INHALT



» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Bildnachweise

» Impressum

» Weitere eBooks von Roger Schawinski

» Weitere eBooks von Kein & Aber





» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Roger Schawinski promovierte an der Universität St. Gallen. Er konzipierte die Konsumentensendung Kassensturz, war Chefredakteur der Tat, gründete mit Radio 24 das erste Schweizer Privatradio, darauf zwei TV-Sender. 2003 wurde er Geschäftsführer von Sat.1 in Berlin. Danach gründete er Radio 1 in Zürich. Heute moderiert er unter anderem die Talkshow Schawinski. Er veröffentlichte mehrere Bücher, u. a. bei Kein & Aber Die TV-Falle und die Autobiografie Wer bin ich?.

ÜBER DAS BUCH

Schonungslos nimmt Roger Schawinski berühmte Männer ins Visier und stellt fest: Ihrem kometenhaften Aufstieg und ebenso spektakulären Fall ist eines gemeinsam – ein ausgeprägter Narzissmus, der zur verheerenden Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten führte.

Mit Porträts von Josef Ackermann, Lance Armstrong, Franz Beckenbauer, Sepp Blatter, Steve Jobs, Jörg Kachelmann, Thomas Middelhoff, Marcel Ospel, Daniel Vasella und anderen. Sowie einem Interview über Narzissmus mit dem bekannten Psychiater Mario Gmür.

»Wenn das Ich immer größer wird und die Sicht auf die Wirklichkeit verdeckt, rückt der Abgrund näher. Mit Kennerblick seziert Roger Schawinski die Erfolgskrankheit unserer Zeit: den Narzissmus.« Stefan Aust

INHALTSVERZEICHNIS

1.

LANCE ARMSTRONG: Der Scheinheilige

2.

Das Zeitalter des Narzissmus

3.

SEPP BLATTER: Ein großer Präsident

4.

JOE ACKERMANN: Der Erste in Rom

5.

FRANZ BECKENBAUER: Der Kaiser ohne Kleider

6.

JÖRG KACHELMANN: Hybris im privaten Raum

7.

STEVE JOBS: Make the world a better place

8.

DANIEL VASELLA: Die reine Geldgier

9.

THOMAS MIDDELHOFF: Im Gefängnis

10.

MARCEL OSPEL: Master of the Universe

11.

ZWEI DROGENBOSSE UND EIN GENERAL: Selbstüberschätzung

12.

RICO HÄCHLER: Und dann war alles aus

13.

Und dies alles bedeutet …

14.

Was ist Narzissmus? Ein Interview mit Mario Gmür

Memento moriendum esse
Bedenke, dass du sterblich bist

Mit diesem Satz wurde jeder römische Feldherr während seines Triumphzugs, der ihm nach einem erfolgreichen Feldzug gewährt wurde, von einem Sklaven, der hinter ihm auf dem Wagen stand, ununterbrochen vor der Hybris gewarnt und daran erinnert, dass er nicht göttlich sei.

1


LANCE ARMSTRONG
DER SCHEINHEILIGE

Livrierte Kellner reichten exquisite Süßigkeiten, Kaffee und Digestifs. Beim Dinner, dem gesellschaftlichen Höhepunkt einer hochkarätig besetzten Tagung im Grand Hotel Kronenhof im tief verschneiten Pontresina, wurde ich zwar am Haupttisch, aber leider in einiger Distanz zum erfolgreichsten Radrennfahrer aller Zeiten platziert. Doch dann ergab sich die Möglichkeit, auf die ich den ganzen Abend hingefiebert hatte. Seine Tischpartnerin zur Linken war aufgestanden, um sich zu erfrischen. Blitzschnell und bevor mir jemand zuvorkommen konnte, griff ich mir ihren Stuhl und setzte mich neben Lance Armstrong, den ich wie Millionen andere Menschen über viele Jahre hinweg verehrt hatte. Ich stellte mich vor, begann mit lockerem Small Talk, um auf die Frage hinzuleiten, die mich seit der schockierendsten Dopingaffäre der Sportgeschichte umtrieb.

»Was war dein größter Fehler, Lance?«, wollte ich von ihm wissen.

Seine Antwort war überraschend und erhellend zugleich. Sie wies auf Eigenschaften hin, die bei Menschen mit außerordentlichen Fähigkeiten und übermäßigem Ehrgeiz oft zu erkennen sind. Eigenschaften, die sowohl zu ihren Erfolgen als auch zu ihren verheerenden Niederlagen führen.

Monatelang ging mir dieses Gespräch nicht mehr aus dem Kopf. Und so entstand die Idee für dieses Buch. Ich wollte untersuchen, welche psychologischen und institutionellen Muster bei Fällen von übersteigertem Narzissmus und Hybris als extremster Form von Narzissmus vorliegen. Die Erkenntnis darüber könnte uns einige Hinweise liefern, wie unsere heutige Gesellschaft funktioniert.

Meine Recherchen ermöglichen mir, anhand der Geschichten prominenter narzisstischer Personen aufzuzeigen, wie diese oft Spektakuläres erreichen, das die Öffentlichkeit zuerst begeistert und später meist ratlos zurücklässt. Beginnen möchte ich mit dem Drama von Lance Armstrong.

Geboren wurde er 1971 in Plano, einem Vorort von Dallas, Texas. Seinen Vater hat er nie getroffen, nachdem dieser die Familie verlassen hatte, als Lance zwei Jahre alt war. Später erzählte er, dass sein Stiefvater nicht nur hart zu ihm, sondern sogar gewalttätig war. Die einzige Möglichkeit, sich dieser Gewalt zu entziehen, war der Sport, und dort manifestierte sich sehr schnell sein außergewöhnliches Talent. Nach ersten Versuchen als Triathlet holte er sich bereits mit neunzehn den amerikanischen Titel als Rad-Amateur. Kurz darauf wechselte er ins Profilager und wurde 1993 in Oslo als jüngster Fahrer aller Zeiten Rad-Straßenweltmeister. In den folgenden Jahren kamen laufend weitere Erfolge hinzu, sowohl Tagessiege bei der Tour de France als auch solche bei Etappenrennen.

Doch dann wurde bei ihm am 2. Oktober 1996 Hodenkrebs in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert. Metastasen hatten sich nicht nur im Bauchraum, sondern auch in der Lunge gebildet, hinzu kamen zwei Tumore im Gehirn. Als Therapie standen zwei Ansätze zur Verfügung. Die damals übliche PEB-Therapie hätte aufgrund ihrer Nebenwirkungen zu einer Verringerung der Lungenkapazität und damit zum definitiven Ende seiner Radsportkarriere geführt. Lance wählte die zweite, wesentlich belastendere Chemotherapie VIP, die im Falle einer erfolgreichen Behandlung keine Auswirkungen auf seine langfristige Leistungsfähigkeit gehabt hätte. Nach zwei Operationen, bei denen ihm unter anderem der rechte Hoden entfernt werden musste, hatte er sowohl körperlich als auch psychisch vier Zyklen Chemotherapie zu ertragen.

Den Kampf gegen den tödlichen Krebs schilderte er in seiner Autobiografie It’s Not About the Bike: My Journey Back to Life, die ein internationaler Bestseller wurde. Erschienen war sein Buch kurz nach seinem Sieg im härtesten Radrennen der Welt, der Tour de France. Es wurde als einmalige Erfolgsgeschichte eines dem Tode Geweihten gefeiert, der mit schonungsloser Ehrlichkeit und unbändigem Willen etwas absolut Unmögliches erreicht hatte. Es wurde zur Inspiration für Millionen von Menschen, die Lance Armstrong deshalb in den höchsten Heldenstatus erhoben. Sein Weg vom entmutigenden Krebsbefund über das Aufbäumen gegen das vermeintlich Unvermeidliche bis hin zum strahlenden Sieger auf den Champs-Elysées war unwirklich und real zugleich. Als Lance zudem seine Krebsstiftung Livestrong gründete, für die er in den folgenden Jahren viele Millionen sammelte, erreichte sein Prestige unvergleichliche Dimensionen.

Danach gewann er die Tour de France Jahr für Jahr, insgesamt sieben Mal, was vor ihm kein anderer Radrennfahrer geschafft hatte. Irgendwann kamen erste Dopinggerüchte auf, doch sie konnten nie glaubhaft belegt werden. Laufend wurden zwar neue Sünder in diesem von Substanzen verseuchten Sport ertappt und gesperrt, nicht aber Lance, der alle Vorwürfe kategorisch zurückwies und dabei auf seine ausnahmslos negativen Dopingproben verweisen konnte.

Millionen, die sein Buch gelesen hatten, verfolgten gespannt seine sensationelle Karriere. Auch ich wollte den nur zögerlich vorgebrachten Betrugsvorwürfen gegen meinen strahlenden Helden keinen Glauben schenken, weil dies einen Teil meines moralischen Weltbildes beschädigt hätte. Mit Abscheu nahm ich zwar zur Kenntnis, dass laufend weitere Topfahrer, die zuvor hartnäckig gelogen hatten, als Dopingsünder enlarvt wurden. Aber so etwas würde der durch ein furchtbares Leiden zusätzlich geläuterte Lance niemals tun. Dank ihm gab es im immer größeren Radsportmorast zumindest einen ehrlichen Menschen, eine Lichtfigur, die den Glauben an das Gute und Wahre im Sport aufrechterhalten würde, glaubte ich wie Millionen andere Fans auch.

In jenen Jahren wurden, wie man später erfuhr, mehrere Indizien für Armstrongs Dopingmissbrauch unterdrückt, auch wenn sich die meisten Radsport-Journalisten seine unglaublichen Leistungssteigerungen rational nicht ganz erklären konnten. Sogar der korruptionsanfällige Radweltverband UCI tat einiges, um das alles überstrahlende Aushängeschild seines Sports nicht zu verlieren, wie man Jahre danach erfuhr. 2015 wurde dies in einem umfassenden Bericht einer Kommission, die von der neuen Führung der UCI eingesetzt worden war, wie folgt festgehalten. »Die UCI befreite Lance Armstrong von Regeln, verpasste es, ihn trotz Verdächtigungen gezielt zu testen, und unterstützte ihn öffentlich gegen Dopinganschuldigungen.«

Bei der Siegerehrung nach seinem siebten Tour-Sieg 2005 hielt Lance auf dem Podium eine ergreifende Rede. Er bedankte sich bei allen, die seine Erfolge möglich gemacht hatten, und verabschiedete sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere definitiv von dem von ihm über alles geliebten Sport. In den folgenden Jahren kümmerte er sich noch intensiver als zuvor um seine Krebsstiftung. Als amerikanischer Held mit einer Ausstrahlung weit über den Radsport hinaus wurde er sogar als künftiger Politiker gehandelt, als Gouverneur von Texas, später vielleicht sogar als Kandidat für das Amt des Präsidenten der USA.

Doch 2009 kehrte er überraschend in den Rennzirkus zurück. Erstmals fuhr er nun den Giro d’Italia, zusätzlich die Tour de France im gleichen Jahr, die er zur Verblüffung aller Experten als hervorragender Drittplatzierter hinter Sieger und Teamkollege Alberto Contador beendete. Größere Erfolge blieben danach aus, weshalb er im Januar 2011 sein letztes Profirennen fuhr. Anschließend konzentrierte er sich wieder auf den Triathlon, wo er dank seiner unbändigen Leistungsbereitschaft inmitten der Weltelite einige Spitzenplätze belegte.

»Was war dein größter Fehler?«, lautete meine Frage an jenem Abend. Erwartet hatte ich, dass er wie folgt antworten würde: Dass ich gelogen habe, betrogen habe. Dass ich Leute beschuldigt und verleumdet habe, die nur die Wahrheit erzählt haben. Dass ich auch engste Freunde verraten habe. Und dass ich Millionen von Fans hintergangen habe, die an mich und meine Geschichte geglaubt haben.

Doch Lance sagte nach kurzem Zögern: »Mein größter Fehler war, dass ich in den Rennsport zurückgekommen bin. Hätte ich dies nicht getan, wäre ich noch immer der bedeutendste Radrennfahrer der Geschichte. Ich hätte noch immer meine Titel als siebenfacher Gewinner der Tour de France, die man mir alle entzogen hat. Stattdessen gelte ich als der schlimmste Betrüger aller Zeiten. Das war mein größter Fehler.«

»Und warum bist du zurückgekehrt? Was war der Grund?«

»Ich kann es mir selbst nicht mehr erklären, weshalb ich dumm, so unglaublich dumm war. Ja, ich habe mich gelangweilt. Es hat mich genervt, als ich Leute wie Ivan Basso Rennen gewinnen sah, die ich auch ohne Doping locker abgehängt hätte. Und außerdem fehlte mir die Rennatmosphäre, das Adrenalin.«

»Und die Gefahr, dass du doch noch als Dopingsünder enttarnt würdest, hast du die einfach verdrängt?«

Ich fragte nach dem süßen Gift des Erfolgs, das so vieles vernebeln kann, nach jenem Gefühl also, das entsteht, wenn man lange unbeschadet auf einem Vulkan überlebt hat. Denn je länger dieser Zustand andauert, desto mehr verliert sich die Angst. In der eigenen Befindlichkeit rückt die Gefahr immer mehr in den Hintergrund, dass der Vulkan irgendwann doch noch ausbrechen und alles mit sich in den Abgrund reißen könnte.

»Ich hätte es wissen müssen, klar. Vor allem nach der Sache mit Floyd.«

Seine beiden früheren langjährigen Teamkollegen Floyd Landis und Tyler Hamilton gestanden nach seiner Rückkehr in den Radsport, jahrelang zusammen mit Lance gedopt zu haben. Armstrong dementierte wie immer, wies alle Vorwürfe als Lügen und missgünstige Retourkutschen frustrierter Ex-Kollegen zurück und drohte ihnen Klagen an – ganz so, wie er in den Jahren zuvor alle eiskalt eingeschüchtert hatte, die ihm Dopingvergehen vorgeworfen hatten. Doch nun waren die Beweise erstmals erdrückend. Die US-Antidopingagentur USADA belegte in einem detaillierten Bericht und aufgrund von Aussagen von mehr als einem Dutzend früherer Weggefährten, dass Lance Armstrong während vieler Jahre und bis zum Ende seiner Karriere immer Dopingmittel benutzt habe. Nach intensiven Recherchen befand die USADA 2012, dass es sich um das »höchstentwickelte, professionellste und erfolgreichste Dopingprogramm handelte, das die Sportwelt jemals gesehen hatte«. Und sie verhängte folgerichtig eine lebenslange Sperre gegen Lance Armstrong.

Floyd Landis war während Jahren ein enger Teamkollege und Freund von Lance Armstrong gewesen, einer der besten seines fantastischen Helfertrupps in den leuchtend blauen Jerseys, der ihn jeweils an der Spitze des Fahrerfeldes zu den steilen Aufstiegen in den Alpen und den Pyrenäen geführt hatte. Dort konnte sich Lance von allen absetzen, um als strahlender Einzelsieger ins Ziel zu kommen. Landis war jedoch 2006, als er nach dem Rücktritt von Lance zur Schweizer Mannschaft Phonak gewechselt hatte, des Dopings überführt und deshalb für zwei Jahre gesperrt worden. Als Lance 2009 mit seinem neuen Team RadioShack zurückkam, wollte Floyd aber wieder bei seinem alten Kumpel und großem Vorbild mittun. Doch Lance wies ihn ab. Er wollte unter keinen Umständen einen verurteilten Dopingsünder in seiner Mannschaft haben, da dies einen gefährlichen Schatten auf ihn hätte werfen können, wie er mir erklärte. Dieser Entscheid erwies sich jedoch als fatale Fehleinschätzung der lauernden Gefahren. Denn nun kam die verletzte Eitelkeit seines alten, von ihm abgewiesenen Freundes ins Spiel.

Der zutiefst enttäuschte Floyd Landis gestand nun alle Verfehlungen und wurde zum Kronzeugen gegen den großen Lance. Er erzählte den Ermittlern unter anderem, dass ihm Lance bereits 2002 gestanden hatte, dass man die UCI, den Rad-Weltverband, bestochen habe, um positive Dopingproben von Armstrong zu unterschlagen.

»Es ist verrückt«, sagte Lance. »Floyd wird womöglich Millionen erhalten dafür, dass er gegen mich ausgesagt hat.«

Denn der Absturz von Lance Armstrong ist noch nicht beendet. Sein langjähriger Sponsor, US Postal, hat ihn auf die Rückgabe der an ihn bezahlten Sponsor-Millionen verklagt, da das Geld aufgrund falscher Angaben und illegaler Handlungen geflossen sei. Als staatliches Unternehmen, das mit Steuergeldern finanziert ist, sei US Postal von Gesetzes wegen zu diesem Vorgehen gezwungen gewesen.

»Es geht insgesamt um 100 Millionen Dollar. Und Floyd, der ebenfalls gedopt hat, würde als Whistleblower gemäß amerikanischem Gesetz bis zu 30% erhalten, also 30 Millionen Dollar. Aber ich habe keine 100 Millionen.«

Dieses laufende Verfahren schien ihn mehr zu belasten als alles andere. Deshalb hält er bei ausgesuchten Veranstaltungen Vorträge, um Geld zu verdienen, das er nun dringender benötigt denn je. Und deshalb saß ich nun an jenem Abend neben ihm in den verschneiten Schweizer Bergen.

Lange hat Lance hartnäckig abgelehnt, sich öffentlich über sein Verhalten zu äußern. Im ersten, prominent platzierten Interview bei der amerikanischen Talkshow-Ikone Oprah Winfrey, gestand er 2013 seine Dopingvergehen, aber zu einer richtigen Entschuldigung, auf die so viele inständig gehofft hatten, konnte er sich nicht durchringen.

Später sagte er in einem weiteren Interview bestenfalls halbherzig: »Ich kann mich nicht für alles entschuldigen.«

Für seine Dopingvergehen werde er sich nicht entschuldigen, war der Subtext dieser Aussage. Denn er hatte gar keine Wahl gehabt. Wer in jenen Jahren im Radsport vorne mitfahren wollte, musste zu den besten und am schwierigsten nachweisbaren Substanzen greifen. Ohne chemische Hilfsmittel hatte man nicht den Hauch einer Chance. Auch wenn das die radsportinteressierte Öffentlichkeit nicht wahrhaben wollte, weil es die Aura ihrer Leidenschaft zerstört hätte, wusste jedermann im Rennzirkus, nach welchen Regeln alles ablief.

Nach seiner Sicht der Dinge hat sich Lance also bloß gemäß den damals gültigen Prinzipien verhalten. Doping sah er als lässliche Sünde, weil alle Spitzenfahrer genauso gefrevelt haben wie er. Er tat nur das, was alle taten. Eine Entschuldigung dafür wäre in seinen Augen heuchlerisch gewesen, auch wenn das schockierte weltweite Publikum nach seinem verbalen Kniefall lechzte, um seinem ehemaligen Helden leichter vergeben zu können.

Für ihn präsentiert sich die Lage anders. Dass er so lange nicht erwischt wurde, weil er eben cleverer, besser organisiert und vielleicht auch ruchloser und kaltblütiger war als andere, sieht er als Beweis seiner Überlegenheit, so jedenfalls erschien es mir im Gespräch. Er war intelligenter und konsequenter als die meisten seiner Rennkollegen, die von tapsigen Teamchefs und amateurhaften Ärzten beraten und angeleitet wurden, welche sie blindlings in die immer professioneller gestellten Fallen laufen ließen. Er hingegen arbeitete nur mit dem Besten zusammen, und dies war in allen Facetten des Dopingeinsatzes der später berüchtigte italienische Arzt Michele Ferrari, an den er gemäß USADA-Angaben während zehn Jahren Geldzahlungen in der Höhe von 1 029 754 Dollar überwiesen hat. Damit hatte er sich keine Vorteile, sondern nur eine Position auf Augenhöhe mit der ebenfalls konsequent dopenden Konkurrenz verschafft. In einem von Chemie dominierten Umfeld war er zweifelsfrei der Schnellste gewesen und damit der weltbeste Rennfahrer während beinahe zehn Jahren, auch wenn ihm dies heute niemand mehr zugestehen will, wie er mir erklärte. Im Abspann des beeindruckenden Spielfilms The Program, den Hollywood 2015 über sein Leben produziert hat, wird er so zitiert: »Ich glaube, es braucht einen Gewinner. Ich sage dies als Fan. Ich fühle, dass ich diese Tours gewonnen habe.«

Dass er selbst Leute in seinem nahen Umfeld systematisch betrogen und damit verletzt hat, bedauert er nicht wirklich. Dies war eben der Preis, den es zu bezahlen galt, um die Sache durchzuziehen. Und dazu war er bereit gewesen. Nur zu einer weiteren partiellen Entschuldigung konnte er sich in einem späteren Interview durchringen.

»Es tut mir leid für Leute, die Fans von mir waren, die mich unterstützt haben, mich verteidigt haben und am Schluss wie Dummköpfe dastanden. Ich sehe die negative Seite für Leute, die durch mein Verhalten verletzt wurden.«

Einen solchen weltweiten Schock hätte er nur verhindern können, wenn er sich nie hätte erwischen lassen. Das hatte er bis zu seinem ersten Rücktritt tatsächlich geschafft. Dieses Kunststück gelang ihm auch deshalb, weil er wegen seinem Krebs-Martyrium als einziger Fahrer einen Heiligenstatus genoss. Das in seinem Buch dramatisch beschriebene Unglück und seine übermenschliche Willensstärke hatten ihn mit einem scheinbar undurchdringlichen Schutzmantel der Verehrung umhüllt, der ihn bei seinen illegalen Aktivitäten lange vor zu intensiven Nachforschungen der Dopingfahnder bewahrte. Für seine Leiden hatte er also quasi eine exklusive Gegenleistung erhalten. Weshalb hätte er diese Möglichkeit nicht nutzen sollen, um von den tiefsten Tiefen in unerreichte Höhen aufsteigen zu können? Hatte er sich dies nicht unter schlimmsten Schmerzen redlich verdient? Ausgestattet mit einem extrem kompetitiven Charakter hatte es für ihn nach seiner Krankheit nur zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder würde er ganz untergehen oder zur Spitze gelangen. Und deshalb gab es in einem durch Doping korrumpierten System, das er nicht ändern konnte, nur eine Form, sich richtig zu verhalten.

Doch dies vergrößerte die Fallhöhe immer weiter. Er wusste, dass sein Sturz zahlreiche Menschen, die ihn während vieler Jahre auf einen Sockel gestellt hatten, in ihren Grundfesten erschüttern würde. Auch deshalb musste er einen solchen Ausgang der Geschichte mit allen Mitteln verhindern. Und nach seinem legendären siebten Toursieg hatte er dieses unwirkliche Ziel tatsächlich erreicht. Er hatte bewiesen, dass er selbst die gefährlichsten Klippen umschiffen konnte, etwas, was kein anderer auch nur ansatzweise schaffte. Doch dieses Gefühl der Unverletzlichkeit erwies sich als Falle. Und darum verhielt er sich dumm, unfassbar dumm, was er erst erkannte, als es bereits zu spät war.

»Gibt es da nicht noch etwas anderes, das dich bei deiner ›dummen‹ Entscheidung beeinflusst hat?«, fragte ich ihn. »Ist es nicht so, dass du dich nur dann richtig spürst, wenn du dich in Situationen begibst, in denen du möglichst große Schmerzen erfährst? Etwa wenn du dich die Alpe d’Huez raufwuchtest, um dann als strahlender Solosieger ins Ziel zu kommen? Erlebst du allein in solchen Momenten deine intensivsten Glücksgefühle? Und hast du aus diesem Grund nach deinem Rücktritt vom Radsport zum Triathlon gewechselt und wolltest sogar den Ironman in Hawaii, den wichtigsten und schwierigsten Wettbewerb dieser Sportart, gewinnen? Ist dieses Wiederholen von Extremsituationen eine Sucht für dich gewesen, auf die du einfach nicht verzichten konntest, und weshalb du alle Warnsignale überhört hast?«

»Vielleicht hast du recht«, meinte er beinahe wehmütig.

»Und die Tour de France ist mit nichts vergleichbar. Nichts reicht an sie heran. Richtig?«

»So ist es, my friend«, sagte er, schob seinen Stuhl zurück, stand auf und gab seinem mitgereisten Manager ein diskretes Zeichen, um mit möglichst wenig Aufsehen in seine Suite verschwinden zu können.

Die Geschichte von Lance Armstrong beinhaltet einige der wichtigsten Elemente, die auch in anderen Fällen von übersteigertem Narzissmus auftreten. Dies werde ich in den folgenden Kapiteln darlegen. Aber zuerst bedarf es einiger theoretischer Grundinformationen.