Es ist eigentlich merkwürdig, dass ich erst jetzt nach Fort Washakie fuhr und nicht schon vor dreißig Jahren. Ich war mit dem Namen dieses Ortes aufgewachsen, zum ersten Mal hatte ich ihn mit sechs Jahren gehört, von meiner Mutter, als sie mich für alt genug hielt, um in die Familiengeschichte eingeweiht zu werden. An einem Winterabend, an dem vor dem Fenster meines Zimmers große Flocken fielen und es im ganzen Haus sonderbar still war, saß sie an meinem Bett und erzählte mir mit leiser Stimme von ihrem Großvater, der ein Indianer gewesen sei. Ich hörte ihr zu, wie wenn sie mir vor dem Schlafengehen aus einem Märchenbuch vorlas, das heißt, ich glaubte die Geschichte im Moment, in dem sie sie mir erzählte, doch nachdem sie das Licht ausgeknipst hatte und gegangen war, drehte ich mich auf die Seite und schlief ein, und am nächsten Morgen erwachte ich keineswegs mit dem Gedanken, dass mein Urgroßvater tatsächlich ein Indianer gewesen war. Da meine Mutter danach lange Zeit nicht mehr davon sprach, wurde es für mich erst mit zwölf zur Gewissheit, als mein Vater am Mittagstisch eine scherzhafte Bemerkung machte, Was habe ich nur für eine hübsche Squaw! oder etwas Ähnliches – an den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, nur daran, dass meine Mutter sich den Ausdruck Squaw verbat und über die damals gerade populären Winnetou-Filme herzog, die sie unrealistisch fand. Es sei in Wirklichkeit alles ganz anders gewesen als in diesen Filmen. Auf meine Frage, woher sie das wisse, gab sie mir die Tagebücher meiner Urgroßmutter zu lesen, in der diese ihre Zeit als Lehrerin an der St. Stephen’s Indian Mission in Fort Washakie beschrieb, und nun wurde das Märchen wahr: Ich stammte von Indianern ab, genauer von den Arapaho.
Aber warum ich erst so viele Jahre später nach Fort Washakie fuhr: Ich weiß es nicht. Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich früher erfahren hätte, was ich jetzt, nach der Reise und meinem Besuch bei Hebesisei Willow, weiß? Vielleicht. Jedenfalls wäre mir früher etwas genommen worden, durchaus ein Stück meiner Seele. Es ist also ein Glück, dass ich nicht früher hingefahren bin!
Noch besser wäre es natürlich gewesen, wenn ich nie nach Fort Washakie gereist wäre –
Eine Reise rein aus privatem Interesse an meiner Familiengeschichte konnte ich mir nicht leisten, und da mir ohnehin der Stoff für einen neuen Roman fehlte, beschloss ich, die Besichtigung von Fort Washakie mit Recherchen für den Roman zu verbinden, in dem es um das Leben der Arapaho gehen sollte und um einen jungen deutschen Einwanderer aus der Pfalz, der zur Zeit, als meine Urgroßmutter in Wyoming als Lehrerin arbeitete, als Soldat der US Army an den Kriegen gegen die Plains-Indianer teilnahm. Das schien mir ein verlockender Stoff zu sein, aber mir fehlte, um das Lebensgefühl der Arapaho authentisch beschreiben zu können, die Erfahrung eines Lebens in der Wildnis, ich kannte die Natur nicht. Das ließ sich aber ändern. Ich buchte zusätzlich zum Flug nach Dallas, von wo aus ich mit einem Mietwagen nordwärts nach Colorado und weiter nach Wyoming fahren wollte, eine Hütte in Manitoba, Kanada, in der Gegend um Lac Brochet. In Amerika war Wildnis nicht mehr zu finden, jedenfalls nicht in den Staaten, die ich wegen meiner Familiengeschichte besuchen wollte; die nächstgelegene Wildnis befand sich im Norden Manitobas, wo eine Firma namens Adventure Travels Manitoba für wenig Geld Blockhütten vermietete. Der Name der Firma störte mich, weil er das leicht Lächerliche entlarvte, das hinter meinem Wunsch steckte, die Wildnis kennenzulernen.
Ich flog also nach Dallas, und in einem schönen, geräumigen Wagen mit eingebautem Kompass fuhr ich nach Norden und fühlte mich auf den oft leeren, breiten Straßen tatsächlich frei. Manchmal fuhr ich nachts im Konvoi mit Trucks, oder ich bildete mir vielleicht nur ein, dass es ein Konvoi war, jedenfalls gefiel es mir, zwischen den riesigen Gefährten in dem Licht zu fahren, das ihre Scheinwerfer auf die Straße warfen, während die Gegend abseits der Straße stockdunkel dalag.
Im südlichen Colorado wies ein Straßenschild auf das Reservat der Southern Ute hin, und da die Ute die traditionellen Feinde meines Urgroßvaters gewesen waren, zusammen mit den Shoshonen, den Pawnee und den Gros Ventre, entschloss ich mich zu einem Zwischenhalt in Ignacio, dem Hauptort des Reservats der Ute.
Der erste Indianer, dem ich in meinem Leben begegnete, war also ein Südlicher Ute, der auf der Garagenauffahrt seines Hauses mit einem Poliertuch die Motorhaube eines weißen Geländewagens wienerte. Im Schritttempo fuhr ich an ihm vorbei, und als er sich nach mir umdrehte, hob ich die Hand. Er warf einen Blick auf mein Nummernschild und putzte weiter.
Ich glitt auf der Hauptstraße dahin und staunte über die Ordnung und die Zeichen kleinen Wohlstands. In den Gärten standen Trampoline mit Sicherheitsnetz, und an einem Baum war eine rote Schaukel befestigt, die sich im Wind selbst schaukelte. Das dürre, fast gelbe Gras war sorgfältig gemäht, und der Himmel darüber glänzte.
Ich mietete im Motel des Spielcasinos ein Zimmer für die Nacht bei einer freundlichen Ute, die ein T-Shirt mit einem Wolfskopf trug.
Danach war ich ratlos, was ich als Nächstes tun sollte. Für einen Ortsfremden gab es außer dem Casino hier nichts Interessantes. Auf den Straßen waren keine Leute unterwegs. Wenn ich etwas sehen wollte, blieb also nur das Casino. Es saßen dort an den Maschinen weiße Farmer, die ihre vermutlich mit Viehzucht verdienten Münzen in den Schlitz steckten. Dann drückten sie einen Hebel mit demselben Ernst, mit dem ich einmal einen Schweizer Bauern einem Kalb die Marke ins Ohr hatte drücken sehen.
Die Bierdosen knackten in den Händen der Spieler. Einen hörte ich sagen: »Heute klaut mir der Teufel mein Glück.« Eine Frau antwortete: »Hab meinen Quarzstein vergessen.«
Ich spielte auch ein bisschen an den Automaten. Mir gefielen die Klänge und das Licht. Im Innern solcher Automaten ist elektronisch eine Menge los. Das überträgt sich auf den, der vor ihnen sitzt.
Neben mir saß eine weißhaarige Dame. Sie war stolz auf dieses Schneeweiß, und es stand ihr auch gut, es verlieh ihr etwas Märchenhaftes. Sie war vor Kurzem beim Coiffeur gewesen, die Spur des Föhns hatte sich noch erhalten. Da ich die Logik der zwei roten Knöpfe nicht verstand, die man in einer bestimmten Reihenfolge – aber in welcher? – drücken musste, sagte ich zu ihr: »Ich bin zu dumm für diesen Automaten.«
»Ach, nach ein, zwei Monaten hat man’s raus«, sagte sie.
Sie wollte wissen, wo mein Akzent herstammte, und ich sagte, aus der Schweiz. Ich fügte der Vollständigkeit halber hinzu, dass ich aber in Berlin lebe.
Germany! Ihr Mann war dort stationiert gewesen, in Bielefeld. Dann Ruhestand und ein Jahr später Darmkrebs. Im Blinddarm! Was nützen da die ganzen Vorsorgeuntersuchungen! Sie suchen ja nicht im Blinddarm. Was soll man denn jetzt noch von der modernen Medizin halten?
Sie fragte mich, was mich hierher verschlagen habe. Ich sagte, es sei ein Zwischenhalt auf dem Weg nach Wyoming. Danach wolle ich weiter nach Kanada, um in der Northern Region Manitobas einige Wochen in der Wildnis zu verbringen. Das Wort Wilderness auszusprechen war mir peinlich.
Sie fragte mich, warum ich denn allein dort hinfahre?
»Oder sind Sie nicht verheiratet?«, fragte sie.
Ich log. Sagte, doch, aber meine Frau sei ganz froh, mich für ein paar Wochen los zu sein.
My wife – Hanna hätte sich verbeten, dass ich sie immer noch so nannte.
Die Dame sagte, es gebe in Kanada nichts, was es hier in Colorado nicht auch gebe: Flüsse voller Forellen und Lachse, gute, reine Luft, Einsamkeit – »Männer müssen manchmal allein sein. Aber so lange? Glauben Sie mir, Ihre Frau vermisst sie. Sie liebt Sie, deshalb hält sie Sie nicht zurück. Aber wenn sie sagt, dass es ihr recht ist – glauben Sie mir, das stimmt nicht.«
Ihr Bandit spuckte ein paar Münzen aus. Sie kratzte sie aus dem Spender und sagte, jagen könne ich auch hier in Colorado. Maultierhirsche, Wapitis, nördlich von Denver. Schneeziegen, sogar Schwarzbären.
»Ich fahre nicht zum Jagen nach Kanada«, sagte ich. Sondern es sei eine Recherche-Reise.
»Recherche?«
»Ich bin Schriftsteller. Ich will ein Buch schreiben, über die Arapaho.«
»Oh!«, sagte sie. »Ein Schriftsteller! Ich dachte mir schon, dass Sie nicht mit den Händen arbeiten. Aber wieso schreiben Sie denn ein Buch über Indianer?«
»Warum nicht?«
Sie sagte, wenn schon, müsse ich dann aber auch schreiben, dass viele anständige Menschen hier in Colorado täglich um ihr wirtschaftliches Überleben kämpften, während die Regierung den Indianern das Fürsorgegeld in den Hintern stecke. Ja, so sei das! Jeder Ute bekomme von der Regierung monatlich dreitausend Dollar fürs reine Nichtstun!
Unversehens steckte ich mittendrin in einer fünfhundertjährigen Auseinandersetzung. Ich hatte mich im Casino nur ein wenig umsehen wollen, musste jetzt aber eine Entscheidung treffen: Schweigen? Höflich lächeln? Oder mich zu meinem Urgroßvater bekennen?
»Und dann kassieren die auch noch das Geld vom Casino«, sagte die Dame, »das sie uns aus der Tasche ziehen!«
Ich lächelte höflich und sagte: »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass mein Urgroßvater ein Arapaho war. Möglicherweise hat er Ihrem Urgroßvater einen Pfeil in den Hintern geschossen. Ist das nicht Ironie des Schicksals?«
Sie stutzte.
»Ach so«, sagte sie. »Dann will ich Ihnen mal was sagen: Wissen Sie, wie viele hier in der Gegend indianische Vorfahren haben? Eine ganze Menge. Sie sagen, Ihr Urgroßvater war Arapaho? Na und? Meine Urgroßmutter war eine Cheyenne. Und er da, der kräftige Kerl da drüben, der mit dem roten Hemd, sehen Sie? Das ist Jack, mein Nachbar. Seine Großmutter war eine Ute. Aber er hockt nicht im Reservat rum und kassiert Sozialhilfe. Er verkauft Baumaschinen in Bayfield, er arbeitet zehn Stunden am Tag. Er ist Amerikaner, wie wir alle. Wie ich auch. In der Pionierzeit gab’s zu wenige Frauen in Colorado. Da haben sie sich eben eine hübsche Cheyenne genommen oder eine Ute, was soll’s? Das macht mich doch nicht zu einer von denen! Aber wissen Sie was? Wir sind alle Menschen. Ja, das sind wir. Wir sind Menschen, und wir haben Durst. Und deshalb dürfen Sie mir jetzt ein Bier spendieren!«
Sie lachte herzerwärmend. Ich kaufte zwei Bierdosen, und wir sprachen eine Weile über die Grundstückspreise hier in Colorado im Vergleich zu denen in Deutschland.
Ich verabschiedete mich und ging auf mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und dachte an Hanna.
My wife –
Ich dachte nichts Bestimmtes über sie, ich saß nur da, und es ging um Hanna, aber um nichts Konkretes.
Als ich es überwunden hatte, legte ich mich hin und las Kafka. Ich hatte mir seine Erzählungen mitgenommen, nun las ich die Geschichte von Sancho Pansa, und da mich die Fliege, die mit mir im Zimmer war, störte, hieb ich mit der aufgeklappten Taschenbuchausgabe nach ihr. Dabei flatterte ein kleines gelbes Zettelchen zu Boden, das zwischen den Seiten gesteckt hatte. Ich erinnerte mich sofort. Vor zehn Jahren hatte Hanna auf dieses Zettelchen etwas geschrieben, für mich, etwas, das mich damals glücklich gemacht hatte, weil es mir zeigte, dass wir auf dem richtigen Weg waren, gemeinsam. Wo bewahrt man ein solches Zettelchen für den Moment auf, in dem man es nach langer Zeit sich wieder anschauen möchte? Am besten zwischen den Seiten eines Buches, von dem man weiß, dass man es nie weggeben wird. Aber ist es auch klug, solche Zettelchen aufzubewahren? Nein. Denn als ich es jetzt aufhob und wieder las, wollte ich nie mehr lieben, nie mehr auf die Versprechungen eines Anfangs hereinfallen, nie mehr der Zeit dabei zusehen, wie sie Liebe fermentiert. Wohin jetzt aber mit dem Zettelchen? Fortwerfen konnte ich es trotz allem nicht. Behalten auch nicht. Also aß ich es. Ich steckte es in den Mund – es war wenig Papier – kaute es und schluckte es mit dem Wasser, das ich zuvor für meine Pillen bereitgestellt hatte. Jetzt war der Zettel, wo er hingehörte: Man selbst ist der Liebe Grab.
Jemand klopfte an meine Tür. Ich öffnete und stand einem großen schweren Ute gegenüber, dem die schwarzen Haare an der Stirn klebten und der sich mit einer dunklen, angenehmen Stimme als Ned Cloud, Motelmanager, vorstellte. Er entschuldigte sich: Die Klimaanlage sei defekt. Er bot mir an, mir einen Tischventilator zu bringen. Als ich dankend ablehnte, offerierte er mir ein Bier on the house. Ich hatte noch den brackigen Geschmack von Hannas Zettelchen im Mund und sagte Ja.
Wir setzten uns in die Bar des Casinos, deren Theke mit Mosaiksteinen ausgelegt war, die eine altrömische Trinkszene zeigte: Zwei Männer mit Traubenkränzen um die Stirn lagen mit erhobenen Bechern auf ihren Triclinia, ein Sklave goss aus einer Amphore Wein nach. Der betreffende Innenarchitekt war der Meinung gewesen, dass zu dieser antiken Szene am besten eine über der Bar montierte LED-Leuchtschrift passte, über die die Anfangszeiten der Bingo-Spiele rollten, versehen mit drei Ausrufungszeichen. Die Barhocker hatte er in einem Antic Shop gekauft, es waren Sessel mit rotem Plüschbezug und goldenen Voluten unten an den Füßchen.
Ned Cloud trug Schlangenleder-Stiefel, aus Sidewinder-Haut, ich hatte solche Stiefel auf der Herfahrt in einem Western-Shop gesehen und auch ihren Preis. Sie waren sehr teuer, und er trug sie an einem normalen Arbeitstag. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig, mein Alter – das hieß, er war in der Vor-Casino-Zeit aufgewachsen und hatte als Kind vermutlich noch Strohschuhe getragen. Er saß breitbeinig auf seinem Barstuhl, der wie eine merkwürdige Stelze aus ihm herauswuchs. Cloud ruhte auf dieser Stelze in Würde; mir gefielen sein vertrauenswürdiger Blick und die Traurigkeit seiner Gestalt.
Er fragte mich, woher ich komme, ich sagte, aus der Schweiz. Mein Urgroßvater sei aber Arapaho gewesen, vom Mutterstamm der Hinono’ei.
»Sehr gut!«, sagte Cloud.
Ich fragte ihn, weshalb er sich Ned Cloud nenne? In Anspielung auf Red Cloud, den berühmten Oglala-Chief?
»Nein, weil ich Ned heiße«, sagte er. »Edward. Als ich geboren wurde, wussten meine Eltern, dass sie mir keine Ausbildung finanzieren konnten. Also gaben sie mir einen vornehmen englischen Namen, das kostete nichts. Sie hofften, dass mir der Name bei den Wasichu hilft, wenn ich einen Job suche. Dass die Wasichu dann denken: Oh, er heißt Edward, na dann kann man ihm ja die Kasse anvertrauen. Meine Eltern waren Christen, weißt du. Liebe Menschen, die jeden Sonntag zur Kirche gingen. Sie waren beide in der Missionsschule aufgewachsen, bei den Jesuiten. Wenn sie Núapaghapi sprachen, ihre Muttersprache, kriegten sie Prügel. Das saß bei ihnen so tief, dass sie später, wenn sie mit uns Kindern Núapaghapi sprachen, immer flüsterten, als stünden die Jesuiten mit dem Prügelstock hinter ihnen. Englisch redeten sie laut, aber unsere Sprache flüsterten sie nur.«
Er nannte die Weißen Wasichu, was mich insofern ehrte, als er mich wegen meines Urgroßvaters offenbar davon ausnahm. Korrekt wird es Wašíču geschrieben, und ausgesprochen als Wasitschu. Stammt aus der Sprache der Lakota. Wörtlich die, die das Fett wollen. Im übertragenen Sinn die Bezeichnung für einen gierigen Menschen, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Es ist kein so drastisches Wort wie Nigger. Aber ein Kompliment ist es nicht.
Jetzt sprach Cloud über seine Zeit beim American Indian Movement. Die Erzählungen eines Veteranen. Es war so interessant, wie wenn Achtundsechziger von ihrer Begegnung mit Rudi Dutschke erzählen und wie man Pflastersteine am besten aus dem Boden stemmt.
Ich hörte ihm trotzdem gerne zu, und jedes Mal, wenn er von den Wasichu sprach, heimelte es mich an, dass er mich nicht mitmeinte. Er erzählte von der Besetzung von Wounded Knee im Jahre 1973, und ich stellte ihn mir auf einem Pferd vor, als Silhouette vor dem grauen Himmel: etwas Großes, Rundes auf etwas Länglichem. Ich ging in der Vorstellung näher ran und hörte das Knacken der Wirbelsäule des Pferdes.
»Und dann«, sagte Cloud, in dessen Hand die Bierflasche fast verschwand, »dann hab ich mit Russell Means gefrühstückt. Du kennst den doch? Russell Means?«
»Ja.«
»Na also! Und ich hab mit ihm gefrühstückt!«
Auch ich trank viel, seit Langem wieder einmal, ich ritzte mit dem Fingernagel eine Spur in den Eisstaub auf der Bierflasche. Cloud sprach von Johnny Depp und Kevin Costner, die beide Cherokee-Vorfahren hätten, was ich schon wusste. Er dichtete Angelina Jolie Lakota-Vorfahren an, und ich widersprach nicht.
Später sagte Cloud: »Erzähl mir was über deinen Urgroßvater. Was weißt du über ihn?«
»Recht viel. Meine Urgroßmutter hat ein Tagebuch geschrieben, aber erst später, kurz vor ihrem Tod. Eigentlich eine Autobiografie, aber in Tagebuchform. Er hieß Nisono’oho. Sie nannte ihn aber John. John Roman Nose.«
»Ja, Roman Nose, so heißen viele. Die Wasichu nannten uns so. Es ist ein Spottname. So wie John Kraushaar für einen Schwarzen. Wenn deine Urgroßmutter ihn so genannt hat, wird’s nicht die große Liebe gewesen sein. Entschuldige, dass ich das sage …«
»Er hat Bisons gejagt und Gabelhirsche«, sagte ich, »und er führte Krieg gegen die Ute und Shoshonen. In seinem Haar steckten drei Federn, waagrecht. Eine eingekerbte und zwei, an denen ein Büschel Pferdehaar befestigt war. Weißt du, was das bedeutet?«
»Er ist im Kampf verwundet worden und hat zwei Feinde getötet«, sagte Cloud.
»So war es«, sagte ich. Das Licht der Abendsonne brach sich im Spiegel über der Bar, ein gelbrotes Gleißen, das mich daran denken ließ, wie ich an einem warmen Sommerabend Würste brate und den Geruch der Kohle genieße und den Anblick der aufgeplatzten, an den Rändern kohlig gewordenen Haut, die glänzt, weil der Fleischsaft austritt – und Hanna sitzt in einem roten Liegestuhl, barfuß, sie trägt blaue Caprihosen, und sie liest mir eine Szene aus einem Buch von Tolstoi vor, die in ihr dasselbe Gefühl weckt wie das Gleißen der Abendsonne im Bar-Spiegel bei mir. Staubkörnchen tanzten in einem Lichtfächer. Und die leise Musik aus den kleinen Lautsprechern an der Decke: Ui, chirpy chirpy cheep cheep.
Cloud kam wieder auf die Besetzung von Wounded Knee zu sprechen.
»Da waren am Schluss auch einige Arapaho dabei«, sagte er. »Sie kamen wie immer erst, als das Schlimmste vorbei war.« Er lachte, wollte noch etwas über die Arapaho sagen, verlor aber den Faden und sagte stattdessen: »Ja, und eben, John Trudell. Aber wenigstens den kennst du doch?«
»Ich kenne auch Russell Means«, sagte ich.
»Ja, aber Trudell nicht.«
»Doch! Er ist Lakota und wurde in den Siebzigerjahren beschuldigt, zwei FBI-Agenten erschossen zu haben. Seither sitzt er im Gefängnis.«
»Nein, das ist Leonard Peltier! Aber ich rede von John Trudell. Der Trudell, der zusammen mit Robert De Niro im Film Thunderheart gespielt hat.«
Ich kannte den Film nicht.
»Du kennst diesen Film nicht?«, sagte Cloud. »Was bist du denn für ein Indianer!«
War ich Indianer?
Alle meine Vorfahren, außer einem, waren Schweizer gewesen. Ich war zu sieben Achteln Schweizer und zu einem Achtel Arapaho. Aber es ist keine numerische Angelegenheit. Die Dame vorhin, bei den Spielautomaten, empfand keine Sehnsucht danach, Cheyenne zu sein wie ihre Urgroßmutter, sie fühlte sich durch ihre Abstammung befleckt. Man entscheidet sich so oder so, aber kalt lässt es niemanden. Selbst die entfernte Abstammung von einem Volk erzwingt eine Einstellung zu ihm. Mir konnten die Hinono’ei nicht gleichgültig sein, und alles, was sie betraf, gewichtete ich anders, als wenn es ein Volk betroffen hätte, mit dem mich keine persönliche Beziehung verband. Beispielsweise erfuhr ich kurz vor meiner Abreise nach Amerika von einem Verbrechen, das in Riverton, einer Stadt an der Grenze zum Reservat der Arapaho, begangen worden war. Ein Weißer hatte dort wahllos auf Arapaho geschossen und zwei Arapaho getötet. Mein Urgroßvater wiederum war im Jahre 1890 im Alter von achtundzwanzig Jahren in Fort Washakie von einem deutschen Einwanderer erschossen worden. Dieser Mann, ein Pelzhändler, hatte ein Auge auf meine Urgroßmutter geworfen und fand es widerwärtig, dass sie sich lieber mit einem Indianer traf als mit ihm. Als ich nun von der Erschießung der zwei Arapaho in Riverton las, empfand ich nicht etwa Wut über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit oder dergleichen. Sondern mir schnürte eine bittere, tiefe Trauer die Kehle zu, Trauer darüber, dass es noch nicht zu Ende war, dass es sich sogar wiederholte, dass es nie zu Ende sein würde. Und es war eine kalte Angst in mir, dass sich Leute wie dieser Amokschütze eines Tages vielleicht auch noch das Reservatsland der Arapaho holten und die Arapaho endgültig vernichteten.
Ja, ich bin Indianer. Ich bin auch Schweizer und Berliner, aber ich bin es nicht mehr, als ich Indianer bin, ungeachtet dessen, dass auf der einen Seite sieben direkte Vorfahren stehen und auf der anderen nur einer. Das Herz zählt nicht nach. Es geht nicht buchhalterisch vor. Angenommen, ich nähme an einer Amerikareise teil als Mitglied einer Schweizer Reisegruppe. Und bei einem Besuch der Wind River Reservation, in der die Nördlichen Arapaho wohnen, würde ein Schweizer im Scherz sagen, Hoffentlich werden wir hier nicht alle skalpiert, so wäre ich sogleich gegen ihn eingestellt, und zwar auf andere Weise als ein anderer Schweizer Teilnehmer, der solche Scherze aus ideologischen Gründen nicht mag. Ich würde den Scherz als persönliche Beleidigung auffassen, das ist der Unterschied. Angenommen, es wäre eine deutsche Reisegruppe, und ein Deutscher würde die Bemerkung machen, so würde ich sie ihm noch stärker verübeln als dem Schweizer, da mir die Deutschen als Volk trotz der langen Zeit, die ich schon unter ihnen lebe, fremder sind als die Schweizer. Angenommen, es wäre eine gemischte Reisegruppe aus Schweizern und Deutschen, und aus ihrer Mitte würde beim Besuch des Reservats der Südlichen Ute dieselbe Bemerkung laut, so würde ich sie dem Betreffenden wiederum weniger übel nehmen, als wenn er es in der Wind River Reservation über die Arapaho gesagt hätte. Wenn aber ein Mitglied der Reisegruppe auf der Busfahrt sagen würde, Die Mexikaner klauen dir noch das Klopapier aus dem Hintern, würde mich das weniger ärgern als eine abfällige Bemerkung über die Ute oder einen anderen Indianerstamm. Und des Weiteren angenommen, die Deutschen und die Schweizer würden sich aus welchen Gründen auch immer zu einer militärischen Aktion gegen die Arapaho entschließen, so würde ich selbst dann, wenn die Arapaho am Konflikt schuld wären, dennoch niemals die Waffe gegen sie erheben. Würde die Aggression eindeutig von den Deutschen und Schweizern ausgehen, würde ich mich vollständig von ihnen abwenden und nach meinen Möglichkeiten für den Sieg der Arapaho kämpfen. Meine Loyalität gehört zuerst der entfernten Abstammung und erst dann der nahen. Aber warum? Ich bin kein Romantiker und verkläre nicht die Kultur der Indianer, die mir in vielem fremd ist. Das kann es also nicht sein. Was dann? Ich weiß es nicht und verspüre keine Lust, darüber nachzudenken, da ich es als etwas Physisches empfinde. Soll ich darüber nachdenken, warum ich kurze Beine habe? Es ist eben so, und diese Unbedingtheit macht es gerade zu etwas so Wesentlichem und Bestimmendem.
Um Mitternacht saßen Cloud und ich auf einer Bank aus Gussbeton auf dem Parkplatz des Casinos. Es war still. Einsame Nacht. Über uns ein Sternenhimmel, der aussah wie ein mit Puderzucker bestreuter Schokoladenkeks. Man konnte in diesen Weihnachtshimmel tief hineinsehen, wenn man die Leere nicht fürchtete. Es sah aus wie Fülle und Weite, aber es war Leere und das Nichts, die völlige Bedeutungslosigkeit jedes Atemzugs, jedes Herzschlags, jedes Gedankens, jedes Gefühls. Das Nichts kam in Gestalt der Unendlichkeit daher, und die Endlichkeit in Gestalt zweier betrunkener Männer, die aber noch mehr Bier soffen. Ich dachte, dass sich in zehntausend Jahren niemand mehr an die Arapaho, die Ute, die Deutschen und die Schweizer erinnern wird, nicht einmal an die Chinesen. Archäologen werden Ruinen freilegen und Knochen datieren und sie in Epochen einordnen, deren Bezeichnungen uns befremden würden, da sie nichts mit uns zu tun haben. Was könnte ein Kelte mit dem Begriff Glockenbecherkultur anfangen? In dieser Verwischung von Begriff und Lebenswelt verbirgt sich aber eine Wahrheit, nämlich die, dass Existenz ein bloßes Aufleuchten und wieder Erlöschen ist. Je mehr Zeit seit dem Erlöschen vergeht, desto unwirklicher wird das einstige Aufleuchten, bis es eines Tages, wenn sich niemand mehr daran erinnert, gar nie stattgefunden hat.
On the long run we didn’t exist.
Zu hören war das leise Scheppern eines Gegenstandes, an dem der Wind rüttelte. Auf einer Anhöhe stand ein Haus, hinter dessen Fenster das blaue Licht eines Fernsehers anzeigte, dass hier jemand seine kurze Zeit des Aufleuchtens auf bemitleidenswerte Weise vergeudete. Cloud und ich tranken wenigstens. Das war der Versuch, sich zu verlieren unter dem drohenden Sternenhimmel: Wir übten schon mal das Verschwinden.
»Meine Frau mag es nicht, wenn ich Bier trinke«, sagte er. »Das verstehe ich. Schlechte Erfahrungen. Vater, Großvater, ihr Bruder, alle Säufer. Aber ich hab’s unter Kontrolle. Ich trinke nur so viel, wie mit Gewalt reingeht.«
Er schwieg, und ich fühlte meinen Puls. War regelmäßig. Pumm. Pumm. Etwas zu schnell allerdings. Aber im Rhythmus. Wie merkwürdig, dass das Herz eine solche Anstrengung vollbringt, achtzig Jahre lang ununterbrochen sich für ein Leben abrackert, das verzichtbar wäre.
»Eine Million Menschen weltweit würden für den Bestand der Art genügen«, sagte ich, und Cloud sagte: »Was?«
»Ich sagte, es würde reichen, wenn es nur eine Million Menschen gäbe. Oder auch nur eine halbe. Sogar hunderttausend würden reichen. Mehr braucht’s nicht, um die Art zu erhalten. Aber jetzt klopfen sieben Milliarden Herzen, in diesem Moment, stell dir das vor. Wieso hört man das eigentlich nicht? Das müsste man doch eigentlich hören. Sieben Milliarden Herzen!«
Ich hätte nicht so viel trinken dürfen, ich sah meine Kardiologin vor mir, wie sie die Hände zusammenlegte und sie bittend vor- und zurückbewegte. Tun Sie mir den Gefallen, sagte sie, Nein, tun Sie sich den Gefallen. Es ist einfach Gift für Leute mit Herzrhythmusstörungen, jaja. Ich griff in meine Hosentasche, holte eine Metoprolol-Tablette heraus, schluckte sie und fühlte mich jetzt geschützter. Seit zwei Jahren litt ich unter Herzrhythmusstörungen und fraß diese Betablocker wie das Pferd den Hafer.
Cloud sagte: »Jedenfalls will ich ihr das ersparen.«
»Wem?«
»Meiner Frau. Ich übernachte heute draußen. Im Auto. An meinem Platz.«
»Ein Platz?«
»Ja, mein Platz. Fünfundzwanzig Meilen westlich von hier. Dort hab ich mal eine tote Fähe gefunden.«
»Was ist das?«
»Eine Füchsin. Sie war tot. Weil ich sie erschossen hatte. Es war eine dunkle Nacht, Neumond. Als ich die Fähe sah, hielt ich sie für einen Koyoten und drückte ab. Ist das nicht seltsam? Wegen der schlechten Sicht konnte ich eine Fähe nicht von einem Koyoten unterscheiden. Aber getroffen hab ich sie trotzdem.«
»Ja, das ist seltsam.«
»Du kannst mitkommen. Warum nicht? Doch, komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen. Ja, ich glaube, es wäre gut, wenn du das siehst. Meinen Platz. Er ist so eine Art …« Er sprach nicht weiter.
Eine Fledermaus flitzte herum. Sie existierte noch viel gründlicher nicht als wir. Wer sollte sich in zehntausend Jahren an sie erinnern? Sie flog unter dem Radar der Existenz. Sie existierte genau genommen schon jetzt nicht, denn wenn sie morgen starb, würde das von niemandem bemerkt werden. Vielleicht von ihren Fledermausfreunden. Aber die besaßen nicht die Fähigkeit des Erinnerns. Nein, sie existierte nicht. Jetzt nicht und niemals.
Clouds Wagen blinkte. Ich stieg ein. Ich war noch nicht müde, ich konnte morgen lange schlafen, Alles ist gut, mein Herz! Ich hatte meine Medikamente dabei, ich konnte einsteigen. Ich stieg ein, und ich dachte, Besser als jetzt ins Zimmer und dann fremdträumen. Doch, ich war müde. Aber ich hatte keine Lust auf die Träume, die als Nebenwirkung des Metoprolols mir anstrengende Nächte verursachten. Meine Kardiologin, als ich ihr von den Träumen berichtete, nannte sie eine bedauerliche Nebenwirkung, die recht häufig auftrete, und mit recht häufig meinte sie: Beklagen Sie sich nicht. Es waren drastische, abstruse Träume, die ich Fremdträume nannte, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie tatsächlich aus mir selbst stammten; sie kamen mir vor wie die Träume eines hochbegabten Verrückten, und ich war beides nicht.
»Schöner Wagen.«
»Ja, kommt aus Deutschland. BMW. Ich kaufe keine amerikanischen Autos«, sagte Cloud grimmig.
Wir fuhren an den letzten Lichtern Ignacios vorbei und tauchten in die Dunkelheit ein. Hier gab es nur noch die Scheinwerfer. Ich schaute zum Fenster hinaus und sah mich. Dahinter Schwärze.
Cloud bemühte sich, durch viel Lenkerei den Wagen auf der ungepflasterten Straße zu halten, die stetig schmaler wurde. Einmal verpasste er eine Kurve, und wir holperten in die Prärie und dann wieder aus ihr hinaus.
Die Sterne –
Wenn mein Urgroßvater nachts zu ihnen hinaufblickte, sah er die Lagerfeuer seiner Ahnen. Nach ihrem Tod versammelten sie sich um die Feuer, die zwar unerreichbar waren, aber doch in seiner Welt sichtbar. Er konnte das Flackern der Feuer erkennen. Seine Mutter saß dort und schürte das Feuer, um das seine Großeltern saßen und deren Eltern und deren Eltern, deren Namen er alle kannte, weil sie an den Feuern in den Dörfern genannt wurden, damit jeder sie sich merkte. Für meinen Urgroßvater war der Sternenhimmel ein Familienalbum, und überall, wo eines dieser Feuer loderte, war auch ein Gesicht und eine Geschichte. Es verhielt sich wie mit dem Fluss, an dem das Tipi meines Urgroßvaters stand, und wie mit den Büffeln, dem Wind, dem Schnee: Die Natur befand sich in seinem Innern, und der Nachthimmel funkelte in ihm und nicht außerhalb. Aus diesem Grund, weil die Welt für ihn buchstäblich nichts Objektives war, hätte er niemals zum Mond fliegen können. Das konnten nur die Wasichu, die die Sterne als Objekte klassifizierten, die keine andere Bedeutung hatten als die beobachtbare – wogegen ich nichts gesagt haben will. Es konnten auch nur die Wasichu Anästhetika entwickeln und Metoprolol. Aber wie tröstlich muss es für meinen Urgroßvater gewesen sein, dass er nach dem Tod seiner Mutter am Nachthimmel ihr Lagerfeuer flackern sah und sie sicher aufgehoben wusste.
Wir fuhren und fuhren.
»Hast du Kinder?«, fragte mich Cloud. Er hatte mich das vor zwei Stunden in der Casino-Bar schon gefragt.
»Ja. Einen Sohn.«
»Ich auch. Auch einen Sohn.«
»Ich weiß.«
»Und seine Mutter? Deine Frau? Ist sie auch Schweizerin?«
»Ja. Aber wir sind geschieden.«
»Schade. Und dein Sohn? Macht es ihm etwas aus, dass er Schweizer ist?«
»Nein. Ich glaube nicht. Warum?«
»Er sagt zu dir nicht: Ich bin kein Schweizer mehr. Ich bin jetzt … Italiener?«
»Nein. Warum sollte er das tun? Er ist kein Italiener.«
»Ja. Aber bei meinem Sohn ist das anders. Es begann bei ihm mit fünfzehn: Plötzlich gefiel es ihm nicht mehr, ein Ute zu sein. Er kam nicht mehr zu den Powwows mit, er sagte, er will sich nicht wie ein Clown verkleiden. Wie ein Clown! Er nannte unsere traditionellen Kleider Clownkleider! Ich weinte. Ja, ich weinte, als er das sagte. Er zerschnitt das Band, und er tat es gründlich. Er sprach nicht mehr Núapaghapi, kein Wort mehr. Nur noch Englisch. Ich sprach Núapaghapi mit ihm, er antwortete auf Englisch. Er fragte mich etwas auf Englisch, ich antwortete auf Núapaghapi. Bei uns im Wohnzimmer hing ein Foto von Geronimo. Mein Sohn ist mit diesem Bild aufgewachsen. Aber plötzlich passte ihm auch Geronimo nicht mehr. Er sagte, er sei ein Verbrecher gewesen, der nur Unglück über sein Volk gebracht habe. Ich sagte, okay, da hast du recht, aber noch viel mehr Unglück hat er über die Wasichu gebracht, und deshalb hängt dieses Foto da. Und jetzt kommt’s: Jetzt nennt er mich einen Rassisten! Ich bin also ein Rassist, nur weil ich etwas dagegen habe, dass die Wasichu mein Volk fast ausgerottet haben! Und dann nahmen sie mir auch noch den Sohn. Denn das haben sie getan: Sie haben ihn mir genommen. Als er achtzehn war, verließ er mich, und er verließ seine Mutter, seine Schwestern, er verließ seinen Stamm und ging nach Denver. Und weißt du, was er studierte, in Denver? Zahnarzt! Er ist ein Zahnarzt geworden! Das hat er sich clever ausgedacht. Denn du kannst dir ja wohl vorstellen, dass sich in Denver keiner von einer Rothaut die Zähne ziehen lassen will. Also hat er seinen Namen geändert. Er heißt jetzt Mick Lincoln. Lincoln! Wie der Präsident. Auf dem Schild an seiner Praxis steht Mick Lincoln Dental DDS. Ich hab’s selber gesehen. Ich bin vor ein paar Jahren nach Denver gefahren, weil ich wenigstens wissen wollte, wie seine Praxis von außen aussieht und in welchem Stadtteil sie