Das Buch
Kann es ein Leben ohne Vertrauen geben? Können wir die Fähigkeit zu vertrauen jemals zurückgewinnen, haben wir sie erst einmal verloren?
Auf einer Chinareise erleben Paul und Christine einen Albtraum: Ihr vierjähriger Sohn wird entführt. Zwar gelangt David durch glückliche Umstände wieder zu ihnen, doch die Entführer geben nicht auf, sie wollen ihn zurück. Der einzig sichere Ort für die Familie ist die amerikanische Botschaft in Peking. Aber Bahnhöfe, Straßen und Flughäfen werden überwacht. Ohne Hilfe haben sie keine Chance, dorthin zu gelangen. Wer ist bereit, ihnen Unterschlupf zu gewähren und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen? Wem können sie trauen?
Ein so spannender wie bewegender Roman über die Macht der Liebe, die Angst vor dem Verlust und die Kraft der Menschlichkeit, die auch in schwierigen Zeiten ihren Weg findet und Unmögliches möglich macht.
Der Autor
Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asien-Korrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung Risse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-Bestseller Das Herzenhören (2002) folgten Das Flüstern der Schatten (2007), Drachenspiele (2009) und Herzenstimmen (2012). Seine Romane sind in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 3 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.
JAN-PHILIPP
SENDKER
AM ANDEREN
ENDE DER NACHT
Roman
Blessing Verlag
Für Anna,
Florentine, Theresa, Jonathan
und Dorothea
PROLOG
Paul bemerkte ihn zuerst. Ein junger Mann an einer Straßenecke. Die Hände in einer leichten Windjacke vergraben, geduldig auf der Stelle verharrend, als wäre er zu früh zu einer Verabredung erschienen. Auffällig unauffällig.
Mit wachsamen Augen prüfte er jeden Wagen, der in die An Jia Lou Lu einbog.
Es war das Misstrauen in seinem Blick, das ihn verriet.
Christine hielt ihren Sohn auf dem Schoß versteckt, er lag unter einer schwarzen Decke, die nach kaltem Rauch stank. Ihre Augen geschlossen, als schliefe sie.
Paul wusste es besser.
Sie hatte nicht geglaubt, dass sie es schaffen würden. Nicht in den ersten Stunden ihrer Flucht, nicht später, als sie sich mit jedem Tag weiter von Shi entfernten. Auch heute Morgen noch nicht.
Die Ampel schaltete auf Rot, das Taxi hielt, Christine öffnete kurz die Augen, und er sah, dass sie es auch jetzt nicht glaubte. Eine Straße noch, wollte er sagen. Schau aus dem Fenster. Versichere dich selbst. Zweihundert Meter, vielleicht dreihundert, nicht mehr. Was war eine Straße, wenn man Tausende von Kilometern geflohen war?
Der Mann an der Ecke würde sie allein nicht aufhalten können.
Dann bemerkte er einen zweiten.
Und einen dritten.
Ein schwarzer Audi mit getönten Scheiben parkte unbehelligt nicht weit von der Sicherheitszone vor dem Eingang der Botschaft. Ihm fiel eine Gruppe junger Männer auf, die unter einem der Ginkobäume lungerten und Ausschau hielten.
»Nicht anhalten. Fahren Sie weiter«, befahl er dem Taxifahrer.
»Die Botschaft ist hier.«
»Ich weiß, wo die Botschaft ist. Weiter.«
Christine. Aufgeschreckt. Wie sehr die Angst ein Gesicht zeichnet, dachte Paul. Das hatte sie mit der Liebe gemein.
»Aber Sie wollten zur Botschaft.«
»Fahren Sie weiter. Weiter!«
»Wohin?«
Auch auf einfache Fragen gibt es manchmal keine Antworten. Gerade auf sie nicht.
»Wohin?«, wiederholte der Fahrer.
Zweitausend Kilometer entfernt störte ein Anruf aus der Hauptstadt ein Mittagessen.
Die Herren waren in einer Besprechung, nur im Notfall zu stören.
Kein Notfall, nein, aber von großer Dringlichkeit.
Dann müsse man sich gedulden.
Es gab einen Austausch von Unhöflichkeiten und Drohungen, dann wurde durchgestellt.
»Sie sind hier.«
»Wo?«
»In Peking. Vor der amerikanischen Botschaft.«
Ein kurzes Schweigen.
»Was sollen wir machen?«
»Hierher bringen.«
»Alle?«
»Nein. Nur den Kleinen.«
»Und die beiden anderen?«
DIE STADT
Zwei Wochen zuvor
I
Paul hatte nicht oft und nie gern getanzt in seinem Leben, und seit dem letzten Mal waren Jahre vergangen.
Aber da er zu jenen Menschen gehörte, die zu einem Kind schlecht Nein sagen konnten, am allerwenigsten zu seinem eigenen, begann er sich zu bewegen.
Er machte einen Schritt nach vorn im Takt der Musik, einen zur Seite, einen zurück. Er wippte in den Knien und drehte sich mit Schwung einmal im Kreis.
Auf seinen Schultern saß das Gewicht der Welt. So leicht, dass er nicht schwer daran trug.
David jauchzte vor Vergnügen.
Sie waren umringt von mehreren Hundert Walzer tanzenden Paaren. Manche nahmen keine Notiz von den beiden Fremden in ihrer Mitte. Andere lachten beim Anblick des groß gewachsenen Mannes mit dem Kind auf seinen Schultern, das sie alle um Kopfeslängen überragte. Sie riefen ihnen ermunternde Worte zu, winkten und klatschten in jeder Pause.
David freute sich über die Aufmerksamkeit, Paul über die Unbeschwertheit, mit der sie in Shi auf dem »Platz des Volkes« tanzten. Statt unter der drückenden Hitze Hongkongs zu leiden, genoss er mit seinem Sohn die warme Luft eines milden Herbsttages in Sichuan. Über ihnen wölbte sich ein klarer, tintenblauer Himmel. Ein heftiger Regen am Morgen hatte den Dreck aus der Luft gewaschen, was übrig blieb, hatte der Wind in den vergangenen Stunden aus der Stadt geweht.
Nach einigen Tänzen hatte sein Sohn Durst. Paul hob ihn von den Schultern, und sie gingen zu einer Reihe von Kiosken, die den Platz an einer Seite begrenzten. Die Läden verkauften Eis, Gebäck und Getränke und waren umlagert von Menschen. Aus Lautsprechern klang Hongkonger Kanto-Pop, es roch nach frischem Kaffee. Paul bestellte einen doppelten Espresso und für David eine Kugel Eis und eine Limonade. Sie setzten sich an den letzten freien Tisch auf zwei Barhocker. David wollte einen Strohhalm, Paul holte ihm einen.
»Nein, keinen gelben, einen roten.«
»Rote gibt es nicht.«
»Doch. Die Frau am Nebentisch hat einen.«
»Die Farbe des Strohhalms spielt für den Geschmack einer Limonade keine Rolle.«
»Doch, tut sie.«
»Tut sie mit Sicherheit nicht.«
»Tut sie mit Sicherheit doch. Bitte, Papa.«
Paul holte einen roten.
Sie schwiegen eine Weile und blickten über den Platz.
In der Mitte ragte eine Statue Mao Zedongs aus grau-weißem Stein in den Himmel, überüberlebensgroß. Mao hatte den rechten Arm erhoben, er winkte dem Volk oder wies ihm den Weg, so eindeutig war das nicht zu sagen. An Kopf und Schultern war der Stein auffallend hell, er war wohl erst vor Kurzem von Vogelschiss gesäubert worden.
Zu Maos Füßen hatte die Stadt große Beete angelegt, in denen rote Herbstblumen blühten. Hinter ihm wehte ein Banner: »Lang lebe der Große Vorsitzende«.
David schenkte all dem keine Beachtung. Sein Glas war leer, das Eis alle, er wollte weitertanzen.
»Gleich.«
»Wann ist gleich?«
Mit Anbruch der Dämmerung strömten mehr und mehr Menschen auf den »Platz des Volkes«: Familien, die den lauen Herbstabend genossen; Einkaufende, mit schweren Tüten beladen; junge Paare, die auf Bänken und Stühlen die Nähe des anderen suchten.
Ein alter Mann näherte sich ihnen und starrte sie unverhohlen an. Als sich ihre Blicke trafen, lachte er. Ein zahnloses, seltsames Lachen. Nicht feindlich, aber auch nicht freundlich.
Ein paar ältere Frauen gesellten sich neugierig dazu und begannen sofort, in schwerem Sichuan-Dialekt Mutmaßungen über den Fremden und das seltsame Kind anzustellen. Soweit er ihnen folgen konnte, staunten sie über Davids schwarze, lockige Haare und seine dunkelblaue Augenfarbe, die, so fanden sie einmütig, gar nicht zu seinen asiatischen Augen passten. Chinese war er mit Sicherheit nicht, aber auch kein richtiger »Gweilo«. Was dann? Japaner vielleicht? Paul unterdrückte ein Lachen und schwieg. Sie musterten ihn eindringlich und fragten, ob er der Vater oder der Großvater sei.
»Der Vater«, erwiderte Paul.
Skeptische Blicke. Vereinzeltes, ungläubiges Lachen.
Er musste ein reicher Mann sein, der sich eine junge Chinesin als Frau genommen hatte. Wo mochte sie stecken? Wahrscheinlich hatte sie ihn schon wieder verlassen. Darüber gingen, nach allem, was Paul verstand, die Meinungen weit auseinander.
David wurde ungeduldig. Er wollte tanzen.
Paul stand auf und setzte ihn sich wieder auf die Schultern.
Mitten im nächsten Walzer brach die Musik ab. Die Tanzenden hielten inne. Irritierte Blicke. Ein leises Gemurmel, das anschwoll, wieder leiser wurde, bis es ganz erlosch. Auf dem Platz breitete sich eine gespannte, unheimliche Stille aus. David beugte sich zu ihm herunter: »Was ist los, Papa?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich suchen sie nach einer neuen Musik.«
Vor den Lautsprechern begann ein Streit. Mehrere Männer und Frauen schrien sich an, ihre aufgewühlten Stimmen drangen bis zu ihnen herüber. Auf einmal erklangen andere Töne, verstummten, der Streit wurde heftiger. Sie erklangen erneut, Paul erkannte die Melodie sofort, brauchte aber einen Moment, bis er sie zuordnen konnte.
Wacht auf, Verdammte dieser Erde.
Wann hatte er das letzte Mal »Die Internationale« gehört? Die ersten Paare tanzten wieder, andere zögerten, warteten offenbar ab, wofür sich die Mehrheit entscheiden würde. Nach und nach kamen auch sie wieder in Bewegung.
Völker, hört die Signale!
David wippte begeistert im Rhythmus der Musik, Paul hielt die Beine seines Sohnes noch etwas fester.
»Warum tanzt du nicht?«, wollte David wissen.
Paul hasste Märsche und Kampflieder. Er machte ihm zuliebe trotzdem ein paar Schritte, widerwillig und unbeholfen.
»So nicht«, tönte es enttäuscht von oben. »Richtig tanzen. Wie eben.«
Paul bemühte sich.
Es folgte »Lang lebe der Große Vorsitzende«, eine Lobpreisung Maos, die zu seinen Lebzeiten täglich überall im Land zu hören war. Der Alte neben ihnen kletterte begeistert auf einen Stuhl und begann zu singen. Seine Stimme klang wie ein Krächzen, aber den Text konnte er auswendig. Die Jugendlichen, die ein paar Meter weiter auf einer Mauer hockten, amüsierten sich und schnitten Grimassen.
Paul blieb stehen.
»Weiter, weiter«, rief sein Sohn.
»Gleich.«
»Nein, jetzt.«
Als Nächstes erklang »Der Osten ist rot«.
Der Osten ist rot, die Sonne geht auf
China hat Mao Zedong hervorgebracht
Der Vorsitzende Mao liebt das Volk,
Er führt uns,
Um das neue China aufzubauen,
Hurra, führt uns nach vorn.
Mehr und mehr jüngere Paare schlossen sich den Tanzenden und Singenden an. Selbst in den beiden Cafés standen nun die meisten der Gäste, manche auf den Stühlen.
»Lied vom roten Stern«.
Der Gesang eines vieltausendstimmigen Chores schallte laut über den Platz.
Der rote Stern leuchtet, er leuchtet mit Strahlen;
Der rote Stern flackert, er wärmt unsere Herzen.
Der rote Stern ist das Herz der Arbeiter und Bauern,
Der Ruhm der Partei erstrahlt für alle Zeiten.
Die Macht der Masse. Paul schauderte, ihm war nicht wohl. Er spürte sein Herz heftig schlagen und atmete schwer. Vielleicht hätte er den doppelten Espresso nicht trinken sollen.
David hatte aufgehört zu wippen, als spüre er das Unwohlsein. Er hielt sich mit beiden Händen am Kopf seines Vaters fest.
Zwei Männer forderten den Kioskbesitzer grob auf, den Kanto-Pop abzustellen. Als dieser sich weigerte, gingen sie zu den Lautsprechern und rissen die Kabel heraus.
Danach bauten sie sich vor den Jugendlichen auf. Ein paar Worte genügten, und die Jungen und Mädchen senkten ihre Blicke, standen gehorsam auf und stimmten in den Chor ein. Nur einer blieb demonstrativ sitzen. Er trug trotz des milden Wetters eine Lederjacke, löchrige Jeans, spitze Motorradstiefel, und sein gefärbtes Haar leuchtete in einem fast weißen Blond. Sekunden später zertrümmerte ein Faustschlag sein Nasenbein. Paul wandte sich entsetzt ab.
David wollte sofort herunter von der Schulter und in den Arm seines Vaters.
Der Alte rief ihnen aufgebracht ein paar Satzfetzen zu, andere Männer, die nicht weit entfernt standen, fügten etwas an. Paul verstand nicht genau, was sie sagten, es ging offenbar aus irgendeinem Grund um Japan. Er antwortete mit einem unbeholfenen Lächeln, was sie noch mehr in Rage brachte. Die Frauen, die eben noch neugierig das Gespräch gesucht hatten, warfen ihnen feindliche Blicke zu, die Jugendlichen nickten. Paul schaute sich nach Zhang um, der bereits über eine halbe Stunde verspätet war. Er wollte einfach nur weg.
David zitterte.
Paul nahm seinen Sohn fester in den Arm. Von Weitem sah er Zhang auf sie zukommen.
An seiner Mönchskutte klebte Spucke.
II
Das Moshan-Kloster lag nur wenige Kilometer vom »Platz des Volkes« entfernt, trotzdem benötigte ihr Taxi über eine halbe Stunde. Auf dem sechsspurigen Boulevard ging es nur im Schritttempo vorwärts, wenn überhaupt. Der Fahrer fluchte. Er wechselte fortwährend die Spur, bis Zhang ihn bat, damit aufzuhören. Sie seien nicht auf der Flucht, auch wenn es auf den ersten Blick diesen Anschein gehabt haben mochte. Sie wichen auf einen Schleichweg aus und standen wieder im Stau.
Paul ertrug die Enge im Auto und den Stillstand auf der Straße nur schwer. Er hasste es, sein Tempo nicht kontrollieren zu können, und fühlte sich eingesperrt. Noch immer hatte er den Gesang der Massen im Ohr. Die wortlose Stille im Wagen ließ den Chor noch lauter klingen. Am liebsten wäre er ausgestiegen und zu Fuß weitergegangen.
Zhang saß stumm neben ihm und betrachtete ein Foto Mao Zedongs, das am Rückspiegel baumelte, darunter klebte eine weiße Plastikbüste des Großen Vorsitzenden auf dem Armaturenbrett. Paul sah ihm an, wie aufgewühlt er war. Der große Spuckefleck auf seiner Brust war noch immer nicht ganz getrocknet.
Das Taxi bog in eine Nebenstraße in der Nähe des Klosters. Sie stiegen aus, und Zhang begann auf einem kleinen Markt einzukaufen. Wie früher, dachte Paul und freute sich über diese Vertrautheit. Für einen kurzen und doch zu langen Moment hatte ihn der Anblick seines Freundes in der grauen Mönchskutte irritiert. Er hat die Uniform getauscht, war es Paul durch den Kopf geschossen.
Die eines Polizisten gegen die eines Mönchs.
Der Gedanke verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, unangenehm berührt hatte er Paul dennoch. Er kannte Zhang seit fast dreißig Jahren. Sie waren sich auf einer der ersten Reisen Pauls nach China begegnet. Zhang war damals Streifenpolizist in Shenzhen und hatte den fremden Besucher auf einer öffentlichen Toilette vor einer neugierigen Menge schützen müssen. Mit den Jahren waren sie Freunde geworden. Kein Mensch auf der Welt, von Christine vielleicht abgesehen, war ihm vertrauter.
Vor drei Jahren hatte Zhang von einem Tag auf den anderen den Polizeidienst quittiert. Er war als junger Mann nach Shenzhen gekommen und schnell von einem einfachen Streifenpolizisten zum Inspektor bei der Mordkommission aufgestiegen. In den folgenden knapp dreißig Jahren wurde er mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit bei Beförderungen übergangen. Die offizielle Begründung dafür waren sein buddhistischer Glaube und seine Weigerung, der Kommunistischen Partei wieder beizutreten, nachdem man ihn in den achtziger Jahren während einer Säuberungsaktion gegen »spirituelle Verschmutzung« ausgeschlossen hatte. Beides hätten die Kader ihm vermutlich noch verziehen, zumal er einer der besten und fleißigsten Kommissare war. Was ihn in den Augen seiner Vorgesetzten wirklich für höhere Aufgaben diskreditierte, war seine Redlichkeit. Zhang weigerte sich beharrlich, Schutzgelder von Restaurants, Bars, Hotels, Prostituierten oder illegalen Arbeitern vom Lande zu erpressen. Sogar die Umschläge mit Bargeld, die Zigaretten, den Whiskey und all die anderen Geschenke zum chinesischen Neujahr lehnte er höflich, aber bestimmt ab.
Eine Ehrlichkeit, die in der Familie Zhang oft zu Streit geführt hatte. Das Gehalt eines Kommissars und der Lohn einer Sekretärin genügten nicht, um von den Verheißungen der neuen Zeit zu profitieren. Es reichte weder für eine Eigentumswohnung noch für ein Auto. Nicht einmal einen regelmäßigen Einkaufsbummel in einem der neuen Shoppingcenter mit den vielen ausländischen Marken konnten sie sich leisten. Das Prada-Täschchen und der Chanel-Gürtel seiner Frau waren Plagiate der billigsten Sorte gewesen.
Und bei all den jahrelangen kleinen, aber stetigen Zänkereien und Streitigkeiten – Zhang hätte nicht einmal sagen können, wann es begonnen haben mochte – hatte sich ihre Liebe davongeschlichen.
Als er nach einem Korruptionsskandal zum Leiter der Mordkommission ernannt wurde und nur wenige Monate später zurücktrat, weil er wusste, dass er mit seiner Redlichkeit nur scheitern konnte, war es seiner Frau zu viel geworden.
Sie verließ ihn kurz darauf für einen deutschen Unternehmer. Ohne ein Wort zu sagen, war sie mit dem gemeinsamen Sohn ausgezogen. Als Zhang eines Abends vom Dienst kam, fehlte die Hälfte des Hausstands. Es sah aus, als hätte sie selbst die Pfefferkörner abgezählt und den Zucker abgewogen. Nun trug sie eine echte Prada-Tasche und lebte in einem der Villenviertel am Rande Shenzhens, in das sich reiche Ausländer und noch reichere Chinesen zurückzogen.
Die Trennung nach zwanzig Jahren Ehe setzte seinem Freund zu. Paul und er verbrachten in den folgenden Wochen und Monaten viel Zeit miteinander, und eines Abends sagte ihm Zhang, dass er gekündigt habe, in seine Heimat Sichuan zurückkehren und in ein buddhistisches Kloster eintreten werde.
Paul war enttäuscht und gekränkt. Enttäuscht, weil Zhang der einzige Freund war, den er je gehabt hatte, und er ihn vermissen würde. Gekränkt, weil ihn ebendieser Freund nicht ins Vertrauen gezogen, ihn nicht um Rat oder seine Meinung gefragt hatte.
Eine Woche später begleitete Paul ihn zum Flughafen. Er wollte sich verabschieden und mit dem Gepäck helfen. Doch Zhang reiste nur mit einer knallgelben Reisetasche aus Kunstleder, die so klein war, dass er sie nicht einmal aufgeben musste. Er sei vor dreißig Jahren mit nichts nach Shenzhen gekommen und wolle mit nichts die Stadt wieder verlassen.
Seit Zhangs Abschied hatten sie sich nicht mehr gesehen, nur hin und wieder telefoniert und unregelmäßig E-Mails geschrieben. Paul hatte fest vorgehabt, ihn zu besuchen, doch irgendetwas war immer dazwischengekommen.
Nun beobachtete er Zhang und sah seinen Freund, wie er ihn in Erinnerung hatte. Wie er sich skeptisch über die Tomaten beugte, den Pak Choy sorgfältig prüfte, ein Dutzend Auberginen in die Hand nahm, um die eine richtige zu finden. Wie er am Knoblauch und dem Sichuanpfeffer roch oder mit der Verkäuferin über die Qualität des frischen Tofu diskutierte. Seine Leidenschaft fürs Kochen hatte er ganz offensichtlich auch als Mönch nicht verloren.
Wie sehr hatte er Zhang in den vergangenen Jahren vermisst. Und wie leicht war es ihm gefallen, dieses Gefühl in Hongkong zu verdrängen.
Paul ahnte: Der Abschied in ein paar Tagen würde ihm schwerfallen.
Das Kloster war umgeben von einer roten, mehrere Meter hohen Mauer und lag versteckt in einer Neubausiedlung zwischen vierzigstöckigen Hochhäusern. Zhang führte sie in den Hof. An den Dachspitzen der drei Gebetstempel, die hintereinander in der Mitte standen, hingen rote Lampions und Laternen. Aus den Tempeln zogen Weihrauchschwaden in den Abendhimmel.
Sie gingen vorbei an Bergen von Bauschutt, Paletten mit neuen Dachziegeln und Backsteinen, an Holzbalken und Gerüsten. Über den Hof rannte eine Ratte.
David klammerte sich fest an seinen Vater, das Gesicht zwischen Schulter und Hals versteckt. Nur einmal hob er den Kopf und schaute sich um.
»Ich habe Hunger«, flüsterte er.
Die Küche war ein schlichter Raum mit einem langen Tisch, ein paar Hockern, einem Arbeitstresen, Herd und Spüle. In einem offenen Schrank standen Töpfe, Pfannen und Geschirr. Im Ofen loderte ein Feuer.
Zhang legte die Einkäufe ab.
»Was hältst du von vegetarischem Mapo Tofu, Lotuswurzel in süß-saurer Soße, kurz angebratenem Gemüse und zum Abschluss ein paar Dan-Dan-Nudeln. Für deinen Sohn brate ich einen Pfannkuchen mit Frühlingszwiebeln.«
»Mach dir nicht solche Arbeit. Reis und ein bisschen Gemüse reichen völlig.«
Zhang schaute ihn enttäuscht an. »Was ist denn mit dir los? Du willst unser Wiedersehen mit etwas Reis und Gemüse feiern?«
»Nein. Ich will nur nicht, dass du dir so viel Mühe machst.«
»Was heißt ich? Wir kochen zusammen.«
Zhang holte Messer, Bretter und Schalen aus dem Schrank und stellte sie vor ihnen auf den Tisch.
Paul war zu überrascht, um etwas zu erwidern. Noch nie hatte er seinem Freund beim Kochen zur Hand gehen dürfen.
Früher hatte Zhang in der Küche kaum ein Wort gesprochen. Wenn Paul etwas sagte, hörte er es nicht einmal, zu tief war er versunken in einer Welt aus Gerüchen und Gewürzen, aus Kräutern, Ölen, Pasten. Paul hatte lange geglaubt, Kochen sei für ihn nur eine andere Form des Meditierens, bis Zhang ihm die Geschichte vom alten Hu erzählte. Während der Kulturrevolution hatte er mit angesehen, wie Rotgardisten den alten Mann zu Tode prügelten, weil er es gewagt hatte, seiner Suppe aus der Küche der Kommune etwas Pfeffer hinzuzufügen. Das war Beweis genug für seine »dekadente, bourgeoise« Einstellung.
Die Suppe hatte für alle gleich zu schmecken.
Seit diesem Erlebnis, so gestand ihm Zhang, war für ihn jedes aufwendig und mit Mühe gekochte Essen ein Fest. Ein kleiner, stiller Triumph des Lebens über den Tod. Der Liebe über den Hass. Und je besser es schmeckte, je mehr der Gaumen gereizt, die Nase verwöhnt und der Magen gefüllt wurde, desto süßer war dieser Triumph. Nicht eine Mahlzeit konnte er zubereiten, ohne an Hu zu denken.
Er stellte eine Schale mit Wasser auf den Tisch und legte Lotuswurzeln, Tomaten, Zucchini, Frühlingszwiebeln, Paprika, Gurken und Karotten daneben.
»Hey, Kleiner, die kannst du waschen, wenn du willst«, sagte er an David gewandt.
Zu Pauls Erstaunen kniete sich sein Sohn auf einen Stuhl und begann mit der Arbeit. Gewissenhaft tauchte er das Gemüse ins Wasser, rieb es ab und zeigte Zhang jedes Stück. Der nickte anerkennend.
Paul nahm das gewaschene Gemüse und schnitt es in dünne Scheiben. Zhang schälte Knoblauch und Zwiebeln, rührte den Pfannkuchenteig und begann auf dem Herd zu hantieren.
Kurz darauf duftete es in der Küche nach gebratenem Knoblauch und Frühlingszwiebeln, nach Sesamöl und Ingwer.
Zhang holte eine Dose Sichuanpfeffer aus einer Schublade und roch daran.
»Weißt du, wie der früher hieß?«
Paul schüttelte den Kopf.
»Barbarischer Pfeffer.«
»Weil er so scharf ist?«
»Nein. Weil er aus Amerika nach China kam.«
Zhang lächelte, und einen Augenblick lang dachte Paul, er mache Spaß.
»Es gibt nur Barbaren auf der Welt – abgesehen von uns Chinesen natürlich.«
Eine halbe Stunde später stand das Essen auf dem Tisch. Zhang hatte auch als Mönch das Kochen nicht verlernt. Die Lotuswurzeln waren weder zu hart noch zu weich. Paul wusste aus eigener Erfahrung, wie schwierig das war. Der Mapo Tofu schmeckte auch ohne Fleisch köstlich. Zhang hatte genau die richtige Schärfe hinbekommen, der Sichuanpfeffer entfaltete seine leicht betäubende Wirkung auf Zunge und Gaumen, ohne dass der Chili im Hals brannte.
Selbst David schmeckte es. Er aß einen zweiten Pfannkuchen, dann verkroch er sich in die Arme seines Vaters und schlief nach wenigen Minuten erschöpft ein.
»Wollen wir ihn in mein Bett legen?«, fragte Zhang.
Paul nickte.
Zhangs Zimmer lag auf der anderen Seite des Hofs. Es bot Platz für ein Bett, einen Stuhl und einen schmalen Schrank. Von der Decke hing eine nackte Glühlampe. Paul legte seinen Sohn aufs Bett, deckte ihn zu und löschte das Licht. Sie setzten sich auf zwei Hocker vor die Tür. Über den Hof schlurfte ein alter Mönch, der so krumm ging, dass er nur mit Mühe geradeaus schauen konnte. Er bemerkte sie nicht.
III
»Was ist los mit dir?«, hörte er die Stimme seines Freundes.
»Was soll los sein?«
Zhang drehte bedächtig den Kopf zur Seite und schaute ihn an.
»Ich habe dich vermisst«, fügte Paul ein wenig verlegen hinzu.
Zhang erwiderte nichts. Er wandte seinen Blick ab und schaute wieder in den nur von ein paar Lampions beleuchteten Hof.
Nach einer langen Pause sagte Paul: »Alles gut.«
»Das freut mich.«
Von drinnen hörte er David im Schlaf husten.
»Und bei dir?«
»Auch alles gut.«
Vielleicht hatte er, dachte Paul, doch unterschätzt, welch unterschiedliche Wendungen ihre Leben in den vergangenen drei Jahren genommen hatten.
Der Mönch und der (erneute) Familienvater.
Suchende waren sie beide.
Aber jeder in einem anderen Winkel.
Zu berichten gab es viel, Zeit hatten sie wenig. Wo beginnen? Wie in der Eile das Wichtige vom Unwichtigen trennen?
Je bedrückender er das Schweigen empfand, desto mehr wuchs die Anspannung in ihm. Bis sie sich in einem Redeschwall entlud. Bis sein Verlangen, sich seinem Freund mitzuteilen, größer war als die Furcht, über Dinge zu sprechen, von denen er lieber geschwiegen hätte.
Ohne Pause hetzte er durch die vergangenen drei Jahre.
Die Geburt Davids und die Hoffnungen, die er damit verbunden hatte.
Der Einzug Christines. Sie hatte ihre Wohnung in Hang Hau aufgegeben und war mit Josh, ihrem Sohn aus erster Ehe, und ihrer Mutter bei ihm eingezogen. Ein Wagnis, das wussten sie beide. Ihre Mutter zog zwar nach einigen Monaten in eine kleine Wohnung in Yung Shue Wan, war aber trotzdem ein permanenter Gast.
Sein Bemühen, mit ihnen ein Haus und ein Leben zu teilen, das bis dahin nur von ihm und seinem toten Sohn bewohnt worden war. Seine Versuche, sich einzufügen, den Anforderungen, das ein Leben zu fünft stellt, zu genügen.
Was eine Familie hätte werden sollen, zeigte ihm doch nur, was er nicht oder nur in einem geringen Maße besaß: Die Fähigkeit, in einer Gemeinschaft zu leben. Sich anzupassen. Nähe zu ertragen.
Wo hätte er es lernen sollen? Ohne Vorbilder. Die schönste Erinnerung an seine Kindheit und Jugend war der Tag, an dem er als Achtzehnjähriger das Elternhaus verließ.
Familienleben. Die gemeinsamen Essen. Die Blicke. Die Gespräche, bei denen oft nur Andeutungen genügten, um sich mitzuteilen. Oder zu verletzen. Das wortlose Verstehen oder auch Nichtverstehen.
Manchmal saß er dabei, hörte zu, beobachtete und fühlte sich wie ein Imitator. Ein Familienmenschdarsteller.
Er war ein Fremder im eigenen Haus.
Christine verstand es nicht.
Ein Fremder im eigenen Leben.
Das würde sie vermutlich noch weniger verstehen.
Wie einsam man unter einem gemeinsamen Dach sein konnte. Und es war sein Fehler. Sein Unvermögen, er wusste es. Was es nicht einfacher machte.
Schlimmer noch war seine Zerrissenheit, wenn es um Justin und David ging.
Nach Davids Geburt hatte er alles getan, was er sich vorgenommen hatte. Justins Kinderzimmer neu gestrichen. Das zarte Hellblau durch ein sattes Gelb ersetzt. Die Plüschtiere in einem Karton verstaut, der nun unter ihrem Bett lag. Auf seiner Seite. Die meisten Zeichnungen und Fotos von den Wänden genommen. Justins Gummistiefel und die Regenjacke aus dem Flur weggepackt.
Er hatte es nicht übers Herz gebracht, den Türrahmen mit den Markierungen für Justins wachsenden Körper zu überstreichen.
28. Februar – 128 Zentimeter. Die letzte Eintragung.
Aber nach kurzer Bedenkzeit war er einverstanden gewesen, dass Josh ihm diese Arbeit abnahm.
Davids Wachstum sollte nicht an dem seines toten Halbbruders gemessen werden.
Und trotzdem.
Die Geburt Davids hatte seine Erinnerungen nicht verblassen lassen. Eher waren sie wieder lebendiger geworden. Das erste Krabbeln. Die ersten Schritte. Die ersten Worte. Wie konnte er anders, als dabei an Justin zu denken? Und natürlich lag auf diesen Erinnerungen ein tiefschwarzer Schatten, der jede Freude so sehr mit Schmerz vermischte, bis er beides nicht mehr trennen konnte.
Schmerzfreudefreudeschmerz.
Er hatte sich geschworen, nicht zu vergleichen. Und tat es trotzdem.
Was hatte Christine erwartet? Dass er seinen verstorbenen Sohn aus seinen Erinnerungen tilgte? (Natürlich nicht, behauptete sie.) Vergessen war ein Verwandter des Todes. (Darum geht es nicht, Paul!)
Auch darüber gerieten sie häufiger in Streit.
Und trotzdem war die Liebe nicht weniger geworden. Zumindest seine nicht. Vielleicht war sogar das Gegenteil der Fall. Bei Christine war er sich manchmal nicht mehr so sicher.
Zhang hörte zu. Blickte ihn hin und wieder von der Seite an. Das Zhang-Gesicht. Zugewandt, offen, mit tiefen Falten und mehr als nur einer Spur Melancholie in den Augen.
Irgendwann gingen Paul die Worte aus, und sie konnten schweigen.
»Schwierig«, sagte Zhang leise nach einer langen Pause. »Sehr schwierig.«
Mehr an Zuspruch bedurfte es nicht.
Seine Lebenssituation war genau das: schwierig. Sehr schwierig. Niemand konnte ihm etwas von der Last nehmen. Er würde einen Weg finden müssen. Vermutlich jeden Tag aufs Neue.
Paul hörte seinen Sohn heftig husten, stand auf und schaute nach ihm. Als er zurückkehrte, lehnte Zhang an einem Pfeiler, blickte in den Nachthimmel und rauchte.
»Ich dachte, du hättest aufgehört.«
»Habe ich auch«, erwiderte Zhang lakonisch. Ein knappes Lächeln.
Vielleicht, dachte Paul, würde ihm das Leben auf Lamma leichter fallen, wenn es häufiger Abende gäbe wie diese. Er schwor sich, seinen Freund in Zukunft häufiger zu besuchen.
»Was war das eigentlich für ein Spuk auf dem Platz heute Nachmittag?«
»Shi hat einen neuen Parteivorsitzenden, Chen Jian Guo. Nie von ihm gehört?«
Paul überlegte. Der Name kam ihm bekannt vor. »Chen Jian Guo? Hieß nicht so ähnlich einer der Helden, die mit Mao auf dem Langen Marsch gekämpft haben?«
»Richtig«, bestätigte Zhang. »Chen ist sein Sohn. Ein aufsteigender Stern in der Kommunistischen Partei. Er muss ein glühender Anhänger der Kulturrevolution sein.«
»Saß sein Vater damals nicht im Gefängnis?«, wunderte sich Paul.
»Ja. Er auch. Die ganze Familie. Seine Mutter hat sich umgebracht deshalb. Trotzdem hat er das Singen der roten Lieder in der Öffentlichkeit wieder eingeführt.«
»Haben die vielen Plakate und Propagandaposter an den Straßenrändern auch was damit zu tun?«
»Ja. Alle paar Wochen beginnt eine neue politische Kampagne gegen irgendein Übel. Und die Menschen lieben es. Du hast noch nicht von ihm gehört?«
»Doch, jetzt erinnere ich mich. Aber viel weiß ich nicht über ihn.«
Zhang nickte. »Merk dir den Namen. Er ist sehr charismatisch und extrem ehrgeizig. Viele glauben, er wird einmal der mächtigste Mann Chinas. Er hat in Shi aufgeräumt und regiert die Stadt wie ein roter Kaiser. Regelmäßig ein paar Schauprozesse, ein paar Hinrichtungen. Er droht den Reichen, schimpft auf die korrupten Kader und Bonzen und ist selber einer. Aber das kommt gut an. Er ist sehr populär.«
Plötzlich vernahmen sie eine Stimme in der Dunkelheit.
»Meister Zhang?«
Sie drehten sich erschrocken um. Vor ihnen stand ein Mann, er senkte den Blick und verneigte sich.
»Xi, was machst du hier zu so später Stunde?«
»Entschuldigen Sie die Störung, aber darf ich Sie einen Moment sprechen, Meister Zhang? Es ist dringend.«
IV
Zhang zuckte jedes Mal zusammen, wenn ihn einer seiner Schüler mit »Meister« ansprach. Schon der Ton war ihm unangenehm.
Er hatte, gegen den Willen des Abts, ein Jahr nach seiner Ankunft begonnen, Besucher des Klosters zu abendlichen Gesprächskreisen einzuladen, um über die Lehren Buddhas zu reden. Daraus hatte sich eine kleine, aber treue Gemeinde entwickelt, die sich wöchentlich traf und in Zhang ihren Lehrmeister sah. Sie bewunderten seine Entscheidung, den Versuchungen der Welt zu widerstehen und ins Kloster zu gehen. Weil er aus seinem Denken Konsequenzen gezogen hatte, galt er für sie als Weiser. Weil ihn materielle Dinge nicht interessierten, verehrten ihn manche wie einen Guru.
Auch wenn ihm ihre Bewunderung schmeichelte, wusste er, dass sie dem Falschen galt.
Er war kein Meister. In keinem Sinne.
Er war schwach. Er war klein, ängstlich und verführbar.
Er war ein Suchender.
Wie sie alle.
Xi musste in Not sein, wenn er ihn so spät am Abend aufsuchte. Zhang entschuldigte sich bei Paul, nahm Xi beiseite und ging mit ihm ein paar Schritte über den Hof.
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich habe einen Anruf von einem Freund in der Partei bekommen«, flüsterte Xi. Seine brüchige Stimme verriet, wie aufgeregt er war, dünne Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Ich werde in den kommenden Tagen verhaftet.«
Zhang atmete tief durch und musterte ihn kühl. Xi war einer seiner wissbegierigsten Schüler. Er hatte das Kloster in der letzten Zeit häufiger mit großzügigen Summen unterstützt, die Mönche nannten diese Spenden spöttisch sein »Seelenschutzgeld«.
Soweit Zhang wusste, hatte er sein Vermögen mit dem Bau von Wohnungen und Altenheimen gemacht. Er hatte eine junge Frau, einen Sohn, zwei Geliebte und seit einigen Monaten jede Menge Sorgen. Seinen Reichtum verdankte er korrupten Beamten in der Stadtverwaltung, die jetzt einer nach dem anderen den Säuberungsaktionen Chens zum Opfer fielen. Die neuen Kader waren zwar nicht weniger gierig, gehörten aber in der Partei zu einer anderen Fraktion und machten ihre Geschäfte mit ihren eigenen Leuten.
Zhang war nicht sicher, was Xi von ihm wollte. Er musste damit gerechnet haben. »Überrascht dich das?«
»Nein.«
»Findest du es ungerecht?«
»Ja … Nein … Ja.«
»Gibt es Gründe, dich zu verhaften?«
»Ja.«
»Sind wir nicht alle verantwortlich für die Konsequenzen aus unserem Handeln?«
»Doch.«
»Warum ist es dann ungerecht?«
»Weil … weil ich nur gemacht habe, was alle machen.«
Zhang seufzte kurz. Er wollte jetzt keine längere Diskussion über die Lehren Buddhas. »Wie kann ich dir helfen?«
Xi zögerte mit einer Antwort. Er blickte zu Boden und sprach noch leiser. »Ich könnte morgen über Hongkong nach Amerika fliehen. Ich habe ein Visum.«
»Und?«
»Ich müsste alles zurücklassen. Auch meinen Sohn und meine Frau. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Und du glaubst, ich könnte dir das sagen?«
Xi nickte. »Ja.«
Zhang schüttelte leicht den Kopf. »Da täuschst du dich.«
»Meister Zhang, ich vertraue Ihnen. Sie wissen, was ich zu tun habe.«
»Nein.« Zhang fühlte sich zunehmend unwohler. Der Tonfall, die Körpersprache berührten ihn unangenehm, was als Ausdruck des Respekts gemeint war, empfand er als devot und unterwürfig.
»Bitte, Meister Zhang. Geben Sie mir wenigstens einen Rat.«
»Wer bin ich, dir einen Rat zu erteilen? Die Antwort liegt in dir.«
»Nein«, widersprach Xi heftig. »Nein, sonst wäre ich nicht hier.«
»Die Entscheidung kann dir keiner abnehmen.«
»Ich weiß, aber ich bin zu verwirrt. Ich brauche Ihre Hilfe, Meister Zhang. Sie müssen mir sagen, was ich tun soll. Kann ich meine Familie allein lassen?«
Zhang versuchte, sich seinen aufsteigenden Ärger nicht anmerken zu lassen. »Das kann ich dir nicht sagen. Niemand kann das, außer du selbst.«
Er sah die Enttäuschung in Xis Gesicht. Auch die Verzweiflung.
Aber er verspürte kein Mitleid. »Ich kann dir in diesem Fall nicht helfen«, sagte er knapp. »Gibt es sonst noch etwas?«
Sein Schüler wollte etwas erwidern, überlegte es sich anders und schwieg.
»Dann musst du mich jetzt entschuldigen, ich habe einen Freund aus Hongkong zu Besuch.«
Xi schluckte, biss sich auf die Lippen, zögerte einen Augenblick, drehte sich dann wortlos um und verschwand langsam in der Dunkelheit. Zhang blickte ihm hinterher, überlegte kurz, ihn zurückzurufen, aber das wäre unehrlich gewesen. Er meinte jedes Wort so, wie er es gesagt hatte. Dem gab es nichts hinzuzufügen.
Zhang kehrte zu Paul zurück und schilderte ihm das kurze Gespräch.
»Ich wusste gar nicht, dass du so …«, Paul suchte nach dem passenden Wort, »so schroff sein kannst.«
Zhang steckte sich nachdenklich noch eine Zigarette an. »Ich auch nicht.«
»Ich dachte, in einem buddhistischen Kloster lernen die Mönche Gelassenheit«, sagte Paul mit freundlichem Spott.
Für einen Moment schloss Zhang die Augen und atmete tief ein und aus. Sein Atem war flach, das Gespräch hatte ihn angestrengt. Der Freund sprach etwas an, was ihn schon seit Monaten beschäftigte.
Natürlich hatte er selbst das auch gehofft. Er hatte sein altes Leben in Shenzhen nicht hinter sich gelassen, um auf Abenteuerreisen zu gehen. Er war nach Shi zurückgekehrt und musste feststellen, dass die Stadt nur noch den Namen mit seinem Geburtsort gemein hatte. Nichts erkannte er wieder, kein Haus, keine Straße, keinen Park. Seine Kindheit und Jugend waren wie ausgelöscht. Zhang war aufgebrochen in der Hoffnung, in einem Kloster in seiner Heimat Sichuan etwas zu finden.
Er wollte meditieren und sich den Lehren des Buddha widmen, aber nicht als Selbstzweck. Das Studium sollte ihm zu mehr Ruhe und Gelassenheit verhelfen, zu einem inneren Gleichgewicht. Die Schwermut vertreiben, die ihn seit der Kulturrevolution wie ein Schatten verfolgte. Je älter er wurde, desto mehr sehnte er sich nach einem Seelenfrieden, den er, wenn er ehrlich war, in seinem Leben nie besessen hatte.
Er hatte gehofft, Antworten zu finden, und nun war er sich nicht einmal mehr sicher, auf welche Fragen.
Er räusperte sich. Paul wartete geduldig.
»Ich weiß nicht«, hob er an, »ob ich am richtigen Ort bin. Es fällt mir auch nach drei Jahren noch schwer, mich an ein Leben ohne Mei zu gewöhnen. Ich vermisse ihr Lachen. Ich vermisse ihren Geruch am Morgen neben mir. Ich vermisse sogar ihre Nörgeleien.
Und ich vermisse meinen Sohn, auch wenn wir uns nie so nah waren, wie ich es mir gewünscht habe. Oder vielleicht gerade deshalb. Seit meinem Umzug ins Kloster haben wir keinen Kontakt mehr. Meine Nachrichten auf seiner Mobilbox blieben unbeantwortet, meine E-Mails auch. Irgendwann habe ich es aufgegeben. Ich glaube, in seinen Augen bin ich schlicht ein Verlierer. Jemand, der zu alt oder zu dumm ist, sich der neuen Zeit anzupassen. Er kann nicht verstehen, dass ich es vielleicht gar nicht möchte. Angeblich arbeitet er als Makler in Shenzhen.
Es gibt viele Arten, seine Kinder zu verlieren, Paul. Ich weiß, mit wem ich rede, ich sage das nicht leichtfertig.«
Er hatte diese Gedanken noch nie so klar formuliert, geschweige denn jemandem gegenüber laut ausgesprochen. Erst jetzt, als er sie selber hörte, verstand er, wie traurig sie klangen. Wie verletzt er war.
Paul kannte ihn gut genug, um jetzt keine Fragen zu stellen.
»Das Leben im Kloster hatte ich mir anders vorgestellt. Der erste Abt war ein Maoist in grauer Kutte. Er glaubte, der Erleuchtete hätte seine Lehren ihm, und nur ihm, direkt ins Ohr gepredigt. Er war strikt und streng in der Auslegung der Worte Buddhas. Er kannte keine Zweifel und keinen Widerspruch und wollte nichts davon hören. Du warst entweder ein Gläubiger oder ein Ungläubiger. Den anderen Mönchen kam das sehr entgegen, ich habe es kaum ertragen.
Als er vor einem Jahr die Leitung eines Klosters in Yünan übernahm, war ich erleichtert. Mit dem neuen Abt ist alles anders, aber nichts besser geworden. Er will das Kloster ausbauen und in eine Touristenattraktion verwandeln. Wir haben jetzt einen Souvenirladen, der von uns Mönchen gesegnete Jadesteine verkauft. Er ist sicher, dass es dafür in der Stadt einen großen Markt gibt. Das sind seine Worte, kannst du dir das vorstellen? Letzte Woche war ein Marketingteam von einer Werbeagentur hier. Der Abt will ein zweites Kloster auf dem Land kaufen und dort ›Retreats‹, Yogaklassen und Wochenendseminare veranstalten.
Ich denke immer häufiger darüber nach, das Kloster wieder zu verlassen.
Aber was soll ich stattdessen machen? Wer beschäftigt einen über sechzigjährigen Expolizisten, Exmönch, Exehemann? Ich könnte als Berater in einer privaten Sicherheitsfirma arbeiten, da gab es sogar mal ein Angebot. Das ist krisensicher und hat Zukunft.
Angst haben die Menschen immer.
Selbst das Meditieren fällt mir hier schwerer als früher in Shenzhen, und ich weiß nicht, warum. Die Fragen nehmen zu. Die Zweifel. Ja, sogar die Ängste, aber wem sage ich das?«
Zhang schwieg für eine Weile und zündete sich noch eine Zigarette an.
»Ein Leben im Kloster erfordert Leidenschaft und Hingabe«, sagte er nachdenklich. »Es ist voller Entbehrungen, wobei ich gar nicht genau sagen kann, was ich vermisse, abgesehen von Mei und meinem Sohn. Ich hatte in Shenzhen außer dir ja keine Freunde. Ich hatte kein geselliges Leben. Ich war ein Einzelgänger, schon immer.
Vielleicht ist es die Hingabe, die ich nicht mehr aufbringen kann. Die Passion für eine Idee. Die Demut. Oder ist es Ignoranz, die es braucht, den Glaubenssätzen eines anderen Menschen ohne Widerspruch zu folgen? Möglicherweise fehlt mir der Wille oder die Fähigkeit, in einer Gemeinschaft Geborgenheit zu finden, ich weiß es nicht. Aber vielleicht mache ich es auch viel zu kompliziert, und es ist ganz simpel: Vielleicht habe ich einfach genug geglaubt in meinem Leben.«
V
Paul erwachte vor seinem Sohn. David hatte, wie so oft in den vergangenen Monaten, unruhig geschlafen, im Traum gesprochen und ihn in der Nacht mehrmals mit Fußtritten geweckt. Nun lagen sie ruhig nebeneinander, Nase an Nase. Paul beobachtete sein schlafendes Kind. Die trockene Luft der Klimaanlage hatte seine Lippen spröde werden lassen, er durfte später nicht vergessen, sie einzucremen.
Er lauschte dem schnellen, gleichmäßigen Atem. Er betrachtete die hohe Stirn, die kleine Nase. David hatte von seiner Mutter den leichten Teint der Südchinesen geerbt, er sah ganz anders aus als Justin mit seiner blassen, fast durchscheinenden Haut.
Justin. Ein schmächtiges Kind. Schon bei der Geburt.
Paul schauderte. Er wollte sich nicht erinnern. Warum mussten seine Gedanken jetzt wieder in die Vergangenheit schweifen? Er war hier. In Shi. In einem Hotel, im Bett. Neben David. Er wollte nichts als diesen Augenblick erleben. Es gab kein Gestern. Und kein Morgen. Er wiederholte die Wörter und konzentrierte sich auf das Atmen neben ihm.
Für einen kurzen, kostbaren Moment spürte er nur die warme Luft, die aus Davids Nase strömte. Sanft glitt sie über seine Haut. Noch trug sie den leicht süßlichen Kindergeruch, der sich bald für immer verflüchtigen würde.
Dann kroch die Angst wieder in ihm hoch, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Es war die Furcht, das Pochen dieses kleinen Herzens könnte abrupt enden.
Einfach so.
Warum sollte es das?, hatte Christine ihn gefragt, als er ihr einmal von seiner Sorge erzählte. Sie verstehe seine Ängste, aber David war ein gesunder, völlig normal entwickelter Junge, das bestätigten die Ärzte bei jeder Untersuchung. Kinderherzen hören nicht einfach so auf zu schlagen, Paul. Nicht ohne Grund.
Er hatte traurig genickt. Wie hatte er erwarten können, dass sie verstehen würde, was er meinte?
Paul stand auf und öffnete die Vorhänge einen Spalt. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm sein Telefon und schaute im Internet nach, was sich an der Börse in Hongkong tat. In den vergangenen Jahren hatte er viel Geld mit Aktien verdient. Er setzte immer auf fallende Kurse, was, wie Christine meinte, seinem pessimistischen Naturell entsprach.
»Warst du auch mal vier?«
Paul schaltete das Telefon aus und drehte sich überrascht um. »Guten Morgen, mein Kleiner.«
»Warst du auch mal vier?«, wiederholte David seine Frage.
»Na klar.«
»Und wo war ich da?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Paul. Die falsche Antwort. Eingeständnisse seines Unwissens irritierten seinen Sohn jedes Mal und führten nur zu mehr Fragen, auf die Paul keine Antworten wusste.
David blickte ihn sogleich beunruhigt an. »Warum nicht? Du weißt doch immer, wo ich bin.«
Paul zog die Vorhänge auf, setzte sich zu ihm aufs Bett und überlegte. »Ich habe Quatsch erzählt. Du warst natürlich in Mamas Bauch.«
Sein Sohn nickte zufrieden.
Für einen Moment wusste Paul nicht, was er sagen sollte. Die Stille war ihm unangenehm.
»Hast du Hunger?«
David erwiderte nichts. Er war kein guter Esser.
»Wollen wir im Bett frühstücken?«
»Was gibt es denn?«
»Was du willst. Ein Ei. Cornflakes. Brötchen. Jemand bringt es uns sogar aufs Zimmer.«
»Wirklich?« Die Idee schien ihm zu gefallen. Er richtete sich auf und überlegte.
»Ich möchte in der Badewanne essen.«
»In der Badewanne können wir nicht frühstücken. Dann wird doch alles nass.«
»Dann in einer Höhle!«
»In was für einer Höhle?«
»Wie du sie gestern gebaut hast.«
Eine halbe Stunde später hockte Paul mit eingezogenem Kopf unter der Bettdecke, die er wie ein Zeltdach zwischen Schreibtisch und Sessel gespannt hatte, beschwert von Bügeleisen, Radiowecker und Wasserkocher. David lag vor ihm unter dem Schreibtisch, sie aßen Toast mit Himbeermarmelade, tranken Orangensaft, heiße Schokolade und grünen Tee und waren auf der Flucht vor einem grünen, feuerspeienden Drachen, weshalb sie nur ganz leise sprechen durften.
»Was wollen wir heute machen?«, flüsterte Paul.
»Zu den Pandabären gehen«, erwiderte David ohne Zögern.
»Aber da waren wir schon gestern.«
»Das macht doch nichts. Hat es dir nicht gefallen?«
»Doch. Sehr.«
»Dann können wir ja wieder hingehen.«
Da Paul keinen besseren Vorschlag hatte, konnte er sich dieser Logik nicht widersetzen.
Der Pandabären-Zoo hatte ihm sogar ausgesprochen gut gefallen. Es war eine Anlage, wie er sie in China noch nicht gesehen hatte. Der Rasen war frisch gemäht, die Bäume sorgfältig beschnitten. Ältere Frauen leerten die Mülleimer. Nirgendwo lagen Plastiktüten oder Flaschen herum. Die Toiletten im Souvenirladen waren sauber und funktionierten. Hinter jeder zweiten Biegung wiesen Schilder die Besucher darauf hin, was sie alles nicht durften: Spucken. Fluchen. Vordrängeln. Den Rasen betreten. Unhöflich sein. Schmutzige Kleidung tragen. Zu Pauls großer Verwunderung hielten sich die Menschen daran.
Sie spazierten durch einen dicht bewachsenen Bambushain, dessen lange Stämme sich über ihnen zu einem Dach neigten. Es sah aus, als liefen sie durch einen langen, grünen Tunnel. Eine Windböe brachte den Bambus zum Schwingen, sein lautes Knarzen erschreckte David. Er blieb stehen. »Gibt es in China Drachen?«
»Nein.«
»Woher weißt du das?«
»Das habe ich gelesen. Sie sind vor vielen Jahren ausgestorben.«