Cynthia d’Aprix Sweeney
DAS NEST
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Nicolai von Schweder-Schreiner
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Nest«
im Verlag HarperCollins, New York
Copyright © 2016 by Cynthia D’Aprix Sweeney
Für die deutsche Ausgabe
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlag: ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München
Unter Verwendung von Abbildungen von CSA-Printstock/i-stockphoto
Mit einem Zitat aus James Joyce: Dubliner.
Aus dem Englischen von Harald Raykowski.
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2012
dtv Verlagsgesellschaft, München.
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98000-4
E-Book: ISBN 978-3-608-10015-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Prolog
Teil I
Snowtober
1
2
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5
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Teil II
Der Kuss
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Teil III
Findet Leo
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Epilog
Danksagung
Für meine Familie:
meine Eltern Roger und Theresa, meine Schwester Laura
und meine Brüder Richard und Tony – für die es alle nichts
Schöneres gibt als eine gute Geschichte.
That’s how I knew this story would break my heart
When you wrote it
That’s how I knew this story would break my heart
AIMEE MANN,
THE FORGOTTEN ARM
Während die anderen Gäste unter einem Sommerabendhimmel über die Terrasse des Beach Clubs flanierten, wo sie verkniffen an ihren Cocktails nippten, um zu überprüfen, ob die Barkeeper auch wirklich den besten Stoff verwendeten, auf Papierservietten kleine Crab Cakes balancierten und dabei passend bemerkten, was für ein Glück sie mit dem Wetter hätten, morgen solle es ja wieder schwül werden, oder Unpassendes über das zu enge Satinkleid der Braut murmelten und sich fragten, ob das ausladende Dekolleté schlecht geschnitten oder schlechter Geschmack war (ein Look, wie ihre eigenen Töchter sagen würden) oder einer überraschenden Gewichtszunahme zu verdanken, und sich dann zuzwinkerten und witzelten, bald müsse sie wohl die Toaster gegen Windeln eintauschen, verließ Leo Plumb die Hochzeit seines Cousins mit einer der Kellnerinnen.
Leo war sowohl seiner Frau Victoria aus dem Weg gegangen, die kaum ein Wort mit ihm redete, als auch seiner Schwester Beatrice, die gar nicht aufhören wollte zu reden und die ganze Zeit von einem Treffen zu Thanksgiving faselte. Thanksgiving. Im Juli. Leo hatte wahrscheinlich seit zwanzig Jahren keinen Feiertag mehr mit der Familie verbracht, seit Mitte der Neunziger, wenn er sich recht erinnerte, und er hatte bestimmt keine Lust, jetzt damit anzufangen.
Leicht angetörnt und auf der Suche nach einer angeblich leeren Außenbar entdeckte Leo Matilda Rodriguez mit einem Tablett Champagnergläser. Von einem funkelnden Leuchten umgeben schob sie sich durch die Menge – teils weil die untergehende Sonne die Ostspitze von Long Island in ein unanständiges Rosa tauchte, teils dank des wirklich exzellenten Kokains, das Leos Synapsen ordentlich durcheinanderwirbelte. Die auf- und absteigenden Perlen in Matildas Gläsern erschienen ihm wie eine Einladung, eine Aufforderung nur an ihn. Das kräftige dunkle Haar hatte sie zu einem zweckdienlichen Knoten zusammengebunden, aus dem runden Gesicht strahlten tiefschwarze Augen und knallrote Lippen. Leo beobachtete ihren eleganten Hüftschwung, während sie sich an den Hochzeitsgästen vorbeischlängelte und das jetzt leere Tablett wie eine Fackel hoch über dem Kopf trug. Er schnappte sich einen Martini von einem Kellner und folgte ihr durch die aufschwingende Edelstahltür in die Küche.
Und so kam es, dass Matilda (neunzehn, aufstrebende Sängerin und zurückhaltende Kellnerin) eben noch den fünfundsiebzig Angehörigen und engen Freunden der Familie Plumb Champagner serviert hatte und im nächsten Moment in Leos nagelneuem geleasten Porsche in Richtung Long Island Sound raste, die Hand auf seiner zu engen Leinenhose, und mit dem Daumen ungeschickt die Unterseite seines Penis bearbeitete.
Anfangs hatte sie sich gewehrt, als Leo sie am Handgelenk in eine Abstellkammer ziehen wollte und mit Fragen bombardierte: »Wer bist du? Woher kommst du? Was machst du sonst? Bist du Model? Schauspielerin? Weißt du, wie schön du bist?«
Matilda wusste, was Leo wollte, sie wurde bei solchen Veranstaltungen dauernd angemacht, normalerweise allerdings von viel jüngeren Männern – oder grotesk viel älteren, steinalten – mit den üblichen lahmen Sprüchen und bornierten Schmeicheleien. (Ständig verglich man sie mit J. Lo, obwohl sie ihr überhaupt nicht ähnlich sah, außerdem waren ihre Eltern aus Mexiko und nicht aus Puerto Rico). Selbst für diese wohlhabenden Kreise kam ihr Leo unverschämt gutaussehend vor, ein Wort, das sie sonst niemals für jemanden benutzt hätte, dessen Aufmerksamkeit sie fast ein wenig genoss. Scharf hätte sie vielleicht gedacht oder süß oder sogar umwerfend, aber gutaussehend? Die Jungs, die sie kannte, waren noch nicht gutaussehend. Matilda betrachtete Leos Gesicht und versuchte herauszufinden, was genau ihn gutaussehend machte. Genau wie sie hatte er dunkle Augen, dunkles Haar und dichte Augenbrauen. Nur dass seine Züge eher kantig und scharf waren und ihre rund und weich. Im Fernsehen würde er jemand Angesehenen spielen – einen Chirurgen vielleicht, und sie wäre die sterbenskranke Patientin, die von ihm geheilt werden wollte.
Durch die Tür der Speisekammer hörte sie die Band – eigentlich eher ein Orchester, das mussten mindestens sechzehn Musiker sein – das gängige Hochzeitsprogramm spielen. Leo nahm sie bei den Händen und fing einen kleinen Two Step mit ihr an. Er sang ihr ins Ohr, und seine Stimme klang angenehm lebendig und voll. »Someday, when I’m awfully low, when the world is cold, I will dah-dah-dum just thinking of you, and the way you look tonight.«
Matilda schüttelte den Kopf, lachte kurz und wand sich aus seinem Griff. Leos Aufmerksamkeit war ihr unangenehm, andererseits brachte sie auch etwas tief in ihr zum Klingen. Und hier in der Kammer seine Avancen abzuwehren war immer noch interessanter, als in der Küche Spargel in Schinken einzuwickeln, was sie eigentlich hätte tun sollen. Als sie ihm schüchtern verriet, sie wolle Sängerin werden, bot er sofort an, sie seinen Freunden bei Columbia Records vorzustellen, die seien immer auf der Suche nach neuen Talenten. Er kam wieder näher, und wenn es sie auch kurz beunruhigte, dass er stolperte und sich an der Wand abstützen musste, verflog ihre Sorge doch gleich wieder, als er wissen wollte, ob sie ein Demo habe, irgendwas, das sie sich in seinem Wagen anhören könnten.
»Denn wenn mir das gefällt«, sagte Leo und nahm ihre langen, zarten Finger in seine, »dann würde ich gern Nägel mit Köpfen machen und dich den richtigen Leuten vorstellen.«
Während Leo Matilda unauffällig am Parkservice vorbeimanövrierte, warf sie einen Blick zurück zur Küchentür. Ihr Cousin Fernando hatte ihr den Job besorgt, er würde bestimmt stinksauer, wenn er herausfand, dass sie einfach so abgehauen war. Aber Leo hatte Columbia Records gesagt. Und dass sie immer auf der Suche nach neuen Talenten waren. Wann bekäme sie noch mal so eine Gelegenheit? Sie würde ja auch nicht lange wegbleiben, gerade mal lang genug, um einen guten Eindruck zu machen.
»Als Mariah von Tommy Mottola entdeckt wurde, war sie Kellnerin«, sagte sie, halb im Scherz, aber auch um ihr Verhalten zu rechtfertigen.
»Wirklich?« Leo schob sie weiter in Richtung Wagen und musterte dabei die Fenster des Beach Clubs über ihnen. Victoria könnte ihn von der Seitenterrasse aus sehen, wo die anderen versammelt waren, und es war durchaus wahrscheinlich, dass sie seine Abwesenheit inzwischen bemerkt hatte und wutentbrannt die Anlage nach ihm absuchte.
Matilda blieb an der Wagentür stehen und streifte ihre schwarzen Leinenschuhe ab. Aus einer Plastiktüte holte sie ein Paar silberne Stöckelschuhe.
»Du musst deswegen wirklich keine anderen Schuhe anziehen«, sagte Leo und widerstand gerade noch der Versuchung, hier vor allen Leuten seine Hände um ihre schmale Taille zu legen.
»Aber ich bekomme doch einen Drink, oder?«, fragte Matilda.
Hatte Leo etwas von einem Drink gesagt? Das war praktisch unmöglich. Jeder in diesem winzigen Ort kannte ihn, seine Familie, seine Mutter, seine Frau. Er trank seinen Martini aus und warf das leere Glas ins Gebüsch. »Wenn die Dame einen Drink möchte, kriegt sie auch einen«, sagte er.
Matilda stieg in ihre Sandaletten und schlang einen schmalen Riemen um die linke Ferse, dann um die rechte. Sie kam wieder hoch, auf Augenhöhe mit Leo. »Ich hasse flache Schuhe«, sagte sie und zog ihre taillierte weiße Bluse ein Stück runter. »In den Dingern komm ich mir insgesamt so flach vor.« Leo schob Matilda praktisch auf den Beifahrersitz, wo sie hinter den getönten Scheiben nicht mehr zu sehen war.
Matilda konnte es kaum glauben, als sie ihre blecherne, nasale Stimme aus den schon fast unanständig hochwertigen Lautsprechern kommen hörte. Aus den alten Dell-Boxen ihrer Schwester klang sie so anders. So viel besser.
Leo klopfte mit der Hand aufs Lenkrad. Sein Ehering glitzerte im Licht der Innenbeleuchtung. Verheiratet war ganz klar gegen Matildas Regeln. Sie konnte sehen, wie Leo versuchte, interessiert zu wirken, etwas an ihrer Stimme zu finden, etwas Schmeichelhaftes, das er ihr sagen konnte.
»Ich hab noch bessere Aufnahmen. Ich glaub, ich hab die falsche Version runtergeladen«, sagte Matilda. Sie spürte, wie ihre Ohren vor Scham heiß wurden. Leo sah aus dem Fenster. »Ich geh lieber zurück.« Sie fasste nach dem Türgriff.
»Bleib«, sagte Leo und legte seine Hand auf ihr Bein. Sie widerstand dem Impuls zurückzuweichen und setzte sich aufrecht hin. Ihre Gedanken überschlugen sich. Womit konnte sie sein Interesse wachhalten? Sie hasste kellnern, aber Fernando würde sie umbringen, wenn sie jetzt einfach verschwand. Leo starrte auf ihre Brust. Sie senkte den Blick und entdeckte einen Spritzer Balsamico auf ihrer schwarzen Hose. Zig Liter hatte sie angerührt. Mit dem Fingernagel kratzte sie über den Fleck. Drinnen richteten sie jetzt wahrscheinlich den Salat und die gegrillten Shrimps an und drückten das Dressing aus den Flaschen um den Tellerrand herum, in einem Muster, das wie Wellen aussehen sollte, wie wenn ein Kind das Meer malt. »Ich würde gern ans Meer«, sagte sie leise.
Und dann, so langsam, dass sie es erst gar nicht richtig begriff, nahm Leo ihre Hand in seine (einen idiotischen Moment lang dachte sie, er wolle sie, die Hand, küssen, wie in einer der Telenovelas ihrer Mutter) und legte sie in seinen Schoß. Sie würde sich immer an seinen Blick erinnern. Er schloss nicht die Augen oder legte den Kopf zurück oder stürzte sich auf sie, um sie plump zu küssen oder an ihrer Bluse herumzunesteln, er sah ihr einfach nur ganz lange in die Augen. Er sah sie.
Sie spürte, wie er unter ihrer Hand reagierte. Während Leo ihrem Blick standhielt, übte sie mit ihren Fingern leichten Druck aus, worauf sich das Kräfteverhältnis im Wagen augenblicklich zu ihren Gunsten verschob. »Ich dachte, wir fahren ans Meer«, sagte sie. Sie wollte möglichst außer Sichtweite der Küche sein. Er grinste und legte den Rückwärtsgang ein. Noch bevor er sich anschnallen konnte, hatte sie ihm den Reißverschluss geöffnet.
Man konnte es Leo kaum übel nehmen, dass er so schnell kam. Seine Frau ließ ihn schon seit Wochen nicht mehr ran, nachdem sie ihn im Sommerhaus von Freunden mit einer Babysitterin erwischt hatte. Auf der Fahrt ans Wasser hoffte Leo, die Kombination aus Alkohol, Kokain und Wellbutrin würde seine Reaktion hinauszögern, aber sobald Matildas Hand sich in Bewegung setzte, wusste er, dass alles zu schnell ging. Er schloss kurz die Augen – nur ganz kurz –, um sich zu sammeln und nicht mehr das berauschende Bild ihrer Finger vor sich zu haben, die hellblauen Nägel, die langsam auf und ab fuhren. Leo sah ihn nicht mal, den SUV, der von rechts über die Ocean Avenue direkt auf sie zuraste. Dass das Kreischen in seinen Ohren nicht Matildas Stimme aus der Anlage war, sondern etwas ganz anderes, merkte er erst, als es zu spät war.
Keiner von beiden hatte auch nur Zeit zu schreien.
TEIL I
Da die drei Plumbs am Abend zuvor am Telefon übereingekommen waren, in Gegenwart ihres Bruders Leo nicht zu trinken, saßen sie alle – ohne Wissen der anderen – in verschiedenen Bars am Grand Central und gönnten sich vor dem Mittagessen heimlich einen Cocktail.
Es war ein merkwürdiger Herbstnachmittag. Zwei Tage zuvor war ein Nordoststurm über die mittelatlantische Küste gefegt und auf eine Kaltfront aus Richtung Ohio und ein aus Kanada einziehendes arktisches Tiefdruckgebiet geprallt. Der so entstandene Blizzard hatte zu teilweise rekordverdächtigen Schneefällen geführt und mit einem überraschend frühen Wintereinbruch ganze Städte von Pennsylvania bis Maine eingeschneit. In dem kleinen Vorort dreißig Meilen nördlich von Manhattan, wo Melody Plumb lebte, trugen die meisten Bäume noch ihr Herbstlaub, und viele von ihnen wurden vom Schnee und Eis zerstört oder beschädigt. Die Straßen waren übersät von Ästen, in manchen Gegenden war der Strom ausgefallen, der Bürgermeister sprach davon, Halloween abzusagen.
Trotz der anhaltenden Kälte und den vereinzelten Stromausfällen verlief Melodys Fahrt nach Manhattan ohne Zwischenfälle. Sie saß in der Lobby Bar vom Hyatt Hotel an der 42nd Street, wo sie ihren Geschwistern auf keinen Fall zufällig begegnen würde. Sie hatte vorgeschlagen, sich dort zum Lunch zu treffen anstatt wie üblich in der Oyster Bar vom Grand Central. Jack und Beatrice hatten sich lustig über sie gemacht, zumal das Hyatt nicht unbedingt auf der Liste von Orten stand, die sie für akzeptabel hielten, weil sie irgendwelchen obskuren Kriterien entsprachen, an deren Entschlüsselung Melody null Interesse hatte. Sie wollte sich den beiden nicht länger unterlegen fühlen, nur weil sie ihre Verehrung für das alte Manhattan nicht teilte.
Melody saß an den hoch aufragenden Fenstern auf der oberen Etage der riesigen Lobby (die, wie sie zugeben musste, alles andere als einladend war – zu groß, zu grau, zu modern, an der Decke eine grauenhafte Skulptur aus Stahlrohren, sie konnte quasi Jacks und Beas spitze Kommentare hören und war froh, dass sie nicht da waren), bestellte das billigste Glas Weißwein (zwölf Dollar, mehr als sie zu Hause für eine ganze Flasche ausgab) und hoffte, der Barkeeper schenkte großzügig ein.
Für die Jahreszeit war es immer noch ungewöhnlich kalt, aber die Sonne kam endlich raus und die Temperaturen stiegen allmählich an. Die Schneehaufen an den Kreuzungen schmolzen zu unwegsamen Lachen aus Matsch und Eis. Melody sah eine auffallend unelegante Frau beim Sprung über eine Pfütze die andere Seite um Zentimeter verfehlen und mit einem roten Ballerina mitten im wahrscheinlich eiskalten, schmutzigen Wasser landen. Melody hätte zu gern solche Schuhe besessen und sich gehütet, sie bei diesem Wetter zu tragen.
Ein wenig besorgt dachte sie an ihre Töchter, die unterwegs nach Uptown waren und ebenfalls mit tückischen Straßenecken zu kämpfen hatten. Sie nippte an ihrem Wein (so lala), holte ihr Handy raus und öffnete ihre Lieblings-App, Nora nannte sie Stalkerville. Sie drückte auf »Finden« und wartete darauf, dass die Karte geladen wurde und die Punkte, die ihre sechzehnjährigen Zwillinge darstellten, auf dem Bildschirm erschienen.
Für Melody grenzte es an ein Wunder, auf diesem kleinen Gerät verfolgen zu können, wo Nora und Louisa sich aufhielten, solange sie ihre Handys dabeihatten, und die beiden waren Teenager, sie hatten sie immer dabei. Während die Karte sich aufbaute, spürte sie das vertraute nervöse Herzklopfen, bis die pulsierenden blauen Pünktchen und das Wort »Gefunden!« am oberen Rand auftauchten und ihr zeigten, dass die Mädchen genau da waren, wo sie sein sollten, im SAT-Tutorium-Center.
Seit über einem Monat besuchten sie dort einen Wochenendkurs, und normalerweise verfolgte Melody vom Küchentisch aus, wie die blauen Punkte vom Grand Central in Richtung Norden hochglitten, so wie sie es ihnen beschrieben hatte: Vom Bahnhof sollten sie an der Madison Avenue den Bus bis zur 59th Street nehmen, dort aussteigen und dann in westlicher Richtung bis zum Tutorium-Center an der 63rd Street, Ecke Columbus Ave laufen. Und zwar nicht am Park entlang, sondern auf der südlichen Straßenseite, vorbei an den uniformierten Portiers, die ihre Hilfeschreie hören würden, falls sie in Schwierigkeiten gerieten. Es war ihnen streng verboten, den Central Park zu betreten oder überhaupt von ihrer Route abzuweichen. Jede Woche jagte Melody ihnen Angst ein, indem sie ihnen Geschichten von Mädchen erzählte, die entführt und zur Prostitution gezwungen oder ermordet und in den Fluss geworfen wurden.
»Die Upper West Side ist doch nicht Kalkutta«, versuchte ihr Mann Walter sie zu beschwichtigen. Aber sie hatte Angst. Bei dem Gedanken, dass ihre Töchter unbeaufsichtigt in der Stadt unterwegs waren, bekam sie Herzrasen und feuchte Hände. So wie jetzt. Als sie morgens zusammen am Grand Central ausgestiegen waren, wollte sie sie erst gar nicht gehen lassen. Samstags war der Bahnhof voller Touristen, die auf Reiseführer, Handys und Zugfahrpläne starrten oder die Whispering Gallery suchten. Sie hatte ihnen einen Abschiedskuss gegeben und ihnen nachgeschaut, bis ihre Köpfe – der eine blond, der andere brünett – nicht mehr zu sehen waren. Sie bewegten sich wie selbstverständlich in der Menge, so als gehörten sie in diese Stadt, was Melody Sorge bereitete. Sie wollte, dass sie zu ihr gehörten, dass sie so blieben, wie sie waren. Sie wollte nicht, dass sie älter wurden. Die Mädchen vertrauten ihr nicht mehr alles an, jede Sorge, jeden Wunsch und jeden Gedanken, so wie früher, sie wusste nicht mehr, was in ihren Herzen und Köpfen vorging. Melody war klar, dass sie loslassen und sie sich abnabeln lassen musste, das war nun mal der Lauf der Dinge. Sie wollte, dass sie stark und unabhängig und glücklich waren – vor allem glücklich –, aber dass sie nicht mehr über ihr Innenleben Bescheid wusste, machte ihr zu schaffen. Wenn sie schon keinen direkten Einfluss mehr darauf nehmen konnte, wie sie sich durch die Welt bewegten, konnte sie ihnen wenigstens dabei zusehen, hier in ihrer Hand. Wenigstens das.
»Leo gibt euch das Geld nie zurück«, hatte Walter gesagt, als sie zum Bahnhof aufbrach. »Das könnt ihr vergessen, ihr vergeudet nur eure Zeit.«
Obwohl Melody befürchtete, dass er recht hatte, musste sie das Gegenteil glauben. Sie hatten sich einen Batzen Geld geliehen, um das Haus zu kaufen, ein kleines, aber historisches Gebäude in einer der schönsten Straßen ihrer Stadt, und kurz darauf waren die Wirtschaft zusammengebrochen und die Immobilienpreise gesunken. Die Hypothekenraten, die sie sich so schon nicht leisten konnten, stiegen durch die Zinsschwankungen noch weiter an. Mit dem wenigen Eigenkapital war eine Umschuldung unmöglich. Bald stand das College an, und sie hatten so gut wie nichts auf der Bank. Melody hatte sich immer auf »Das Nest« verlassen.
Draußen sah Melody die Menschen Handschuhe und Schals ablegen und die Gesichter in die Sonne halten. Sie verspürte eine leichte Genugtuung bei dem Gedanken, den ganzen Nachmittag über drinnen verbringen zu können. Melody saß vor allem deswegen so gern an der Bar vom Hyatt, weil es einen direkten, kaum bekannten Zugang vom Grand Central zum Hotel gab. Zum Mittagessen lief sie einfach durch ihren Geheimgang zurück in den Bahnhof und runter in die Oyster Bar. So verbrachte sie Stunden in der Stadt, ohne auch nur einen zweckmäßig beschuhten Fuß auf die Straße setzen und die Manhattaner Luft einatmen zu müssen, die in ihrer Vorstellung voller kleiner grauer Teilchen war. Als sie und Walt für kurze Zeit in Upper (Upper) Manhattan gewohnt hatten, wo die Zwillinge zur Welt gekommen waren, hatte sie einen erbitterten, wenn auch aussichtslosen Kampf gegen den Ruß geführt. Egal wie oft sie die Holzmöbel mit einem feuchten Tuch abwischte, die dunklen Flöckchen kehrten immer wieder, manchmal innerhalb von Stunden. Das war umso besorgniserregender, als es nicht mal eine ersichtliche Quelle gab. Es kam ihr vor, als manifestierte sich darin der Zerfall der Stadt; all das Gewimmel, die Menschenmengen, zerrieben zu schmutzigem, grauem Staub.
Auf der anderen Seite der Lobby erblickte sie eine Frau mit einem Weinglas in der Hand, und es dauerte einen kurzen Moment, bis sie ihr Spiegelbild erkannte. Ihr Haar war blonder als sonst, sie hatte sich eine helle Tönung besorgt und gehofft, damit die längliche Nase und das kräftige Kinn zu kaschieren, die sowohl sie als auch ihre Schwester Beatrice von den Neuengland-Vorfahren ihres Vaters geerbt hatten. Irgendwie wirkten die ausgeprägten Gesichtszüge sich bei Bea positiv aus (Madame X, wie Leo sie nannte, nach dem Porträt von Sargent), während Melody einfach nur streng aussah. Vor allem um Halloween störte sie ihr Gesicht. Als die Mädchen noch klein waren und sie mit ihnen Kostüme kaufen ging, hatte Nora auf eine Reklame mit einer Hexe vor einem blubbernden Kessel gezeigt – keine besonders hässliche, mit Warzen, grünem Gesicht oder verfaulten Zähnen, aber trotzdem, eine Hexe – und gesagt: »Guck mal! Da ist Mami!«
Melody nahm ihre Rechnung vom Tisch und reichte sie dem Kellner zusammen mit einer Kreditkarte. Er gibt euch das Geld nie zurück, hatte Walt gesagt. Oh doch, das wird er, dachte Melody. Auf keinen Fall würde Leos idiotisches Verhalten, seine Verkommenheit, die Zukunft ihrer Töchter ruinieren, nicht nachdem sie ihnen die großen Träume eingeredet hatte und die beiden so hart dafür gearbeitet hatten. Sie würden ganz bestimmt auf kein staatliches College gehen.
Melody betrachtete erneut die Karte auf ihrem Handy. Es hatte noch einen persönlichen Grund, warum sie die blauen Punkte mit den Wellenbewegungen so gern mochte, sie erinnerten sie an das erste Ultraschallbild, auf dem Walt und sie den doppelten Herzschlag gesehen hatten, zwei unförmige graue Schatten, die arrhythmisch in ihrem Becken schlugen.
»Zwei zum Preis von einem«, hatte man ihnen fröhlich verkündet, während Walt nach ihrer Hand fasste und sie beide erst den Bildschirm anstarrten und dann sich gegenseitig und grinsten, naiv, wie sie waren. Sie wusste noch, wie sie damals gedacht hatte: Besser kann es nicht werden. Und in mancher Hinsicht hatte sie recht gehabt, sie hatte damals schon gewusst, dass sie sich nie wieder so stark fühlen würde, eine so unerschütterliche Beschützerin, nachdem sie diese verletzlichen klopfenden Herzen in die Welt hinausgepresst hatte.
Der Kellner kam jetzt mit besorgter Miene auf sie zu. Sie seufzte und klappte das Portemonnaie wieder auf. »Tut mir leid, Ma’am«, sagte er und gab ihr die Visa-Karte zurück, von der sie gehofft hatte, das Limit wäre noch nicht ausgeschöpft, »aber die nimmt er nicht.«
»Schon okay«, sagte Melody und kramte ihre Ersatzkarte hervor, von der Walt nichts wusste. Er würde sie umbringen, wenn er davon erfuhr. Genauso wie wenn er herausfand, dass das Nachhilfezentrum in der Stadt zwar billiger war als ein Privatlehrer zu Hause, aber immer noch doppelt so teuer, wie sie behauptet hatte, weswegen sie jetzt diese Ersatzkarte brauchte. »Ich hab Ihnen die falsche gegeben.« Sie sah den Kellner zurückgehen und die Karte durchziehen. Beide gaben keinen Laut von sich und atmeten erst aus, als das Gerät den Beleg ausspuckte.
»Ich mag unser Leben«, hatte Walt ihr am Morgen gesagt und sie an sich gezogen. »Ich mag dich. Kannst du nicht ein bisschen so tun, als würdest du mich auch mögen?« Er lächelte, aber sie wusste, dass er sich manchmal Sorgen machte. Sie hatte sich in seine sichere Umarmung fallen lassen, seinen wohligen Geruch eingeatmet – nach Seife, frisch gewaschenem Hemd und Spearmint-Kaugummi. Sie hatte die Augen geschlossen und sich Nora und Louisa vorgestellt, hübsch und schlank, in seidener Kappe und Talar auf dem grünen Campus einer idyllischen Stadt in Neuengland, die erwartungsvollen Gesichter von der Morgensonne beleuchtet, die Zukunft offen vor ihnen ausgebreitet wie ein wallender Ballen Seide. Sie waren so klug, so schön, so ehrlich und liebenswürdig. Sie wollte, dass sie alles bekamen – die Chancen, die Melody nie gehabt hatte, die Gelegenheiten, die sie ihnen versprochen hatte. »Ich mag dich doch, Walter«, murmelte sie an seiner Schulter. »Ich mag dich so sehr. Ich bin es, die ich hasse.«
Am anderen Ende vom Grand Central, eine mit Teppich ausgelegte Treppe hoch, hinter einer Glastür mit der Aufschrift »Campbell Apartment«, ließ Jack Plumb seinen Drink zurückgehen, weil er fand, die Minze sei nicht ordentlich zerdrückt. »Die wurde da einfach reingeworfen, als wäre sie bloß Garnierung und keine Zutat«, erklärte er der Kellnerin.
Jack saß neben seinem Lebensgefährten, mit dem er seit zwanzig Jahren zusammen und seit sieben Wochen verheiratet war. Er war sich sicher, dass die anderen Plumbs diesen Ort nicht kannten, es war das ehemalige Büro eines Zwanziger-Jahre-Tycoons, restauriert und neugestaltet als exklusive Cocktailbar. Beatrice vielleicht, aber der Laden war nicht ihr Stil. Zu konservativ. Zu teuer. Und es gab einen Dresscode. Zuweilen konnte die Bar unangenehm voll mit Pendlern sein, an diesem Samstagmittag zum Glück aber nicht.
»Version 2.0«, sagte Walker, als die Kellnerin den neuen Drink brachte.
Jack probierte einen Schluck. »Ist okay«, sagte er.
»Sorry für die Umstände«, sagte Walker zur Kellnerin.
»Genau«, murmelte Jack, während die Kellnerin sich entfernte, aber laut genug, dass Walker es hören konnte. »Sorry, dass du deine Arbeit machen musst.«
»Sie bringt die Drinks doch nur. Sie mixt sie ja nicht selbst.« Walker blieb freundlich. Jack war schlecht gelaunt. »Warum trinkst du nicht einen schönen großen Schluck und versuchst, dich zu entspannen.«
Jack fischte ein Blatt Minze aus dem Glas und kaute darauf rum. »Darf ich dich mal was fragen?«, sagte er. »Glaubst du wirklich, es hilft, jemandem zu sagen, er soll sich entspannen? Das ist ungefähr so, als würde man jemanden, der hyperventiliert, ermahnen, er soll tief Luft holen, oder jemanden, der erstickt, er soll schlucken. Völlig sinnlos.«
»Ich wollte dich nicht ermahnen, es war nur ein Vorschlag.«
»Du hättest genauso gut sagen können: ›Egal was du tust, denk nicht an einen rosa Elefanten.‹«
»Verstehe«, sagte Walker. »Wie wär’s, wenn ich mich entspanne, und du machst, was du willst.«
»Danke.«
»Ich komme gerne mit zu diesem Lunch, falls das hilft.«
»Das hast du schon ungefähr tausend Mal gesagt.« Walker zu provozieren war gemein und sinnlos, aber Jack hörte trotzdem nicht auf, denn er wusste, dass es für kurze Zeit den Knoten in seinem Bauch lösen würde. Außerdem hatte er tatsächlich überlegt, Walker mitzubringen. Seine Familie mochte es sowieso lieber, wenn er dabei war. Wer nicht? Walker mit seinem polternden Lachen, dem freundlichen Gesicht und seiner unerschöpflichen Gutmütigkeit. Er war so etwas wie ein glattrasierter, etwas schlankerer, schwuler Weihnachtsmann.
Aber Jack konnte Walker nicht mitnehmen. Er hatte den anderen noch nichts von ihrer Hochzeit Anfang September erzählt, zu der sie nicht eingeladen worden waren, weil Jack wollte, dass der Tag perfekt war, und perfekt bedeutete für Jack ohne seine Familie. Er hatte keine Lust, sich Beas Sorgen wegen Leos Unfall anzuhören oder Melodys plumpen Mann, der jedem, der es wissen wollte, erklärte, sein Name sei Walter-nicht-Walker. (Dass Jack und Melody sich Partner mit fast demselben Namen ausgesucht hatten, wurmte sie nach all den Jahren immer noch beide.)
»Tut mir leid, dass ich dich angepflaumt hab«, sagte Jack schließlich.
Walker zuckte mit den Schultern. »Schon okay, Schatz.«
»Tut mir leid, dass ich ein Arschloch bin.« Jack ließ den Kopf kreisen und lauschte auf das bedenkliche, aber irgendwie auch befriedigende leise Knacken, das in letzter Zeit aufgetreten war. Gott, er wurde alt. In sechs Jahren war er fünfzig, und wer wusste, welche Grauen seinen schlanken, aber langsam schlaffer werdenden Körper, sein jetzt schon strapaziertes Gedächtnis und das erschreckend schüttere Haar dann noch erwarteten. Er lächelte matt. »Nach dem Essen geht’s mir bestimmt besser.«
»Egal was gleich passiert, mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«
Jack ließ sich in den ledernden Clubsessel sinken und knackte mit den Fingern, ein Geräusch, das Walker nicht ausstehen konnte. Natürlich dachte Walker, alles würde gut werden. Walker hatte keine Ahnung von Jacks finanziellen Schwierigkeiten (ein Grund mehr, warum Jack ihn nicht beim Lunch dabeihaben wollte, falls sich die Gelegenheit ergeben sollte, Leo klarzumachen, wie viel genau ihn seine kleine Eskapade auf den Seitenstraßen von Long Island kostete). Ihre Altersvorsorge war 2008 empfindlich geschrumpft. In der gemeinsamen Wohnung, in die sie am Anfang ihrer Beziehung gezogen waren, lebten sie zur Miete. Jacks kleiner Antiquitätenladen im West Village hatte nie viel abgeworfen, aber in den letzten Jahren konnte er froh sein, wenn er bei null rauskam. Walker war Anwalt mit eigener Kanzlei und immer der Hauptverdiener in ihrer Beziehung gewesen. Ihre einzige Kapitalanlage war ein bescheidenes, aber gepflegtes Sommerhaus auf dem North Fork, auf das Jack heimlich eine Hypothek aufgenommen hatte. Er hatte sich immer auf das Nest verlassen, nicht nur, um den Kredit zurückzuzahlen, sondern auch, weil es das Einzige war, das er Walker als Beitrag für ihre gemeinsame Zukunft bieten konnte. Jack nahm Leo nicht ab, dass er pleite war. Es war ihm aber auch egal. Er wollte einfach, was ihm zustand.
Jack und Leo waren Brüder, aber keine Freunde. Sie redeten nur selten miteinander. Walker drängte ihn manchmal dazu (»Familie ist immer noch Familie«), aber Jack hatte hart daran gearbeitet, sich von den Plumbs zu lösen, vor allem von Leo. In Leos Beisein fühlte er sich immer wie eine minderwertige Version seines älteren Bruders. Weniger intelligent, interessant und erfolgreich. So war es schon in der Highschool gewesen, und dieses Gefühl war nie ganz weggegangen. Zu Beginn der neunten Klasse hatten Leos Freunde ihn Leo Light getauft, und den Namen war er nicht mehr losgeworden, auch nicht, als Leo schon nicht mehr an der Schule war. Im ersten Monat am College war Jack jemandem aus seiner Heimatstadt begegnet, der ihn reflexartig mit »Hey, Light, wie geht’s?« begrüßte. Jack hätte ihn fast verprügelt.
Die Tür ging auf, und eine Gruppe Touristen platzte in die Bar. Sie brachten kalte Luft mit, zu kalt für Oktober. Eine Frau zeigte jedem ihren klitschnassen Schuh, einen billigen Ballerina in geschmacklosem Rot. »Der ist völlig hinüber«, erklärte sie ihren Begleitern.
»Immerhin, ein Lichtblick«, sagte Jack zu Walker und nickte in Richtung Schuh.
»Du solltest besser nicht zu spät kommen.« Walker drehte ihm das Handgelenk zu und zeigte auf die Uhr, ein Hochzeitsgeschenk von Jack, eine seltene Cartier Tank aus den vierziger Jahren in Topzustand. Sie hatte ein kleines Vermögen gekostet, Walker hatte keine Ahnung. Das war noch so ein Punkt, den Jack Leo übel nahm: dass er in Gedanken jetzt immer ein dickes neonfarbenes Preisschild an alles klebte, was ihnen gehörte, und praktisch jede Anschaffung des letzten Jahres bereute, ach was, der letzten Jahre, unter anderem all die nicht unerheblichen Ausgaben im Zusammenhang mit ihrer ansonsten idyllischen Hochzeit.
»Ich liebe diese Uhr«, sagte Walker, und seine Stimme klang so zärtlich, dass Jack am liebsten sein Glas an die gegenüberliegende Backsteinwand gepfeffert hätte. Er stellte sich das befreiende Gefühl vor, wenn das Bleikristall in eine Million kleine Stücke zersprang. Stattdessen stand er auf und knallte es auf den Tisch.
»Lass dich nicht ärgern«, sagte Walker und legte Jack die Hand auf den Arm. »Hör dir einfach an, was Leo zu sagen hat, und dann reden wir.«
»Wird gemacht.« Jack knöpfte seine Jacke zu, ging die Treppe hinunter und dann durch die Tür hinaus auf die Vanderbilt Avenue. Er musste vor dem Essen noch etwas frische Luft schnappen, vielleicht drehte er eine Runde um den Block. Während er sich seinen Weg durch die träge Wochenendmeute bahnte, hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er drehte sich um und brauchte einen Moment, bis er die Frau mit der Baskenmütze und dem selbstgestrickten rosa-orangen Schal erkannte, die irre grinsend winkte und nach ihm rief. Er blieb stehen, sah sie näher kommen und musste unwillkürlich lächeln. Beatrice.
Beatrice Plumb war Stammgast im Murphy’s, einer der vielen Pendlerkneipen auf dem kurzen Abschnitt der 43rd Street, die auf den Grand Central zulief. Bea war mit dem Betreiber befreundet, Garrie, ein alter Bekannter von Tuck aus Irland. Tuck hatten nicht nur Garries Zapfkünste gefallen, sondern auch dass er, wenn nicht allzu viel los war, mit seinem hellen, durchdringenden Tenor für sie sang – nicht das übliche Touristenzeug, »Danny Boy« oder »No, Nay, Never«, sondern aus seinem Repertoire irischer Rebellenlieder – »Come Out Ye Black and Tans« oder »The Ballad of Ballinamore«. Garrie war einer der Ersten, die Bea besuchen kamen, als Tuck starb. Er hatte eine Flasche Jameson aus der Manteltasche gezogen und ihnen beiden ein Glas eingegossen. »Auf Tuck«, hatte er feierlich erklärt. »Möge ihm sein Weg leicht werden.« Manchmal, im richtigen Licht, fand Bea, dass Garrie gut aussah. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass er ein bisschen verliebt in sie war, aber so genau wollte sie das gar nicht wissen – dafür stand er Tuck zu nahe.
»Du bist früh dran heute«, sagte Garrie, als sie kurz vor zwölf reinkam.
»Lunch mit der Familie«, sagte sie. »Ich nehm einen Kaffee mit Schuss.« Garrie entkorkte eine Flasche Jameson und kippte einen ordentlichen Schluck in den Becher, bevor er den Kaffee hinterhergoss. Die Sonne schien hell und stand tief genug am wolkenlosen Himmel, um Bea kurz zu blenden, als sie sich auf ihren Lieblingsplatz am kleinen Fenster setzte. Sie stand wieder auf und rückte den wackeligen Barhocker in den Schatten, weg von der Tür. Es fühlte sich eher wie Januar als wie Oktober an. Es roch nach Ofen, altem Scheuerlappen und Bier. »Der Geruch der Götter«, hätte Tuck gesagt. Es gab für ihn nichts Schöneres als eine dunkle Bar an einem sonnigen Nachmittag. Die Jukebox sprang an, und Rosemary Clooney und Bing Crosby sangen »Baby, It’s Cold Outside«. Bea und Garrie schmunzelten. Die Leute waren so wunderbar einfallslos.
Bea freute sich darauf, Leo wiederzusehen, war aber auch ein wenig verunsichert. In der Klinik hatte er keinen ihrer Anrufe entgegengenommen. Wahrscheinlich war er sauer auf sie alle. Sie fragte sich, wie er aussah. Beim letzten Mal, an dem Abend im Krankenhaus, wurde gerade sein aufgerissenes Kinn genäht, und er war blass gewesen und wie versteinert. In den Monaten vor dem Unfall hatte er grauenhaft gewirkt: aufgedunsen, müde und erschreckend gelangweilt.
Bea befürchtete, dass es beim Essen heute Streit geben würde. Jack und Melody machte die finanzielle Situation offenbar zunehmend zu schaffen, sie nahm an, dass die beiden vorhatten, ihre jeweiligen Bedürfnisse ins Feld zu führen. Was Bea von Leo brauchte, war nicht ihre Hauptsorge. Heute wollte sie, dass ihre in der Regel unerträglichen Geschwister erträglich waren, wenn auch nur für einen Nachmittag, jedenfalls lange genug, damit Leo – na ja, was genau, wusste sie eigentlich gar nicht. Sich irgendetwas ausdachte, um Jack und Melody eine Weile hinzuhalten, damit er selbst eine Atempause bekam und nicht alles komplett abblockte – oder flüchtete.
Sie spürte, wie der Whisky sie entspannte. Sie nahm die Tasche von der Lehne. Allein das Gewicht fühlte sich gut an. Bea war Schriftstellerin. (Oder war mal Schriftstellerin gewesen? War eine Schriftstellerin, die – bis vor kurzem – aufgehört hatte zu schreiben? Sie wusste nie, als was sie sich sehen sollte.) Manchmal, nicht mehr sehr oft, aber doch gelegentlich, erinnerte sich jemand bei der Literaturzeitschrift, für die sie arbeitete, an ihren Namen. Beatrice Plumb? Die Schriftstellerin?, startete das Gespräch dann vielversprechend. Sie kannte den Satz inzwischen, das freudige Aufglimmen, wenn man sie erkannte, und dann das Stirnrunzeln, wenn der- oder diejenige versuchte, sich an einen Titel aus der letzten Zeit zu erinnern, irgendetwas anderes als die uralten frühen Erzählungen. Nach circa zehn Jahren Übung hatte sie gelernt, das Unvermeidliche abzuwenden. Sie war bewaffnet mit einer Handvoll abwürgender Antworten zu ihrem lang erwarteten Roman: ein abgedroschener selbstironischer Witz, sie schreibe zu langsam, wenn sie ihren Vorschuss auf die Jahre umrechnete, betrüge ihr Stundenlohn irgendwas mit halben Pennys; ein angeblicher Aberglaube bezüglich unvollendeter Werke; belustigte Verzweiflung über ihren ewigen Perfektionismus.
Aus der Tasche zog sie eine dunkelbraune Ledermappe, die Leo vor Jahren auf der Portobello Road in London entdeckt hatte, als sie noch aufs College ging und ernsthaft angefangen hatte zu schreiben. Er hatte sie ihr zum Geburtstag geschenkt. Die Mappe stammte vom Anfang des 20. Jahrhunderts, war so groß wie ein großes Notebook, hatte einen kleinen Griff und Lederriemen und sah aus, als hätte man sie zur Jahrhundertwende in Wien getragen. Sie hatte sich wahnsinnig darüber gefreut und die Mappe als eine Art Glücksbringer betrachtet, bis irgendwann all ihr Glück zerronnen schien. Vor ein paar Wochen hatte sie sie oben im Schrank gefunden und zum Schuster gebracht, um einen der Riemen reparieren zu lassen. Das Leder war geputzt und poliert worden, und jetzt sah sie fast aus wie neu, mit genau der richtigen Patina, als hätten schon unzählige erfolgreiche Manuskripte darin gelegen. Sie öffnete die Riemen, klappte die Tasche auf und holte einen Stapel Blätter mit ihrer geschwungenen Handschrift heraus. In den letzten Monaten hatte Bea mehr geschrieben als in all den Jahren davor.
Und was sie schrieb, war wirklich gut.
Trotzdem fühlte sie sich schrecklich.
Vor Jahren, als sie gerade von der Graduate School kam, hatte Leo sie überredet, für eine Zeitschrift zu arbeiten, deren Mitherausgeber er war, damals, als es noch nicht totaler Quatsch war, eine Zeitschrift rauszubringen. SpeakEasy war smart und respektlos genug, um ein bisschen zu schockieren, weswegen sie sofort zum Hit in der kleinen abgeschlossenen Welt der New Yorker Medien wurde, also bei genau den Leuten, über die sie sich schonungslos lustig machte. Leo schrieb eine monatliche Kolumne, Medien-News, aufgepeppt mit schlüpfrigem Klatsch, in der offen über die alte Garde hergezogen wurde. Die Kolumne brachte ihm ein bisschen Ruhm und sehr viel böses Blut ein. Die Zeitschrift wurde nach wenigen Jahren eingestellt, aber fast die gesamte Belegschaft hatte Jobs in größeren Medienunternehmen gefunden, Bestseller geschrieben oder andere viel beachtete literarische Betätigungen ausgeübt.
Lange Zeit war Leo der erfolgreichste von ihnen gewesen. Er hatte ein paar der jüngeren Mitarbeiter zusammengetrommelt und von seiner kleinen Wohnung aus eine Online-Version von SpeakEasy gestartet. Den spitzen Ton behielt er bei, erweiterte aber den Rahmen, indem er sämtliche Leute und Unternehmen aufs Korn nahm, die ihm kritikwürdig erschienen, und innerhalb von fünfzehn Monaten von einer Website auf siebzehn expandierte. Nach drei Jahren verkauften Leo und sein Partner ihr Imperium für ein kleines Vermögen an einen Medienkonzern.
Bea vermisste die Anfangszeit von SpeakEasy immer noch. Das Büro war wie ein wildes Sommercamp, alle waren klug und lustig, verstanden jeden Witz und vertrugen massenweise Alkohol. Damals hatte Leo sie gedrängt, ihre Erzählungen zu Ende zu schreiben. Leo war es auch, der bis spät in die Nacht Absatz für Absatz auseinandernahm, so dass alles noch besser, straffer und lustiger wurde. Es war Leo gewesen, der ihre erste Kurzgeschichte an den Literaturredakteur (und ihren derzeitigen Boss, Paul Underwood) weiterreichte, für SpeakEasys erste Short-Story-Ausgabe: »New Yorks neue Stimmen: Wen Man Lesen Muss.« Es war Leo, der sie aufs Cover gebracht hatte (mit dem typischen SpeakEasy-Untertitel: »Die Schwester des Herausgebers hat unsere Lieblingsstory geschrieben. Doch, echt!«). Beas Foto tauchte gelegentlich noch im Zusammenhang mit dem einen oder anderen Artikel über SpeakEasy (»Was machen die jetzt?«) oder jene jungen Autorinnen auf, zu denen auch Bea gehört hatte und die ein Journalist mal provokant die »Glitterary Girls« nannte. Das Foto war in der Mott Street in Chinatown aufgenommen worden, vor einem Fenster, hinter dem schimmernde Enten an silbernen Haken hingen, die abgeknickten Köpfe alle in dieselbe Richtung gedreht. Bea trug ein knallgelbes Kleid mit wogendem Rock und hielt einen grün lackierten Sonnenschirm mit kleinen rosa und weißen Rosen über der Schulter. Ihre damals noch langen Zöpfe waren kastanienbraun und im Nacken hochgesteckt. Kinn hoch, Augen geschlossen, das Profil von der spätnachmittäglichen Augustsonne beschienen – sie glich einer modernen Jungfrau Maria. Dasselbe Bild befand sich auch auf dem Umschlag ihres ersten (und einzigen) Buches. Jahrelang hatte der grüne Sonnenschirm an der Decke über ihrem Bett gehangen. Das gelbe Kleid war auch noch irgendwo.
Bea gab Garrie ein Zeichen. Er kam rüber, schenkte ihr Kaffee nach und stellte die Flasche Jameson neben ihren Becher. Sie sah, wie er einen Blick auf ihre Notizen warf und dann schnell wegschaute. Im Laufe der Jahre hatte er zu oft mit angehört, wie sie Tuck wegen ihres Romans volljammerte, als dass er jetzt danach fragen würde, weswegen sie sich noch jämmerlicher vorkam, falls das überhaupt möglich war.
Leo hatte ihre erste Geschichte so toll gefunden – und veröffentlicht –, weil sie von ihm handelte. Die Figur, die sie Archie nannte, war eine schlecht getarnte Ausgabe des jungen Leo, ein lustiger, ichbezogener, sarkastischer Don Juan. Die zweite Archie-Story erschien dann in der Paris Review. Die dritte im New Yorker. Dann bekam sie eine Agentin – Leos Freundin Stephanie, die ebenfalls am Anfang ihrer Karriere stand und ihr einen Vertrag über zwei Bücher verschaffte, für so viel Geld, dass Bea in Stephanies Büro fast ohnmächtig geworden wäre und sich setzen und in eine Papiertüte atmen musste. Ihre Kurzgeschichten (deren Highlight, da waren die Kritiker sich einig, die drei Archie-Storys bildeten – »wundervoll originell«, »urkomisch«, »das bewegende Mosaik eines äußerst zweifelhaften, aber konsequent ausformulierten Protagonisten«) verkauften sich still und heimlich.
»Das ist wunderbar«, hatte Stephanie ihr erklärt. »Alles Vorarbeit für den Roman.«