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MICHELLE ALEXANDER


THE NEW JIM CROW

Masseninhaftierung und
Rassismus in den USA

Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und
Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

Für Nicole, Jonathan und Corinnne

Zum Buch

Als »Jim-Crow-Ära« gilt in den USA die Zeit vom Ende des amerikanischen Bürgerkriegs bis zum Erfolg der Bürgerrechtsbewegung, in der die Rassenhierarchie in den USA durch zahlreiche Gesetze und Maßnahmen zementiert war. Michelle Alexander argumentiert, dass das rassistische System in den 1960er Jahren nicht abgeschafft wurde, sondern unter dem Deckmantel des »War on Drugs« eine neue Form gefunden hat: The New Jim Crow.

Die Wahl von Barack Obama im November 2008 markierte einen historischen Wendepunkt in den USA: Der erste schwarze Präsident schien für eine postrassistische Gesellschaft und den Triumph der Bürgerrechtsbewegung zu stehen. Doch die Realität in den USA ist eine andere. Obwohl die Rassentrennung, die in den sogenannten Jim-Crow-Gesetzen festgeschrieben war, im Zuge der Bürgerrechtsbewegung abgeschafft wurde, sitzt heute ein unfassbar hoher Anteil der schwarzen Bevölkerung im Gefängnis oder ist lebenslang als kriminell gebrandmarkt. Ein Status, der die Leute zu Bürgern zweiter Klasse macht, indem er sie ihrer grundsätzlichsten Rechte beraubt – ganz ähnlich den explizit rassistischen Diskriminierungen der Jim-Crow-Ära.

In ihrem Buch, das in Amerika eine breite Debatte ausgelöst hat, argumentiert Michelle Alexander, dass die USA ihr rassistisches System nach der Bürgerrechtsbewegung nicht abgeschafft, sondern lediglich umgestaltet haben. Da unter dem perfiden Deckmantel des »War on Drugs« überproportional junge männliche Schwarze und ihre Communities kriminalisiert werden, funktioniert das drakonische Strafjustizsystem der USA heute wie das System rassistischer Kontrolle von gestern: ein neues Jim Crow.

Über die Autorin

Michelle Alexander ist Juristin, Bürgerrechtlerin und Hochschullehrerin. Sie studierte an der Stanford Law School und an der Vanderbilt University und leitete mehrere Jahre das Racial Justice Project der American Civil Liberties Union (ACLU) in Nordkalifornien und die Civil Rights Clinic an der Stanford University Law School. Als Anwältin spezialisierte sie sich auf Sammelklagen wegen Rassen- oder Geschlechterdiskriminierung. Sie ist Dozentin am Kirwan Institute for the Study of Race and Ethnicity und am Moritz College of Law der Ohio State University.

INHALT


Vorwort für die internationale Ausgabe

Vorwort von Cornel West

Vorbemerkung

Einführung

1.  Die Rückkehr der Kastengesellschaft

2.  Hinter Gittern

3.  Die Farbe der Gerechtigkeit

4.  Die grausame Hand

5.  The New Jim Crow

6.  Eine neue Bewegung

 

Dank

Anmerkungen

VORWORT FÜR DIE
INTERNATIONALE AUSGABE


Amerika war von Anbeginn ein Land voller Widersprüche. Seine Gründer träumten von Freiheit, politischer Selbstbestimmung und individueller Freiheit, schufen aber dann einen Staat, der Besitzlosen und Frauen das Wahlrecht vorenthielt, die Sklaverei in der Originalverfassung festschrieb und Sklaven quasi als »Drei-Fünftel-Menschen« zur Bevölkerung zählte. Nach dem offiziellen, populären Narrativ hat Amerika seine hässliche Geschichte überwunden. Dieses Narrativ ist nicht völlig falsch. Unser Land hat die Sklaverei abgeschafft, Frauen und ethnischen Minderheiten das Wahlrecht gegeben und das gesetzmäßige Regime beseitigt, das als »Jim Crow« bekannt wurde – ein System aus Vorschriften, Gesetzen, Maßnahmen und Methoden, die die legale Diskriminierung der Afroamerikaner in praktisch allen Bereichen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens billigte. Heute trifft man in renommierten Universitäten und auf den Fluren der Macht Menschen aller Hautfarben an. Wir haben unseren ersten schwarzen Präsidenten gewählt. Diese Erfolgsgeschichte der amerikanischen Demokratie wird an unseren Schulen gefeiert und auf dem ganzen Globus verbreitet.

Doch es gibt noch eine andere Geschichte, eine weniger beliebte und politisch eher unangenehme, eine, die man in den Medien unseres Landes nur selten hört und die fast nirgendwo jenseits unserer Grenzen erzählt wird. Ein Teil dieser Geschichte ist Gegenstand dieses Buches. Sie muss überall auf der Welt bekannt werden.

Ich habe dieses Buch nicht für eine internationale Leserschaft geschrieben. Ich habe The New Jim Crow geschrieben, um in meinem eigenen Land Alarm zu schlagen, in einem Land, das von sich behauptet, das »Land der Freien« zu sein, obwohl wir einen größeren Anteil unserer Bevölkerung ins Gefängnis werfen als jedes andere Land der Welt. Wir predigen anderen Freiheit und Demokratie, verweisen aber Millionen der ärmsten Bürger dauerhaft auf einen Status am Rande der Gesellschaft und verweigern ihnen das Wahlrecht. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich früher blind war für das, was sich vor meiner eigenen Haustür abspielte. Als mir dann die Augen aufgingen, war ich entschlossen, auch andere aus ihrem Schlaf aufzurütteln und sich der Wahrheit dessen zu stellen, was wir in Amerika wieder einmal anrichten.

Inzwischen ist mir sehr daran gelegen, dieses Buch Menschen auf der ganzen Welt zugänglich zu machen, die an die Demokratie glauben und zutiefst um Gerechtigkeit besorgt sind. Ich hoffe, dass das, was auf diesen Seiten steht, einen internationalen Aufschrei auslöst und die Menschen begreifen, dass sich in den Vereinigten Staaten ein Alptraum entfaltet: Wir in Amerika werden angehalten zu glauben, dass Menschenrechtsverletzungen und -katastrophen überall, weit jenseits unserer Grenzen, stattfinden. Doch wir haben hier in unserem eigenen Land in ein paar wenigen Jahrzehnten die Gefängnispopulation vervierfacht und ein Strafsystem errichtet, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Kein anderes Land der Welt hält einen so hohen Anteil seiner Bürger in Haft – bei kaum 5 Prozent der Weltbevölkerung stellen wir fast 25 Prozent aller Gefängnisinsassen.

Millionen Menschen – in der überwältigenden Mehrzahl Arme und People of Color* – landen in diesem Land in Gefängnissen, weil ein rassistischer »Krieg gegen die Drogen« geführt wird und eine politische Bewegung für ein »hartes Durchgreifen« gegen Kriminalität eintritt, das zahllose Familien zerstört und ganze Gemeinschaften dezimiert. Die Zahl der Menschen, die nur wegen Drogendelikten hinter Schloss und Riegel gebracht werden, ist erschreckend und von etwa 50.000 im Jahr 1980 auf heute fast 500.000 gestiegen – das sind mehr, als in Westeuropa für alle Verbrechen zusammengenommen einsitzen. Über 90 Prozent der als »Kriminelle« oder »Verbrecher« Etikettierten erhalten keinen ordentlichen Prozess oder werden nicht angemessen vor einem Gericht vertreten; sie legen ohne Prozess ein Schuldbekenntnis ab, weil man ihnen damit droht, dass ihnen bei einer Verurteilung durch ein Geschworenengericht noch weit höhere Mindeststrafen drohen. Und Millionen Menschen werden, wenn sie dann ihre tatsächliche Haftstrafe abgesessen haben und aus der offiziellen Kontrolle durch unser sogenanntes »Rechtssystem« entlassen werden, in ein soziales Paralleluniversum gestoßen, in dem die elementaren Bürger- und Menschenrechte, die für andere selbstverständlich sind, nicht gelten. Es sind genau die Rechte, die ihnen durch die Bürgerrechtsbewegung zugestanden wurden, wie das Wahlrecht, das Recht, als Geschworener zu dienen und das Recht, in der Arbeitswelt, bei der Wohnungssuche, in der Bildung und bei den staatlichen Sozialleistungen – etwa in Form von Lebensmittelmarken und Sozialwohnungen – nicht diskriminiert zu werden. Selbst diejenigen, die sich nur geringfügiger Vergehen schuldig gemacht haben – beispielsweise weil sie mit kleinen Mengen Drogen erwischt wurden –, werden dauerhaft in eine niedrige Kaste am unteren Rand der Gesellschaft verwiesen. Dieses neue System nimmt vor allem afroamerikanische Männer ins Visier und erklärt sie zum Hauptfeind. In vielen amerikanischen Großstädten ist über die Hälfte der afroamerikanischen Männer im arbeitsfähigen Alter vorbestraft und wird für den Rest ihres Lebens mit gesetzlicher Billigung diskriminiert.

Politiker rechtfertigen die diskriminierenden Praktiken und sprunghaft angestiegenen Inhaftierungszahlen mit den hohen Kriminalitätsraten in den armen Minderheitengemeinschaften. Dieses Buch zeigt hingegen, dass dieses System seinen Ursprung in unserer Rassengeschichte und unserer Rassenpolitik hat, die Ängste schürt, spaltet, Menschen zu Sündenböcken macht und soziale Kontrolle über sie ausübt.

In Amerika ist ein neues System rassistischer Sozialkontrolle entstanden, das die Welt noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Internationale Proteste trugen dazu bei, dass amerikanische Rechtswissenschaftler und Politiker das Jim-Crow-System der Rassentrennung nach dem Zweiten Weltkrieg einer Prüfung unterzogen. Deshalb hoffe ich, dass unser Land auch jetzt auf der Weltbühne angeprangert und der Schande und Scham preisgegeben wird, damit es sich dem zentralen Widerspruch der modernen amerikanischen Demokratie stellt: unserem System der Masseninhaftierung. Wie der Jurist und Bürgerrechtler Bryan Stevenson kürzlich ganz treffend bemerkte, prägt die Masseninhaftierung heute unser Land wie einst die Sklaverei. Ich hoffe, dass die Völker der Welt nicht länger schweigen werden, wenn sie mehr darüber erfahren, wie in unserem Land entgegen unserer Behauptungen die tatsächliche Praxis in Sachen Rasse, Gleichheit und Freiheit aussieht.

Aber abgesehen davon, dass ich mir wünsche, Amerika möge endlich vor dem Gericht der internationalen Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden, hoffe ich auch inständig, dass dieses Buch einen Beitrag zu der sich ausweitenden Debatte über den globalen Krieg gegen die Drogen leistet. Seit die Vereinten Nationen das Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel – ein internationales Abkommen zum Verbot der Produktion und Verbreitung bestimmter Narkotika – verabschiedet haben, sind mehr als fünfzig Jahre vergangen und mehr als vierzig Jahre, seit US-Präsident Nixon den »Krieg gegen die Drogen« im eigenen Land erklärte, der sich in rasantem Tempo zu einem weltweiten, brutalen und sinnlosen Krieg ausweitete. Obwohl Milliarden in den Bau von Gefängnissen, gesetzliche Verbote und die Militarisierung der Polizei gesteckt wurden, ist dieser Krieg jämmerlich gescheitert und hat keineswegs Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit eingedämmt, geschweige denn beendet. Im Gegenteil, Drogen sind freier verfügbar und werden mehr konsumiert als vor Beginn des Kriegs gegen die Drogen. So stellte die Weltkommission für Drogenpolitik 2011 fest: »Der weltweite Krieg gegen die Drogen ist gescheitert, mit verheerenden Folgen für die Menschen und Gesellschaften rund um den Globus … Scheinbare Erfolge bei der Ausschaltung einer Quelle oder Dealerorganisation werden fast auf der Stelle durch das Aufkommen neuer Quellen und Dealer zunichtegemacht.«1

Statt Drogenmissbrauch und -abhängigkeit als schwerwiegende Probleme der öffentlichen Gesundheit anzugehen und in großem Stil in die Behandlung und Prävention zu investieren, sind nur allzu viele Staaten den Vereinigten Staaten gefolgt, haben den eigenen Bürgern den Krieg erklärt und stellen Mittel vornehmlich für Strafmaßnahmen und andere Praktiken zur Verfügung, die zwangsläufig das Leid der Ärmsten und Schwächsten in den Gesellschaften erhöhen. In den letzten Jahrzehnten wurden Millionen Menschenleben durch hohe Gefängnisstrafen sinnlos zerstört, kamen Tausende durch die Gewalt im Drogenkrieg und die Militarisierung der Polizei um, vor allem in Ländern wie Mexiko, wo allein in den vergangenen zehn Jahren über 100.000 Menschen getötet wurden oder verschwanden. Die mexikanische Regierung gab kürzlich Daten frei, die zeigen, dass zwischen 2007 und 2014 – also in Jahren, die zu den blutigsten im Krieg des Landes gegen die Drogenkartelle gehören – über 164.000 Menschen ermordet wurden. Profiteure dieses Blutbads sind auch die Privatgefängnisse, die in den Vereinigten Staaten großzügig dafür bezahlt werden, dass sie die zahllosen Einwanderer hinter Gitter stecken, die vor der Gewalt des Drogenkriegs in Mexiko und Lateinamerika fliehen.

Man möchte meinen, dass vierzig Jahre erfolgloser Krieg ausreichen würden, um die Antidrogenkrieger davon zu überzeugen, dass sie eine andere Richtung einschlagen müssen. Doch der katastrophale Krieg wird unvermindert fortgesetzt. Warum? Ein Grund dafür ist, dass der globale Krieg gegen Drogen kaum mit der Absicht geführt wird, die mit dem Drogenkonsum zusammenhängenden Probleme zu lösen. Der Krieg wird zwar mit dem Drogenmissbrauch gerechtfertigt, ist aber nicht dessen Hauptmotiv (und war es nie). In Amerika wurde den Drogen der Krieg wegen der Rassen- und Klassenzugehörigkeit derer erklärt, die als Feind etikettiert wurden. Die gegenwärtige Drogenpolitik und die Praxis im Kampf gegen den Drogenmissbrauch gehen in hohem Maß auf den Rassismus in der amerikanischen Politik und die politischen Nützlichkeit (und wirtschaftliche Profitabilität) eines nie endenden Kriegs zurück.

Drogenabhängigkeit und -missbrauch stellen schwerwiegende Probleme mit manchmal tödlichen Folgen dar, denen unser aller Sorge gelten sollte und die sofortiges Handeln erfordern. Aber in den Vereinigten Staaten ist der Umgang mit diesen schwerwiegenden Problemen von einer durch Rassismus und Spaltung geprägten Politik bestimmt, die selten offen diskutiert wird, aber als mächtige Grundströmung alle Maßnahmen und Praktiken beeinflusst und in eine gefährliche Richtung lenkt, oft mit tödlichen Folgen. Es ist eine große Tragödie, dass unser rassistischer Krieg gegen Drogen exportiert wurde und überall auf der Welt zu viel überflüssigem Leid, zu Tod und Verzweiflung führt. Ethan Nadelmann, Gründer der Drug Policy Alliance, fasst diese Entwicklung so zusammen: »Auf die Vereinigten Staaten als Modell für die Eindämmung des Drogenkonsums zu schauen, ist so, als würde man sich das Südafrika der Apartheid zum Vorbild nehmen, um das Rassenproblem zu bewältigen.« Ich hoffe, dieses Buch regt Menschen in anderen Ländern an, zu prüfen, ob ihre Regierung nicht einen drastischen Kurswechsel vornehmen sollte.

Schließlich hoffe ich zutiefst, dass dieses Buch zu einem internationalen Dialog darüber beiträgt, was ein Land, das eine egalitäre, multirassische, multiethnische Demokratie aufbauen will, wirklich tun muss. Oft blickt man in dieser Frage auf die Vereinigten Staaten, um dort Anregungen und Leitlinien zu bekommen, doch die zyklische Wiederauferstehung des auf Rasse basierenden Kastensystems in unserem Land sollte allen zu denken geben, bevor sie ihre Demokratie nach unserem Vorbild formen. Ich hoffe, dass andere Länder aus unserer Geschichte und unseren Erfahrungen Lehren ziehen und etwas Besseres schaffen als unser Politik- und Rechtssystem, statt es einfach zu übernehmen. Wir sind weit, sehr weit vom Aufbau einer inklusiven, egalitären Demokratie entfernt, in der »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« mehr als nur eine Floskel ist. Auf den folgenden Seiten wird deutlich, wie schwer es für ein Land und dessen Bewohner ist, Denk- und Lebensgewohnheiten aufzugeben – vor allem die Gewohnheit, den rassisch »Anderen« auszuschließen und zu unterdrücken. Die Länder mit den härtesten Strafgesetzen sind nachweislich jene mit einer stark gemischten Bevölkerung. Die Länder, in denen man Delinquenten mit dem meisten Mitgefühl und mit größter Milde behandelt, sind hingegen die homogensten. Es scheint geradezu ein Zug der menschlichen Natur zu sein, den »Anderen« gegenüber kein Erbarmen zu zeigen. Doch da die Länder der Welt immer stärker miteinander verbunden sind und Klimawandel, Kriege, Globalisierung und wirtschaftliche Konkurrenz zu großen Einwanderungs- und Migra tionsbewegungen führen, besteht die Herausforderung zunehmend darin, unsere Herzen und Köpfe für jene zu öffnen, die wir jetzt noch als »Andere« zu betrachten pflegen. Und wir werden unausweichlich dazu gezwungen werden, uns mit dem Erbe von Sklaverei, Unterdrückung und Kolonialismus auseinanderzusetzen, zu überlegen, wie wir den Schaden, den wir angerichtet haben, wiedergutmachen und Demokratien schaffen können, in denen jedes Leben, jede Stimme und jedes Votum wirklich zählen. Schließlich soll The New Jim Crow auch eine Warnung sein – dieses Buch berichtet darüber, wie Millionen armer People of Color in den Vereinigten Staaten an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, und das auch unter einem schwarzen Präsidenten. Es erinnert uns daran, wie wichtig es ist, dass wir uns mit aller Kraft der Politik der Angst, der Spaltung, Exklusion und Kontrolle widersetzen. Wir dürfen es nicht dabei belassen, uns eine andere Welt vorzustellen und von ihrer Verwirklichung zu träumen, vielmehr »müssen wir so handeln, als wäre es möglich, eine Revolution herbeizuführen und die Welt radikal zu verändern«, wie Angela Davis einmal sagte. Ich lege dieses Buch in der Hoffnung vor, dass es einen Beitrag zu einer gerechteren, alle sozialen Aspekte berücksichtigenden Justiz auf dieser Welt leistet.

 

Michelle Alexander, Juni 2016

     * Anmerkung der Übersetzer: In der Übersetzung wird die englische Bezeichnung People of Color verwendet, da die Autorin diese im Original verwendet und es sich um eine selbstbestimmte Bezeichnung von und für Menschen handelt, die nicht weiß sind. Der Ausdruck ist im Englischen eine gängige Bezeichnung und wird auch in Deutschland in akademischen und politischen Publikationen vermehrt genutzt, da viele andere Bezeichnungen – etwa »Farbige« – eine koloniale und rassistische Dimension haben. Des weiteren wird im Text auch die Bezeichnung »schwarz« oder »braun« verwendet, um gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten die aus dem Konstrukt des Rassismus entstanden sind, zu benennen. Auf die Großschreibung dieser Begriffe, wie teils in der akademischen Literatur zum Thema üblich, wurde jedoch aufgrund der Lesbarkeit verzichtet.

VORWORT


von Cornel West

Michelle Alexanders The New Jim Crow ist die säkulare Bibel für eine neue soziale Bewegung im Amerika zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wie mit C. Vann Woodwards The Strange Career of Jim Crow – dem Buch, das Martin Luther King als »die historische Bibel der Bürgerrechtsbewegung« bezeichnete – liegt uns hier ein kraftvoller, eindringlicher Text vor, zugleich eine einzigartige demokratische Erweckung, die die Aufmerksamkeit auf die Armen und Benachteiligten in der amerikanischen Gesellschaft richtet. The New Jim Crow ist schon jetzt ein Klassiker, weil das Buch den neuen Geist unseres Zeitalters erfasst. Schon viel zu lange warten wir darauf, dass sich die Massen gegen die vielfache Benachteiligung zur Wehr setzen, unter der arme und unter prekären Verhältnissen lebende Menschen trotz der aufopfernden Arbeit intellektueller Freiheitskämpfer wie Marian Wright Edelman, Angela Davis, Loïc Wacquant, Glenn Loury und Marc Mauer zu leiden haben. Doch langsam, aber sicher erwachen die Menschen aus dem Schlaf, und mehr und mehr Mitbürger erkennen, dass sie in einem Käfig gefangen sind – der für die Wohlhabenden vielleicht auch ein goldener sein mag. The New Jim Crow ist ein lautstarker Weckruf aus dem Schlummer der Gleichgültigkeit gegenüber den Armen und Schwachen. Diese Gleichgültigkeit fördert ein oberflächliches Erfolgsethos – Geld, Ruhm und Vergnügen –, das viel zu viele dazu bringt, sich mit der Ungerechtigkeit abzufinden. Kurz, im verwirrenden Zeitalter Obamas feiert der Geist Martin Luther Kings mit diesem Buch seine Wiederauferstehung.

Während die Ära Obama historische Durchbrüche auf der Ebene der symbolischen Rassengleichheit und politischer Sichtbarkeit gebracht hat, führt uns Michelle Alexanders meisterhaftes Werk den systembedingten Zusammenbruch schwarzer und armer Gemeinden vor Augen, die durch Massenarbeitslosigkeit, soziale Vernachlässigung, Abwanderung von Betrieben und intensive Polizeiüberwachung verwüstet sind. Die Autorin lenkt mit ihrer tiefgreifenden Analyse unsere Aufmerksamkeit vom Symbol des Fortschritts in der Rassenfrage auf Amerikas größten Schandfleck: den massiven Missbrauch staatlicher Macht zum Zweck der Inhaftierung Hunderttausender wertvoller armer, schwarzer, männlicher (und zunehmend auch weiblicher) junger Menschen im Namen eines heuchlerischen »Kriegs gegen die Drogen«. Michelle Alexanders differenzierte Analyse der skrupellosen Behandlung und der brutalen Überwachung Schwarzer im Lauf der amerikanischen Geschichte – in Form der Sklaverei, von Jim Crow und der Masseninhaftierung – gewährt uns einen Blick unter die politische Oberfläche und legt die Strukturen eines reibungslos funktionierenden auf Rasse basierenden Kastensystems im Zeitalter der Farbenblindheit bloß. Gerade die Ideologie der Farbenblindheit, propagiert von Neokonservativen und Neoliberalen mit dem Ziel, die Ausmaße des Leidens Schwarzer in den 1980er und 1990er Jahren zu banalisieren und zu verschleiern, hat Amerika die Augen vor dem Neuen Jim Crow verschlossen. Es ist einfach traurig, dass sich diese Blindheit unter jeder Regierung erhalten hat und bis heute im öffentlichen Diskurs unseres Landes kaum thematisiert oder in Frage gestellt wird.

The New Jim Crow durchbricht dieses Schweigen. Wer das Buch liest, kann nicht mehr gleichgültig bleiben. Er wird nicht mehr wie ein Schlafwandler an der dunklen und hässlichen Realität vorbeigehen können, die seit Jahrzehnten existiert und nahtlos an den seit der Zeit der Sklaverei in Amerika bestehenden Rassismus anknüpft. Zweifellos würde der nationale Notstand ausgerufen, wenn weiße Jugendliche in derselben Zahl inhaftiert würden wie junge Schwarze. Wahr ist aber auch: Würden junge Schwarze aus der Mittel- und Oberschicht im selben Maße inhaftiert wie junge arme Schwarze, würden die schwarzen Anführer der Bürgerrechtsbewegung dem gefängnisindustriellen Komplex mehr Aufmerksamkeit widmen. Michelle Alexander deckt ihre Voreingenommenheit genauso auf wie die rassistischen Vorurteile der politischen Führung Amerikas, für die Arme und Benachteiligte jeder Hautfarbe ganz unten auf der Tagesordnung stehen. Die Autorin bringt dies in ihrem mutigen letzten Kapitel, in dem sie sich auf den großen James Baldwin beruft, deutlich zum Ausdruck, indem sie schreibt: »Die Gleichgültigkeit, die Weigerung, Menschen über alle Grenzen der Hautfarbe hinweg Mitgefühl entgegenzubringen, bildet den Kern des heutigen Kontrollsystems und jedes anderen rassische Kastensystems in den Vereinigten Staaten oder anderswo auf der Welt.«

Martin Luther King hat uns dazu aufgefordert, einander zu lieben, nicht dazu, einander farbenblind gegenüberzutreten. Einander zu lieben aber heißt, sich um alle zu kümmern, allen tiefes Mitgefühl entgegenzubringen und Anteil an allen zu nehmen, auch an den Armen und Schwachen. Die soziale Bewegung, die das vorliegende historische Werk anfachen und speisen wird, wird einer demokratischen Erweckungsbewegung gleichkommen, die zeigt, dass wir nicht gleichgültig sind, dass das rassische Kastensystem abgeschafft werden muss, dass wir eine Revolution unserer falschen Prioritätenliste brauchen, einen Machtwechsel von den Oligarchen zum Volk – und dass wir bereit sind, dafür zu leben und zu sterben!

VORBEMERKUNG


Dieses Buch ist nicht für jeden gedacht. Ich habe eine spezielle Leserschaft vor Augen – Menschen, die zutiefst um Rassengerechtigkeit besorgt sind, die aber aus vielerlei Gründen noch nicht die Ausmaße der Katastrophe erkannt haben, die aufgrund der Masseninhaftierung über die People of Color hereingebrochen ist. Mit anderen Worten, ich habe dieses Buch für Menschen wie mich geschrieben – für Menschen, die so denken wie ich vor zehn Jahren. Aber ich habe auch noch eine andere Leserschaft im Sinn, nämlich all diejenigen, die sich große Mühe geben, ihre Freunde, Nachbarn, Verwandten, Lehrer, Arbeitskollegen oder politische Repräsentanten davon zu überzeugen, dass unser Strafjustizsystem etwas seltsam Vertrautes hat, etwas, das sehr stark an eine Ära erinnert, die wir angeblich hinter uns gelassen haben, die aber nicht über die Fakten und Daten verfügen, mit denen sie diese Behauptung untermauern könnten. Ich hoffe inständig, dass dieses Buch all diesen Menschen die Kraft verleiht und das Material an die Hand gibt, mit mehr Überzeugung, Glaubwürdigkeit und Mut die Wahrheit auszusprechen. Und schließlich, aber bestimmt nicht an letzter Stelle, habe ich dieses Buch für alle geschrieben, die in Amerikas neuestem Kastensystem gefangen sind. Ihr sitzt vielleicht hinter Gittern oder seid aus der Gesellschaft ausgeschlossen, aber ihr seid nicht vergessen.

EINFÜHRUNG


Jarvious Cotton darf nicht wählen. Wie schon seinem Vater, seinem Großvater, seinem Urgroßvater und seinem Ururgroßvater wird auch ihm das Recht verweigert, an unserer Demokratie teilzuhaben. Cottons Stammbaum erzählt die Geschichte mehrerer Generationen schwarzer Männer, die in den Vereinigten Staaten geboren wurden, denen jedoch die elementarste Freiheit, die die Demokratie verspricht, vorenthalten wurde – die Freiheit, jene zu wählen, die die Regeln aufstellen und die Gesetze machen und damit das Leben der Menschen bestimmen. Cottons Ururgroßvater durfte nicht wählen, weil er Sklave war. Sein Urgroßvater wurde vom Ku-Klux-Klan erschlagen, weil er versucht hatte, an einer Wahl teilzunehmen. Sein Großvater wurde durch Einschüchterungen des Klans am Wählen gehindert. Sein Vater wurde durch die Wahlsteuer und Lese- und Schreibtests von der Wahl ausgeschlossen. Und Jarvious Cotton selbst kann nicht wählen, weil er, wie viele Schwarze in den Vereinigten Staaten, als Straftäter gebrandmarkt und momentan auf Bewährung ist.1

Auf Cottons Geschichte trifft in vielerlei Hinsicht das alte Sprichwort zu: »Je mehr sich die Dinge verändern, desto mehr bleiben sie, wie sie sind.« Jede Generation wendet neue Taktiken an, um dieselben Ziele wie die ihrer Vorfahren zu erreichen – die Ziele der Gründungsväter. Afroamerikanern die Bürgerrechte vorzuenthalten, galt als entscheidende Voraussetzung für die Bildung des ersten Staatenbunds. Heute, Hunderte Jahre später, ist Amerika immer noch keine egalitäre Demokratie. Die Argumente und Rationalisierungen, die aufgetischt werden, um die rassistische Exklusion und Diskriminierung in ihren verschiedenen Formen zu rechtfertigen, verändern sich und entwickeln sich weiter, aber das Resultat bleibt weitgehend dasselbe. In den Vereinigten Staaten wird heute einem außerordentlich hohen Prozentsatz schwarzer Männer wie während der gesamten amerikanischen Geschichte mit Billigung des Gesetzes das Wahlrecht verweigert. Und auch bei der Arbeits- und Wohnungssuche, in der Bildung, bei Sozialleistungen und bei der Besetzung von Geschworenenjurys werden sie genauso legal diskriminiert wie einst ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern.

Was sich seit dem Zusammenbruch von Jim Crow verändert hat, hat weniger mit der grundlegenden Struktur unserer Gesellschaft zu tun als mit der Sprache, in der wir es rechtfertigen. In der Ära der »Farbenblindheit«, in der die Hautfarbe angeblich keine Rolle mehr spielt, ist es gesellschaftlich nicht mehr zulässig, Diskriminierung, Exklusion und soziale Missachtung explizit mit der Hautfarbe zu begründen. Also tun wir es nicht mehr. Stattdessen etikettieren wir People of Color mithilfe unseres Strafrechtssystems als »Kriminelle« und bedienen uns dann all der Methoden, die wir angeblich hinter uns gelassen haben. Heute ist es völlig legal, Kriminelle auf jede mögliche Art und Weise zu benachteiligen, wie es einst rechtens war, schwarze Amerikaner zu benachteiligen. Sobald jemand einmal als Verbrecher gilt, werden die alten Diskriminierungsformen – Benachteiligung in der Arbeitswelt und bei der Wohnungssuche, die Verweigerung des Wahlrechts und des Rechts auf Bildung, von Lebensmittelmarken und anderer Sozialleistungen sowie der Beteiligung an Geschworenengerichten – plötzlich legal. Ein verurteilter Straftäter hat kaum noch Rechte und genießt unter Umständen weniger Respekt als ein schwarzer Mann, der auf dem Höhepunkt von Jim Crow in Alabama lebte. Wir haben die auf Rasse beruhenden Kasten in Amerika nicht abgeschafft, wir haben sie lediglich umdefiniert.

Die in diesem Buch dargelegten Schlussfolgerungen sind mir nicht leichtgefallen. Vor zehn Jahren hätte ich mich hartnäckig gegen die hier getroffene zentrale Aussage gewehrt – nämlich, dass es heute eine Art rassisches Kastensystem in den Vereinigten Staaten gibt. Wäre Barack Obama damals schon Präsident gewesen, hätte ich dem entgegengehalten, dass seine Wahl den Sieg des Landes über die rassisch definierte Kaste beweise und der letzte Sargnagel für Jim Crow sei. Meine Freude darüber wäre zwar durch den Gedanken gedämpft worden, dass wir noch eine große Strecke zurücklegen müssten, um das gelobte Land der Rassengleichheit in Amerika zu erreichen, aber meine Überzeugung, dass nichts auch nur annähernd Ähnliches wie Jim Crow mehr in diesem Land existiere, wäre unerschütterlich gewesen.

Heute wird meine Begeisterung über Obamas Wahl durch eine viel größere Ernüchterung eingedämmt. Als Afroamerikanerin mit drei kleinen Kindern, die nie eine Welt kennenlernen werden, in der ein Schwarzer nicht Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte, war ich am Wahlabend mehr als begeistert. Doch als ich die Feier zu diesem Anlass voller Hoffnung und Enthusiasmus verließ, wurde ich sofort mit der brutalen Realität des Neuen Jim Crow konfrontiert. Ein Schwarzer kniete im Rinnstein, die Hände hinter dem Rücken in Handschellen, während mehrere Polizisten um ihn herumstanden, sich unterhielten, Witze rissen und seine Menschenwürde in den Staub traten. Aus dem Gebäude strömten Leute, viele starrten einen Augenblick lang den Schwarzen an, der vor ihnen auf der Straße kauerte, wandten dann aber den Blick ab. Was bedeutete für ihn die Wahl Barack Obamas?

Wie viele Bürgerrechtsanwälte wurde ich durch die in den 1950er und 1960er Jahren errungenen Siege angeregt, Jura zu studieren. Selbst angesichts des wachsenden sozialen und politischen Widerstands gegen Fördermaßnahmen wie die »Affirmative Action«, hielt ich an meinem Glauben fest, dass die Übel von Jim Crow hinter uns lagen, es aber noch ein weiter Weg zu einer egalitären, multiethnischen Demokratie war, wir bereits echte Fortschritte gemacht hatten und nun kämpfen mussten, um auf den Siegen der Vergangenheit aufbauen zu können. Ich hielt es für meine Aufgabe als Bürgerrechtsanwältin, mich mit den Verfechtern des Rassenfortschritts zu verbünden, um Angriffe auf die Affirmative Action abzuwehren und die Reste der Jim-Crow-Segregation zu beseitigen, vor allem unser immer noch segregiertes und ungerechtes Bildungssystem. Ich hatte begriffen, dass die Probleme, die die armen People of Color plagten – unter anderem auch die Kriminalität und die zunehmenden Inhaftierungsraten, die eine Folge von Armut und fehlendem Zugang zu einer guten Ausbildung waren –, eine Folge des Erbes von Sklaverei und Jim Crow sind. Keinen Augenblick habe ich damals ernsthaft die Möglichkeit erwogen, dass in diesem Land ein neues rassisches Kastensystem wirksam sein könnte. Das neue System war rasch entwickelt und umgesetzt worden, und es war weitgehend unsichtbar, selbst für Menschen wie mich, die den Großteil ihrer Zeit mit dem Kampf um Gerechtigkeit verbrachten.

Dass es ein neues rassisches Kastensystem geben könnte, kam mir erstmals vor über zehn Jahren in den Sinn, als mir ein hellorangefarbener Zettel in die Augen fiel. Ich bemerkte ihn, als ich rannte, um meinen Bus zu erwischen. Er war an einem Telefonmasten befestigt, und darauf stand in großen schreienden Buchstaben: DER KRIEG GEGEN DIE DROGEN IST DAS NEUE JIM CROW. Ich blieb kurz stehen und überflog hastig den Text. Eine radikale Gruppe hielt ein Gemeindetreffen zum Thema Polizeibrutalität, das neue »Three Strikes«-Gesetz in Kalifornien und die Ausweitung des amerikanischen Gefängnissystems ab. Die Veranstaltung sollte in einer kleinen Kirche ein paar Häuserblocks entfernt stattfinden, in der es nur Platz für fünfzig Besucher gab. Ich seufzte und dachte: »Ja, das Strafjustizsystem ist in vielerlei Hinsicht rassistisch, aber es ist wirklich nicht hilfreich, einen so absurden Vergleich anzustellen. Die Leute werden doch denken, ihr seid verrückt.« Dann überquerte ich die Straße und sprang in den Bus. Ich fuhr zu meinem neuen Arbeitsplatz als Leiterin des Racial Justice Project of the American Civil Liberties Union (ACLU) in Nordkalifornien.

Ich trat meine Arbeit bei der ACLU in der Annahme an, dass es in unserem Strafjustizsystem wie in allen größeren Institutionen unserer Gesellschaft bewusste wie unbewusste rassistische Vorurteile gab. Als Anwältin, die an zahlreichen Sammelklagen wegen Diskriminierung am Arbeitsplatz beteiligt gewesen war, kannte ich die vielen Formen, in denen Rassenklischees die subjektiven Entscheidungsfindungsprozesse auf allen Ebenen einer Organisation beeinflussen können und welche verheerenden Folgen das haben kann. Ich war vertraut mit den Herausforderungen bei der Reformierung von Institutionen, in denen rassisch bestimmte Hierarchien als normal galten – als die natürliche Folge unterschiedlicher Bildung, Kultur, Motivation und, wie manche immer noch glauben, angeborener Fähigkeiten. In meiner Zeit bei der ACLU konzentrierte ich mich statt auf die Diskriminierung am Arbeits platz mehr und mehr auf eine Strafjustizreform und arbeitete gemeinsam mit anderen daran, rassistische Vorurteile zu benennen und zu beseitigen, wann und wo immer sie ihr hässliches Gesicht zeigten.

Als ich meinen Posten bei der ACLU aufgab, hatte ich den Verdacht, dass ich mich hinsichtich des Strafjustizsystems geirrt hatte. Es war nicht nur eine unter vielen mit Vorurteilen behafteten Institutionen, sondern eine völlig andere Geschichte. Die Aktivisten, die den Zettel an den Telefonmast geheftet hatten, waren nicht verrückt; ebenso wenig die vereinzelten Anwälte und Bürgerrechtsvertreter, die Verbindungen zwischen der Masseninhaftierung und früheren Formen der sozialen Kontrolle herstellten. Ziemlich spät erkannte ich, dass die Masseninhaftierung in den Vereinigten Staaten ein erstaunlich umfassendes und gut verschleiertes System rassistischer Gesellschaftskontrolle ist, das verblüffend ähnlich wie Jim Crow funktioniert.

Meiner Erfahrung nach sehen Menschen, die einmal im Gefängnis gesessen haben, meist schnell die Parallelen zwischen diesen Systemen sozialer Kontrolle. Nach ihrer Entlassung wird ihnen oft das Wahlrecht verweigert, sie dürfen nicht als Geschworene tätig sein und werden auf eine segregierte und entwürdigende Existenz reduziert. Durch ein ganzes Dickicht von Gesetzen, Vorschriften und informellen Regeln, die allesamt durch ein soziales Stigma enorm verstärkt werden, werden sie an den Rand der Gesellschaft verwiesen und aus der Arbeitswelt ausgeschlossen. Per Gesetz wird ihnen das Recht auf Arbeit, eine Wohnung und öffentliche Fürsorge versagt – so, wie Afroamerikaner in der Ära von Jim Crow einst durch Rassentrennung zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wurden.

Wer aus bequemer Distanz auf diese Welt blickt – und zugleich Mitgefühl mit der sogenannten Unterschicht empfindet –, interpretiert die Erfahrungen der in die Mühlen der Strafjustiz geratenen Menschen meist vorwiegend durch die Brille einer popularisierten Sozialwissenschaft und schreibt den erschreckenden Anstieg der Inhaftierungsraten unter den People of Color den vorhersehbaren, wenn auch bedauerlichen Folgen von Armut, Rassentrennung, ungleichen Bildungschancen und dem Drogenmarkt zu, wie man ihn sich eben vorstellt, nämlich als einen, in dem die meisten Drogenhändler schwarzer oder brauner Hautfarbe seien. Gelegentlich höre ich bei meiner Arbeit, dass der Krieg gegen die Drogen womöglich ein rassistischer Plan sei, die Schwarzen auf ihren Platz zu verweisen. Solche Bemerkungen waren meist von einem Augenzwinkern begleitet, das den Eindruck vermitteln sollte, dieser Gedanke sei einem zwar tatsächlich schon mal in den Sinn gekommen, doch das nehme man wie jeder vernünftige Mensch natürlich nicht ernst.

Die meisten glauben, der Krieg gegen die Drogen sei die Reaktion auf den Niedergang der Innenstädte durch die Ausbreitung von Crack. Aus dieser Sicht betrachtet spiegeln die rassisch bedingten Unterschiede bei den Verurteilungen und Strafen wegen Drogendelikten sowie die explosionsartige Zunahme der Gefängnispopulation nur die übereifrigen – aber wohlgemeinten – Bemühungen des Staates wider, der grassierenden Drogenkriminalität in den armen Minderheitenvierteln Herr zu werden. Angesichts der sensationslüsternen Medienberichte über Crack in den 1980er und 1990er Jahren ist diese Ansicht vielleicht verständlich, aber sie ist schlichtweg falsch.

Es stimmt zwar, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für Crack zu einer drastischen Steigerung der Ausgaben für den Krieg gegen die Drogen (und für die Strafmaßnahmen, die die Unterschiede bei den Inhaftierungsraten verschärft haben) geführt haben, es stimmt aber nicht, dass dieser Krieg eine Antwort auf die Crack-Problematik ist. Präsident Ronald Reagan verkündete den bis heute geführten Krieg gegen die Drogen im Jahr 1982, das heißt, bevor Crack zum Thema in den Medien wurde beziehungsweise in armen schwarzen Communitys zu katastrophalen Verhältnissen führte. Ein paar Jahre später breitete sich Crack rasch in den armen schwarzen Communitys von Los Angeles und später in allen Städten des Landes aus.2 Im Rahmen ihrer Strategie, von der Öffentlichkeit und der Legislative Unterstützung für den Krieg zu erhalten, stellte die Regierung Reagan 1985 dann zusätzliches Personal ein, das öffentlich über das Auftauchen der neuen Droge Crack berichten sollte.3 Die Medienkampagne war außerordentlich erfolgreich.

Fast über Nacht waren die Zeitungen und Fernsehsender angefüllt mit Bildern von schwarzen »Crack-Huren«, »Crack-Dealern« und »Crack-Babys« – von Bildern, die die schlimmsten rassistischen Klischees über die armen Innenstadtbewohner zu bestätigen schienen. Der Medienhype um die »neue Teufelsdroge« trug dazu bei, dass aus einem ambitionierten Bundesprojekt zur Drogenbekämpfung ein echter Krieg wurde.

Der Zeitpunkt der Crack-Kampagne nährte Verschwörungstheorien und allgemeine Spekulationen, der Krieg gegen die Drogen sei womöglich Teil eines Plans der Regierung, den schwarzen Bevölkerungsteil in den Vereinigten Staaten auszulöschen. Von Beginn an kursierten auf den Straßen Gerüchte, Crack und andere Drogen würden von der CIA in die schwarzen Communitys eingeschleust. Schließlich nahm sogar die Urban League die Völkermordvorwürfe ernst. So hieß es 1990 in ihrem Bericht »The State of Black America«: »Es gibt einen Begriff, dem man sich nicht verschließen kann, wenn man den alles durchdringenden und heimtückischen Charakter des Drogenproblems für die Afroamerikaner zur Kenntnis nehmen will. So schwer es zu akzeptieren ist, es handelt sich um den Begriff des Völkermords.«4 Wie sich herausstellen sollte, waren die zunächst als abwegig verworfenen Verschwörungstheorien dann doch nicht völlig falsch. Im Jahr 1998 räumte die CIA ein, dass von ihr unterstützte nicaraguanische Guerilla-Armeen Drogen in die USA schmuggelten – Drogen, die dann auf den Straßen der innerstädtischen Viertel in Gestalt von Crack landeten. Des Weiteren bekannte die CIA mitten im Krieg gegen die Drogen, Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen Drogennetzwerke behindert zu haben, die ihren verdeckten Krieg in Nicaragua mitfinanzierten.5

Die CIA gab, das muss betont werden, nie zu (und es wurde auch nie bewiesen), dass sie die Zerstörung der schwarzen Communitys beabsichtigte, indem sie Drogen in die Vereinigten Staaten schmuggeln ließ. Trotzdem ist der kühne Völkermordvorwurf von Verschwörungstheoretikern gewiss verzeihlich, bedenkt man die verheerenden Folgen des Crack-Konsums und des Kriegs gegen die Drogen sowie den seltsamen Zufall, dass es unter den Afroamerikanern plötzlich zu einem schwerwiegenden Crack-Problem kam, nachdem – nicht bevor – dieser Krieg verkündet worden war. Er begann sogar zu einer Zeit, als der Drogenkonsum zurückging,6 und führte zu einer sprunghaften Zunahme von Verhaftungen und Strafurteilen wegen Drogendelikten vor allem für People of Color.

Die Folgen des Kriegs gegen die Drogen sind schockierend. In weniger als dreißig Jahren stieg die Gefängnispopulation in den USA von etwa 300.000 auf über zwei Millionen, woran Verurteilungen wegen Drogendelikten den größten Anteil hatten.7 Inzwischen haben die Vereinigten Staaten die höchste Inhaftierungsrate der Welt und stellen damit die fast aller anderen entwickelten Länder in den Schatten, sogar die in äußerst repressiven Regimen wie dem russischen, chinesischen und iranischen. In Deutschland kommen auf 100.000 Einwohner, Erwachsene und Kinder, 93 Häftlinge, in den Vereinigten Staaten ist die Rate mit 750 pro 100.000 etwa achtmal so hoch.8

Der Aspekt der Hautfarbe bei der Masseninhaftierung ist besonders augenfällig. Kein anderes Land der Welt steckt einen so hohen Anteil seiner Minderheiten ins Gefängnis. In Washington, der Hauptstadt unseres Landes, landen Schätzungen zufolge drei von vier jungen schwarzen Männern (und fast 100 Prozent in den ärmsten Vierteln) irgendwann einmal im Gefängnis.9 Ähnliche Inhaftierungsraten verzeichnen die schwarzen Communitys in ganz Amerika.

Diese unübersehbare Einseitigkeit lässt sich nicht mit der Zahl der Drogendelikte erklären. Studien zeigen, dass Menschen aller Hautfarben im selben Maß Drogen konsumieren und dealen.10 Wenn in Stu dien ein signifikanter Unterschiede erkennbar ist, dann der, dass Weiße, insbesondere weiße Jugendliche, eher Drogendelikte begehen als People of Color.11 Allerdings würde das keiner vermuten, der eins unserer Gefängnisse besucht, denn sie sind voll von schwarzen und braunen Drogendelinquenten. In manchen Bundesstaaten ist die Zahl schwarzer Männer, die wegen Drogenvorwürfen ins Gefängnis gesteckt werden, 20-bis 25-mal so hoch wie die weißer Männer.12 Und in vom Krieg gegen die Drogen zerstörten Großstädten haben heute 80 Prozent der jungen Afroamerikaner Vorstrafen und sind deshalb für den Rest ihres Lebens einer durch das Gesetz legitimierten Diskriminierung ausgesetzt.13 Diese jungen Männer sind Teil einer wachsenden Unterkaste, die dauerhaft eingeschlossen und aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist.

Manch einer mag überrascht sein, dass die Drogenkriminalität ab- und nicht zunahm, als den Drogen der Krieg erklärt wurde. Historisch betrachtet ist es nichts Neues, wenn zwischen Verbrechen und Strafe keinerlei Korrelation besteht. Soziologen stellen immer wieder fest, dass der Staat Bestrafung vorwiegend als Mittel der sozialen Kontrolle benutzt und daher Ausmaß und Schwere der Bestrafung mit den tatsächlich begangenen Verbrechen nichts zu tun haben.14 So erklärt beispielsweise Michael Tony in seinem Buch Thinking About Crime: »Regierungen entscheiden, wie viel Strafe sie wünschen, und diese Entscheidungen stehen in keinem einfachen Zusammenhang mit den Kriminalitätsraten.«15 Dies, so betont er, wird am deutlichsten sichtbar, wenn man internationale Vergleiche anstellt. Obwohl die Kriminalität in den Vereinigten Staaten kaum höher ist als in anderen westlichen Ländern, ist die Inhaftierungsrate dort sprunghaft angestiegen, woanders hingegen stabil geblieben oder gesunken. Zwischen 1960 und 1990 beispielsweise waren die Kriminalitätsraten Finnlands, Deutschlands und der USA nahezu identisch. Die Inhaftierungsrate in den USA vervierfachte sich jedoch, in Finnland fiel sie um 60 Prozent, und in Deutschland blieb sie gleich.16 Trotz nahezu identischer Kriminalitätsraten fiel also das staatlich verordnete Strafmaß völlig unterschiedlich aus.

Die Kriminalitätsrate in den USA liegt gegenwärtig unter dem internationalen Durchschnitt, und dennoch weist das Land heute eine Inhaftierungsrate auf, die die anderer Industrienationen um das Zehnfache übersteigt17 – eine Entwicklung, die unmittelbar auf den Krieg gegen die Drogen zurückzuführen ist. Das einzige Land der Welt, das ähnliche Inhaftierungszahlen zu vermelden hat, ist Russland, und nirgendwo sonst auf der Welt landet ein so erschreckender Prozentsatz ethnischer Minderheiten im Gefängnis wie in den USA.

Die nüchterne Wahrheit lautet, dass das amerikanische Strafsystem aus Gründen, die im Großen und Ganzen nichts mit der gegenwärtigen Kriminalitätsentwicklung zu tun haben, eine in der Weltgeschichte beispiellose Methode sozialer Kontrolle darstellt. Man könnte meinen, dass schon allein aufgrund von dessen Dimensionen die Mehrheit der Amerikaner davon tangiert sein müsse, doch es trifft vor allem Minderheiten. Diese Entwicklung verblüfft, vor allem wenn man bedenkt, dass Mitte der 1970er Jahre die angesehensten Kriminalwissenschaftler voraussagten, das Gefängnissystem werde bald verschwunden sein. Haftstrafen würden nur minimal vor Verbrechen abschrecken, schlussfolgerten viele Experten. Wer sinnvolle wirtschaftliche und soziale Chancen habe, begehe wahrscheinlich auch ohne eine drohende Gefängnisstrafe kein Verbrechen, und diejenigen, die ins Gefängnis wanderten, würden in der Zukunft mit höchster Wahrscheinlichkeit wieder straffällig. Den zunehmenden Konsens unter Fachleuten spiegelte wohl am besten eine Empfehlung der National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals aus dem Jahr 1973 wider, in der es hieß, dass »keine neuen Haftanstalten für Erwachsene gebaut und bestehende Jugendhaftanstalten geschlossen werden sollten«.18 Diese Empfehlung beruhte auf der Erkenntnis, dass »das bundesstaatliche und staatliche Gefängnis und die Besserungsanstalt nur Misserfolge gebracht haben. Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass diese Institutionen zu Kriminalität führen, statt sie zu verhindern«.19

Heute werden Aktivisten, die für »eine Welt ohne Gefängnisse« eintreten, häufig als Phantasten abgetan, doch noch vor wenigen Jahrzehnten bestimmte der Gedanke, dass es unserer Gesellschaft ohne Gefängnisse besser gehen würde – und das Ende der Gefängnisse mehr oder weniger unausweichlich sei –, nicht nur die zentrale kriminalwissenschaftliche Debatte, sondern löste auch eine landesweite Kampagne von Reformern aus, die einen Stopp des Gefängnisbaus forderten. Marc Mauer, der geschäftsführende Direktor des Sentencing Project, weist dar auf hin, dass im Rückblick das Bemerkenswerteste an der Moratoriumskampagne der Kontext war, in dem sie stattfand. Im Jahr 1972 saßen landesweit knapp 350.000 Menschen im Gefängnis, heute sind es zwei Millionen. Die Inhaftierungsrate befand sich 1972 auf einem so niedrigen Niveau, wie wir es heute nicht mehr für möglich halten, während sie für die Unterstützer der Kampagne unerhört hoch war. »Den Unter stützern des Moratoriumsbegehrens kann man ihre Naivität angesichts dessen, dass der bevorstehende Ausbau des Gefängnissystems in der Menschheitsgeschichte beispiellos war, nachsehen«, meint Mauer.20 Denn niemand konnte sich vorstellen, dass sich in der eigenen Lebenszeit die Gefängnispopulation mehr als verfünffachen würde. Für viel wahrscheinlicher hielt man die Abschaffung der Gefängnisse.

Doch nichts scheint gegenwärtig ferner zu liegen. Und trotz der nie da gewesenen Inhaftierungsraten in der afroamerikanischen Community verhält sich die Bürgerrechtsbewegung seltsam still. Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird einer von drei jungen afroamerikanischen Männern eine Zeit lang im Gefängnis verbringen, und in manchen Städten befindet sich gegenwärtig über die Hälfte aller schwarzen jungen Männer unter Kontrolle der Strafjustiz – das heißt, sitzt im Gefängnis oder steht unter Bewährung.21 Dennoch wird die Masseninhaftierung im Gegensatz zur Rassenjustiz oder den Bürgerrechten (beziehungsweise deren Krise) meist lediglich als Thema der Strafjustiz betrachtet.

Die Aufmerksamkeit der Bürgerrechtsbewegungen richtet sich vorwiegend auf andere Fragen wie die Affirmative Action. In den letzten zwanzig Jahren hat praktisch jede progressive, nationale Bürgerrechtsgruppe im Land für die Verteidigung der Affirmative Action mobilisiert und demonstriert. Der Kampf um diese Art der Minderheitenförderung in der höheren Bildung und somit für die Erhaltung der Vielfalt in den elitärs ten Colleges und Universitäten des Landes verschlingt einen Großteil der Ressourcen der Bürgerrechtler und beherrscht den Diskurs über Rassengerechtigkeit in den Massenmedien, was in der allgemeinen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, die Affirmative Action sei die Hauptfront in den amerikanischen Rassenbeziehungen – obwohl sich unsere Gefängnisse mit schwarzen und braunen Männern füllen.

Ich kann diese Entwicklung aus eigener Erfahrung bestätigen. Als ich in die ACLU eintrat, glaubte niemand daran, dass sich das Racial Justice Project auf eine Reform des Strafrechts konzentrieren würde. Die ACLU hat sich an vielen entsprechenden Projekten beteiligt, aber niemand