Wolkenblau – Eine Liebe auf Hiddensee

Jule Vesterlund

Wolkenblau – Eine Liebe
auf Hiddensee

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Jule Vesterlund

Jule Vesterlund ist das Pseudonym der Autorin Anja Behn. Neben ihrer Leidenschaft für Küstenkrimis widmet sie sich auch dem Schreiben von gefühlvollen Liebesromanen. Als waschechte Rostockerin liegt es für sie auf der Hand, dass die Wahl ihrer Settings auf die mecklenburgische Ostseeküste fällt. »Wolkenblau« – ihr Erstling bei feelings – spielt vor der romantischen Kulisse Hiddensees.

Impressum

© 2016 der eBook-Ausgabe Feelings – emotional eBooks

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ulla Mothes

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic®, München

Dieses Werk wurde bereits unter demselben Titel im
Selfpublishing bei neobooks veröffentlicht.

Alle Örtlichkeiten und die dort arbeitenden Personen sind frei erfunden.

ISBN 978-3-426-44225-8

1

Sie war wieder hier. Endlich! Der vertraute Duft von feuchtem Holz und angespültem Tang schlug ihr entgegen, als sie die ächzende Seitentür des kleinen Kiosks aufstieß. Durch die schmalen Ritzen der Holzverkleidung schimmerte der helle Morgen des ersten sonnigen Frühlingstages und tauchte den Raum in ein weiches Licht. Aufgewirbelte Staubkörner tanzten in der modrigen Luft. Langsam humpelte sie über die knarrenden Holzbohlen, verdrängte den stechenden Schmerz in ihrem Knie. Es gab so viel zu tun. Nach den langen Wintermonaten waren ihre Glieder steif. Eingerostet, wie sie zu sagen pflegte. Das Nichtstun in der dunklen Jahreszeit bekam ihr nicht. Die Hände reglos in den Schoß zu legen und stumm in das prasselnde Kaminfeuer zu starren, deprimierte sie. Ihr fehlte die Arbeit im Kiosk. Auch wenn ihre Tochter jeden Tag in ihrem kleinen reetgedeckten Haus vorbeischaute und sie mit Wolle, Rätselheften und Liebesromanen versorgte, erdrückte sie die Eintönigkeit des langen Winters. Sie brauchte Menschen um sich herum. Lachende, streitende, glückliche Urlauber. Nicht die zänkischen Weibsbilder im Rentnerklub, zu denen ihr Sohn sie jeden Mittwochnachmittag zerren wollte. Das hier war ihr Leben. Seit sechsundzwanzig Jahren öffnete sie ihren Kiosk am Schaproder Hafen. Von Anfang April bis Ende Oktober. Sieben Tage die Woche. Von morgens um acht bis Viertel vor neun, wenn die letzte Fähre nach Hiddensee übersetzte. Doch erst einmal brauchte sie mehr Licht. Suchend tastete sie nach dem Beschlag an den Holzläden und fühlte das kalte rostige Metall in ihren Händen. Mit ganzer Kraft schob sie den Riegel nach links, bis er krachend zurücksprang. Sie drückte die steifen Hände flach gegen das feuchte Holz und klappte die Läden schwungvoll nach außen. Wie schmerzhaft hatte sie diesen Anblick vermisst! Die Wellen, die sich steil aus dem Bodden emporhoben und in schneeweißen Schaumkronen brachen, das Sonnenlicht, das glitzernd über die Wasseroberfläche fiel, die Möwen, die kreischend in das graublaue Wasser stürzten, und die Insel, deren dunkle Kiefern am Horizont stolz in den wolkenlosen Himmel ragten. Sie war wieder hier.

Neugierig drehte sie den Kopf zum Fähranleger. Die »Blaue Anna« lag verschlafen und fest vertäut im Hafenbecken. Knut war nirgends zu sehen. In zwei Stunden würde er mit der Fähre die ersten Gäste nach Hiddensee bringen. Zu dieser Jahreszeit blieben die hektischen Tagestouristen, die ziellos über das Eiland streiften, noch aus. Wer jetzt die Insel besuchte, kam meist allein und mit einem Haufen ungelöster Probleme im Gepäck. Nicht selten waren diese Reisenden der Meinung: Ein paar Tage am Meer, und der Kopf ist frei. Doch der einsame, menschenleere Strand und das wechselnde Blau des endlosen Himmels schrieben ihren eigenen Rhythmus, und aus dem geplanten Wochenende wurde mitunter eine Woche oder mehr. Aber nicht alle suchten Zerstreuung. Immer wieder zog es die Menschen auch zum Arbeiten nach Hiddensee. Wie die beiden Wissenschaftler oben am Leuchtturm Dornbusch, von denen Knut ihr gestern Abend erzählt hatte. Vor vierzehn Tagen waren sie aus Stralsund angereist, zahllose Koffer mit technischer Ausrüstung dabei. Die Forschungsstation des Meeresmuseums wurde im Winter nicht genutzt, sie war nicht beheizbar. Doch mit den ersten Sonnenstrahlen bezogen die Mitarbeiter des Ozeaneums regelmäßig die alte Finnhütte an der Nordspitze.

Sie wandte sich ab und griff geschäftig nach dem Putzzeug, das ihr Sohn vor ein paar Tagen mit seinem Pick-up vorbeigebracht hatte. Bis der Lkw vom Großhandel eintreffen und die Ware für die neue Saison anliefern würde, musste alles sauber sein. Sie hängte ihren Steppmantel an die Tür, streifte die gelben Gummihandschuhe über und machte sich an die Arbeit. Mit dem Besen kehrte sie den feinen Sand zusammen, den die heftigen Herbststürme durch die Ritzen hereingeweht hatten, fegte die Spinnengewebe ab, die kunstvoll in den Ecken hingen, wischte die alten Holzregale und die abgewetzte Ladentheke sauber. Allmählich erwachte der Kiosk aus seinem Winterschlaf. Das zaghafte Klopfen hörte sie nicht, nur der Schatten, der lautlos über die weiße Holzverkleidung huschte, ließ sie hochfahren.

»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

Unsicher blickte eine junge Frau mit Sonnenbrille durch das offene Kioskfenster. Das dunkelblonde Haar, das unter ihrer groben Strickmütze hervorlugte, schimmerte im hellen Morgenlicht eine Spur rötlich. Ihre Augen waren durch die großen schwarzen Gläser nicht auszumachen, doch das leichte Zucken um die Mundwinkel verriet ihre Unentschlossenheit.

»Ich bin auf der Suche nach dem Ticketschalter für die Fähre. Können Sie mir sagen, wo ich den finde?«

Neugierig trat die Kioskbesitzerin näher an die Ladentheke und musterte die junge Frau prüfend von oben bis unten. Das lindgrüne Seidentuch, das sie um ihren Hals geschlungen hatte, flatterte leicht im kühlen Wind und ließ ihre blasse Haut noch bleicher erscheinen. Unter einem roten Trenchcoat schauten ihre langen Beine in hauchdünnen Strümpfen hervor, die hochhackigen Pumps passten farblich zu ihrem Mantel. Hoffentlich würde ihr glänzender Hartschalenkoffer noch etwas wärmere Kleidung für die Insel bereithalten!

»Bis die Hauptsaison beginnt, können Sie die Fahrkarte auch bei Knut auf der Fähre erwerben. Unser Schalter hat so früh noch geschlossen.«

Mit dem Kinn deutete sie in Richtung des weiß verputzten Gebäudes gleich neben dem Anleger, vor dem sich mittlerweile ein paar Leute tummelten. Die junge Frau hob den Kopf und folgte ihrem Blick. Ein paar Sekunden starrte sie verwirrt auf das Fährhaus, als könnte sie kaum begreifen, was sie da hörte. In der Großstadt, aus der sie unübersehbar kam, bedeutete geschlossen wahrscheinlich bankrott.

»Verstehe.« Ihre Stimme klang enttäuscht. »Ich hatte gehofft, dort einen Kaffee zu bekommen.«

Gedankenverloren rüttelte sie am Gestänge ihres Koffers und wandte sich zum Gehen.

»Nun ja, offiziell öffne ich erst morgen, aber einen Kaffee können Sie trotzdem haben.« Die Kioskbesitzerin griff nach dem Weidenkorb unter der Theke und holte eine blaue Thermoskanne hervor.

Ein dankbares Lächeln umspielte die Mundwinkel der jungen Frau. »Sie wissen, dass Sie mir damit das Leben retten«, sagte sie erleichtert und nahm ihre Sonnenbrille ab.

Sie war eine schöne Frau. Ihre alabasterfarbene Haut schimmerte samten in dem hellen Licht, doch ihre blaugrauen Augen waren gerötet. Sie hatte geweint.

Geräuschvoll plätscherte der heiße Kaffee in den braunen Plastikbecher. Sein würziges Aroma durchzog die salzige, nach Fisch riechende Luft, die vom Bodden herüberwehte. Dankbar umfasste die Frau in dem roten Trenchcoat den warmen Becher und pustete vorsichtig hinein, bevor sie den ersten Schluck nahm. »Vielen Dank! Den habe ich jetzt wirklich gebraucht.«

Die alte Frau nickte verständnisvoll. In den drei Jahrzehnten, seitdem sie hier Eis, Getränke und Zeitungen verkaufte, hatte sie schon so manchen mit dem braunen Gebräu glücklich gemacht.

»Werden Sie länger auf Hiddensee bleiben?«, fragte sie neugierig, während sie über den Inhalt des Hartschalenkoffers spekulierte.

In dem Gesicht der jungen Frau wich der weiche Zug wieder dem gehetzten, unentschlossenen Ausdruck, mit dem sie vor ein paar Minuten durch das Kioskfenster geblickt hatte. Sie schluckte und schaute zögernd zur »Blauen Anna«, auf der Knut inzwischen im breitesten Platt die ersten Passagiere begrüßte. »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich übersetzen soll.«

Lächelnd schraubte die Kioskbesitzerin den Deckel der Thermoskanne fest und schaute die junge Frau eindringlich an. »Fahren Sie. Die Insel nimmt Ihnen die Entscheidung ab. Wenn Sie drüben sind, werden Sie eine Antwort auf alles finden. Was haben Sie schon zu verlieren? Die nächste Fähre zurück geht um elf.« Behutsam legte sie ihre faltige, knöcherne Hand auf die der jungen Frau. »Und ich bin immer hier und warte mit Kaffee auf Sie.«

2

Die hohen, schlanken Kiefern warfen im hellen Sonnenlicht bizarre Muster auf den grauen Plattenweg. Über die Dünen drang laut das Rauschen der Ostsee herüber, wofür Paula dankbar war. Denn das metallische Klacken ihrer Pumps auf den porösen Steinen vermittelte ihr das Gefühl, dass sie ein störender Eindringling war, der die Idylle der Insel durchbrach. Als sie mit dem Mietwagen in aller Herrgottsfrühe in Hamburg aufgebrochen war, hatte sie über ihre Garderobe nicht weiter nachgedacht. Sie hatte einfach das in den Koffer getan, was in ihrem Kleiderschrank obenauf lag, hatte eilig ihren Mantel gegriffen und war in die Pumps geschlüpft, die am dichtesten an der Eingangstür standen. Sie wollte nur weg. Alles hinter sich lassen. Die Stadt, ihren Job, ihren Chef. Und die Enttäuschung, mit der sie jetzt leben musste.

Die Frau vom Kiosk hatte recht, die Insel nahm ihr die Entscheidung ab. Auf der Autofahrt hatten Paula noch heftige Gewissensbisse geplagt, dass sie sich klammheimlich seiner Kreditkarte bedient und die Unterkunft gebucht hatte. Doch als sie vorhin unschlüssig am Hafen herumgestanden und neidisch die Bilderbuchfamilie mit Zwillingen und braunem Labrador beobachtet hatte, die bei Knut Fahrscheine für die Rückreise kaufte, war die Wut wieder hochgekocht. Sie war jetzt sechsunddreißig und hatte in den letzten fünf Jahren all ihre Träume hinten angestellt. Verschenkt an einen treulosen, verheirateten Liebhaber. Sie würde bleiben.

Trotzig zerrte sie an ihrem Koffer und stakste unbeholfen den Plattenweg weiter. Er würde den Verlust auf seinem Bankkonto verschmerzen, wenn er die Buchung überhaupt bemerkte. Der Name eines Hotels mehr oder weniger auf seiner Abrechnung dürfte kaum auffallen, dessen war sie sich inzwischen sicher. Nicht sie sollte sich schlecht fühlen, sondern er.

An einer schmalen Abzweigung blieb Paula stehen und schaute sich unschlüssig um. »Immer geradeaus, bis der Weg sich gabelt, und dann links. Ist nicht zu verfehlen«, hatte Knut bereitwillig erklärt, als sie sich beim Verlassen der Fähre nach der Pension »Dünenrose« in Kloster erkundigt hatte. Doch stand sie bereits an der Gabelung, von der er sprach? Bedeutete gabeln in Mecklenburg-Vorpommern das Gleiche wie in Hamburg? Keine Hinweisschilder, keine Menschenseele, nur das graue Pflaster, rauschende Kiefern und der endlos blaue Himmel über ihr. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, auf eine autofreie Insel zu flüchten?

Genervt setzte Paula sich auf ihren Koffer, nahm die Sonnenbrille ab und zog das Smartphone aus der Manteltasche. Auf dem Display drei Kurzmitteilungen. Die ersten beiden stammten von ihm, die dritte von ihrem Vater. Sie ignorierte Nummer eins und zwei und drückte auf die letzte: Ich habe deinen Untermieter mit zu mir genommen. Er fühlte sich einsam ohne dich. Papa. Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Sie hatte ihrem Vater heute früh um vier einen Zettel an die Haustür gepinnt: Muss für ein paar Tage verreisen. Füttere bitte den Kater. Kuss Paula. Das mit der Katzenpflege übernahm er stets, wenn sie dienstlich verreisen musste. Oder wollte. Er hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung und kümmerte sich aufopferungsvoll um ihren haarigen Mitbewohner, der sie nach jeder Rückkehr tagelang keines Blickes würdigte. Nur der Zettel an der Tür war neu. Aber sie wollte dem Ich-habe-es-dir-doch-gesagt-Blick ihres Vaters am frühen Morgen ausweichen. Ihre Liebe zu Jan war von Anfang an ein heikles Thema zwischen ihnen, und sie konnte das sogar ein wenig verstehen. Leute seiner Generation hatten andere Vorstellungen von einer glücklichen Beziehung zwischen Mann und Frau. Doch ihr Vater musste gespürt haben, dass etwas vorgefallen und die Dauer ihrer Reise ungewiss war, darum hatte er den Kater zu sich geholt. Wer sich hier wohl einsam fühlte, ging ihr durch den Kopf.

Sie schloss seine Nachricht und scrollte wieder zu der ersten von Jan: Sehen wir uns morgen? Gleiche Zeit, gleicher Ort? Ich vermisse dich! Obwohl Paula sich auf der Autofahrt fest vorgenommen hatte, keine Träne mehr wegen dieses Scheusals zu vergießen, wurden ihre Augen feucht. Sie wusste von Anfang an, worauf sie sich eingelassen hatte. Jan hatte ihr nichts verschwiegen. Zumindest den Teil, der seine Ehe betraf. Ihre Beziehung hätte funktionieren können. Warum musste er alles kaputt machen? Paula schaute auf die Sendezeit: 23:30 Uhr. Da konnte er noch nicht wissen, dass sie verschwunden war. Sie öffnete seine zweite SMS: Warum bist du nicht im Büro? Bis zum Abgabetermin bei Hellström bleibt nicht mehr viel Zeit. 8:25 Uhr. Das sah ihm ähnlich! Nicht einmal zehn Stunden, nachdem er vor Sehnsucht beinahe zerflossen wäre, kehrte er wieder den cholerischen Chef heraus. Sie hätte auch in ihrer Wohnung mit einer Nierenkolik liegen und sich vor Schmerzen krümmen können, aber ihn interessierte nur, dass der Abgabetermin nicht ins Wanken kam. Dieser verfluchte Hellströmauftrag! Wie viele Nächte hatte sie sich um die Ohren geschlagen, wenn der Hotelpatriarch wieder einmal neue Wünsche geäußert hatte und sie von vorn beginnen musste. Und während sie Jan bei Frau und Kindern wähnte, betrog er sie mit Gesine. Sollte er doch sehen, wie er den alten Hellström zufriedenstellte.

Ein dumpfes Poltern ließ sie erwartungsvoll aufschauen. In der Ferne sah sie vom Hafen einen Radfahrer mit Anhänger den Plattenweg heraufkommen. Erleichtert sprang Paula von ihrem Koffer. Endlich jemand, den sie nach der Richtung fragen konnte, und in seinem grünen Ölzeug war der Mann schließlich unschwer als Einheimischer auszumachen. Allmählich kam er näher. Da sie ihren Koffer mitten auf den Weg gestellt hatte, musste er absteigen. Das Poltern verstummte. Paula schätzte ihn auf Ende dreißig, denn sein dunkler Bart war bereits mit einigen grauen Strähnen durchzogen. Die graue Wollmütze, unter der er seine Haare versteckt hatte, komplettierte den ersten Eindruck des bärbeißigen Insulaners. Nur die schwarze Kunststoffbrille, durch die er sie mit seinen stahlblauen Augen musterte, irritierte sie.

»Verlaufen?«

Nein, sie saß nur zum Vergnügen zwischen Nadelgehölzen und Heckenrosen auf einem riesengroßen Koffer herum.

»Kaum vorstellbar, nicht?«, fauchte sie ihn eine Spur zu patzig an, denn seine Stimme klang eigentlich angenehm warm.

In dem Gesicht des Mannes zeigte sich keine Regung, er verlagerte nur sein Gewicht auf das andere Bein und starrte sie weiter abwartend an. Paula wich seinem prüfenden Blick aus, sie wusste nur zu gut, wie sie in ihrem Aufzug auf ihn wirken musste. Sitzen gelassene Großstadtjungfer sucht Seelenheil auf einsamer Insel. Neugierig inspizierte sie den Inhalt seines Anhängers. Vier durchsichtige Wasserkanister, der »Kicker« und eine Kiste Bier. Alles klar, dachte Paula. Nicht nur deine Vorurteile bestätigen sich.

»Adresse?«

»Was?«, fragte sie perplex.

»Der Name Ihrer Unterkunft.«

»›Dünenrose‹«, erwiderte sie schnippischer als beabsichtigt.

»Bei Edda?«

Ja, du bist hier der Einheimische, ich habe es schon verstanden, dachte Paula ungehalten und verschränkte die Arme, um ihre aufkommende Ungeduld zu unterstreichen. Die Sonnenbrille in ihrer Hand wippte wütend auf und ab. Ihre Geste schien ihn zu amüsieren, denn sie glaubte, in seinen Augen einen Funken Spott aufblitzen zu sehen. Doch gerade, als sie etwas Bissiges sagen wollte, drehte er den Kopf und deutete mit einem Nicken auf die schmale Abzweigung hinter ihr.

»Noch fünfzig Meter, und Sie sind da.«

Verblüfft drehte Paula sich um und starrte ungläubig in den schmalen Sandweg hinein. Plötzlich konnte sie zwischen den Kiefern hindurch das verblichene Reetdach schimmern sehen. Die Pension war nur ein paar Schritte entfernt. Warum hatte sie das Haus nicht vorher bemerkt? Auch wenn der Mann nicht wirklich entgegenkommend gewesen war, sie würde sich bei ihm bedanken müssen. Mit einem spöttischen »Sie waren mir eine große Hilfe« auf den Lippen wirbelte sie herum. Doch alles, was sie sah, waren ein breiter Rücken in grünem Ölzeug und die Bierflaschen, die klirrend im Anhänger auf und ab hüpften.

3

Der wird Ihnen wieder Leben einhauchen«, sagte die Kellnerin mitfühlend und stellte ein dampfendes Glas Sanddorngrog auf den niedrigen Eichenholztisch. Verblüfft blickte Paula auf. Sie saß doch gerade erst zwei Minuten in dem Café und hatte noch nicht einmal in die Karte geschaut.

»Sie sehen durchgefroren aus. Am Strand bläst heute ein kräftiger Wind, stimmt’s?« Die grünen Augen der Frau glitten ungeniert über den roten Trenchcoat, der neben ihr auf der weichen Polsterbank lag.

»Ich habe die raue See hier oben ein wenig unterschätzt«, murmelte Paula. Verlegen streckte sie ihre steifen Finger nach dem Glas mit der leuchtend gelben Flüssigkeit aus. Die Wärme des Grogs strömte durch ihre klammen Hände und heizte ihren Körper allmählich wieder auf Betriebstemperatur. Die Kellnerin, eine attraktive Enddreißigerin, nickte ihr zu und verschwand in Richtung Theke. Voller Neid blickte Paula ihr nach. Sie hatte diesen leicht wippenden Gang, der den schmachtenden Blick jedes Mannes auf ihre wohlgeformten Hüften zog. Das kupferrote Haar war nachlässig zu einem Knoten zusammengesteckt und unterstrich die unbändige Natürlichkeit, die sie ausstrahlte. Wäre Jan jetzt hier, er hätte der Frau unverhohlen hinterhergeschaut. Nicht, dass es ihr erst jetzt auffiel, er hatte schon immer mit anderen Frauen geflirtet, wenn sie zusammen waren. Es hatte ihr nie wirklich etwas ausgemacht. Sie fühlte sich sicher. Geliebt. Begehrenswert. Dass dies ein Trugschluss war, hatte sie leider erst viel zu spät begriffen.

Vorsichtig nahm Paula einen Schluck heißen Grog und spürte den herben Geschmack des Sanddorns auf ihrer Zunge. Wohlig warm lief die Flüssigkeit ihre Kehle hinab. Sie blickte verstohlen zu der Uhr über dem gusseisernen Kaminofen gegenüber: Viertel nach zwei. Für Alkohol entschieden zu früh, und sie hatte noch nichts gegessen. Dem Frühstücksraum war sie am Morgen bewusst ferngeblieben, nachdem sie mit einem redseligen Ehepaar aus Bayern, das ihr mit einem überschwänglichen »Grüß Gott!« einen guten Tag gewünscht hatte, auf der Treppe zusammengetroffen war. Doch da sie sich quasi in einer Ausnahmesituation befand und niemand auf der Insel weilte, der an ihrer Schnapsfahne Anstoß nehmen könnte, beschloss sie, dass das mit dem Alkohol für heute in Ordnung ging.

Paula lehnte sich erschöpft in das weiche Polster der Bank zurück und versuchte, die quälenden Gedanken der letzten Stunden zu verdrängen. Die halbe Nacht hatte sie in ihrem kleinen Pensionszimmer wach gelegen und gegrübelt, ob die Reise an die Ostsee richtig war. In der nächsten Woche fällte Hellström seine Entscheidung, welches Büro den Zuschlag für die Inneneinrichtung seiner neuen Hamburger Luxusherberge erhielt. Da sie die leitende Innenarchitektin war, würde das Projekt erheblich in Zeitverzug geraten. Viele Absprachen mit dem schwedischen Hotelmogul hatte sie mündlich getroffen. Ohne diese Informationen war Jan völlig aufgeschmissen. An die Pläne, die sie vor ihrer Abreise auf ihren USB-Stick gezogen hatte, wollte sie gar nicht erst denken. Die acht nicht entgegengenommenen Anrufe auf ihrem Handy machten klar, in welch unangenehmer Situation Jan war. Sie würde sich nicht ewig auf Hiddensee verstecken können, über kurz oder lang musste sie ihm ins Gesicht schauen. Und ihr, dachte Paula mit einem unangenehmen Ziehen in der Magengegend. Doch als sie am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, wusste sie, dass sie noch nicht bereit dazu war. Der Stachel saß zu tief.

Die kleine Pension hatte sich als ein wahrer Glücksgriff erwiesen. Edda, eine ältere Dame mit wachen, freundlichen Augen, gehörte zu der Sorte Mensch, die sehr genau spürte, welches Maß an Aufmerksamkeit ihre Gäste wollten. Ohne große Worte hatte sie Paula das weiß getünchte und mit hellen Kiefernholzmöbeln bestückte Zimmer unterm Dach, den gemütlichen Frühstücksraum mit herrlichem Blick auf den Küstenwald und den verträumten Garten, der jedem offen stand, gezeigt. Nur das Wetter spielte nicht mit, jedenfalls nicht am Inhalt ihres Koffers gemessen. Die milde Aprilsonne von gestern verbarg sich hinter einem grauen, wolkenverhangenen Himmel, und der kalte Wind, der über der Ostsee blies, dämpfte ihre aufkeimenden Frühlingsgefühle erheblich. Beim morgendlichen Blick aus dem Fenster hatte sie mit einem Mal verstanden, warum sie bei ihrer Ankunft alle so mitleidig angeschaut hatten. Die aufmerksame Frau am Kiosk, Knut auf der Fähre, der ruppige Kerl auf dem Fahrrad und Edda, die sie diskret auf das Geschäft mit Wanderschuhen und preiswerten Regenjacken hingewiesen hatte. Nach dem Aufstehen war sie noch zuversichtlich gewesen, dass Jeans, Seidenpulli, Trenchcoat und Sportschuhe für ihren kurzen Aufenthalt völlig ausreichen dürften. Doch zwei Stunden Strandspaziergang an der tosenden Brandung hatten ihr unmissverständlich klargemacht, dass ein Besuch in dem Laden unumgänglich war.

»Darf es noch etwas sein?« Schwungvoll griff die Kellnerin nach dem leeren Grogglas und stellte es auf ihr hölzernes Tablett.

»Nein, vielen Dank.« Paula richtete sich auf. »Aber Sie können mir bestimmt verraten, wo ich das Geschäft für Outdoorbekleidung finde, das meine Pensionswirtin mir empfohlen hat.«

Schmunzelnd strich die Frau eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, hinter das Ohr. »Empfohlen klingt gut, angesichts der Tatsache, dass Edda nur unser ›Lütt Eck‹ gemeint haben kann. Zu dieser Jahreszeit gibt es nicht viele Shoppingmöglichkeiten in unserem Dorf.«

 

Paula stellte den Kragen ihres Mantels hoch und machte sich zum Hafen von Kloster auf, in dessen Nähe sie nach den Worten der Kellnerin das Geschäft finden würde. Der schmale, ungepflasterte Weg war von Reetdachhäusern und schmucken Vorgärten mit weißen Lattenzäunen gesäumt. Dahinter trotzten Narzissen und Tulpen tapfer dem kalten Wind und versuchten, ein wenig Farbe in den trüben Frühlingstag zu zaubern. Die wenigen Leute, die ihr entgegenkamen, zogen die Schultern ein und hefteten den Blick fest auf den grauen Sandboden. Auch Paula vergrub die Hände tiefer in ihren Manteltaschen. Sie hoffte inständig, dass sie in dem Laden außer wetterfesten Regenjacken auch einen wärmenden Pullover ergattern konnte. Und da die Kellnerin ihr keine alternativen Einkaufsmöglichkeiten in Aussicht gestellt hatte, hoffte sie es umso mehr. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Frau gewusst hatte, in welcher Pension sie untergekommen war. Auch wenn die Insel Hiddensee nur aus winzigen Dörfern und einigen abgelegenen Häusern bestand und die Zahl der Urlaubsgäste zu dieser Jahreszeit überschaubar blieb, erschien ihr der Verdacht, dass die Einheimischen über jeden Schritt ihrer Besucher Bescheid wussten, doch recht abwegig. Und obwohl sie mit Edda bisher nur wenige Worte gewechselt hatte, erweckte sie nicht den Eindruck einer Krösa-Maja aus Lönneberga. Was sollʼs, dachte Paula, ihr konnte es egal sein, in ein paar Tagen wäre sie sowieso wieder in Hamburg.

Der Weg machte eine leichte Biegung, und die »Blaue Anna« tauchte in ihrem Blickfeld auf. Vor der Fähre stand eine kleine Gruppe Touristen mit bunten Koffern und wartete ungeduldig darauf, dass Knut, der an einer roten Absperrkette herumhantierte, sie endlich an Bord ließ. Als Paula näher kam, blickte er auf und hob grüßend die Hand. Schüchtern streckte sie ihren rechten Arm empor. Hatte der Mann wirklich ihr gewunken? Doch da er sich anschließend wieder seelenruhig seiner Kette zuwandte, musste der Gruß ihr gegolten haben. Noch immer irritiert, ließ Paula den Fähranleger mit seinen weiß verputzten Gebäuden hinter sich und ging an der hölzernen Steganlage des Seglerhafens entlang. Der kalte Wind blies hier am Wasser wieder kräftiger. Zitternd zog sie den Mantelkragen höher und beschleunigte ihren Schritt, während sie nach dem »Lütt Eck« Ausschau hielt. Dann endlich entdeckte sie einen dunklen, flachen Holzbau. Unter einer blau-weiß gestreiften Markise klapperten drei Postkartenständer blechern im Wind. In den beiden Schaufenstern links und rechts der zweiflügligen Eingangstür hingen grobmaschige Fischernetze, an denen farbenprächtige Drachen, aufgeblasene Schwimmreifen und Fischerhemden kunstvoll drapiert waren. Davor stapelten sich Strickpullover, Brettspiele und Badespielzeug für den Strand. Zügig ging Paula auf das Gebäude zu, drückte die Klinke herunter und betrat den Laden. Die wohlige Wärme, die sie empfing, löste sofort ihre verkrampften Schultern. Sie knöpfte ihren Trenchcoat auf und schaute sich um. Was auch immer der Inselurlauber auf dem Festland vergessen haben mochte, hier fand er es, dachte Paula sichtlich beeindruckt. Obwohl das Geschäft recht eng und überladen wirkte, versprühte das »Lütt Eck« den heimeligen Charme des Tante-Emma-Ladens, in den sie ihre Großmutter als kleines Kind voller Neugier begleitet hatte. Neben ihr waren noch ein turtelndes Liebespaar und eine ältere Dame mit schwarzem Mops zwischen den vollgestopften Regalen unterwegs. Paula wandte sich nach rechts und steuerte zielstrebig auf die Wetterjacken zu, die auf einem drehbaren Ständer farblich sortiert hingen. Ihr prüfender Blick erspähte einen Friesennerz. Sie griff nach der gelben Jacke und suchte nach dem Preisschild.

»Ich bin mir sicher, der würde Ihnen hervorragend stehen.«

Erschrocken wirbelte Paula herum und blickte in ein Paar haselnussbraune Augen. Der Mann war etwa in ihrem Alter, einen halben Kopf größer als sie und ziemlich attraktiv. Mit der rechten Hand strich er sich die zerzausten, dunkelblonden Haare aus der Stirn und grinste sie breit an.

»Und was macht Sie da so sicher?«, wollte Paula wissen.

Sein Blick wanderte unverschämt langsam an ihrem roten Trenchcoat hinab. Doch in seinen Augen lag ein schelmisches Funkeln, sodass sie einfach nicht wütend sein konnte.

»Berufserfahrung.«

Paula musste lachen. »Ich hoffe für das weibliche Geschlecht, Sie verdienen Ihre Brötchen nicht mit Mode.«

Jetzt glitten ihre Augen musternd an ihm hinunter. Er steckte in einer schwarzen Jacke mit dem bekannten Tatzenlogo, die Beine seiner marineblauen Arbeitshose endeten in armeegrünen Gummistiefeln. Was auch immer er beruflich tat, Modedesign zählte definitiv nicht zu seinen Betätigungsfeldern.

Er streckte ihr, noch immer frech grinsend, die Hand entgegen. »Martin. Martin Grothe.«

»Paula Hennings.« Sein kräftiger Händedruck schien für eine Begrüßung unter Fremden ein paar Sekunden zu lang.