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unterstützt von Melinda M. Snodgrass

präsentiert

DER HÖCHSTE EINSATZ

Wild Cards 3

Geschrieben von
Daniel Abraham, S. L. Farrell, Victor Milán,
Melinda M. Snodgrass, Caroline Spector,
Ian Tregillis


Ins Deutsche übertragen
von Simon Weinert

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Wild Cards 3 – Suicide Kings« bei Tor Books, New York.

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Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2016

bei Penhaligon, einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © 2009 by George R.R. Martin and the Wild Cards Trust

Published by agreement with the authors and the authors’ agent,
The Lotts Agency, Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Verlagsgruppe Random House GmbH.

Umschlaggestaltung und Composing Art: Isabelle Hirtz, Inkcraft,
unter Verwendung eines Fotos von Phoung Herzer, Dojo Filmhouse;
Fersch Media Filmbüro, München

Redaktion: Catherine Beck

HK · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15931-3
V002

www.penhaligon.de

Für Wanda June Alexander
und alle Englischlehrer auf der ganzen Welt

Ohne euch gäbe es keine Leser

Donnerstag, 26. November

Thanksgiving

Guit Distrikt

Der Sudd, Sudan

Arabisches Kalifat

Von hier oben war alles so eindeutig.

Links waren die Simba-Brigaden, die Streitkräfte des People’s Paradise of Africa. Sie waren dummerweise in ein Gebiet vorgedrungen, das gerade mal ein paar Quadratmeilen maß und in den Papyrussümpfen im südlichen Sudan lag, im sogenannten Sudd. In der bleichen sudanesischen Morgensonne glitzerten die Gefechtsstellungen, die sie mit Bulldozern eingegraben und hinter Gebüsch und kleinen Baumgruppen versteckt hatten. Es waren vor allem indische Vijayanta-Panzer und britische Mark III aus Nigeria, die im Grunde denselben Panzertyp darstellten. Sporadisch waren sie von den Schutzpatronen des PPA, den Chinesen, aufgerüstet worden.

Neben den Kampfpanzern lagen Panzerwagen, Spähpanzer und mechanisierte Infanterietruppen von einigen tausend Mann Stärke in Stellung. Sie bestanden aus altgedienten Veteranen des Kriegs, der zur Befreiung und Vereinigung Zentralafrikas geführt hatte. Die Truppen waren von gnadenlos ausgebildeten Nigerianern durchsetzt. Unter der Anleitung indischer Offiziere hatten sie versucht, den Feind, der an diesem namenlosen oder zumindest nicht dauerhaften Zufluss oder Seitenarm des Nils an Land ging, abzufangen, bevor er auf manövrierbares Gelände gelangte. Jetzt lieferten sie sich eine verzweifelte Schlacht gegen die zahlenmäßige Übermacht der Panzer und Truppen des Kalifats, ausgerüstet mit leichten Geschützen und Raketen.

Die Panzergeschütze hallten wie Donner. Raketen schossen hervor und zogen Striche aus flauschigem weißem Rauch hinter sich her. In der feuchten Luft, die so schwer war, dass der am Himmel kreisende Mann beinahe meinte, darauf laufen zu können, verflüchtigte sich der Rauch langsam. Fahrzeuge verwandelten sich plötzlich in Feuerbälle, und die tödlichen Explosionen lösten Schockwellen aus, die sich ringförmig ausbreiteten und auf die nackte, blasse Gesichtshaut des Mannes einprügelten. Säulen aus schwarzem Rauch und roten Flammen trugen den Geruch verbrannten Benzins in den Himmel. Für Augenblicke wurde der Gestank der faulenden Sumpfvegetation vom säuerlichen Treibstoffqualm überdeckt, danach roch man das trügerische Grillaroma verbrannten Menschenfleischs.

Er war zu weit oben, um die Schreie zu hören. Nicht dass man sie aus dem kolossalen, erdrückenden Lärm der modernen Kriegsführung herausgehört hätte.

Unter dem Schutz russischer Panzerflussschiffe rollten die Streitkräfte des Kalifats von den Barken an Land. Die grünen Flaggen, die sie gehisst hatten, wurden vom selben Wind gekräuselt, der auch die kackbraune Oberfläche des Flusses in träge Bewegung versetzte. Auch die Kampffahrzeuge stammten größtenteils aus Russland. Flache T-75 und ein paar moderne T-90 führten den Vorstoß an, gefolgt von Staffeln aus BMP-1 und -3 mit schnarrenden 30-Millimeter-Maschinengeschützen und lasergeführten Panzerabwehrgeschossen, die aus niederen Geschütztürmen hervorschossen.

Nachdem das PPA anfangs Erfolge verzeichnet hatte, zahlte sich die zahlenmäßige Überlegenheit der Kalifatstruppen nun doch aus. Da sie ihre Position durch eigenes Feuer verrieten, wurden ihre Jagdpanzer und Artilleriestellungen schnell zerstört. Die Armee der Angreifer nahm die klassische Halbmondformation des Islam ein, indem sie zwei lange Seitenflügel bildete, die ihre Feinde halbkreisförmig umschlossen. Jetzt konnten die Infanteristen aus den gepanzerten Truppentransportern springen, die Feinde aufspüren und töten. Doch trotz hoher Verluste hielten die in Tarnfarben gekleideten Veteranen des PPA hartnäckig stand und kämpften weiter.

So hoch über der Erde, die Wolken am Himmel durchschneidend, kümmerte es den Mann nicht, ob er gesehen wurde. Natürlich war es besser, wenn man ihn nicht sah, denn so war der Überraschungseffekt größer. Nicht dass es auf den Überraschungseffekt angekommen wäre, zumindest nicht im militärischen Sinne. Die ameisenhaften Menschen dort unten am grünen und dunkelbraunen Boden konnten sowieso nicht verhindern, was gleich geschehen würde.

Aber niemand sah zu ihm auf. Selbst in einer Welt, in der man von fliegenden Menschen wusste, rechnete man nicht mit ihnen.

Ein Grollen füllte den Himmel, rollte von Norden heran. Trotz des apokalyptischen Getöses der modernen Kriegsmaschinerie war es gut zu hören. Als er sich umsah, erkannte der Mann am blauen Himmel zwei Punkte, die dicht über dem flachen Sumpfhorizont auftauchten.

»Jetzt bin ich dran«, sagte er zum Wind. Er ließ sich in die Tiefe fallen.

Sie schossen rechts an ihm vorbei: zwei russische SU-25-Bodenkampfflugzeuge, so plump und unansehnlich wie ein Froschfuß – und diesem Umstand hatten sie auch ihren NATO-Spitznamen, »Frogfoot«, zu verdanken. Die Kämpfer des PPA, die ständig Mangel an Kampfflugzeugen hatten – zu teuer in der Anschaffung, der Bemannung und im Unterhalt –, konnten den Angreifern kaum mehr entgegensetzen als tragbare Boden-Luft-Raketen. Diese schwirrten bereits durch die Luft und jagten den blendenden Lichtsignalen nach, die die Piloten des Kalifen hinter sich absetzten. Selbst mit nur zwei Flugzeugen, die mit Gatling-Kanonen, Panzerabwehrgeschossen und panzerbrechenden Bomben ausgestattet waren, konnte man Panzer abfackeln wie ein Kind, das Ameisen mit einem Vergrößerungsglas in Brand steckt.

Bevor sie allerdings an dem Mann vorbeisausten, streckte der den rechten Arm aus. Aus seiner Handfläche schoss ein weißer Strahl hervor, in dessen Schein die Signalleuchten verblassten. Der Strahl durchlöcherte beide Flugzeuge.

Als sich ihre Treibstofftanks und Munitionslager entzündeten, trudelten sie, in gelbe Flammen gehüllt, vom Himmel herab wie in Ungnade gefallene Sterne.

Es war ein Zeichen. Einen Herzschlag nachdem die Flugzeuge explodiert waren, legte sich Finsternis über das Land. Wie eine hoch aufgetürmte Welle rollte sie über die unterlegenen Verteidigungslinien des PPA hinweg und auf die siegreich vorrückende Armee der Muslime zu.

Wieder lachte der fliegende Mann. Er stellte sich den Feind mit seiner grünen Fahne dort unten vor: wie seine Zuversicht schwand und sich rasch in existentiellen Schrecken verwandelte. Den Soldaten des Kalifats musste es vorkommen, als hätte Allah sie ganz und gar im Stich gelassen.

Die Befreier hatten die Schlacht allerdings nicht gewonnen. Noch nicht. In dieser unnatürlichen Finsternis waren ihre Nachtsichtgeräte ebenso unbrauchbar wie die des Kalifats. Die Feinde brauchten nur blindlings weiterzurollen und die Verteidiger in ihren Löchern zu Brei zu zerstampfen. Jetzt ist es Zeit für Leucrotta. Und natürlich für den fliegenden Mann, der millionenteure Flugzeuge wie Stechmücken zerquetschte.

Es tat gut, ein Ass zu sein. Und mehr noch: ein Ass mit den Kräften eines Gottes. Eines Gottes der Vergeltung. Eines Gottes der Revolution.

Er war Radical. Und es war cool, Radical zu sein.

Er ließ sich in die Finsternis stürzen. Sie griff nach ihm wie die Finger eines Ertrinkenden in einem kalten Ozean. Hüllte ihn in einen Nebel, der schwärzer war als das Herz eines Bankers. Dennoch konnte er etwas erkennen, denn das Mädchen hatte seine Augen mit seinen kalten, schlanken Fingern berührt. Das Zwielicht saugte alle Farben aus seiner Umgebung. Um seine Ankunft zu verkünden, sandte er einen Sonnenstrahl aus, und gleich darauf noch einen. Zwei der vorderen T-90, blitzten auf. Der Geschützturm des einen sprang auf einem Geysir aus weißen Flammen drei Meter in die Höhe, als das Munitionslager in die Luft flog. Dann fiel der Geschützturm wieder herab, landete aber nicht am alten Platz, sodass das Höllenfeuer, das aus dem Panzerinneren hervorglühte, selbst für diejenigen zu sehen war, deren Sehkraft die Finsternis nicht durchdrang.

Die Panzerfahrer der Kalifatstruppen flippten nun völlig aus. Die meisten hatten angehalten, als sie außerhalb ihrer gepanzerten Monstrositäten nichts mehr erkannten. Andere waren weitergefahren, stießen mit anderen zusammen oder plätteten kleinere Panzerfahrzeuge wie Kakerlaken. Ein T-72 feuerte aus dem Hauptgeschütz und setzte einen seiner Kollegen in fünfzehn Metern Entfernung in Brand. Ungeachtet des giftigen Qualms, der ihn zu ersticken drohte, warf Tom den goldenen Lockenkopf zurück und lachte.

Panisch sprangen die arabischen und sudanesischen Soldaten von ihren Mannschaftstransportern herab. Einige fielen im Maschinengewehrfeuer, das andere panische Kalifatssoldaten eröffneten. Immer mehr Panzer feuerten ziellos in der Gegend herum. Andere flogen in die Luft wie gigantische Feuerwerksfontänen.

Von hinten schwirrten Raketen an ihm vorbei. Die Finsternis war in die Löcher der Panzerabwehrstellungen gekrochen und übergoss Panzer mitsamt ihren Mannschaften. Die blinden Feinde brauchte man nur noch abzuschlachten.

Tom sah zu den Linien des PPA zurück. Durch die Dunkelheit preschte eine große Gestalt auf vier Beinen mit hohen Schultern und steilem Rücken, eine Lawine aus geflecktem Fell und dicken Muskeln. Aus ihrem riesigen schwarzen Maul troff Speichel. Es handelte sich um eine gefleckte Hyäne, eine Crocuta crocuta. Aber sie war kein herkömmliches Tier, sondern ein riesiges Exemplar mit einem Meter zwanzig Schulterhöhe, das mit Leichtigkeit vierhundert Pfund auf die Waage brachte. Sie war ein Werwesen, eine Gestaltwandlerin. Das dritte Ass, das vom PPA in die Schlacht geschickt worden war.

Hinter dem Tier lief ein Dutzend nackter Männer. Kaum hatte Tom sie erkannt, als ihre dunklen, schweißglänzenden Körper verschwammen. Sie verwandelten sich in Leoparden, vier von ihnen waren melanistisch, die anderen besaßen gelbbraun geflecktes Fell.

Diese jedoch waren keine Asse. Sie bildeten den engsten Kreis der geheimnisvollen Leopardengesellschaft und hatten während eines grauenerregenden Rituals den Biss von Alicia Nshombo entgegengenommen. Selbst von ihren Kollegen, den Leopardenmännern der Stoßtruppen und der Geheimpolizei, wurden sie gefürchtet.

Das Rattern eines Zwölfzylinders drang Tom in die Ohren und übertönte selbst die nahezu andauernden Explosionen. Er schnellte nach oben. Einen Moment lang verharrte er im Orbit. Die Sterne schienen auf ihn herab. Ein Herzschlag verging, genug, dass er das Stechen der nackten Sonne spürte. Im Vakuum dehnten sich seine Augäpfel und sein Blut aus, doch er explodierte nicht im Vakuum. Das tat niemand. Es handelte sich lediglich um eine starke Schwankung des Atmosphärendrucks. Punkt.

Dann war er wieder zurück und schwebte zwei Meter über einem T-90, dessen Fahrer beschloss – oder den Befehl erhalten hatten –, direkt auf die Ungläubigen zuzuhalten in der Hoffnung, der Finsternis zu entkommen oder wenigstens in Kontakt mit dem Feind zu kommen. Tom wurde von einer Hitzeschwade aus dem Auspuff des 1100 PS starken Getriebes eingehüllt wie vom Feueratem eines Drachen. Er ließ sich hinter dem Geschützturm auf den Panzer fallen.

Hingekauert packte Tom zu, dann stand er ächzend auf. Dabei riss er den Turm aus seiner ringförmigen Einfassung. Auf der Stelle wirbelte er herum und schleuderte ihn wie einen riesigen Diskus auf einen T-72 in der Nähe. Das Geschoss traf den Panzer seitlich am Geschützturm. Die Munition, die in den beiden Türmen gelagert war, entzündete sich, und ein grellweißer Lichtblitz machte es einen Augenblick lang unmöglich, irgendetwas zu erkennen.

Auf der anderen Seite des Panzers sprang Tom hinab. Obwohl es keinen Geschützturm mehr besaß, wirkte das Gefährt immer noch gigantisch. Von den Druckwellen mehrerer Explosionen erfasst, neigte sich der Panzer sichtbar in Toms Richtung. Splitter schwirrten wie Gewehrkugeln über ihn hinweg.

Klirrend fiel die Luke des Fahrers herab. Das letzte verbliebene Besatzungsmitglied wollte das sinkende Schiff verlassen. Plötzlich beugte sich eine gigantische Borstengestalt über den flachen Bug des geköpften Panzers. Anscheinend spürte der Fahrer, der schon halb zur Luke herausgekrochen war, die Gefahr, denn er erstarrte.

Als sich Leucrottas riesige Kiefer schlossen, schrie der Soldat auf. Es knirschte grauenvoll, und die Bestie biss dem Fahrer das Gesicht weg.

Tom verschaffte sich einen Überblick über die Lage. Kopflos liefen die gesamten Streitkräfte des Kalifats umher, zumindest diejenigen Truppenteile, die nicht brannten. Ungehindert trabten Leucrotta und die Werleoparden umher und erlegten die Soldaten, die aus den Fahrzeugen ausgestiegen waren, als wären sie Hasen. Die von der Finsternis berührten Schützen des PPA feuerten unaufhörlich in die Reihen der Feinde. Die Armee der Muslime zerfiel. Sie glich einer aufgescheuchten Herde, die in alle Richtungen nach einem Ausweg suchte.

Jetzt galt es nur noch, jeden abzuschlachten, dessen man habhaft werden konnte. Diese Phase der Schlacht mochte Tom Weathers am meisten.

Jackson Square

New Orleans, Louisiana

Michelle liegt an einem Strand und lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen.

Die Silhouette eines Jungen verstellt ihr die Sonne. »Wer bist du?«, fragt sie.

Er macht den Mund auf, bringt aber keine Worte heraus. Er spuckt nur Licht und Feuer.

Michelle möchte weglaufen, aber sie weiß, dass sie nicht entkommen kann. Feuer und Licht und Energie ergießen sich in Wellen in ihren Körper. Der dehnt sich aus und öffnet sich der überwältigenden Kraft. Die Energie wächst immer mehr an, dann wird Michelle von ihrem eigenen Gewicht erdrückt und in den Boden hineingetrieben. Die Erde stöhnt, die Energie in ihr strömt überwältigend durch ihre Adern, will hinaus.

Sie möchte Blasen werfen.

Gerade als Michelle meint, die Blasen würden ihr entweichen, hört sie Juliets Stimme.

»Ich habe keine Ahnung, wie lange ich das noch machen kann«, sagt Juliet. Sie sitzt auf der Bettkante und streichelt ein kleines Kaninchen.

Wann sind wir zusammen in diesem Bett gelandet?, fragt sich Michelle. Und woher kommt der Hase?

»Ink, du musst auch nicht jede beschissene Sekunde hier verbringen«, sagt Joey, die auf der anderen Bettkante sitzt. Ein kalter Wurm wühlt sich durch Michelles Bauch. Weiß Juliet von ihrer Nacht mit Joey während des Hurrikans?

»Was soll ich sonst machen?« Juliet rollt eine Träne über die Wange, und Michelle streckt die Hand aus, um sie ihr wegzuwischen. Aber ihre Hand berührt nicht Juliets warmes Gesicht, sondern kaltes, gummiartiges Fleisch.

Sie zuckt zurück, doch trifft sie dabei nur erneut auf tote Haut.

»Mein Gott«, sagt sie. Doch Gott ist nicht da. Sie ist ganz allein.

Es ist dunkel, aber die Dunkelheit ist nicht undurchdringlich. Michelle liegt in einem Gewirr aus aufeinandergestapelten Leichen.

Ist das ein weiterer Albtraum über das Behatu-Lager? Aber es fühlt sich nicht richtig an. Die Farben stimmen nicht. Das Licht ist falsch. Und es stinkt. Es stinkt nach faulendem Fleisch. Davor hat sie nie von Gerüchen geträumt.

Michelle versucht sich umzudrehen, aber sie spürt ihre Beine nicht. Auch ihre Arme sind nur nutzloser Ballast. Das Licht, das durch die toten Zweige hindurchscheint, schimmert grünlich. Und die Luft ist dick und feucht.

Panik schleicht sich in ihre Kehle. Sie lebt, aber niemand weiß es. Niemand weiß, dass sie hier ist. »Hilfe!«, schreit sie.

»Wissen Sie, wir sind ihre Eltern, und wenn wir sagen, dass sie tot ist, dann ist sie tot.« Mama? Was macht die hier?

»Ihr seid noch schlimmer, als Michelle euch geschildert hat.« Was sagt Ink da? Jetzt sitzen sie alle auf dem Bett in Juliets und Michelles Wohnung. Das Bettzeug hat ein Blumenmuster. Michelle hat es gekauft, weil Juliet Blumen mag.

»Es ist mir gleichgültig, ob Sie und Michelle eine widerwärtige Beziehung führen oder nicht«, sagt Daddy. »Wir haben Rechte.«

»Einen Scheiß haben Sie«, sagt Hoodoo Mama.

O Gott, denkt Michelle. Joey wird sie umbringen.

»Wenn ihr mich fragt, habt ihr Arschgeigen überhaupt gar kein gottverdammtes Recht, wenn es um Bubbles geht. Ihr eigennütziger Haufen klebriger brauner …«

»Joey!«, unterbricht Ink.

»Meine Güte«, sagt ihre Mutter. Wieso kann die Stimme ihrer Mutter ihr einen schmerzhaften Stich versetzen, wo sie sich gleichzeitig am liebsten in ihren Armen einrollen würde?

Doch nun ist ihre Mutter verschwunden. Michelle befindet sich wieder in dem Leichenberg. Im Zwielicht toten Fleischs.

»Hilfe«, flüstert sie.

Eine Spinne lässt sich an einem feinen Seidenfaden herab und baumelt vor ihrem Gesicht. Sie tastet mit den Vorderbeinen nach Michelles Kinn und untersucht es. Dann zeigt sie nach oben. Michelle rollt sich umständlich auf den Rücken und schaut in die Richtung, in die das Spinnenbein deutet.

Über den Rand des Abgrunds späht ein Leopard herab. Seine Augen glühen gelb. Michelle steht kalter Schweiß auf der Stirn. Die Angst in ihrem Mund schmeckt wie Kupfer. Ein zweiter Leopard gesellt sich zum ersten. Bald ist der ganze Abgrund von ihnen gesäumt.

Die Leoparden wechseln Blicke. Gelegentlich gähnen sie und entblößen dabei scharfe elfenbeinfarbene Zähne. Dann knurren sie. Sie geben tiefe, kehlige Laute von sich, so als würden sie sich miteinander unterhalten.

Das Herz hämmert in ihrer Brust. Bestimmt wissen die Leoparden, dass sie hier unten ist. Bestimmt wissen sie, dass sie am Leben ist. Bestimmt wittern sie ihre Furcht. Sie riecht sie jetzt schon selbst, und auch den schweren wilden Geruch der Raubkatzen. Tränen brennen ihr in den Augen. Sie versucht, sie wegzublinzeln, aber sie entwischen ihr, rollen ihr über die Wange und hinterlassen eine juckende Spur.

Was zum Teufel?, denkt Michelle. Ich bin Amazing Bubbles. Ich heule doch nicht in einer Grube rum, nur weil mich ein paar belämmerte Leoparden angaffen, als wäre ich ihr Mittagessen! Die können mir nichts anhaben.

Sie versucht, Blasen zu werfen, schafft es aber nicht. Keine Hände, denkt sie. Wenn ich Hände hätte, könnte ich Blasen werfen.

»So verdammt besonders bist du auch nicht, Michelle«, sagt Joey. »Und Zombies sind nicht widerlich.«

Michelle sieht an sich hinab. Sie hat eine gräuliche Farbe angenommen, und die Kleider hängen ihr in Fetzen am Leib. Auf ihrer Haut wächst schwarzer Schimmel. Sie hält sich die Hand vors Gesicht. Jetzt hat sie wenigstens eine Hand. Zwischen dem faulenden Fleisch ihrer Finger schauen die Knochen heraus.

»Da stimmt was nicht«, sagt sie.

Barataria-Becken

New Orleans, Louisiana

Jerusha Carter blickte auf eine offene Wasserfläche von einer Meile Breite. Wie schnelle, laute Wolken huschten Silberreiher über den Himmel. Kanadareiher wateten durchs seichte Gewässer, und nicht weit von Jerushas Boot glitt der Schwanz eines Alligators durch das brackige Wasser.

Es war keine durch und durch idyllische Szenerie, denn die Sonne brannte gnadenlos herab, sodass Jerusha feuchte Ringe unter den Achseln und eine nasse Stirn bekam. Schnaken, Moskitos und riesige Kriebelmücken plagten sie. Der Schlamm war über den Rand ihrer hohen Stiefel geschwappt und war ihr an beiden Beinen hinuntergelaufen. Dazu näherte sich vom Golf eine Sturmfront: Oben weiße und unten schiefergraue Gewitterwolken türmten sich am Horizont, und aus der Ferne drang Donnergrollen durch die Nachmittagshitze.

Das Barataria-Becken war ein Sumpfgebiet südlich von New Orleans und im Fall eines Hurrikans eine von mehreren natürlichen Pufferzonen der Stadt und von St. Bernard Parish. Jerusha sollte dabei helfen, es wieder zu bepflanzen. Früher einmal, so hatte man ihr erzählt, als die Dämme noch nicht gebaut gewesen waren, war die ganze Gegend hier kein See, sondern Marschland gewesen. Seit den Dreißigerjahren hatte New Orleans über fünftausend Quadratkilometer an Feuchtgebieten eingebüßt. Laut den Experten, die Jerusha eingewiesen hatten, vermochten sieben Quadratkilometer Feuchtgebiet die Höhe einer Sturmflut um jeweils einen Fuß zu verringern. Deshalb war es für die künftige Sicherheit der Stadt so enorm wichtig, dass die Marschen wiederhergestellt wurden.

Das war harte, mörderische Arbeit. Schlamm musste herangeschafft und ins offene Wasser gekippt werden, damit es flach genug wurde, um den Pflanzen, die früher hier gediehen waren, einen Lebensraum zu geben. Wenn der Schlamm ausgekippt und die Seeränder für die neue Bepflanzung bereit waren, kam Jerusha mit ihrer Arbeit an die Reihe. Dank ihrer Wild-Card-Gabe war das, was sonst Monate und Jahre dauerte, eine Affäre von Augenblicken.

Gestern war Seetang an der Reihe gewesen. Heute pflanzte sie Schlickgras, Spartina spartinae, um genau zu sein, das Golf-Schlickgras, das schnell wuchs und in Gewässern mit unterschiedlichem Salzgehalt gedieh. Wäre Jerusha nicht gewesen, hätten Freiwilligenteams im Schlick Bodenmatten mit Setzlingen ausgelegt, die mit der Zeit zu dicken, zähen Büscheln herangewachsen wären, hinter denen sich ein Mensch verstecken konnte.

Heute war Thanksgiving. Deshalb waren keine Teams hier draußen, und Jerusha arbeitete allein. Alle waren mit irgendwem verabredet: mit Familie, mit Freunden. Jerusha bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, versuchte, den tiefgefrorenen Swanson-Truthahn zu vergessen, der zum Abendessen in ihrer leeren Wohnung auf sie wartete, oder den Anruf bei ihren Eltern, den sie während des Essens hinter sich bringen musste. Würde sie ihre Stimmen hören, ihre guten Wünsche und das Gelächter ihrer Freunde im Hintergrund, würde sie sich nur noch einsamer fühlen. Jerushas Gürteltaschen waren voller Schlickgrassamen, die heute noch gesät werden mussten.

Sie stapfte in ein knietiefes Loch aus neuem Schlamm, der sich an ihren Stiefeln festsog und laut quatschte. Sie steckte die Finger in eine ihrer Gürteltaschen und verstreute eine Handvoll winziger Samen in einem weiten Bogen vor sich. Einen Moment lang schloss sie die Augen. Dabei spürte sie die Samen und das Pulsieren aufkeimenden Lebens in ihnen. Sie zapfte ihre Wild-Card-Fähigkeit an, Gardeners Gabe, und ließ sie aus ihrem Geist in die Samen strömen. Sie reagierten, wuchsen, brachen auf, und winzige grüne Keimlinge entrollten sich, Wurzeln gruben sich in den weichen Schlamm, und zarte Sprösslinge strebten der Sonne zu. Jerusha lenkte das Schlickgras, indem sie ihre Macht langsam und behutsam fließen ließ.

Sie war selbst das Schlickgras, nahm aus Sonne, Wasser und Erde Nahrung auf, verwertete sie, sodass ihre Zellen barsten und mit unglaublicher Geschwindigkeit wuchsen, sich formten und wieder umformten und mit jeder Sekunde neue Sprösslinge hervorbrachten. Sie konnte dem Gras beim Wachsen zusehen, wie es sich wand und zuckte: das Wachstum eines Jahres innerhalb einiger Augenblicke. Während sich das Gras immer weiter erhob, lachte Jerusha. Es war ein kehliger Laut, der eine tiefe, eigenartige Befriedigung ausdrückte. Es gab nur wenige Leute, die diesen Laut schon einmal gehört hatten, denn manchmal stieß sie ihn – unfreiwillig – beim Sex aus, ein klangvoller, freudiger Laut, der aus ihrem tiefsten Inneren kam.

Gärtnern als Orgasmus.

Das Schlickgras wuchs sich windend in die Höhe – und auf einem Halmbüschel ein paar Meter von ihr entfernt blieb etwas schlaffes Braunes hängen, unter dessen Gewicht sich das Gras bog.

Sie ließ die Macht versickern. Dann wurden ihre Schultern schwer. Jedes Mal wenn sie die Kraft nutzte, die die Wild Card ihr ausgeteilt hatte, erschöpfte sie das. Nach einem solchen Tag kehrte sie normalerweise in ihre Wohnung zurück, um aufs Bett zu fallen, sofort einzuschlafen und erst nach zwölf Stunden wieder zu erwachen. So war es an den meisten Tagen: früh aufstehen, hinausgehen, um Samen auszusäen und das Sumpfland wiederherzustellen, und kurz vor Sonnenuntergang wieder in die Stadt zurückfahren, um in einem Restaurant oder ihrer Wohnung (aber allein, immer allein) einen Happen zu essen, dann schlafen. Und dann wieder dasselbe Spiel. Immer und immer wieder.

Jerusha watete durch den Schlamm zu dem neu gewachsenen Schlickgras. Sie nahm das triefend nasse Filzstück von dem Büschel hinunter und brauchte einen Moment, um es auseinanderzufalten. Dann erkannte sie, dass es ein Hut war – ein übel mitgenommener, schimmliger und schmutziger Fedora, dessen Innenauskleidung größtenteils herausgerissen war und dessen Hutband vollständig fehlte. Eine Muschelschale hing hartnäckig an dem Stoff, der nach Sumpf stank.

Jerusha schüttelte den Kopf. Noch ein Fedora. Wir haben Cameo mindestens ein Dutzend Hüte geschickt, die wir hier draußen gefunden haben. Immer in der Hoffnung, dass es der ist, den sie verloren hat. Die Wahrheit ließ sich nur herausfinden, indem man ihr auch diesen Hut sandte: als Thanksgiving-Geschenk. Sie würde es gleich machen, wenn sie zurück in der Stadt war.

Jerusha seufzte und schaute zur Sonne und den Wolken empor. Der Sturm rollte heran. Es wurde Zeit zurückzukehren, wenn sie nicht von dem Unwetter erwischt werden wollte, was ein ohnehin schon trübseliges Thanksgiving noch trübseliger machen würde.

Sie hielt den durchweichten Hut an der Krempe und machte sich mit ihm zu der Stelle auf, wo sie ihr Boot festgemacht hatte.

Im Haus der Winslows

Boston, Massachusetts

»So ein Penner! Ich glaub’s einfach nicht, dass er den Pass vergeigt hat!«

Vom Aufschrei seines Schwiegervaters wurde Noel Matthews in die Gegenwart zurückgerissen. Er konnte nicht glauben, dass er vor einer Heimkinoanlage saß, die aussah wie die Kommandobrücke eines Flugzeugträgers, während seine amerikanischen Schwäger Football schauten und in den Flachbildschirm brüllten.

Natürlich war es kein richtiges Football, nicht das, was ein Engländer darunter verstand, nämlich Fußball. Stattdessen war es dieses langsame, aufgedunsene amerikanische Spiel, in dem sich furchtbar große Männer in Polstern und knallengen Hosen gegenseitig ansprangen und den Hintern versohlten. Seltsam, dass dieser Sport der Lieblingszeitvertreib einer Nation war, die so verklemmt war, wenn es um Schwule ging.

Noel griff nach seinem Bourbon Soda, und als er sich auf der Couch nach vorn beugte, um sein Glas zu erreichen, ächzte er leise. Ihm war, als wären seine Innereien durch eine Kanonenkugel ersetzt worden, und er öffnete heimlich den Knopf an seiner Hose. Es war Thanksgiving – dieses eigentümlich amerikanische Fest, bei dem man Fresssucht und die Übervorteilung der Indianer feierte.

Aber sie hatten keine Wahl gehabt. Wegen einer Behandlung gegen Unfruchtbarkeit in der Jokertown Clinic wohnte er mit Niobe in New York. Ihre Eltern lebten ganz in der Nähe in Massachusetts. Und Niobe hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit ihrem berühmten und erfolgreichen Ehemann vor dem alten Geldadel anzugeben, der sie gemieden hatte, als ihre Wild Card aufgedeckt und sie zum Joker geworden war. Noel hatte sich einverstanden erklärt, wie ein preisgekrönter Fang herumgezeigt zu werden, weil Niobe von allen so schäbig behandelt worden war und weil Großtun eine vollkommen akzeptable Antwort darauf war.

Noel murmelte etwas von »für kleine Jungs«, um der Männerversammlung zu entkommen und seine Frau zu suchen. In der Küche traf er auf Leihpersonal, das damit beschäftigt war, Geschirr zu spülen und die Reste vom Essen in Plastikboxen zu verpacken. Noel war jetzt ein reicher Mann, aber er war nicht reich aufgewachsen. Mit dem Gehalt seiner Mutter als Professorin in Cambridge hatten sie bescheiden gelebt. In seinem Elternhaus hatte es kein Leihpersonal gegeben.

Er blieb im Gang stehen und lauschte. Die piepsigen Sopranstimmen der Frauen im Wohnzimmer wetteiferten mit dem tiefen Gebrüll aus der Männerhöhle. Während er den langen Gang entlangging, den eine beeindruckende Sammlung moderner Kunst zierte, knöpfte er sich die Hose und das Jackett zu.

Das Wohnzimmer war in Gold- und Grüntönen gehalten, und ein Feuer im großen Marmorkamin verlieh dem Raum etwas Warmes und Anheimelndes. Draußen, im Vorgarten, ächzten die hohen Kiefern im Wind. In der Nacht würde es noch schneien. Gott sei Dank hatten sie eine Möglichkeit, nach Hause zu kommen, auch wenn der Flughafen dichtmachen würde.

Er setzte ein freundliches Lächeln auf und ging zu den Frauen, die auf Sofas um einen niedrigen Tisch mit silbernem Tee- und Kaffeegeschirr herumsaßen. Der Duft verstärkte die gesellige Stimmung im Zimmer, genau wie das Stakkato der Unterhaltung. Zufrieden stellte er fest, dass Niobe mit den feinsten Damen der Gesellschaft quatschte und dass sie mindestens so schick, wenn nicht noch schicker gekleidet war als die anderen Frauen.

Es war erstaunlich, was ein Jahr der Zufriedenheit – und die sorgfältige Pflege der Friseure in New York, der Spas am Toten Meer und der Modegeschäfte in Paris – für ihr Haar, ihre Haut und ihren Kleiderschrank vollbracht hatte. Der einzige Schönheitsfehler war der Schwanz, der sich um die Füße seines Lieblings ringelte. Mit den Laserbehandlungen hatten sie wenigstens die Borsten davon entfernt.

Ihre Blicke trafen sich, und Noel freute sich über das Triumphgefühl, das aus ihren Augen leuchtete. Er stellte sich hinter ihr Sofa, beugte sich hinab, küsste sie auf die Wange und zauberte eine weiße Rose hervor. Niobe errötete, und er beobachtete mit Genugtuung, dass ihre Kusine Phoebe stirnrunzelnd den Blick senkte und in ihre Teetasse starrte. Diese Person hatte den ganzen Nachmittag über immer wieder die Finger auf seinen Unterarm gelegt, sich nach vorn gebeugt, damit ihre Brüste zur Geltung kamen, und sich bei jeder Gelegenheit zum Affen gemacht.

»Du schaust dir das Spiel nicht an?«, fragte seine Schwiegermutter.

»Verzeih mir, aber das sind Schafsköpfe. Die sehen große Männer an, die herumstöhnen und in den Matsch fallen. Ich dagegen bin kein Schafskopf. Ich verbringe meine Zeit lieber mit den Damen.«

Das Gelächter der Frauen klirrte wie zerspringende Eiszapfen. Niobe lachte nicht. Ihr heiseres leises Kichern war ihm wohl vertraut. Sie sah ihn mit großen Augen fragend an, was er mit einem aufmunternden Lächeln beantwortete.

Er betrachtete seine Schwiegermutter im Profil, und für einen Augenblick bedauerte er es, dass er seinen vorherigen Beruf aufgegeben hatte. Wenn es jemals ein Mensch verdient hatte, getötet zu werden, dann war es Rachel Winslow. Als Niobes Wild Card aufgedeckt worden war, hatte Rachel versucht, Niobe als das Kind einer Kusine auszugeben. Und nachdem Niobe schließlich zu einem Selbstmordversuch getrieben worden war, hatte Rachel sie in eine Einrichtung verschickt, wo man sie wie eine Kreuzung aus Laborratte und Sexspielzeug behandelt hatte.

Seine Frau reichte Noel eine Tasse Tee. Das Porzellan war so fein und zerbrechlich, dass es sich in seiner Hand anfühlte wie der Flügel einer Heuschrecke. Als er darauf hinabsah, stellte er fest, dass sie ihm bereits einen Klacks Sahne in den Tee getan hatte. Die Tatsache, dass es jemanden auf der Welt gab, der wusste, wie er seinen Tee trank, wie weich er seine Eier mochte, wie heiß sein Badewasser zu sein hatte, das wrang ihm das Herz aus. Und er erwiderte den Gefallen. Sie waren körperlich, seelisch und geistig miteinander verbunden, und sie hatte ihm geholfen, das Loch in seinem Leben zu füllen, das durch den Tod seines Vaters vor etwas mehr als einem Jahr entstanden war.

Er setzte sich neben Niobe aufs Sofa und nippte an seinem Tee. Noel ertappte sich dabei, dass er zu einem der Käsecracker griff. Dabei war er weiß Gott nicht hungrig, doch wusste er nicht, was er sonst mit seinen Händen anfangen sollte, um seine Nerven zu beruhigen. Schließlich durfte er im Haus seiner Schwiegereltern nicht rauchen. Das Vibrieren seines Handys in seiner linken Hosentasche bewahrte ihn vor zusätzlichen Kalorien.

Er stellte seine Tasse ab, zog das Telefon heraus, murmelte eine Entschuldigung und zog sich zum Fenster zurück. Das Display gab nur einen »Unbekannten Anrufer« preis, aber er erkannte die internationale Vorwahl – Bagdad!

Er kannte viele Leute in Bagdad, aber die kannten ihn nur in seiner Identität als das muslimische Ass Bahir. Nur einer wusste, dass Noel Bahir war – sein ehemaliger Mitbewohner in Cambridge, der inzwischen Kopf des Kalifats und Noels erbitterter Gegner war: Prinz Siraj von Jordanien.

Dieses Handy war sauber. Die Tatsache, dass Siraj seine Nummer hatte, bedeutete, dass der Geheimdienst des Kalifats Überstunden gemacht hatte. Sie hatten nach ihm geforscht und ihn ausfindig gemacht. Alle Nerven waren angespannt, während Noel über seine Optionen nachdachte.

Besser, ich weiß, was er vorhat. Noel nahm ab.

»Ich war mir nicht sicher, ob du rangehen würdest«, drang die vertraute Baritonstimme aus dem Hörer.

»Fast wäre ich nicht rangegangen.« Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Noel zog sein Zigarettenetui heraus.

Schließlich sprach Siraj weiter. »Ich brauche deine Hilfe. Kannst du nach Bagdad kommen? Jetzt?« Sein klangvolles BBC-Englisch klang vor Angst aufgeraut.

Damit hatte Noel am wenigsten gerechnet. Er fummelte eine Zigarette aus dem Etui und steckte sie sich in den Mund. »Ah, nun … lass mich mal sehen … als wir uns das letzte Mal begegnet sind, hast du deinen Wachen befohlen, auf mich zu schießen. Das Mal davor hast du mich in ein ägyptisches Gefängnis geworfen. Ich glaube, ich verzichte auf ein drittes Wiedersehen. Nicht dass es wie im Märchen geht und es beim dritten Mal klappt.«

»Ich gebe dir mein Wort, dass ich nichts gegen dich unternehme. Tatsächlich brauche ich deine Hilfe.«

Plötzlich hörte sich Siraj sehr jung an. Wie der Freund, der mit der Tochter des Profs Mist gebaut und Noel anschließend um Hilfe gebeten hatte. Oder wie der Freund, der ihm Geld geliehen hatte, um seine Spielschulden zu begleichen, als sich Noel im zweiten Studienjahr für Pferdewetten begeistert hatte.

Doch es gab keinen Platz mehr für Sentimentalitäten. »Warum?«

»Im Sudd wurde die Hälfte meiner Truppen vernichtet. Das ist die letzte Armee, die ich habe, Noel, und außer ihr steht nichts mehr zwischen dem Kalifat und dem People’s Paradise of Africa. Und ihr im Westen wollt bestimmt nicht, dass Nshombo und Tom Weathers mein Öl unter ihrer Kontrolle haben. Glaub mir.«

»Nun, das ist die Krux an der Sache. Ich glaube dir nämlich nicht. Es tut mir leid um deine Armee, aber ich bin ausgestiegen. Für immer. Ich bin jetzt nur noch ein durchschnittlicher Bürger. Es war schön, mir dir geredet zu haben.« Noel legte auf und kehrte zu Niobe zurück.

Sie sah zu ihm auf, und wieder raubten ihm ihre wunderschönen grünen Augen den Atem. »War das Kevin?«, fragte sie und meinte seinen Agenten.

»Ja«, log Noel.

»Du hast ja eine Zigarette im Mund!«, empörte sich seine sonnengebräunte und spröde Schwiegermutter durch zusammengebissene Zähne.

»Ja, aber sie brennt nicht. Ich geh raus, um dem Abhilfe zu schaffen.«

Stellar

Manhattan, New York

Wally zupfte am Kragen seines Fracks. Der Schneider hatte nicht lockergelassen, bis er perfekt gesessen hatte. So perfekt, wie ein Frack bei einem Mann mit Eisenhaut und Nieten nur sitzen konnte. Aber anfühlen tat er sich deshalb noch lange nicht perfekt.

Wally gab es auf, an seiner Fliege herumzufummeln. Er wusste nicht, wie man sie band. Er würde einen Kellner bitten müssen, ihm damit zu helfen, und das war peinlich.

Der Aufzug hielt an. Er federte ein wenig, als Wally ausstieg.

»Hey, Rusty! Komm hier rüber.«

Ana Cortez stand mit dem Handy am Ohr vor dem Stellar. Anscheinend war sie hinausgegangen, um einen Anruf entgegenzunehmen. Sie lächelte und winkte Wally zu, als er scheppernd aus der Ecke der Lobby mit den Aufzügen kam.

Wie sein Frack so waren auch seine Schuhe speziell für ihn angefertigt worden. Die schicken italienischen Schuhe sahen zwar gut aus, waren aber dünn, sodass das Stampfen von Eisenfüßen auf Marmor kaum gedämpft wurde. Wally wäre ein weniger formelles Thanksgiving lieber gewesen.

Daheim bei seinen Leuten konnte man sich auch im Jeansoverall und Arbeitsschuhen an den Festtagstisch setzen. Er hatte sich überlegt, über die Feiertage nach Hause nach Minnesota zu fahren, aber trotz der wachsenden Einsamkeit und dem Heimweh, die in letzter Zeit wie dunkle Wolken über ihm geschwebt waren, hatte er sich dagegen entschieden. Jedes Mal wenn er zu Hause einen Besuch machte, fühlte er sich ein bisschen unwohler.

Nicht dass er Mom, Dad und Pete nicht sehen wollte. Er vermisste sie schmerzlich. Mehr als alles andere wollte er die Zeit zu den Tagen vor American Hero zurückdrehen. Er wollte wieder einen Samstagnachmittag mit seinem Bruder vor dem Fernseher verbringen, während Dad im Polstersessel schnarchte.

Die Sache war nur die, dass Pete noch nie weiter als bis Duluth von zu Hause weggefahren war. Seine Eltern waren in der Iron Range im nördlichen Minnesota zur Welt gekommen und groß geworden. Sie war ihre ganze Welt. Manchmal wünschte sich Wally, es könnte auch für ihn wieder so sein.

Seine Familie hatte die Vorstellung, dass sein Leben glamourös war. Aufregend. Voller Abenteuer. Und mit dieser Vorstellung waren sie glücklich. Beim letzten Wiedersehen mit seiner Familie hatte er gemeint, sie würden vor Stolz platzen. Wally Gunderson, der Held. Wally Gunderson, Weltreisender. Wally Gunderson, Friedensbringer der Vereinten Nationen. Pete fragte ihn immer über die Orte aus, die er im Auftrag des Komitees besucht hatte, und über die Leute, mit denen er arbeitete, und über all seine guten Taten.

Mit jedem Besuch wurde es schwerer, ihnen das aufzutischen, was sie hören wollten, und ihnen stattdessen nicht von der Langeweile zu erzählen, der Einsamkeit, der Sorge und Angst, die er jedes Mal empfand, wenn das Komitee ihn zu einem neuen Einsatzort schickte. Und von dem Gefühl der Ungewissheit darüber, was er tat und warum er es tat. Von dem Gefühl, schon lange kein Held mehr zu sein.

Nach seiner Reise ins Kalifat hatte Wally nicht mehr viel Zeit zu Hause verbracht.

»Rusty ist da«, sagte Ana ins Telefon. Dann deckte sie es mit der Hand ab. »Ich soll dich von Kate grüßen.«

»Moin, Ana. Moin, Kate.«

Ana sprach wieder ins Telefon. »Er sagt Moin zurück … aha … aha.« Sie lachte. »Das bezweifle ich … Ich muss auflegen. Auch dir ein schönes Thanksgiving. Lass uns später noch mal telefonieren und unsere Wertungen vergleichen.« Ana ließ ihr Handy zuschnappen. »Freut mich, dich zu sehen. Du siehst gut aus.«

»Du auch, Ana.« Ihr Kleid wirkte teuer und passte sogar zu ihren blauen Ohrringen.

Sie hob die Arme, um ihn flüchtig zu umarmen. Neben Wally wirkte sie klein. »Mensch«, sagte er und erwiderte die Umarmung vorsichtig.

Er schaute ins Restaurant, in dem weiß gekleidete Kellner Tabletts, Wasserkrüge und Flaschen zwischen den Tischen hin und her trugen. Sie sahen wie Fotonegative von ihm aus, nur dass sie nicht so groß waren. Drinnen war das Murmeln der Gespräche und das Klirren von Besteck zu hören. Lauter unvertraute Gesichter, lauter unvertraute Stimmen. Wally beschlich leise Trauer.

Er ging mit Ana hinein, wo sie vom Maître d’Hotel begrüßt wurden. Der fragte erst gar nicht, ob sie auf der Gästeliste stehen würden, denn jeder kannte Rustbelt und Earth Witch, zwei der Gründungsmitglieder des Komitees. Er führte sie zu ihren Horsd’ouvres, zögerte aber einen Moment, als ihm die Furchen auffielen, die Wallys Fersen im Boden hinterließen. Der bleistiftdünne Schnurrbart zitterte. Er rümpfte die Nase, machte aber weiter kein Aufhebens darum. Schließlich war sein Restaurant voller Asse.

Allerdings kannte Wally die meisten von ihnen nicht. Das Komitee war nicht mehr das, was es anfangs gewesen war. Inzwischen war es viel größer. Was auch wirklich gut war, denn es wurde immer internationaler und bestand nicht mehr nur aus einem Haufen Kids aus einer bescheuerten Fernsehshow. Es kam ihm professioneller vor, gleichzeitig aber auch steriler. Ein paar der neuen Mitglieder hatte er bei anderen Komiteeveranstaltungen flüchtig kennengelernt – Garou, Noppera-bo und die Strangelets. Einer der neuen, Glassteel, nickte Wally kumpelhaft zu, als er an ihm vorbeikam. In Haiti hatten sie zusammengearbeitet, und sie bildeten ein ziemlich annehmbares Team. Auch wenn Wally am liebsten mit DB zusammenarbeitete, aber DB war ja jetzt nicht mehr da.

Die meisten Gäste hatten sich um die langen Tische versammelt, auf denen die Vorspeisen angerichtet worden waren, bei den Fenstern, durch die man einen Blick auf die Skyline von Manhattan hatte. Wally mampfte in ausgefallenes Ketchup getunkte Miniatur-Hot-Dogs, während er sich umhörte. Er war auf der Suche nach einem Gespräch, in das er sich einklinken konnte. Die Schlacht im Sudd beherrschte die meisten Unterhaltungen. Im Taxi zum Empire State Building hatte Wally auf einem dieser Live-Ticker-Bänder am Times Square eine Meldung darüber gesehen.

»Das PPA hat sich übernommen«, erklärte Snowblind mit ihrem eleganten frankokanadischen Akzent. Wenn Seide sprechen könnte, würde es sich so anhören, dachte Wally. »Für das Komitee besteht kein Grund, sich einzumischen. Wenn das Kalifat sich erst einmal wieder neu aufgestellt hat, wird das Ganze bald vorbei sein.«

Brave Hawk schüttelte den Kopf. »Nicht wenn sich Ra einmischt. Das Alte Ägypten hat keinen Bedarf für das Kalifat.«

Wally hatte keinen Kopf für politische Debatten, und um ehrlich zu sein, mochte er Brave Hawk auch nicht besonders. Also schlenderte er weiter am Tisch entlang, wo es Horsd’œuvres mit Trauben, stinkigem Käse und in Portwein marinierte Birnenschnitten gab. Die waren ziemlich lecker.

Tinker und Burrowing Owl diskutierten über den Internationalen Gerichtshof. Das schwebende Verfahren wegen Kriegsverbrechen gegen Captain Flint und Highwayman spalteten die Gemüter beinahe genauso wie die Kämpfe im Sudan. Burrowing Owl meinte, es handele sich um einen bedeutungslosen Schauprozess, während Tinker fand, dass es die beiden verdient hätten, vor der Welt verurteilt zu werden. »Oi, Rusty«, sagte Tinker. »Was meinst du?«

Wally zuckte mit den Schultern. »Ähm …« Ja, was meinte er? »Ich meine, dass es unrecht war, die ganzen Leute zu töten. Aber dass sie das Töten dem armen kleinen Jungen überlassen haben, damit haben sie ein noch viel größeres Unrecht begangen, glaube ich.«

Burrowing Owl runzelte die Stirn. »Ja, aber was ist mit dem Problem von Staatshoheit und internationaler Rechtsprechung?«

Wally seufzte und wünschte sich, es wäre schon Zeit, sich zum Essen zu setzen.

Jerusha Carters Wohnung

Garden District

New Orleans, Louisiana

Ihr Handy zirpte, bevor der Alarm an der Mikrowelle losging. Das wunderte sie, denn bei ihren Eltern war es noch eine Stunde früher, und normalerweise würden sie zu diesem Zeitpunkt noch am Thanksgiving-Tisch sitzen. Sie nahm das Handy von dem Tischchen im Flur und las die Nummer auf dem Display.

Es waren nicht ihre Eltern, sondern Juliet Summers. Ink. Seltsam. Natürlich kannte sie Ink, aber sie standen sich bestimmt nicht nahe.

»Hey«, meldete sie sich. »Ink. Was los?«

»Jerusha? Du musst mir helfen.« Im Hintergrund rief, nein fluchte jemand. Eine Frau. »Das ist Joey. Diese hinterfotzigen LaFleurs haben den Richter dazu gekriegt, ihnen diese gerichtliche Verfügung zu bewilligen. Die ziehen bei Michelle den Stecker.«

Jerusha war entsetzt. Michelle Pond – Amazing Bubbles – lag schon seit über einem Jahr auf dem Jackson Square im Koma. Seit dem Tag, an dem sie New Orleans vor der Vernichtung bewahrt hatte, indem sie die Wucht einer Atomexplosion absorbiert hatte. Sechs Monate lang hatten ihre Eltern vor Gericht um das Recht gekämpft, ihrer Tochter die weitere Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr abzustellen.

Jerusha konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich gewonnen hatten. »Was meinen die Ärzte, was mit Bubbles passieren wird, wenn sie das tun?«

»Das weiß niemand sicher«, sagte Ink. »Aber bei den extremen Mengen an Nährstoffen, die Michelle stündlich verbraucht, und bei der Dichte und dem Gewicht ihres Körpers würden sich die Folgen extrem schnell zeigen, vermuten sie. Ihre Körperfunktionen könnten beinahe augenblicklich zusammenbrechen – erhöhter Puls, Blutdruck, Organversagen. Tod innerhalb von drei Stunden, möglicherweise sogar schneller.« Ink seufzte. »Vielleicht verhungert sie aber auch einfach nur.«

An Thanksgiving. Die LaFleurs hatten einen grauenhaften Sinn für Humor, dachte Jerusha. »Was kann ich machen?« Sie war keine Anwältin. Das Komitee hatte keinen Rechtsstatus in den USA.

»Du kannst helfen, Joey aufzuhalten«, antwortete Ink. »Sie spielt verrückt. Sie hat jede halbwegs frische Leiche in der Stadt auf den Plan gerufen, und auch welche, die nicht mehr ganz so frisch sind. Sie behauptet, dass sie die LaFleurs umbringen wird, sobald sie sich auf dem Jackson Square blicken lassen.«

Hoodoo Mama. Ich hätte es wissen müssen. Joey Hebert musste schon wütend auf die Welt gekommen sein, anders konnte Jerusha es sich nicht erklären. Und dass sie vom Komitee abgelehnt worden war, hatte ihr Gemüt nicht gerade aufgehellt.

»Sie hört nicht auf mich«, sagte Ink. »Und du bist die Einzige in New Orleans, die vielleicht die Macht hat, sie aufzuhalten, bevor jemand zu Schaden kommt. Aber du musst dich beeilen, hörst du?«

Im Hintergrund hielt das Geschrei an. Joey, fiel Jerusha erst jetzt auf. Ink brüllte die andere Frau an. »Verdammt, Joey. Beruhige dich, Mädchen. Sonst platzt dir noch eine Blutader.«

Dann war die Verbindung weg. »Ink?«, fragte Jerusha.

Nichts.

Sie klappte das Handy zu. In der Küche machte die Mikrowelle Pling. Der Truthahn duftete.

Jerusha steckte das Telefon in die Tasche ihrer Jeans und griff nach den Schlüsseln.