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Es ist eigentlich merkwürdig, dass ich erst jetzt nach Fort Washakie fuhr und nicht schon vor dreißig Jahren. Ich war mit dem Namen dieses Ortes aufgewachsen, zum ersten Mal hatte ich ihn mit sechs Jahren gehört, von meiner Mutter, als sie mich für alt genug hielt, um in die Familiengeschichte eingeweiht zu werden. An einem Winterabend, an dem vor dem Fenster meines Zimmers große Flocken fielen und es im ganzen Haus sonderbar still war, saß sie an meinem Bett und erzählte mir mit leiser Stimme von ihrem Großvater, der ein Indianer gewesen sei. Ich hörte ihr zu, wie wenn sie mir vor dem Schlafengehen aus einem Märchenbuch vorlas, das heißt, ich glaubte die Geschichte im Moment, in dem sie sie mir erzählte, doch nachdem sie das Licht ausgeknipst hatte und gegangen war, drehte ich mich auf die Seite

 

Aber warum ich erst so viele Jahre später nach Fort Washakie fuhr: Ich weiß es nicht. Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich früher erfahren hätte, was ich jetzt, nach der Reise und meinem Besuch bei Hebesisei Willow, weiß? Vielleicht. Jedenfalls wäre mir früher etwas genommen worden, durchaus ein Stück meiner Seele. Es ist also ein Glück, dass ich nicht früher hingefahren bin!

 

Eine Reise rein aus privatem Interesse an meiner Familiengeschichte konnte ich mir nicht leisten, und da mir ohnehin der Stoff für einen neuen Roman fehlte, beschloss ich, die Besichtigung von Fort Washakie mit Recherchen für den Roman zu verbinden, in dem es um das Leben der Arapaho gehen sollte und um einen jungen deutschen Einwanderer aus der Pfalz, der zur Zeit, als meine Urgroßmutter in Wyoming als Lehrerin arbeitete, als Soldat der US Army an den Kriegen gegen die Plains-Indianer teilnahm. Das schien mir ein verlockender Stoff zu sein, aber mir fehlte, um das Lebensgefühl der Arapaho authentisch beschreiben zu können, die Erfahrung eines Lebens in der Wildnis, ich kannte die Natur nicht. Das ließ sich aber ändern. Ich buchte zusätzlich zum Flug nach Dallas, von wo aus ich mit einem Mietwagen nordwärts nach Colorado und weiter nach Wyoming fahren wollte, eine Hütte in Manitoba, Kanada, in der Gegend um Lac Brochet. In Amerika war Wildnis nicht mehr zu finden, jedenfalls nicht in den Staaten, die ich wegen meiner Familiengeschichte besuchen wollte; die nächstgelegene Wildnis befand sich im Norden Manitobas, wo eine Firma namens Adventure Travels Manitoba für wenig Geld Blockhütten vermietete. Der Name der Firma störte mich, weil er das leicht Lächerliche

 

Ich flog also nach Dallas, und in einem schönen, geräumigen Wagen mit eingebautem Kompass fuhr ich nach Norden und fühlte mich auf den oft leeren, breiten Straßen tatsächlich frei. Manchmal fuhr ich nachts im Konvoi mit Trucks, oder ich bildete mir vielleicht nur ein, dass es ein Konvoi war, jedenfalls gefiel es mir, zwischen den riesigen Gefährten in dem Licht zu fahren, das ihre Scheinwerfer auf die Straße warfen, während die Gegend abseits der Straße stockdunkel dalag.

Im südlichen Colorado wies ein Straßenschild auf das Reservat der Southern Ute hin, und da die Ute die traditionellen Feinde meines Urgroßvaters gewesen waren, zusammen mit den Shoshonen, den Pawnee und den Gros Ventre, entschloss ich mich zu einem Zwischenhalt in Ignacio, dem Hauptort des Reservats der Ute.

 

Der erste Indianer, dem ich in meinem Leben begegnete, war also ein Südlicher Ute, der auf der Garagenauffahrt seines Hauses mit einem Poliertuch die Motorhaube eines weißen Geländewagens wienerte. Im Schritttempo fuhr ich an ihm vorbei, und als er sich nach mir umdrehte, hob ich die Hand. Er warf einen Blick auf mein Nummernschild und putzte weiter.

Ich glitt auf der Hauptstraße dahin und staunte

 

Ich mietete im Motel des Spielcasinos ein Zimmer für die Nacht bei einer freundlichen Ute, die ein T-Shirt mit einem Wolfskopf trug.

Danach war ich ratlos, was ich als Nächstes tun sollte. Für einen Ortsfremden gab es außer dem Casino hier nichts Interessantes. Auf den Straßen waren keine Leute unterwegs. Wenn ich etwas sehen wollte, blieb also nur das Casino. Es saßen dort an den Maschinen weiße Farmer, die ihre vermutlich mit Viehzucht verdienten Münzen in den Schlitz steckten. Dann drückten sie einen Hebel mit demselben Ernst, mit dem ich einmal einen Schweizer Bauern einem Kalb die Marke ins Ohr hatte drücken sehen.

Die Bierdosen knackten in den Händen der Spieler. Einen hörte ich sagen: »Heute klaut mir der Teufel mein Glück.« Eine Frau antwortete: »Hab meinen Quarzstein vergessen.«

Ich spielte auch ein bisschen an den Automaten. Mir gefielen die Klänge und das Licht. Im Innern solcher Automaten ist elektronisch eine Menge los. Das überträgt sich auf den, der vor ihnen sitzt.

»Ach, nach ein, zwei Monaten hat man’s raus«, sagte sie.

Sie wollte wissen, wo mein Akzent herstammte, und ich sagte, aus der Schweiz. Ich fügte der Vollständigkeit halber hinzu, dass ich aber in Berlin lebe.

Germany! Ihr Mann war dort stationiert gewesen, in Bielefeld. Dann Ruhestand und ein Jahr später Darmkrebs. Im Blinddarm! Was nützen da die ganzen Vorsorgeuntersuchungen! Sie suchen ja nicht im Blinddarm. Was soll man denn jetzt noch von der modernen Medizin halten?

Sie fragte mich, was mich hierher verschlagen habe. Ich sagte, es sei ein Zwischenhalt auf dem Weg nach Wyoming. Danach wolle ich weiter nach Kanada, um in der Northern Region Manitobas einige Wochen in der Wildnis zu verbringen. Das Wort Wilderness auszusprechen war mir peinlich.

Sie fragte mich, warum ich denn allein dort hinfahre?

Ich log. Sagte, doch, aber meine Frau sei ganz froh, mich für ein paar Wochen los zu sein.

My wife – Hanna hätte sich verbeten, dass ich sie immer noch so nannte.

Die Dame sagte, es gebe in Kanada nichts, was es hier in Colorado nicht auch gebe: Flüsse voller Forellen und Lachse, gute, reine Luft, Einsamkeit – »Männer müssen manchmal allein sein. Aber so lange? Glauben Sie mir, Ihre Frau vermisst sie. Sie liebt Sie, deshalb hält sie Sie nicht zurück. Aber wenn sie sagt, dass es ihr recht ist – glauben Sie mir, das stimmt nicht.«

Ihr Bandit spuckte ein paar Münzen aus. Sie kratzte sie aus dem Spender und sagte, jagen könne ich auch hier in Colorado. Maultierhirsche, Wapitis, nördlich von Denver. Schneeziegen, sogar Schwarzbären.

»Ich fahre nicht zum Jagen nach Kanada«, sagte ich. Sondern es sei eine Recherche-Reise.

»Recherche?«

»Ich bin Schriftsteller. Ich will ein Buch schreiben, über die Arapaho.«

»Oh!«, sagte sie. »Ein Schriftsteller! Ich dachte mir schon, dass Sie nicht mit den Händen arbeiten. Aber wieso schreiben Sie denn ein Buch über Indianer?«

»Warum nicht?«

Sie sagte, wenn schon, müsse ich dann aber auch schreiben, dass viele anständige Menschen hier in

Unversehens steckte ich mittendrin in einer fünfhundertjährigen Auseinandersetzung. Ich hatte mich im Casino nur ein wenig umsehen wollen, musste jetzt aber eine Entscheidung treffen: Schweigen? Höflich lächeln? Oder mich zu meinem Urgroßvater bekennen?

»Und dann kassieren die auch noch das Geld vom Casino«, sagte die Dame, »das sie uns aus der Tasche ziehen!«

Ich lächelte höflich und sagte: »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass mein Urgroßvater ein Arapaho war. Möglicherweise hat er Ihrem Urgroßvater einen Pfeil in den Hintern geschossen. Ist das nicht Ironie des Schicksals?«

Sie stutzte.

»Ach so«, sagte sie. »Dann will ich Ihnen mal was sagen: Wissen Sie, wie viele hier in der Gegend indianische Vorfahren haben? Eine ganze Menge. Sie sagen, Ihr Urgroßvater war Arapaho? Na und? Meine Urgroßmutter war eine Cheyenne. Und er da, der kräftige Kerl da drüben, der mit dem roten Hemd, sehen Sie? Das ist Jack, mein Nachbar. Seine Großmutter war eine Ute. Aber er hockt nicht im Reservat rum

Sie lachte herzerwärmend. Ich kaufte zwei Bierdosen, und wir sprachen eine Weile über die Grundstückspreise hier in Colorado im Vergleich zu denen in Deutschland.

 

Ich verabschiedete mich und ging auf mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und dachte an Hanna.

My wife –

Ich dachte nichts Bestimmtes über sie, ich saß nur da, und es ging um Hanna, aber um nichts Konkretes.

Als ich es überwunden hatte, legte ich mich hin und las Kafka. Ich hatte mir seine Erzählungen mitgenommen, nun las ich die Geschichte von Sancho Pansa, und da mich die Fliege, die mit mir im Zimmer war, störte, hieb ich mit der aufgeklappten Taschenbuchausgabe nach ihr. Dabei flatterte ein kleines gelbes Zettelchen zu Boden, das zwischen den Seiten gesteckt hatte. Ich erinnerte mich sofort. Vor zehn Jahren

 

Jemand klopfte an meine Tür. Ich öffnete und stand einem großen schweren Ute gegenüber, dem die schwarzen Haare an der Stirn klebten und der sich mit einer dunklen, angenehmen Stimme als Ned Cloud, Motelmanager, vorstellte. Er entschuldigte sich: Die Klimaanlage sei defekt. Er bot mir an, mir einen Tischventilator zu bringen. Als ich dankend ablehnte, offerierte er mir ein Bier on the house. Ich hatte noch den

 

Wir setzten uns in die Bar des Casinos, deren Theke mit Mosaiksteinen ausgelegt war, die eine altrömische Trinkszene zeigte: Zwei Männer mit Traubenkränzen um die Stirn lagen mit erhobenen Bechern auf ihren Triclinia, ein Sklave goss aus einer Amphore Wein nach. Der betreffende Innenarchitekt war der Meinung gewesen, dass zu dieser antiken Szene am besten eine über der Bar montierte LED-Leuchtschrift passte, über die die Anfangszeiten der Bingo-Spiele rollten, versehen mit drei Ausrufungszeichen. Die Barhocker hatte er in einem Antic Shop gekauft, es waren Sessel mit rotem Plüschbezug und goldenen Voluten unten an den Füßchen.

Ned Cloud trug Schlangenleder-Stiefel, aus Sidewinder-Haut, ich hatte solche Stiefel auf der Herfahrt in einem Western-Shop gesehen und auch ihren Preis. Sie waren sehr teuer, und er trug sie an einem normalen Arbeitstag. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig, mein Alter – das hieß, er war in der Vor-Casino-Zeit aufgewachsen und hatte als Kind vermutlich noch Strohschuhe getragen. Er saß breitbeinig auf seinem Barstuhl, der wie eine merkwürdige Stelze aus ihm herauswuchs. Cloud ruhte auf dieser Stelze in Würde; mir gefielen sein vertrauenswürdiger Blick und die Traurigkeit seiner Gestalt.

 

»Sehr gut!«, sagte Cloud.

Ich fragte ihn, weshalb er sich Ned Cloud nenne? In Anspielung auf Red Cloud, den berühmten Oglala-Chief?

»Nein, weil ich Ned heiße«, sagte er. »Edward. Als ich geboren wurde, wussten meine Eltern, dass sie mir keine Ausbildung finanzieren konnten. Also gaben sie mir einen vornehmen englischen Namen, das kostete nichts. Sie hofften, dass mir der Name bei den Wasichu hilft, wenn ich einen Job suche. Dass die Wasichu dann denken: Oh, er heißt Edward, na dann kann man ihm ja die Kasse anvertrauen. Meine Eltern waren Christen, weißt du. Liebe Menschen, die jeden Sonntag zur Kirche gingen. Sie waren beide in der Missionsschule aufgewachsen, bei den Jesuiten. Wenn sie Núapaghapi sprachen, ihre Muttersprache, kriegten sie Prügel. Das saß bei ihnen so tief, dass sie später, wenn sie mit uns Kindern Núapaghapi sprachen, immer flüsterten, als stünden die Jesuiten mit dem Prügelstock hinter ihnen. Englisch redeten sie laut, aber unsere Sprache flüsterten sie nur.«

 

Er nannte die Weißen Wasichu, was mich insofern ehrte, als er mich wegen meines Urgroßvaters offenbar davon ausnahm. Korrekt wird es Wašíču

 

Jetzt sprach Cloud über seine Zeit beim American Indian Movement. Die Erzählungen eines Veteranen. Es war so interessant, wie wenn Achtundsechziger von ihrer Begegnung mit Rudi Dutschke erzählen und wie man Pflastersteine am besten aus dem Boden stemmt.

Ich hörte ihm trotzdem gerne zu, und jedes Mal, wenn er von den Wasichu sprach, heimelte es mich an, dass er mich nicht mitmeinte. Er erzählte von der Besetzung von Wounded Knee im Jahre 1973, und ich stellte ihn mir auf einem Pferd vor, als Silhouette vor dem grauen Himmel: etwas Großes, Rundes auf etwas Länglichem. Ich ging in der Vorstellung näher ran und hörte das Knacken der Wirbelsäule des Pferdes.

 

»Und dann«, sagte Cloud, in dessen Hand die Bierflasche fast verschwand, »dann hab ich mit Russell Means gefrühstückt. Du kennst den doch? Russell Means?«

»Ja.«

»Na also! Und ich hab mit ihm gefrühstückt!«

 

 

Später sagte Cloud: »Erzähl mir was über deinen Urgroßvater. Was weißt du über ihn?«

»Recht viel. Meine Urgroßmutter hat ein Tagebuch geschrieben, aber erst später, kurz vor ihrem Tod. Eigentlich eine Autobiografie, aber in Tagebuchform. Er hieß Nisono’oho. Sie nannte ihn aber John. John Roman Nose.«

»Ja, Roman Nose, so heißen viele. Die Wasichu nannten uns so. Es ist ein Spottname. So wie John Kraushaar für einen Schwarzen. Wenn deine Urgroßmutter ihn so genannt hat, wird’s nicht die große Liebe gewesen sein. Entschuldige, dass ich das sage …«

»Er hat Bisons gejagt und Gabelhirsche«, sagte ich, »und er führte Krieg gegen die Ute und Shoshonen. In seinem Haar steckten drei Federn, waagrecht. Eine eingekerbte und zwei, an denen ein Büschel Pferdehaar befestigt war. Weißt du, was das bedeutet?«

»Er ist im Kampf verwundet worden und hat zwei Feinde getötet«, sagte Cloud.

»So war es«, sagte ich. Das Licht der Abendsonne

 

Cloud kam wieder auf die Besetzung von Wounded Knee zu sprechen.

»Da waren am Schluss auch einige Arapaho dabei«, sagte er. »Sie kamen wie immer erst, als das Schlimmste vorbei war.« Er lachte, wollte noch etwas über die Arapaho sagen, verlor aber den Faden und sagte stattdessen: »Ja, und eben, John Trudell. Aber wenigstens den kennst du doch?«

»Ich kenne auch Russell Means«, sagte ich.

»Ja, aber Trudell nicht.«

»Doch! Er ist Lakota und wurde in den Siebzigerjahren beschuldigt, zwei FBI-Agenten erschossen zu haben. Seither sitzt er im Gefängnis.«

»Nein, das ist Leonard Peltier! Aber ich rede von

Ich kannte den Film nicht.

»Du kennst diesen Film nicht?«, sagte Cloud. »Was bist du denn für ein Indianer!«

 

War ich Indianer?

 

Alle meine Vorfahren, außer einem, waren Schweizer gewesen. Ich war zu sieben Achteln Schweizer und zu einem Achtel Arapaho. Aber es ist keine numerische Angelegenheit. Die Dame vorhin, bei den Spielautomaten, empfand keine Sehnsucht danach, Cheyenne zu sein wie ihre Urgroßmutter, sie fühlte sich durch ihre Abstammung befleckt. Man entscheidet sich so oder so, aber kalt lässt es niemanden. Selbst die entfernte Abstammung von einem Volk erzwingt eine Einstellung zu ihm. Mir konnten die Hinono’ei nicht gleichgültig sein, und alles, was sie betraf, gewichtete ich anders, als wenn es ein Volk betroffen hätte, mit dem mich keine persönliche Beziehung verband. Beispielsweise erfuhr ich kurz vor meiner Abreise nach Amerika von einem Verbrechen, das in Riverton, einer Stadt an der Grenze zum Reservat der Arapaho, begangen worden war. Ein Weißer hatte dort wahllos auf Arapaho geschossen und zwei Arapaho getötet. Mein Urgroßvater wiederum war im Jahre 1890 im Alter von achtundzwanzig Jahren in Fort Washakie von einem

 

Ja, ich bin Indianer. Ich bin auch Schweizer und Berliner, aber ich bin es nicht mehr, als ich Indianer bin, ungeachtet dessen, dass auf der einen Seite sieben direkte Vorfahren stehen und auf der anderen nur einer. Das Herz zählt nicht nach. Es geht nicht buchhalterisch vor. Angenommen, ich nähme an einer Amerikareise teil als Mitglied einer Schweizer Reisegruppe. Und bei einem Besuch der Wind River Reservation, in der die Nördlichen Arapaho wohnen, würde ein Schweizer im Scherz sagen, Hoffentlich werden wir hier nicht alle skalpiert, so wäre ich sogleich gegen ihn eingestellt, und zwar auf andere Weise als ein anderer Schweizer Teilnehmer, der solche Scherze aus

 

Um Mitternacht saßen Cloud und ich auf einer Bank aus Gussbeton auf dem Parkplatz des Casinos. Es war still. Einsame Nacht. Über uns ein Sternenhimmel, der aussah wie ein mit Puderzucker bestreuter Schokoladenkeks. Man konnte in diesen Weihnachtshimmel tief hineinsehen, wenn man die Leere nicht fürchtete. Es sah aus wie Fülle und Weite, aber es war Leere und das Nichts, die völlige Bedeutungslosigkeit jedes Atemzugs, jedes Herzschlags, jedes Gedankens, jedes Gefühls. Das Nichts kam in Gestalt der Unendlichkeit daher, und die Endlichkeit in Gestalt zweier betrunkener Männer, die aber noch mehr Bier soffen. Ich dachte, dass sich in zehntausend Jahren niemand mehr an die Arapaho, die Ute, die Deutschen und die Schweizer erinnern wird, nicht einmal an die Chinesen. Archäologen werden Ruinen freilegen und Knochen datieren und sie in Epochen einordnen,

 

On the long run we didn’t exist.

 

Zu hören war das leise Scheppern eines Gegenstandes, an dem der Wind rüttelte. Auf einer Anhöhe stand ein Haus, hinter dessen Fenster das blaue Licht eines Fernsehers anzeigte, dass hier jemand seine kurze Zeit des Aufleuchtens auf bemitleidenswerte Weise vergeudete. Cloud und ich tranken wenigstens. Das war der Versuch, sich zu verlieren unter dem drohenden Sternenhimmel: Wir übten schon mal das Verschwinden.

 

»Meine Frau mag es nicht, wenn ich Bier trinke«, sagte er. »Das verstehe ich. Schlechte Erfahrungen. Vater, Großvater, ihr Bruder, alle Säufer. Aber ich hab’s unter Kontrolle. Ich trinke nur so viel, wie mit Gewalt reingeht.«

»Eine Million Menschen weltweit würden für den Bestand der Art genügen«, sagte ich, und Cloud sagte: »Was?«

»Ich sagte, es würde reichen, wenn es nur eine Million Menschen gäbe. Oder auch nur eine halbe. Sogar hunderttausend würden reichen. Mehr braucht’s nicht, um die Art zu erhalten. Aber jetzt klopfen sieben Milliarden Herzen, in diesem Moment, stell dir das vor. Wieso hört man das eigentlich nicht? Das müsste man doch eigentlich hören. Sieben Milliarden Herzen!«

Ich hätte nicht so viel trinken dürfen, ich sah meine Kardiologin vor mir, wie sie die Hände zusammenlegte und sie bittend vor- und zurückbewegte. Tun Sie mir den Gefallen, sagte sie, Nein, tun Sie sich den Gefallen. Es ist einfach Gift für Leute mit Herzrhythmusstörungen, jaja. Ich griff in meine Hosentasche, holte eine Metoprolol-Tablette heraus, schluckte sie und fühlte mich jetzt geschützter. Seit zwei Jahren litt ich unter Herzrhythmusstörungen und fraß diese Betablocker wie das Pferd den Hafer.

Cloud sagte: »Jedenfalls will ich ihr das ersparen.«

»Meiner Frau. Ich übernachte heute draußen. Im Auto. An meinem Platz.«

»Ein Platz?«

»Ja, mein Platz. Fünfundzwanzig Meilen westlich von hier. Dort hab ich mal eine tote Fähe gefunden.«

»Was ist das?«

»Eine Füchsin. Sie war tot. Weil ich sie erschossen hatte. Es war eine dunkle Nacht, Neumond. Als ich die Fähe sah, hielt ich sie für einen Koyoten und drückte ab. Ist das nicht seltsam? Wegen der schlechten Sicht konnte ich eine Fähe nicht von einem Koyoten unterscheiden. Aber getroffen hab ich sie trotzdem.«

»Ja, das ist seltsam.«

»Du kannst mitkommen. Warum nicht? Doch, komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen. Ja, ich glaube, es wäre gut, wenn du das siehst. Meinen Platz. Er ist so eine Art …« Er sprach nicht weiter.

 

Eine Fledermaus flitzte herum. Sie existierte noch viel gründlicher nicht als wir. Wer sollte sich in zehntausend Jahren an sie erinnern? Sie flog unter dem Radar der Existenz. Sie existierte genau genommen schon jetzt nicht, denn wenn sie morgen starb, würde das von niemandem bemerkt werden. Vielleicht von ihren Fledermausfreunden. Aber die besaßen nicht die Fähigkeit des Erinnerns. Nein, sie existierte nicht. Jetzt nicht und niemals.

 

 

»Schöner Wagen.«

»Ja, kommt aus Deutschland. BMW. Ich kaufe keine amerikanischen Autos«, sagte Cloud grimmig.

 

Wir fuhren an den letzten Lichtern Ignacios vorbei und tauchten in die Dunkelheit ein. Hier gab es nur noch die Scheinwerfer. Ich schaute zum Fenster hinaus und sah mich. Dahinter Schwärze.

Cloud bemühte sich, durch viel Lenkerei den Wagen auf der ungepflasterten Straße zu halten, die stetig schmaler wurde. Einmal verpasste er eine Kurve,

Die Sterne –

Wenn mein Urgroßvater nachts zu ihnen hinaufblickte, sah er die Lagerfeuer seiner Ahnen. Nach ihrem Tod versammelten sie sich um die Feuer, die zwar unerreichbar waren, aber doch in seiner Welt sichtbar. Er konnte das Flackern der Feuer erkennen. Seine Mutter saß dort und schürte das Feuer, um das seine Großeltern saßen und deren Eltern und deren Eltern, deren Namen er alle kannte, weil sie an den Feuern in den Dörfern genannt wurden, damit jeder sie sich merkte. Für meinen Urgroßvater war der Sternenhimmel ein Familienalbum, und überall, wo eines dieser Feuer loderte, war auch ein Gesicht und eine Geschichte. Es verhielt sich wie mit dem Fluss, an dem das Tipi meines Urgroßvaters stand, und wie mit den Büffeln, dem Wind, dem Schnee: Die Natur befand sich in seinem Innern, und der Nachthimmel funkelte in ihm und nicht außerhalb. Aus diesem Grund, weil die Welt für ihn buchstäblich nichts Objektives war, hätte er niemals zum Mond fliegen können. Das konnten nur die Wasichu, die die Sterne als Objekte klassifizierten, die keine andere Bedeutung hatten als die beobachtbare – wogegen ich nichts gesagt haben will. Es konnten auch nur die Wasichu Anästhetika entwickeln und Metoprolol. Aber wie tröstlich muss es für meinen Urgroßvater gewesen sein, dass er nach dem

 

Wir fuhren und fuhren.

»Hast du Kinder?«, fragte mich Cloud. Er hatte mich das vor zwei Stunden in der Casino-Bar schon gefragt.

»Ja. Einen Sohn.«

»Ich auch. Auch einen Sohn.«

»Ich weiß.«

»Und seine Mutter? Deine Frau? Ist sie auch Schweizerin?«

»Ja. Aber wir sind geschieden.«

»Schade. Und dein Sohn? Macht es ihm etwas aus, dass er Schweizer ist?«

»Nein. Ich glaube nicht. Warum?«

»Er sagt zu dir nicht: Ich bin kein Schweizer mehr. Ich bin jetzt … Italiener?«

»Nein. Warum sollte er das tun? Er ist kein Italiener.«

»Ja. Aber bei meinem Sohn ist das anders. Es begann bei ihm mit fünfzehn: Plötzlich gefiel es ihm nicht mehr, ein Ute zu sein. Er kam nicht mehr zu den Powwows mit, er sagte, er will sich nicht wie ein Clown verkleiden. Wie ein Clown! Er nannte unsere traditionellen Kleider Clownkleider! Ich weinte. Ja, ich weinte, als er das sagte. Er zerschnitt das Band, und er tat es gründlich. Er sprach nicht mehr Núapaghapi, kein Wort mehr. Nur noch Englisch. Ich