautfarbe. Doch auch das war Henry egal. Er wollte alles hören, was der Captain über sie zu sagen hatte.
»Ihr Papa hat im Krieg an meiner Seite gekämpft, damals, als unsere Truppen sich mit den amerikanischen zusammengeschlossen haben. Ein tapferer Mann. Sehr geschickt – ohne ihn hätte ich viel mehr verloren als nur meinen Arm. Und trotzdem interessiert sich kein Journalist für sie. Der Grund dafür ist offensichtlich, Sie sehen es selbst. Flora hat die dunkle Haut, und hier in Amerika legt man ja so viel Wert auf solche Dinge, nicht wahr? Also verbrauchen die Reporter alle ihre Tinte für Amelia Earhart, die ebenfalls sehr mutig ist und eine fast genauso gute Fliegerin. Aber dadurch verpassen sie hier etwas – etwas geradezu Magisches.«