von Rocko Schamoni
Ich lernte Rio Reiser erst kennen, als ich in den frühen Achtzigern bereits selbst ins »Music Bizz« eingestiegen war. Rio avancierte zum König von Deutschland und ungefähr zur selben Zeit brachte mich die Polydor ins Rennen, man wollte mich zum neuen jungen Deutschpopsuperstar aufbauen. Zwei unserer Singles wurden gleichzeitig auf die Bahn geschickt. Rio gewann haushoch, von mir bekam quasi niemand etwas mit, ich wurde von der Staubwolke verschluckt, die er hinterließ.
Später, nachdem ich dann aus dem Mainstream-Geschäft ausgestiegen war (um dieses nicht weiter zu beschädigen), beschäftigte ich mich mit der kompletten Reiser-Geschichte und entdeckte die Scherben für mich. »Jenseits von Eden« wurde in den frühen Neunzigern – viele Jahre nach seinem Release – ein großer Szenehit in Hamburg, gecovert von Bands wie »Die Sterne« und »Die Braut haut ins Auge«. Noch bedeutsamer erschien mir der Song »Morgenlicht«, ein schwelend mystisches Künstlerlebensjuwel, das ich vor Kurzem auf meiner Platte »Die Vergessenen« mit Orchester neu arrangierte. Hat übrigens wieder keiner mitbekommen, vielleicht war der Staub, den das Original aufgewirbelt hatte, noch zu blickdicht.
Die Autobiografie von Rio in den Händen zu halten, hat mich mit neuer Gier nach der Geschichte seines Lebens erfüllt.
Ich fürchtete mich zwar vor veralteter Sprache und dem Mottenkistengeruch ewig wiederholter Anekdoten, stürzte mich aber dennoch in den Schrank dieser Erinnerungen, um schon nach kurzer Zeit die Tür freudvoll von innen zu schließen.
Rio Reisers Autobiografie ist die genaue Beschreibung einer Zeit, die man wohl als Geburtsstunde deutschsprachiger Popmusik bezeichnen darf, ein künstlerischer und politischer Aufbruch, jede Sekunde spannend, sehr ehrlich und häufig wild. Immer wieder erkenne ich bei Rio die eigene Suche und das eigene Aufbegehren gegen das, was wir die Mehrheit, die Gesellschaft, den Staat, die Spießer oder den Mainstream nannten.
Rios Versuche, sich in verschiedensten Techniken und Medien auszudrücken, als Musiker und Texter, aber auch als Theatermacher, die Experimente, mit denen er versucht hat, die Grenzen zu durchbrechen, die der konventionelle Kulturbetrieb nach wie vor zu bieten hat – all das erscheint mir äußerst vertraut.
Und mit jedem Satz und jeder Seite erfahre ich, warum wir die geworden sind, die wir sind: Letztendlich haben wir die Staffel von ihm übernommen, ihm, dem strahlendsten Läufer auf der Bahn, in dessen Staubwolke ich immer noch nach der richtigen Richtung suche …
Denn jeder Stiefel,
der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel,
durch Blut geschleift,
wird verbrannt
und vom Feuer verzehrt.
Wie in den Tagen Midians, Jesaja 9,4 u. 5 auf TSS IV – »Die Schwarze« – 1981
Voriges Jahr wurde ich vor die Frage gestellt, ob ich nicht eine Autobiografie schreiben wolle. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht mit Überlegungen, wessen Autobiografie ich schreiben soll. Ich entschied mich für meine eigene. Ja, ich wollte meine Lebensgeschichte erzählen. Aber ich brauchte einen Co-Autoren. Das sollte Lars Lobenstein sein, ein ehemaliger Schauspieler aus Frankfurt am Main, dessen Familie, wie die meine, aus der Mark Brandenburg stammte. Leider lehnte er ab. Er war selbst gerade mit der Autobiografie eines deutschen Rocksängers beschäftigt. In letzter Minute – ich hatte es kaum noch zu hoffen gewagt – gelang es mir, Hannes Eyber zu gewinnen. Auch er hatte meinen Lebensweg und den der »Scherben« lange Zeit mitverfolgt. Ich machte seine Adresse in Italien ausfindig. Dahin hatte er sich zurückgezogen, um in einem kleinen Ort namens Cavriglia archäologische Forschungen zu betreiben. Er glaubte, dort die sagenhafte zwölfte Stadt der Etrusker zu finden. Wir setzten uns also hin, um die Lebensgeschichte des Rio Reiser zu schreiben. Aus den fünf neuen Bundesländern erscholl es »Vierzsch Johre hamse uns betrogen«. Dem wollten wir ein »Uns auch« entgegenstellen.
Rio Reiser, Fresenhagen, im Januar 1994
An meinen Geburtstag kann ich mich noch ganz genau erinnern. Es war ein kalter, klarer Wintertag gewesen. Die Venus funkelte über dem Funkturm, war aber schon unterwegs, der Sonne hinterher. Der Mond, der seit ein paar Tagen dünner wurde, ließ sich noch nicht blicken. Über die Brückenallee hasteten die Leute vom S-Bahnhof Bellevue durch die Kälte in Richtung Spree. Die meisten Häuser auf der anderen Uferseite waren unzerstört.
Im Haus Brückenallee Nr. 17, erster Stock, herrschte große Aufregung. Tante Lolo hantierte in der Küche herum, nervös eine amerikanische Zigarette nach der anderen rauchend. Jetzt brühte sie Bohnenkaffee. Oma Braun schmierte Schmalzstullen fürs Wohnzimmer, wo Peter und Gert miteinander telefonierten. Das Feldtelefon hatte Onkel Robert ihnen aus dem Krieg mitgebracht. Er selbst saß schmunzelnd in dem Sessel neben der großen Tür zum Nachbarzimmer, sog an einer Zigarre und trank sein Schultheiss. Abwechselnd schickte er einen der Jungen in die Küche, frisches Bier holen, dafür gab’s einen Schluck ab. Im Radio spielte der »Rundfunk Im Amerikanischen Sektor« Bully Buhlans »Es wird ja alles wieder gut«. Onkel Robert lauschte mit einem Ohr den Klängen aus dem Rundfunkapparat und mit dem anderen achtete er auf das, was sich im Nebenzimmer tat, jederzeit bereit, Peter in die Dunkelkammer zu schicken, um Bescheid zu sagen. Dort wartete mein Vater. Er vergrößerte Fotos, die er von Trümmergrundstücken und Ruinen gemacht hatte. Das war zu der Zeit sein Broterwerb.
Dann ging alles sehr schnell, und ich war da. Zwar fünfundzwanzig Tage zu spät, aber ich war da!
Die Hebamme öffnete die Flügeltüren und erlaubte den Wartenden, mich zu begutachten. Von den vielen Kommentaren sind mir nur drei in Erinnerung geblieben: »Ah, da isser ja!«, »Das ist gut, wir müssen auch mehr Männer sein!« und »Hat der aber große Fensterchen!«.
Das erste Licht der Welt, das ich erblickte, kam von einer Osram-Vierzig-Watt-Birne. Das zweite kam von dem Osram-Blitzlicht meines Vaters. Ich habe nicht geschrien. Ich war ein gutes Kind.
Vom Stamme der Siemensianer – Das versunkene tausendjährige Reich im Wald – Das nackte Klangtier – Cola, Kaugummi und Kartoffelsalat – Mein Bruder hat Komplexe, deiner nich! – Sigurd wurde beschlagnahmt – Ist ›Mädchen‹ ein Schimpfwort? – Aber mindestens Dirigent! – Ein Goggomobil verwandelt sich – Von Jazzkellern und anderen Brutstätten – Die Polizei ist immer dabei – Radio Luxemburg hilft – Wer keine Griffe kaufen kann, muss hören – Schanghait in Offenbach – Liverpool am Main – Eine Welturaufführung wird geplant – Zwei geben sich die Hand
Zwischen Salzburg und Rosenheim, in der Nähe des Chiemsees, befand sich bis 1945 das größte und schönst gelegene Giftgaslager Europas. Nach dem Krieg wurde es von Siemens übernommen und Traunreut getauft. In den dazugehörigen Kasernen wohnten wir. Kilometerlange Häuserblocks mit Spitzgiebeln. Das versunkene Dritte Reich mitten im Wald. Dort bin ich aufgewachsen.
Mein Vater war Siemensianer. Er hatte bei Siemens in Berlin Werkzeugmacher gelernt, wurde gefördert, ging auf die Abendschule und machte seinen Ingenieur. Bei Kriegsende entließ Siemens einen Großteil der Belegschaft. Mit dem Koreaboom Anfang der 50er-Jahre wurde mein Vater wieder eingestellt und in Traunreut als Verpackungsingenieur eingesetzt.
Zu jener Zeit wohnten in Traunreut nur Berliner, außerdem ein paar Schlesier und Sudeten. Wer die Siedlung verließ, um beim Bauern Milch zu holen, musste sich bayerisch verständigen. Mein erster zusammenhängender Satz soll »a Milli möcht i hom« gewesen sein. Wir hatten ein Motorrad mit Beiwagen. Jedes schöne Wochenende ging’s raus. Mein Vater fuhr; hinter ihm saß Peter, der Älteste, zehn Jahre alt, im Beiwagen Gert, 8 Jahre, meine Mutter und ich. Wir machten Ausflüge an den Chiemsee, nach Österreich, das lag ja um die Ecke, zu Mozart nach Salzburg, ins Salzkammergut oder in die Alpen.
Eigentlich war ich ein Einzelgänger. Deshalb sorgte meine Mutter dafür, dass ich mit den Nachbarskindern spiele. Mit denen konnte ich aber nichts anfangen. Also wurde ich in den Kindergarten geschickt, gezogen, gezerrt. »Was hast du denn, die ist doch so nett, die Tante Müller, was hast du denn gegen die …?« – »Der muss doch mal unter Kinder, der Junge …!« In Zweierreihen aufstellen, spazieren gehen, Hand in Hand durch die Landschaft latschen, jeden Tag Mittagsschlaf (immer zur selben Zeit) und andere unverständliche Unternehmungen. Das mochte ich nicht. Irgendwann haben meine Eltern nachgegeben und mich wieder rausgeholt, weil ich so gemeckert und gequengelt hab.
Zu Hause habe ich mich nie gelangweilt. Nie. Ich saß nicht rum und fragte, was machen wir jetzt oder wo bleiben meine Freunde. Ich hab gemalt, rumgesponnen, mir Sachen ausgedacht und die gespielt. Knöpfe konnten für mich alles Mögliche sein: Autos, Tiere, Soldaten. Und der alte Holzbaukasten. Mit dem hab ich am meisten gemacht. Häuser gebaut, Türme gebaut, einen Klotz rausgezogen und alles wieder einstürzen lassen. Viel gebaut habe ich, auch gerne draußen gegraben. Das konnte ich allein. Mit Partnern war’s immer schwierig, weil man sich nicht einigen konnte, was was ist. Der Teppich im Zimmer war für mich immer Land, was nicht Teppich war, war Fluss oder Meer. Deswegen gab’s oft Hickhack. Die anderen wollten, dass der Teppich Wasser sein sollte, weil er grün war, aber der Teppich war doch höher, also musste er Land sein. Land ist doch auch grün. Es ist schwer, wenn man Auto fahren will, sich aber über so wichtige Dinge nicht einig wird. Wer setzt sich da durch? Keiner.
Bei uns lief das Radio den ganzen Tag, und alles dudelte durcheinander. Bayerische Volksmusik, aktuelle Schlager, die wir zu Hause nachsangen, Mozart, Beethoven, Rossini, Emmerich Kálmán. Nicht alles hat uns gefallen. Aber wenn was gefiel, war’s uns egal, ob es von Caterina Valente, den Fischbachauer Dirndln oder Erika Köth kam. Und einmal im Monat gab’s »Die Insulaner«, das zentrale Frontstadtkabarett! Das war für alle Berliner ganz wichtig, landesweit.
Wenn das Licht aus war und wir in unserem dreistöckigen Bett lagen, erzählte Peter, in der obersten Etage, wilde Gangster- und Gruselgeschichten, oder er rezitierte. Mit Vorliebe den Marc Anton aus Shakespeares »Julius Caesar«. Den Marc Anton gab’s so oft, dass ich die Leichenrede heute noch auswendig kann. Gert und ich waren ein gutes Publikum. Einmal, als die Eltern nicht da waren, kam er so in Fahrt, dass das ganze Etagenbett zu Bruch ging.
Unter Peters Leitung wurde sich auch zu jeder Gelegenheit verkleidet. Wir waren Musketiere, römische Schwertkämpfer oder Seeräuber. Unser Zimmer verwandelte sich dann in die Arena von Verona oder in das Schiff des Piraten Errol Flynn. Zu jeder Festlichkeit wurde die ganze Wohnung umgeschmückt. Das Wohnzimmer war dann Hafenbar, und Vater musste fotografieren. Familienfotos machen!, musste er immer wieder ermahnt werden. Ein Foto aus dieser Zeit: ich auf dem Nachttopf, mit meinem Lieblingsbuch »Der Kampf um Afrika«. Viele Bilder, jede Menge Schwarz-Weiß-Fotos über Afrika. Das Buch hab ich heute noch.
Zum sechzigsten Geburtstag meiner Oma fuhren wir im Sommer ’54 nach Berlin. Über die Zonengrenze bei Töpen-Juchhöh!! Ich war gespannt auf diese lustige Stadt: Töpen – Juchhee!! Da sah ich die kaputte Saalebrücke. Krieg. Trümmer. Töpen-Juchhöh.
Natürlich wurde oft vom Krieg erzählt. Mein Vater war aber nie Soldat gewesen, weil er von Siemens, weiß der Geier warum, u.k. eingestuft worden war. Unabkömmlich! Sonst hätte ich wahrscheinlich ganz andere Geschichten vom Krieg gehört. Er war an der Heimatfront. Luftschutzwart. Es gibt viele Fotos von den Bombenangriffen auf Berlin mitten in der Nacht.
Das Klavier im Wohnzimmer hatte Brandspuren im Lack. »Warum sieht denn das so komisch aus, Mutti?« – »Da ist eine Brandbombe ins Haus gefallen.« Fand ich spannend, eine Bombe, die einfach so durchs Haus fällt. War doch nicht schlimm, der kaputte Lack am Klavier.
Auch der Mahagonischrank im Wohnzimmer hatte Brandspuren. Der hatte allerdings nicht zu Muttis Aussteuer gehört. Er war wie der Wohnzimmertisch – »an dem schon Ernst Udet und Lindbergh gesessen haben« – und der Schminktisch meiner Mutter, wie auch die teuren Reproduktionen italienischer Meister, der Brokat, mit dem die Sessel bezogen und aus dem unsere Musketier-Kostüme waren, und all die anderen feinen, kleinen Dinge, nach dem »Zusammenbruch« aus der amerikanischen Botschaft und den angrenzenden hochherrschaftlichen Häusern mitgegangen.
Die Geschichten vom Krieg, die abends in Traunreut erzählt wurden, Berlin brennt, Sirenen heulen, Verdunklung, hörten sich schauerlich an. Und nun war ich zum ersten Mal in Berlin. Trümmer. Überall Trümmer. Die Eltern meines Vaters wohnten in einer Ruine. In der Ruine der amerikanischen Botschaft in der Tiergartenstraße 6, neben der italienischen und der japanischen Botschaft. Nicht weit vom Potsdamer Platz und nur fünf Minuten vom Tauentzien.
Meine Oma hat auf diesem riesigen, verwilderten Ruinengrundstück Hühner gehalten. Das war toll. Ich durfte nachsehen, ob frische Eier da waren. Rundum lagen Trümmer, über deren bedeutendes Vorleben immer wieder berichtet wurde, während wir an ihnen vorbeispazierten. Ganz gleich wohin, in jeder Richtung nur zerstörte Häuser. Bombentrichter, Einschüsse an Häuserwänden, Ruinen.
In Berlin lebte die Familie. Tiergarten-Oma und Tiergarten-Opa, Tante Lolo und Onkel Robert, und in Neukölln Oma, die Mutter meiner Mutter, Omas Schwester Othilie, genannt Tante Tielchen, und der Bruder der beiden, Onkel Paul, von dem ich immer weggezogen wurde. Der war Kellner und Säufer bei der Mitropa. Über den wurde nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. »Wer?!« – »Paul!!« – »Nicht vor dem Jungen! Themawechsel!«
Neunzehnhundertfünfundfünfzig. Wirtschaftswunder. Jeder wollte vom Kuchen ein Stück abhaben. Wir auch. Das täglich Brot war nun nicht mehr die Frage, eher schon, wie es verpackt ist. Genau auf dem Gebiet war Herbert P. Möbius Fachmann. Und Zewa in Mannheim die passende Firma. Das hieß für uns, Adieu Traunreut.
Zuerst für Vater. Er trat seine neue Stelle in Mannheim an. Solange er noch keine Wohnung für die Familie gefunden hatte, nahm er sich ein Pensionszimmer. Wenn er Zeit hatte, kam er uns an den Wochenenden besuchen. Oder auch nicht.
»Mutti, Mutti, warum weinst du denn?« – »Ach, mir is was Schreckliches passiert.« – »Was denn?« – »Mir is beim Händewaschen der Ring abgegangen.« – »Welcher Ring?« – »Na, der goldene, mein Ehering, dabei ging der doch immer kaum runter.« – »Is er weg?« – »Nee, nee.« – »Kommt Vati am Wochenende?« – »Glaub nicht …« Warum hatte sie geweint? Der Ring war doch da. Wenn der Ring im Ausguss verschwunden war, hätt ich’s verstanden.
Es dauerte eine lange Zeit, bis endlich der Möbelwagen vor der Tür stand. Nach einem halben Tag war endlich alles verstaut und abfahrbereit. Das Klavier hatten sich die Packer bis zum Schluss aufgehoben. Sie waren schon dabei, es auseinanderzunehmen. Die Saiten lagen frei. Einen Augenblick war ich allein mit dem Klavier in der leeren Wohnung, in der jedes Geräusch wie in einer Kirche hallte. Ich hatte nur selten auf die Tasten gedrückt, und es war mir immer ein Rätsel, wie man es dazu bringen konnte, schön zu klingen. Jetzt stand es vor mir, wie ein fremdes, nacktes Tier. Ich berührte es, streichelte über seine Saiten. Da gab es einen Klang von sich, den ich noch nie gehört hatte, angenehm und geheimnisvoll. Ich streichelte es mehr, griff in seine Tasten, immer wilder, und wurde in eine andere Welt gespült. Dann kamen die Packer. Draußen war’s schon dunkel. Wir stiegen in Hieronymus Hofers Möbelwagen und fuhren ab.
Wir zogen nach Brühl, einem kleinen Ort bei Mannheim, zwischen Oggersheim und Leimen. Mir war, als ob ein Grauschleier weggezogen wird.
Die Wohnung lag am Dorfrand, im letzten Haus einer Straße mit zehn weiteren unverputzten Neubauten, die die Besitzer sich auf ihre Spargeläcker gestellt hatten.
Von unserem Fenster konnten wir das Schwetzinger Schloss sehen. Man brauchte nur über die Bahngeleise gehn, den Bach überqueren, noch ein paar Schritte über die Äcker, und schon war man im Schlosspark.
Als wir ankamen, wurde es schon wieder dunkel. Ich wurde in einer verqualmten Kneipe, die Pension, in der mein Vater gewohnt hatte, abgestellt. Zwischen Pfälzer Säufern und Schnapsnasen. Zunächst dachte ich, um Himmels willen, die lassen mich hier allein! Ich hatte Angst. Draußen war’s inzwischen stockdunkel, und drinnen waren alle sternhagelblau. »Ei wie? Komm doch emmal her, Bubb!« Wie die redeten! Ich hab zum großen Teil nichts verstanden. Bis dahin hatte ich nur Berlinerisch und Bayerisch gehört. Das hier hörte sich an wie eine Zwergensprache. »Wie haisch’n du?« Hinterm Tresen wuselte der Sohn der Wirtsleute rum, kaum älter als ich. »Drüggsch emol was inner Musigg-box, hey?« Eine Musikbox hatte ich noch nie gesehen. Irgendjemand drückte mir fünfzig Pfennig in die Hand, und ich suchte einen Buchstaben und eine Zahl aus, wie ich es vorher bei dem andern Jungen beobachtet hatte, der hier offensichtlich den Laden schmiss. Jetzt konnte ich nur noch beten, dass Anklang finden würde, was ich ausgesucht hatte. »Addio Donna Grazia« wurde mitgesungen. Aber niemand bestaunte meine Leistung. Die hielten das wohl für selbstverständlich. Ich kam mir vor wie ein alter Haudegen. Als mein Vater mich abholen kam, erwartete er wohl ein Häufchen Elend vorzufinden, weil es viel später geworden war, als er versprochen hatte. Aber ich hätte gut und gern noch bleiben können. Es war lustig hier, und ich wollte noch nicht ins Bett.
Allgemein herrschte die Stimmung: »So – jetzt ha’m wir’s geschafft«. ’56 war klar: Alles wird gut.
Jeden Freitagabend brachte mein Vater für jeden von uns eine Flasche Coca-Cola mit, dazu gab’s Würstchen mit Kartoffelsalat! Danach eine Tafel Schokolade.
Die Amerikaner nahmen bis dahin bei den abendlichen Gesprächen keinen großen Raum ein, die hatten Berlin bombardiert, na ja. Schwamm drüber. Aber die Russen, die gaben was her.
Meine Familie hatte das Kriegsende in der Tiergartenstraße erlebt, wo die »letzten Panzer von Berlin« stationiert gewesen waren. An deren Stelle trat dann ein russisches Panzerkommando. Mit denen sind sie offensichtlich sehr gut ausgekommen. Ein Offizier konnte besonders gut Klavier spielen. Mein Vater holte den edlen Botschafts-Cognac, den er literweise in den Heizungsschächten versteckt hatte, hervor und bekam dafür Kartoffeln. Abends wurde Kasatschok getanzt. In den Erzählungen meiner Eltern klang das wie eine Dampferfahrt auf der Wolga.
Mit dem Einzug von Coca-Cola hatten auf einmal die Amis den Fuß bei uns in der Tür. Jetzt wurde auch mal über »Quäker-Speisung«, »Care-Pakete« und »Rosinenbomber« erzählt.
In Brühl waren die Amis nicht zu übersehen. Mindestens zweimal die Woche fuhren sie durch den Ort und warfen uns Kindern aus Panzern und Jeeps Kaugummis zu. Die ersten englischen Worte, die wir lernten, waren: Haudujudu! Tschuingamm! Ammigohohm! – »Ami go home« wurde besonders gern genommen. Das riefen wir ihnen hinterher, wenn wir die Kaugummis aufgehoben hatten. Als Dankeschön, mehr davon!
Am 9. April 1956 wurde ich eingeschult. Ich war in der glücklichen Lage, die Lehrerin schon zu kennen. Fräulein Schimpf. Sie wohnte in derselben Pension, in der auch mein Vater gewohnt hatte. Eine schöne Frau, schwarze Haare. Italienisch sah sie aus. Das ideale Fotomodell. Sie ging bereits bei uns ein und aus. »Addio-Donna-kannst-mir-mal« sang meine Mutter gern, wenn sie gegangen war. Fräulein Schimpf war wohl der Grund gewesen, weswegen meiner Mutter in Traunreut der Ring vom Finger abgegangen war. Jetzt revanchierte sie sich mit einem Flirt. Der spitzbärtige Brühler Apotheker Knauss war einer ihrer glühendsten Verehrer. »Spitzbart mit Brille ist nicht des Volkes Wille!«, sagte mein Vater dann gern.
Nicht weit von unserem Haus begannen die Rheinwiesen. Ich fand es schön, am Ufer zu sitzen und den Schleppkähnen nachzusehen. Wenn ich auf so einem Schiff einen Jungen seiner Mutter beim Wäscheaufhängen helfen sah, war ich neidisch.
Man brauchte nur zwei Kilometer gehen und war am Alt-Rhein. Ein Naturschutzgebiet mit Sümpfen und Wiesen, alten Flussläufen, Mücken und Schnaken. Das war mein Mississippi-Delta. In Traunreut hatte ich meist im Zimmer gesessen, nach draußen hat mich nichts gezogen. Die Traun und die Salzach, beides reißende Flüsse, machten mir Angst. In Traunreut war die Welt mit Brettern vernagelt. Auf der einen Seite das Gebirge, auf der anderen die Zonengrenze. In Brühl aber gab’s den Bahndamm in die Ferne, Straßen, die nach Metz, Straßburg und Frankfurt führten, den Neckar, der irgendwoher aus den Hügeln kam, und den Rhein, der irgendwo ins Meer mündete.
Der rote Sandstein, aus dem hier so viel gebaut war, hatte nichts Bedrohliches. Es war abzusehen, dass er irgendwann von Regen und Wind besiegt werden würde. Doch auch das zeigte keine Eile. Das Schwetzinger Schloss, sein verwilderter Rokoko-Garten mit der Moschee und dem chinesischen Tempel. Das Halbfertige, nur Angedeutete, leicht Schlampige daran gefiel mir.
Salzburg hab ich nicht so leicht und locker in Erinnerung, daran haben auch spätere Besuche nichts geändert. Barockschlösser und Barockgärten empfinde ich als bedrohlich. Monumental und unattraktiv. Auch Barockkirchen, zum Beispiel die »Wies« in Oberbayern. Sie sieht aus wie eine Torte, die ich nicht unbedingt zum Geburtstag haben möchte. Bunt, aber ungenießbar.
Die Nachkriegshoffnung »Alle Menschen werden Brüder« hatte meine Eltern damals in Berlin bewogen, in die »Christlich-Demokratische Union« einzutreten. Jetzt war der Lack ab, die Hoffnungen zerbröckelt. »Die da oben« waren die ewig Gleichen. Das Wirtschaftswunder hatte doch nicht der dicke Ludwig Erhard alleine vollbracht, sondern wir alle. Dem Dicken wurde nur angerechnet, dass er uns nicht dabei gestört hatte. Und was war denn christlich an dem Adenauer? »Adenauer-Äppelklauer«, riefen meine katholischen Mitschüler. »Was wählt ihr denn?«, fragte ich mal ein Nachbarsmädchen, als wir auf der Schaukel saßen. »SPD« – »Wir wählen CDU.« Also konnten wir nicht heiraten.
Während der Ungarnkrise ’56 rannte mein Bruder Peter mit einer Sammelbüchse, die er rot-weiß-grün bemalt hatte, durch die Straßen von Brühl und Mannheim, um für Ungarn zu sammeln.
Ich kann mich nicht erinnern, dass damals bei uns Bedrückung und Sorge vor einem neuen Weltkrieg geherrscht hätte. Der Optimismus nach dem Wiederaufbau im Wunderland war groß. In Brühl baute sich grade jede zweite Familie ihr Häuschen. Für Weltkriegsgedanken war da keine Zeit. Außerdem waren die Amerikaner da: James Dean, Marlon Brando, Audrey Hepburn, Grace Kelly, Eisenhower, Doris Day, Dulles, Cadbury, Elvis Presley, Billy Graham, Walt Disney, General Motors, Marilyn Monroe, Kelloggs, Libby’s. Dieses Team würde uns schon nicht im Stich lassen.
»Hör zu« – das war die Zeitung, die wir abonniert hatten. Nicht nur wegen Rundfunkprogramm, Redaktions-Igel »Mecki«, Kreuzworträtsel oder »Original und Fälschung«, sondern auch wegen der wunderbaren gemalten Titelseiten von Kurt Art: Stupsnäsige, rotblonde, sommersprossige Amikinder saßen mit vom vielen Herumtollen verdreckten Jeans auf irgendwelchen Treppen, mit süßen, knuddeligen Haustieren im Arm und warteten darauf, dass die Mutter sie reinruft, den Fernseher anmacht, die Cornflakes hinstellt und die Jeans in die Waschmaschine steckt.
Ob nun Suez- oder Ungarnkrise, Aden- oder Eisenhower – Brühl hatte ein ganz anderes Problem: Wer gestaltet den Festzug zur 800-Jahr-Feier der Gemeinde? Dafür kam nur einer in Frage: das 17-jährige Wunderkind vom Mannheimer Bach-Gymnasium, der Bühnenbildner des Kolpingtheaters, der noch dazu als schauspielerische Begabung im »Meisterboxer« aufgefallen war – mein Bruder Peter Möbius. Gert und mir blieb nur übrig, uns in Peters Ruhm zu sonnen. Allzu braun wurden wir nicht.
Gert hatte die Hürde zur Oberschule nicht geschafft, und es war bei ihm auch nichts Künstlerisches in Sicht. Er war ein Sonnenkind, jetzt wurde er zum Problemkind. Im Schlepptau von »Reader’s Digest« hatte die Psychologie bei uns Einzug gehalten. So wurde Gert zur nächsten Psychologin nach Heidelberg geschickt. Drei Wochen wurde er getestet. Wir warteten alle gespannt auf das Ergebnis. Welchen Komplex würde Gert haben? Irgendeinen musste er ja haben. Schließlich war er gefunden. Es war ein Minderwertigkeitskomplex. Ich war stolz auf Gert. Er war ein Problemkind und hatte einen Komplex. Wer hatte schon so einen Bruder?
Nur um mich hat sich mal wieder keiner gekümmert. Zwar hätte meine Familie gern gesehen, wenn ich irgendeine Figur auf dem Festwagen der von Peter gestalteten 800-Jahr-Feier gegeben hätte. Aber der Schauspielerei war ich abhold. Auch der Kostümierung. Sie hätten mir lieber erst mal anständige Alltagsklamotten kaufen sollen. Na klar, auch ich war stolz auf Peter.
Am meisten beeindruckte mich einer seiner Festwagen, der die Moritat eines Mädchens darstellte, das vor hundert Jahren auf den Rheinwiesen vom Blitz erschlagen worden war. Ein Kreuz steht noch heute an dieser Stelle. Seitdem hab ich Angst vor Gewittern. Auch heute noch. Vor allem vor denen, die ich selbst inszeniere.
Es gab einen Jungen in meiner Klasse, der mich interessierte, mit dem ich aber nicht befreundet war. Der fehlte auf einmal vier Wochen lang. Wo war er? Im Krankenhaus. Mit einer Blinddarmoperation. Das machte ihn noch interessanter. Der musste nicht zur Schule gehen. Als er wieder da war, hab ich ihn ausgefragt, wie denn das geht, Blinddarmentzündung. Wo tut’s denn da weh? Kurze Zeit später bekam ich Schmerzen. Immer wieder an derselben Stelle, bis wir zum Arzt gingen. Ich wusste ja, wo’s wehtun muss. Also ab ins Krankenhaus nach Schwetzingen, Schule ade! Die ersten vier Wochen haben mir sehr gut gefallen. Ich hatte selten Heimweh, aber viel Spaß, lag in einem großen Saal mit zwölf Männern und war der einzige kleine Junge.
Die Oberschwester hatte ihr Herz für mich entdeckt. Vor allem, nachdem ich sie gemalt hatte. Meine Familie hätte sich nicht vorstellen können, wie lustig und unterhaltsam ich sein konnte. Die kannten mich ja nicht, wie ich sein konnte, wenn ich nicht zu Hause war. Sie glaubten alle, ich wäre schüchtern. In gewisser Weise war ich’s auch. Im Krankenhaus konnte ich mir das nicht leisten. Ich selbst hatte ja das Krankenhaus der Schule vorgezogen. Jetzt musste ich das Beste daraus machen. Das war nicht so schwer. Da wurde gesungen und gesoffen, und ich bekam auch schon mal’n Schluck ab. Die Krankenpfleger brachten das Bier, und der Oberpfleger sang: »Ich weiß was, ich weiß was, ich weiß was euch fehlt« und schwenkte triumphierend die Flasche »Eichbaum-Bier«.
In diesem Sommer kam eines Tages ein Nachbarjunge ganz aufgeregt mit dem Fahrrad bei uns vorbeigefahren und erzählte, dass im Heidelberger Schwimmbad, wo er grad herkam, einer ertrunken war. Nämlich der Junge, der mir das Geheimnis der Blinddarmentzündung verraten hatte. Größere hatten ihn aus Jux ins Schwimmerbecken geschubst. Er konnte nicht schwimmen und ist ertrunken. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod. Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir uns in den Schulferien anfreunden würden. Nun war er weg. Tot. Er wurde auf dem kleinen Friedhof, den man von unserer Veranda aus sah, beerdigt. Den Rest des Sommers habe ich damit verbracht, zu Gott zu beten. Er sollte ihn wieder auferstehen lassen. Das wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Aber Gott hatte in diesem Sommer keine Lust auf ein Wunder in Brühl. Enttäuschung und Zweifel stellten sich ein.
Vorher hatte ich täglich mein Abendgebet gesprochen. Meine Mutter hatte versucht, uns religiös zu erziehen. Der Kirchgang war für sie nicht wichtig, sie zog die katholischen Priester den evangelischen Pfarrern vor, weil die lustiger und trinkfester waren. Jetzt musste ich das erste Mal persönlich mit Gott in Verbindung treten: »Zeig mal, was DU kannst!« Das Wunder kam nicht.
Wir sind wieder umgezogen, und die ganze Angelegenheit geriet in Vergessenheit. Mein Vater hatte sich erneut verbessert. Er hatte eine Stelle bei »Bosch« in Stuttgart gefunden.
Es dämmerte schon, als wir die Gegend um Stuttgart mit unserem Möbelwagen erreichten. Das Wetter war schön, aber alles machte auf mich einen bedrückenden Eindruck. Ich glaube, es lag vor allem an der Architektur. Alles war gerade und auf Lücke. Die Häuser sagten stolz: »Schau mich an, aber komm bloß net rein. Du machsch nur Dreck, Kerle!«
Wir wohnten wieder mal am Ende der Welt. Talstraße 3, Schmiden hieß das Dorf. Die Hausbesitzerin Frau Bürkle wohnte parterre, um alles im Blick zu haben. Ihr Herz schlug für ihren Besitz und die Sauberkeit. Sie kam jeden Samstag in unsere Vier-Zimmer-Wohnung unterm Dach und überprüfte, ob meine Mutter geputzt hatte und die Armaturen in Bad und Küche noch wie neu aussahen. Nicht zu vergessen die Kehrwoche: »Diese Woche ist die Reihe an Sie! Kehrwoche!« Dieses Schild hing alle drei Wochen mahnend an unserer Wohnungstür und bedeutete, dass man Treppenhaus und Gehweg so lange schrubben musste, bis man wieder davon essen konnte.
Kinder durften eigentlich nirgendwo spielen. Wir haben’s natürlich trotzdem gemacht, denn die Dorfbewohner mussten ja »schaffe« und konnten nicht gleichzeitig Land, Vieh, Kinder und Zugereiste ständig im Auge behalten. Aber es gab immer wieder Kinder, die bereit waren, für ein paar Silberlinge jeden zu verpetzen, der widerrechtlich Privat- oder Gemeindebesitz – und anderes gab’s ja nicht – betrat.
Damals war meine Lieblingszeitung die »Rasselbande«. Da waren Fortsetzungsromane drin, Comics und Bastelanleitungen. »Wir bauen uns ein Schlagzeug«: Man nehme Waschmittelkartons, Pergamentpapier, Kochlöffel und Kokosnusshälften. Oder »Wir bauen uns ein Ruderboot«: Man nehme einen Vater, zeige ihm die Bastelanleitung und nerve ihn so lange, bis er den Werkzeugkasten rausholt, um dann in jeder freien Minute, Stunde, Tagen, Wochenenden ein Ruderboot zu bauen. Das musste dann nur noch »Der Floh« getauft werden. Besonders hat mich die Geschichte von einer Kinderrepublik irgendwo in Skandinavien beeindruckt.
Die »Rasselbande« war die Fachzeitung für das normale, mittelständische, etwas freche, nicht zu faule, nicht zu fleißige, aber interessierte Kind. Einen ganzen Stapel davon hatte ich noch aufzuarbeiten. Das Erbe meiner Brüder. Klaus Gerlinger dagegen war »Stafette«-Leser. »Stafette«, die Zeitung für das überdurchschnittliche, leistungsorientierte Kind. Er schaffte es, mir die »Rasselbande« auszureden und mich als »Stafette«-Abonnenten zu werben. Er wollte die Werbeprämie kassieren. Das hat er auch ganz offen als Argument ins Feld geführt. Diese Direktheit verblüfft mich auch heute noch und lässt mich oft blöde Geschäfte eingehen.
Ich hatte auch andere Freunde. Alfred, der mir nichts verkaufen wollte und mich mit »Prinz Eisenherz« vertraut machte, und Burkhardt, der schlau war und sich auch gegen Größere verteidigen konnte. Beide sahen gut aus und verstanden es, sich im Dorfdschungel durchzusetzen. Die wussten, wo es »Akim« oder »Sigurd« zu kaufen gab, die natürlich in der Schule beschlagnahmt wurden.
Wer bereit war, die Gesetze und Tabus der Erwachsenen zu brechen, konnte in der Gegend um Schmiden sehr gut spielen. Es gab Höhlen, Bäche und sogar einen kleinen Wald. Wir hatten einen Geheimbund gegründet und mussten wichtige Unterlagen verstecken und verteidigen. Bei einer Steinschlacht bekam ich einmal einen Ziegelstein an den Kopf und rannte blutend nach Hause. Loch im Kopf. Meine Mutter war schockiert. Sie dachte, ich wäre das Opfer gezielter Zugereistenfeindlichkeit geworden. Dass auch ich Steine geschmissen hatte, musste sie ja nicht wissen. Sie hätte das wahrscheinlich für reine Angeberei gehalten. Ich war doch der Sensible, der zu Hause saß, mit seinen Autos spielte, Rokoko-Frauen malte und bei Regina Peschke, dem Nachbarsmädchen, mit Puppen spielte. Im Fasching wollte ich sogar als Mädchen gehen, das wurde aber strikt abgelehnt.
»Der heult wie’n Mädchen, ziert sich wie’n Mädchen, is schüchtern wie’n Mädchen! Sei doch nicht wie’n Mädchen, du bist doch kein Mädchen!« Dieses Problem hatten Mutter, Peter und Gert mit mir. Ich verstand nicht ganz, was daran schlecht sein sollte. Mädchen konnten die schickeren Sachen anziehen, konnten spielen, womit sie wollten, sich prügeln, wann sie wollten, und auch noch heulen, wenn sie wollten. Ich wollte kein Mädchen sein, aber ich verstand mich mit ihnen ganz gut. Ich wollte gleiches Recht für alle. Keiner meiner Freunde wäre darauf gekommen, mich ein Mädchen zu nennen. Das gab’s nur zu Haus.
Bei uns veränderte sich langsam und allmählich die Haltung zur Regierung. Die wurde doch nur gewählt, weil die Angst vor Experimenten noch zu groß war. Die Unzufriedenheit mit der CDU wuchs, und wir rutschten langsam nach links. Peter und Gert spielten im Stuttgarter »Altstadt-Theater« in Gorkis »Nachtasyl« mit. Auch das färbte ab. »Links« sein hieß für uns auch, anti-schwäbisch sein.
Da war in Stuttgart doch tatsächlich jemand verhaftet worden, weil er bei Rot die Königsstraße überquert hatte, als weit und breit kein Auto zu sehen war. Empörung! Genau wegen dieser manischen Pedanterie hatten unsere Vorfahren im 17. Jahrhundert das Schwabenland verlassen, um nach Ungarn oder ins Oderbruch auszuwandern.
Im Herbst ’57 stellten die Berufsberater fest, Gerts kaufmännische Begabung sei größer als seine handwerkliche. Also wurde er nach Fellbach auf die Bürofachschule geschickt, um Schreibmaschine und Steno zu lernen. Er hatte aber mehr Spaß beim CVJM, begann die Bibel zu lesen, wurde überzeugter linksradikaler Christ, und er lernte Gitarrespielen: »Wildgänse rauschen durch die Nacht«, »Die Glocken stürmten vom Bernwardtsturm« und »Wenn die bunten Fahnen wehen«. Gert galt als der musikalischste von uns drei Brüdern. Er bekam Klavier- und Blockflötenunterricht, hörte damit aber ganz schnell wieder auf. Er improvisierte lieber.
Peter wurde unser Globetrotter. Er war schon in Jugoslawien gewesen und 1958 sogar in Brüssel bei der Weltausstellung. Von dort brachte er eine Platte mit ungarischer Zigeunermusik mit, Sándor Lakatos. Für die Familie. Für mich eine Cowboy-Pistole. Der Czárdás gefiel mir sehr gut, aber auch die Knarre. Wenn ich schon nicht als Mädchen gehen durfte, wollte ich beim nächsten Kinderfasching wenigstens Cowboy sein. Und das wurde ich auch. Zusammen mit meinem Freund René, den ich beneidete, weil seine Eltern geschieden waren.
Die Silvester-Knallerei 58/59 hatte Fidel in Kuba genutzt, um das Battista-Regime zu stürzen. Das wurde begrüßt. Auch in der Familie gab’s Veränderungen. Peter, der auf die Stuttgarter Kunstakademie ging, hatte durch Vermittlung seines Professors eine Bühnenbildassistenz am Göttinger Theater bekommen. Bei Schlubach. Der »schwule Schlubach« wurde er bei uns genannt. Ich konnte mir unter schwul nix vorstellen, aber schwuler Schlubach hörte sich witzig an.
Außerdem bekam Peter ein paar Komparsenrollen in den Göttinger Filmstudios, und wir mussten uns unbedingt »Hunde wollt ihr ewig leben« im Kino und »Der Karzer«, in dem er sogar eine kleine Sprechrolle als Heidelberger Student hatte, im Fernsehen angucken. Peter war der Größte!
1958 erhöhte die Bundesbahn die Preise im Nahverkehr mit einem Schlag um fünfzig Prozent und »trieb damit diese Benutzergruppe dem Individualverkehr zu« – wir bekamen ein Goggomobil!
Ich hatte eigentlich gedacht, dass das mein Ansehen bei den Nachbarskindern steigern würde, aber das Gegenteil war der Fall. Unser Motorrad mit Beiwagen galt als was Besonderes, aber ein »Goggo« war einfach lächerlich. Alle fuhren schon Ford Taunus, Opel Rekord oder mindestens Fiat oder Škoda. Drei Tage lang musste ich unser Auto vor den Steinwürfen und dem Gelächter meiner Freunde beschützen.
Auf der Jungfernfahrt mit Vater, Mutter, Gert, mir und der Neuköllner Oma durch den gerade eröffneten längsten Tunnel Deutschlands, den Stuttgarter Wagenburgtunnel, waren wir stecken geblieben. Uns war das Benzin ausgegangen, und keiner konnte den Reservehahn finden. Oma, voll mit Klosterfrau Melissengeist, lachte wie ein Droschkenkutscher über Herbert, meinen Vater, den Angeber, die Niete.
Meine Mutter arbeitete jetzt halbtags bei »Schlank- Schlank«, Abmagerungspillen und Zahnbürsten. Wenn sie Überstunden machte und ich allein zu Hause war, dirigierte ich. Besonders gern Händels »Halleluja« am offenen Fenster. Ich war ein guter Dirigent, aber die Nachbarn wussten das nicht zu schätzen.
Manchmal nahm ich auf Gerts Tonbandgerät Hörspiele auf. Die waren entweder frei erfunden, oder ich spielte Szenen aus »Tom Sawyer« oder »Huck Finn«. Die »Erika«-Schreibmaschine meiner Mutter hatte ich mir auch geschnappt und gab in unregelmäßigen Abständen eine Zeitung raus. Den »Quetzalcoatl«. Quetzalcoatl war der Name des weißen Gottes, den die Azteken zurückerwartet hatten, als Cortez auftauchte. Auch das, wie vieles andere, hatte mir meine Mutter erzählt. Warum der als Namensgeber für meine Zeitung herhalten musste, ist mir bis heute ein Rätsel. Bis dahin stand für Mutter fest, dass der Junge mal Anwalt wird. Ihrer Meinung nach war ich ein Haarspalter und Rechthaber. Natürlich hab ich gerne recht gehabt und jedes Haar gespalten, vor allem wenn’s darum ging, nicht zur Schule gehen zu müssen.
Der »Quetzalcoatl«, ein naseweises Blatt mit Wortspielen und Witzen über Politiker und Familienmitglieder, öffnete ihr die Augen, und sie entschied, der Junge wird Journalist. Unter Journalist konnte ich mir nichts vorstellen. Eigentlich hatte ich Feuerwehrmann oder Opernsänger werden wollen. Möglichst beides. Inzwischen hatte ich aber einen anderen Traumberuf.
Zwei Ereignisse hatten das ausgelöst und das Klangtier-Erlebnis am letzten Tag in Traunreut wieder hochgespült. Im Sommer waren die Hübners zu Besuch gekommen – auch Siemensianer, unsere Nachbarn aus Traunreut. Frau Hübner hatte mal wieder Klavier gespielt, dazu gesungen, und Gert hatte das Ganze auf Tonband aufgenommen. Als die Hübners weg waren, ließ ich mir von Gert auf dem Klavier die Geheimnisse von Dur- und Mollakkorden zeigen. Wenn ich allein war, hörte ich mir die Hübner-Tonbänder immer wieder an und versuchte vor allem zwei Lieder nachzuspielen: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« und »Lili Marleen«. Irgendwann ging mir der Knopf auf, und ich löste das Rätsel, wie man dem Klangtier wohltemperierte Töne entlocken kann. Von da an konnte ich jedes nicht allzu komplizierte Lied nach dem Gehör spielen.
Das andere Ereignis fand an einem Sonntag statt. Ich war ein paar Tage krank gewesen, hatte Fieber, Grippe. Die Familie wollte mich am Sonntagnachmittag nicht allein lassen. Alle saßen rum, und da bat ich meine Mutter, Klavier zu spielen. Das tat sie auch. Sie spielte eine Schubertsonate. Das Kopfende meines Bettes stieß direkt an das Klavier, und – oh Wunder – als meine Mutter zu spielen aufhörte, war ich gesund. Das bestärkte mich in meinem Beschluss, Musiker zu werden. Oft hörte ich in meinem Kopf unbekannte Melodien, denen ich lauschte, als hätte ich eine Platte aufgelegt.
Vor den Osterferien 1960 war die Aufnahmeprüfung für die Oberschule. Ich sollte nach Fellbach gehen. Die Prüfung bestand ich bemerkenswert schlecht. Selbst Herr Bellermann, unser Klassenlehrer, konnte sich mein Versagen nur mit einem »Blackout« erklären. Das Wort kannte ich schon, ich kam ja jetzt aus einer Theaterfamilie. Für die Leistung, in die Oberschule gehen zu dürfen, bekam ich eine Armbanduhr. Die erste und, für fünfundzwanzig Jahre, letzte Uhr. Außerdem durfte ich Gerts Drei-Gang-Fahrrad benutzen, um nach Fellbach zu fahren.
Wenn die Volksschule das Fegefeuer war, so war die Oberschule in Fellbach die Hölle. Ein hochmoderner Bau, kein Pausenklingeln, nur ein Summen. In jedem Klassenzimmer hing ein Lautsprecher für wichtige Durchsagen. »Herr Schmelzle, bitte ins Direktorat!« Ein Schüler verpetzte den anderen. Kein Mensch aus dem Lehrkörper war mir sympathisch. Es gab ein paar Klassenkameraden, die mir gefielen, aber die besuchten mich nie, weil sie zu Hause saßen und büffelten. Ich hatte keine Lust und ließ alles über mich ergehen. Meistens hatte ich die falschen Schulbücher dabei, und ab und zu habe ich sogar die ganze Schulmappe vergessen.
Nur der Musikunterricht war halbwegs interessant, vor allem für jemanden, der einmal Feuerwehrmann und Opernsänger hatte werden wollen. Die Musiklehrerin hatte, so erzählte man sich, ein Glasauge, ein Holzbein und eine Perücke. Opernhausbrand. Es ging das Gerücht, sie hätte im Unterricht schon mal ihre Perücke verloren, darunter wäre eine blutigrote Glatze.
Schön war auch der Turnunterricht. Bei Lehrer Grimm. Zu Beginn der Turnstunde mussten wir in Zweierreihen Aufstellung nehmen. Dann trat jedes Mal ein anderer vor und meldete: »Riege Eins A und Eins B zum Turnunterricht angetreten!« – Grimm: »Rührt euch.« Wir mussten den linken Fuß vorschieben, dann: »Riege Eins A und Eins B, links um!« Danach wurde mir meistens schlecht, und ich durfte entweder nach Hause gehen oder die nächste Stunde auf einer Bank im Schulhof verbringen.
An den Wochenenden zog’s uns nach wie vor hinaus in die weite Welt. Das Goggomobil brachte uns nach Freudenstadt, ins Kloster Maulbronn, nach Tübingen, an den Bodensee und nach Dinkelsbühl zu Tante Käthe. Oder nach Steinbach, nicht weit von Straßburg, wo Tante Lissie wohnte. Die hatte einen Bauernhof und eine Unzahl Kinder. Die Lissie war so dick, dass es eine Freude war, ihr zuzuschauen, wie sie in die »Isetta« stieg. Ein wunderbares zweisitziges Ei, das die einzige Tür dort hatte, wo sich normalerweise Motorhaube, Windschutzscheibe und Lenkrad befinden. Wenn wir bei ihr zu Besuch waren, wurde meistens so viel Zwetschgenkuchen gebacken, dass alle Zimmer damit belegt waren und wir in der Küche schlafen mussten. Wir fuhren auch nach Rothenburg ob der Tauber, Nördlingen und all die anderen mittelalterlichen Orte in Franken oder Badisch-Franken. Und eines Tages fuhren wir nach Nürnberg. Meine Mutter, mein Vater und ich. Wir wollten dort Wohnungen besichtigen, denn Vater hatte mal wieder eine neue Stellung gefunden. Wir sollten also wieder umziehen, und alle atmeten auf.
Einer von Nürnbergs größten Arbeitgebern war und ist Schickedanz, Gustav und Gretchen. Ihnen gehörte »Quelle«. Und die Vereinigten Papierwerke, Tempotaschentücher und Camelia.
Die Vereinigten Papierwerke stellten auch Verpackungen her. Da wurde mein Vater gebraucht. Er muss sich gewaltig verbessert haben. Denn jetzt hatten wir eine Fünf-Zimmer-Wohnung in einer Drei-Familien-Villa im besten Stadtteil von Nürnberg, Erlenstegen. Über uns wohnte eine dänische Familie und unter uns der Hauswirt. Im Garten ein Swimmingpool. Den durften wir allerdings nicht benutzen.
Vom Wohnzimmerbalkon schaute man auf die Pegnitzwiesen. Ich hatte endlich ein eigenes Zimmer. Peter und Gert teilten sich eins. Aus meinem Fenster sah ich auf das Polizeirevier Erlenstegen, eine Villa mit großem Vorhof und Garagen für die Funkwagen. Nachts wachte ich oft auf, wenn plötzlich blaue Lichter über die Zimmerwände tanzten. Das Martinshorn wurde in dieser vornehmen Gegend selbstverständlich nur in Ausnahmefällen angestellt.
Wir bekamen Telefon, und aus dem Goggo wurde ein VW-Käfer. Zwar gebraucht und mit geteilter Heckscheibe, aber immerhin. In die Küche kam ein EsGe-Stab, der ultimative Mixer, Markenware aus der Schweiz – mit dem arbeite ich heute noch –, und weil alles schneller wurde, auch die Hausfrau, brauchten wir natürlich auch einen Dampfkochtopf.
Unser Wohnzimmer war 30 Quadratmeter groß, durchtrennt von einem Mäuerchen, auf dem Blumen standen und irgendwann auch eine Gipsmadonna. Peter begann sein riesiges Wandgemälde: »Venezianischer Carneval«. Nur der Fernsehapparat ließ auf sich warten. Wir gehörten jetzt nicht mehr zum gemeinen Volk. »Lassie«, »Flipper« und »Das Halstuch« – so etwas brauchten wir nicht.
Ich sollte aufs Melanchthon-Gymnasium, das älteste Gymnasium Deutschlands. Hegel war hier Direktor gewesen. Das alte Schulhaus ist ein freundliches Spätbarockgebäude in der Nürnberger Altstadt. Aber das neue war ein finsterer Bau aus dem Ende des letzten Jahrhunderts, an dessen Fassade die deutschen Dichter- und Denkerköpfe klebten wie gotische Wasserspeier. Innen riesige, hallende Marmortreppen und Marmorgänge. Die Schulbänke waren aus Holz, in die Generationen von Schülern Liebesfreud und Schülersleid geritzt hatten. Das alles zu bewundern hatte ich Gelegenheit, als ich mit meiner Mutter kurz vor den Weihnachtsferien dort auftauchte, um mich anzumelden. Mein Himmel verdunkelte sich.
Damit ich auch standesgemäß gekleidet war, gingen wir vor meinem ersten Schultag zu Brenninkmeyer, so nannten wir C&A damals. Ich durfte mir einen Wintermantel aussuchen. Ich konnte ihn mir wirklich selbst aussuchen und fand auch einen, der mir gefiel: königs-blauer Cordsamt mit weißem Kunstpelz gefüttert.
Mit diesem Fummel betrat ich am 11. Januar 1961 um acht Uhr und dreißig Minuten – eine Viertelstunde zu spät, weil ich vorher noch ins Sekretariat musste – das Klassenzimmer der 1a des Melanchthon-Gymnasiums. Kleider machen Leute.
Ich fühlte mich so selbstsicher wie nie zuvor. Mir war alles egal. Diesen Ort hatte ich mir nicht ausgesucht, und wenn ich hier nicht ankam – na und? Ich betrat das Klassenzimmer, hob die rechte Hand und sagte: »Hallo«, es kann auch »Hi« gewesen sein. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam. Jedenfalls war’s eine Begrüßungsformel, die ich noch nie gebraucht hatte. Ich kam mir unglaublich weltmännisch vor. Alles, was ich mir in der Nacht vorher für meinen Auftritt ausgedacht hatte, warf ich damit über den Haufen, und das war richtig. Der Lehrer setzte noch einen drauf, indem er mich als »Möbius, der Neue aus Berlin«, vorstellte. Ich kam auf die erste Bank, neben Peter Fleischmann. Peter Fleischmann traf ich dreiundzwanzig Jahre später wieder. Auf dem Neuköllner Friedhof. Das war bei Tante Tielchens Beerdigung. Er war der Pfarrer.