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»Es

– Friedrich Wilhelm Nietzsche –

Blitzgewitter,

Und weiter hält Asta ihre Lider geschlossen und rollt ihre Augäpfel bis zur Schmerzgrenze in ihren Schädel

Das

Asta

 

Ja, da steht sie, am östlichen Ende der Ebene 03 des Flughafens Franz Josef Strauß, neben einer vom Schalter einer Autovermietung verdeckten und darum kaum frequentierten Drehtür, zu der ihre Nikotingier sie blindlings geleitet hat. Aus Astas Umhängetasche, einem fleckigen, schweinsledernen Monstrum, lugt eine Duty-free-Plastiktüte hervor und aus der wiederum eine Stange Camel. Ihr Koffer, hatte es am Schalter der Fluggesellschaft IBERIA geheißen, sei wohl beim Umladen irgendwo hängen geblieben, entweder in San Salvador oder in Madrid. Das sei fast normal. Der würde schon noch kommen, vielleicht morgen oder übermorgen, aber spätestens nächste Woche.

In ihrer rechten Hand hält Asta das soeben geöffnete erste der zehn Camel-Softpacks à zwanzig Stück und

Sie entzündet die nächste Zigarette und geht ein paar Schritte. Durch ein hohes Fenster, das frontseitig die Vorrats- und Umkleidekammer des China-Restaurants begrenzt, an dem sie auf dem Weg zu der Drehtür vorbeigekommen ist, erspäht sie einen jungen Asiaten in Jeans und einer hellen, etwas schmuddligen, mit schwarzen Knotenknöpfen bis unters Kinn geschlossenen Kochjacke, der unbequem und dennoch fest schlafend auf vier aneinandergereihten Stühlen liegt. Sein flaches, blasses Gesicht ist vollkommen ruhig; nur seine halbkuglig gewölbten Lider und die Winkel seines leicht geöffneten Mundes zucken manchmal. Wahrscheinlich hat er einen heiteren Traum, denkt Asta und fühlt sich zu ihm hingezogen, gerade weil sie sich auch sicher fühlt vor der blau getönten Glasscheibe, unerreichbar für den Schläfer dahinter. Es ist ja nicht allein sein Traum, denkt sie, der ihn fernhält von mir und dem Ort, an dem wir uns beide befinden, so oder so …

 

Über das Bild des Kochs in der Vorratskammer des Airport-China-Restaurants schiebt sich ein anderes. Der Typ damals, denkt Asta, war auch ein Asiat und, falls meine Vermutung zutraf, auch Koch. Als ich dem begegnete, in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts, hatte ich gerade mein Schwestern-Diplom gemacht und auch schon den Vertrag mit der Leipziger Klinik unterschrieben. Ich war drauf und dran, die winzige Bruchbude in meiner Geburtsstadt Berlin, die ich nie Heimatstadt genannt habe und Hauptstadt erst recht nicht, zu verlassen. Der Umzug nach Leipzig-Plagwitz hing bloß noch davon ab, wann das Zimmer in dem Feierabendheim für sächsische Gastronomen, das tatsächlich Zur Neige hieß, geräumt würde; der ehemalige Oberkellner des Interhotels Astoria, der es bislang bewohnt hatte, lag in den letzten Atemzügen, zu Hause bei seiner Tochter Elke, einer Krankenschwester, die ich aus der Berufsschule kannte.

*

Es war die Nacht vom 20. zum 21. Juli 1967, für eine Hochsommernacht eine ungewöhnlich finstere. Ich weiß das noch so genau, weil wir, wie jedes Jahr, Carmens Geburtstag gefeiert hatten. Ich hatte mich früh, ja, unhöflich früh verdrückt – und mit nichts als Alkohol im Magen, denn Carmen hatte mal wieder ihren Eintopf à la dumme Pute gekocht, einen ungenießbaren Brei aus Reis, gehacktem Truthahnfleisch, Erbsen und Rosinen.

Carmen, die Polizistentochter, die Zarte, die Schönste von uns, zu der ich schon vor meiner Flucht in die Welt kaum noch Kontakt und die ich dann beinahe

Einen wundervoll roten Schopf hatte sie, feine, helle Porzellanhaut und flaschenglasgrüne Augen, was allerdings, ihre Mutter muss eine Ignorantin gewesen sein oder Carmen als Neugeborenes komplett kahl, nun gar nicht zu diesem feurigen Rufnamen passte – und mir neidischem Trampel Anlass zum Spott gab, wenigstens diesen einen.

 

Weil wir uns aus einem nichtigen, mir gänzlich entglittenen Grund gestritten hatten, war ich Carmens Bude so zeitig, dafür aber ziemlich besoffen und aufgewühlt entwichen in die laue, sternlose Nacht, um noch irgendwas zu unternehmen, womöglich jemanden fürs Bett zu finden. Doch mein Rausch wollte und wollte nicht vergehen, zu schwül hier draußen. Insekten umschwärmten die dottergelben Lichter der Straßenlaternen, von denen auch ich mich immer magisch angezogen fühlte und die auch mir gefährlich geworden wären, wenn, ja, wenn ich ebenso klein gewesen wäre – und Flügel gehabt hätte. Fliegen

Ich war den ganzen Heimweg gelaufen, hatte jenes trostlose Beamtenviertel in Mitte, das wir Totenwinkel nannten, weil es abends völlig verödete und an den Wochenenden sogar gespenstisch still – eben wie ausgestorben – wirkte, gerade erreicht und überquerte die Otto-Nuschke-Straße, von der links die Glinkastraße abging, da sah ich ihn. Oder hatte ich ihn zunächst nur gehört? Dies erbärmliche Winseln, von dem ich annahm, es wären Tierlaute, vielleicht die eines Hundes …

Der Mensch und Mann asiatischer Herkunft, als den ich ihn trotz der spärlichen Beleuchtung dann doch erkannte, hockte in einem Hauseingang. Ich blieb stehen, flüsterte ein paar belanglose Worte, an die ich mich nicht mehr erinnere; dennoch bewirkten sie, oder wohl eher meine rauchige Stimme, dass sich

Und jetzt vernehme ich diesen Schluchzer, oder was das war, wieder; er muss sich damals in meinem Ohr installiert und seither drauf gewartet haben, dass mein Gedächtnis den Knopf, der ihn auslöst, findet und drückt.

Der Laut – einen Leise gibt es ja nicht, nur einen leisen Laut – klang und klingt, als hätte ihn dieser Mann, wie fest auch immer er seine Lippen zusammenpresste, keine Sekunde länger zurückhalten können, so gottverlassen, so weltalleinsam.

»Brauchen Sie Hilfe«, fragte ich; aber er weinte bloß weiter. Ich hockte mich neben ihn, berührte seine Schulter, und reflexhaft wandte er mir sein Gesicht zu. Seine ohnehin fleischigen Lider waren derart verquollen, dass er Mühe hatte, sie zu heben; doch als es ihm gelang, glitzerten seine Pupillen nachgerade überirdisch hervor aus den schrägen, minimal geöffneten Sehschlitzen. Während ich, seiner Nase ganz nah, auf ihn einflüsterte und er vermutlich meinen weinsauren Atem roch, ließ er die Hände, die seine Mundregion bedeckt hielten wie der Halbschleier die einer orientalischen Frau, schließlich sinken und legte, als wollte er seinen Zustand erklären, den rechten Zeigefinger an seine linke Wange, die stark geschwollen war. Vom unteren Lidrand bis zum Kinn spannte sich seine selbst in dem warmen gelben Lampenlicht aschfahl wirkende Haut

Ist es nicht immer wieder erstaunlich, dass ein erwachsener Mensch mit allem, was ihn ausmacht, hineinpasst in so ein winziges rotes Fädchen, den rebellierenden Nerv eines Zahns?!

Er versuchte auszuweichen, prallte mit dem Schädel gegen die Haustür in seinem Rücken, bog sich zur Seite – und konnte mir trotzdem nicht entkommen. Ich drückte ihm meine linke Hand auf die Stirn, die glühte, obwohl er ja ansonsten leichenblass war, und ergriff seinen Arm, keine Ahnung warum. Sicher, ich war noch immer betrunken, frustriert sowieso, und er schaute, von der dicken Backe mal abgesehen, exotisch genug aus, richtig gut sogar, schlank, jung, bedürftig. Aber bockig war er auch, stemmte sich mir entgegen, wollte sich partout nicht hochhieven lassen. Also rückte ich ihm noch dichter auf die Pelle, umschloss sein Gesicht mit beiden Händen, nötigte ihn, mich anzublicken. Vielleicht weckte das Bestimmte und Teilnahmsvolle meiner Aktion etwas in ihm, die Sehnsucht nach Trost. – Und nach seiner Mama? Denn nun flossen seine Tränen wieder stärker. Doch die Töne, die diese Tränen jetzt begleiteten, klangen dumpfer, mehr vom Herzen herrührend, wenngleich nicht weniger kläglich. Ich fuhr ihm mit dem Saum meines knöchellangen, geblümten Baumwollkleids über die Augen; es fehlte nicht viel und ich hätte auch noch den Rotz abgewischt,

Völlig normal, wenn einer derart inbrünstig heult.

Ich redete weiter auf ihn ein, und er verstand kein Wort, aber wohl immerhin, dass ich ihm nichts Böses wollte. Oder waren es nur meine Berührungen, die seinen Widerstand brachen, ihn sogar etwas beruhigten?

Weil ich mich, zumindest irgendwie, mit ihm unterhalten wollte, stellte ich Zahnweh dar, runzelte die Stirn, tätschelte mir die Wange, öffnete die Lippen, tippte auf meine Zunge, schloss den Mund wieder, schluckte und seufzte, als beginne die Tablette bereits zu wirken. Und tatsächlich, er erhob sich und ließ sich von mir führen, ach was, abführen!, wie ein Übeltäter, der die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt und aufgegeben hat. Ich zog ihn an der Hand, die schmal und fest und kalt war, hinter mir her, die Straße entlang, in den Hausflur hinein, die Treppen hinauf. Wir waren kaum an der Wohnungstür, ich durchwühlte meinen Stoffbeutel nach dem Schlüsselbund, da unternahm er einen vorerst letzten Fluchtversuch, rannte zurück in den dritten Stock, kehrte aber wieder um, als er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

Wir gingen in mein einziges Zimmer, und er setzte sich in meinen Polsterstuhl, einen riesigen, plüschigen Ohrensessel, den ich einem stets um Kleingeld verlegenen Schluckspecht aus der Nachbarschaft abgekauft

»Prost«, sagte ich, und er, die Flasche wieder an sich nehmend, das einzige Wort, das ihm in jener Nacht entschlüpfte: »Gombee.«

Meinen verständnislosen Blick beantwortete er mit einem knappen, schiefen Lächeln. Er hat, soweit ich mich erinnere, dann nicht noch einmal gelächelt.

Nun war unsere Begegnung ja auch eine, die manch anderer vielleicht flüchtig nennen würde; sie kommt mir nur gerade jetzt so lang und intensiv vor, weil ich eine Art Déjà-vu erlebe, in dem sich jedes einzelne Detail ganz unwirklich dehnt.

Wir saßen da und tranken; er mehr als ich. Und wieder versuchte ich, mit ihm zu reden. Doch Russisch, die einzige Sprache außer Deutsch, die mir seinerzeit einigermaßen geläufig war, verstand er auch nicht, ja nicht einmal die drei, vier Brocken Englisch, die eigentlich

Er begriff sehr wohl, was ich von ihm wollte, da war und bin ich mir sicher.

Seine Augen weiteten sich, angstvoll starrte er ins Leere, schüttelte den Kopf, machte eine abwehrende Handbewegung. Es war deutlich genug, er mochte seinen Namen nicht preisgeben und ebenso wenig, von wo er, zahnwehgepeinigt, weggelaufen war.

Ich demonstrierte meine Arbeit, indem ich so tat, als würde ich einen Verband um meinen Fuß wickeln, mir Blut abnehmen oder eine Spritze setzen. Am Ende der Vorstellung malte ich ein Kreuz in die Luft. Doch schon während ich dieses Kreuz schlug, kamen mir Zweifel. Womöglich, dachte ich, hält er mich nun nicht für die Krankenschwester, die ich ja bin, sondern für eine fromme Christin, die sich, in der Absicht, ihn zu bekehren, als Samariterin geriert.

Auch wenn er nicht wieder lächelte, mein zweiter kleiner Stummfilm hatte ihn wohl doch amüsiert. Oder animiert? Denn jetzt mimte er seinerseits diverse Tätigkeiten, schnippelte nicht vorhandenes Gemüse, rührte in einer imaginären Pfanne, aus der er etwas ebenso Imaginäres in die Luft warf und wieder einfing.

Ganz begeistert stürzte ich daraufhin in die Küche und

Danach war Schluss, mit allem, nur nicht mit dem Schnapstrinken. Ich verlor die Lust, in jeder Hinsicht. Sicher dachte ich noch ans Bett, aber nicht mehr daran, wie ich ihn hineinbekäme. Seine Furcht, seine Zahnschmerzen, die der Alkohol offensichtlich recht gut betäubte, seine dennoch schier unvergängliche Traurigkeit und sein beharrliches Fremdeln langweilten mich; Müdigkeit fuhr mir in die Knochen, beschwerte meine Lider.

War ich wirklich auf Sex mit dieser flüchtigen Bekanntschaft ausgewesen? Unterstelle ich mir das nicht nachträglich, weil ich mich zu etwas, das wir früher einen flotten Feger nannten, hoch- oder runterstilisieren will? Könnte es mir heute, fast fünfzig Jahre später, etwa peinlich sein, dass ich schon damals am Mitleid litt, so komisch das nun wieder klingt, und bloß hatte helfen wollen und nur falls sich daraus eine Gelegenheit ergibt auch ein bisschen Glück für mich abstauben, einen Quickie, ein paar Küsschen, na, wenigstens einen dankbar-bewundernden Blick?! Ist meine Erinnerung an die junge Asta, also an mich, etwa eine von Selbsthass und Eigenliebe gleichermaßen lancierte Legende?

Ich

 

Als ich erwachte, vom Gerumpel der Mülltonnen, die morgens geleert wurden, brannte an der Decke noch das Licht. Doch er war weg – und die Kornflasche auch. Ich tappte in die Küche, dann in den Flur, wo ich meine Wohnungstür geschlossen vorfand, dann zurück ins Zimmer, nachsehen, ob außer ihm und der Flasche etwas fehlte. Aber da ich für den Moment nichts vermisste, legte ich meine Klamotten ab und mich wieder hin.

Stunden später, es mochte gegen zwölf Uhr gewesen sein, hörte ich von der Tür her beharrliches Klopfen. Zum Glück war ich bereits geduscht und im Bademantel und hatte mir gerade einen Kaffee gebrüht; nur deshalb ging ich öffnen. Oder hielt ich es für möglich, dass mein Patient, wenn er schon nichts als eine fast leere Schnapsflasche mitgenommen, so vielleicht ja doch etwas vergessen hatte?

An meiner Tür stand aber weder er noch nur ein Asiat, nein, dort standen gleich sechs von der Sorte. Und sie trugen graugrüne Uniformen. Und einer streckte mir einen Strauß weißer Rosen entgegen.

»Frau Arnold«, sagte der links außen, der mit dem Strauß, in bestem Deutsch, »wir danken Ihnen! Sie haben sich überaus vorbildlich um unseren kranken Genossen

Diese Sätze, an die ich mich wortgenau zu erinnern meine, besonders an die bescheidenen Blumen, las er von einem Zettel ab. Ich erwiderte kein Wort, außer vielleicht »tschüss«, ergriff das Bukett und schloss, nachdem die Herren sich knapp verbeugt hatten, schnell meine Wohnungstür, die ich, glaube ich, sogar verriegelte, als sie unten angekommen, ihre Schritte draußen im Treppenhaus jedenfalls verhallt waren.

Ich setzte mich auf eben jenen Polsterstuhl, auf dem mein nächtlicher Gast gesessen hatte, griff nach der Packung Club, die neben der leeren Titretta-Analgin-Schachtel lag, und entzündete mit zittrigen Händen ein Streichholz; dessen Flamme schwärzte die Zigarette, an der zu ziehen ich vergaß, bis sie so weit runtergebrannt war, dass sie mir beinahe die Fingerkuppen versengt hätte.

Ein Koreaner, das also war er; und auch noch ein Nordkoreaner! Ich hätte es mir, zumal sich das Konsulat dieses seltsamen Staates nicht weit von meinem

Und wie, fragte ich mich, kam es, dass seine Landsleute derart schnell bei mir auf der Matte gestanden haben. Sie kannten meinen Namen, meine Adresse … Haben sie uns beobachtet oder erst einmal nur ihn verfolgt, diesen vor lauter Zahnweh irgendwie durchgeknallten Parteigenossen Botschaftskoch, der wahrscheinlich schon vor unserer Begegnung versucht hatte, sich mit Schnaps zu kurieren – an seinem Arbeitsplatz zwischen den Gemüsekörben und den Wok-Pfannen oder in seinem Stübchen unter dem Konsulatsdach – und unter einem Poster des Diktators, um den sich fröhlich die Werktätigen scharen, Männer in graugrünem Zwirn und schreibunt gewandete Frauen und lachende junge Pioniere? Oder hat er sich, wohl wissend, dass seine, ganz sicher

Und ich? Wird das Ministerium für Staatssicherheit von denen einen Wink bekommen? Werde ich mich, falls die Unseren mich vorladen sollten, herausreden können? Ich werde etwas von Solidarität faseln, davon, dass ich als Krankenschwester es für meine Pflicht halte, zu helfen, immer und jedem.