Cover

Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel The Book of Speculation
bei St. Martins Press, New York.

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Copyright der Originalausgabe © 2015 by Erica Swyler

Published by arrangement with Erica Swyler

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Limes in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Bernd Stratthaus

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de

BS · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-15954-2
V003

www.limes-verlag.de

Für Mom. Es gibt keine Worte.

1

20. Juni

Vorn auf dem Hochufer hockt das Haus und ist in Gefahr. Der Sturm letzte Nacht hat Land weggerissen und das Wasser aufgewühlt, der Strand liegt voller Flaschen, Seetang und Panzer von Pfeilschwanzkrebsen. Der Ort, an dem ich mein gesamtes Leben zugebracht habe, wird die Herbststürme wohl nicht überstehen. Ich sehe hinaus auf den Long Island Sound, er ist durchsetzt mit den Resten von Häusern und Lebzeiten, die er in seinem gierigen Schlund zu Sand zermahlen hat. Sein Hunger ist unermesslich.

Maßnahmen hätten ergriffen, Befestigungen gebaut, Abstufungen des Geländes vorgenommen werden müssen – nichts ist geschehen. Die Antriebslosigkeit meines Vaters hat mir ein unlösbares Problem hinterlassen, viel zu teuer für einen Bibliothekar in Napawset, doch wir Bibliothekare sind für unseren Einfallsreichtum bekannt.

Ich gehe zur Holztreppe hinüber, die hinunter auf den Sand führt. Ich habe meine Schwielen dieses Jahr nicht gepflegt, und meine Füße schmerzen auf den harten Steinen. An der Nordküste sind wenige Dinge wichtiger als harte Füße. Meine Schwester Enola und ich sind im Sommer immer so lange barfuß herumgerannt, bis die Straße so heiß wurde, dass unsere Zehen im Teer versanken. Wer nicht von hier ist, kommt auf dieser Küste barfuß nicht weiter.

Unten an der Treppe steht Frank McAvoy und winkt mir zu, bevor er den Blick aufs Steilufer richtet. Er hat sein Skiff dabei, ein wunderschönes Boot, das aussieht wie aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt. Frank ist Bootsbauer und ein guter Kerl, er kannte meine Familie schon, als es mich noch gar nicht gab. Wenn er lacht, wird sein Gesicht zur verwitterten, fleckigen Faltensammlung eines Iren, der zu viele Jahre in der Sonne verbracht hat. Die Brauen biegen sich nach oben und verschwinden unter der Krempe des alten Leinenhutes, den er nie abzusetzen scheint. Wäre mein Vater älter geworden, über sechzig, hätte er vielleicht wie Frank ausgesehen, mit den gleichen vergilbten Zähnen und rötlichen Sommersprossen.

Wenn ich Frank ansehe, muss ich daran denken, wie ich als kleiner Kerl zwischen dem Holz für ein großes Lagerfeuer herumgekrochen bin und mich seine riesige Hand von einem umkippenden Balken weggezogen hat. Sofort denke ich auch an meinen Vater und sehe ihn über einen Grill gebeugt Maiskolben wenden. Ich rieche die verkohlten Blätter und Grannen. Frank erzählte uns Fischergeschichten, und natürlich log er, dass sich die Balken bogen. Meine Mutter und seine Frau stachelten ihn an, und ihr Lachen verschreckte die Möwen. Zwei von diesen Menschen leben nicht mehr. Ich sehe Frank an und sehe meine Eltern vor mir, und ich stelle mir vor, dass es ihm nicht anders geht, und er mich nicht ansehen kann, ohne an seine verstorbenen Freunde denken zu müssen.

»Sieht so aus, als hätte dich der Sturm übel erwischt«, sagt er.

»Ich weiß. Ich hab anderthalb Meter verloren.« Das ist noch untertrieben.

»Ich habe deinem Dad gesagt, dass er das befestigen und Bäume pflanzen muss.« Das Grundstück der McAvoys liegt westlich von meinem Haus, weiter vom Wasser weg, und das Ufer davor ist terrassiert, befestigt und bepflanzt, um Franks Haus vor Tod, Teufel und Hochwasser zu schützen.

»Dad war nie gut darin, auf andere Leute zu hören.«

»Nein, das war er nicht. Trotzdem, die eine oder andere Verstärkung des Ufers hätte dir eine Menge Ärger erspart.«

»Du weißt doch, wie er war.« Das Schweigen, die Resignation.

Frank saugt Luft durch die Zähne und lässt dabei einen trockenen Pfeifton hören. »Wahrscheinlich hat er gedacht, er hätte mehr Zeit, um die Dinge zu richten.«

»Wahrscheinlich«, sage ich. Wer weiß schon, was mein Vater gedacht hat?

»Die letzten paar Jahre kommt das Wasser aber auch besonders hoch rein.«

»Ich muss was unternehmen. Kennst du eine Baufirma, der man trauen kann?«

»Absolut. Ich kann jemanden vorbeischicken.« Er kratzt sich am Nacken. »Ich will dir allerdings nichts vormachen: Billig wird das nicht.«

»Nichts ist heutzutage mehr billig, oder?«

»Nein, das stimmt wohl.«

»Vielleicht muss ich am Ende verkaufen.«

»Das würde mir gar nicht gefallen.« Frank zieht die Stirn in Falten und damit den Hut tiefer in die Augen.

»Das Grundstück ist schon was wert, selbst ohne Haus.«

»Denk ein bisschen drüber nach.«

Frank kennt meine finanziellen Zwänge. Seine Tochter Alice arbeitet ebenfalls in der Bibliothek. Die rothaarige Alice sieht gut aus, hat das Lächeln ihres Vaters geerbt und einen guten Draht zu Kindern. Sie kommt ganz allgemein besser mit Leuten zurecht, weshalb sie sich um die Veranstaltungen kümmert. Ich bin fürs Nachschlagen und Recherchieren zuständig. Aber wir sind nicht wegen Alice oder wegen der heiklen Lage meines Hauses hier, sondern um die Bojen neu zu setzen, die den Schwimmbereich abgrenzen. Seit zehn Jahren kümmern wir uns darum. Der Sturm war so stark, dass er die Dinger mit ihren Ankern auf den Strand geworfen hat. Ein Haufen rostiger Ketten voller Seepocken und verwickelter orangefarbener Seile liegt da. Kein Wunder, dass ich Land verloren habe.

»Sollen wir?«, frage ich.

»Warum nicht. Was getan ist, ist getan.«

Ich ziehe mein Hemd aus, hieve mir die Ketten und Seile über die Schulter und beginne meinen langsamen Gang ins Wasser.

»Bist du sicher, dass ich nicht mit anfassen soll?«, fragt Frank und schiebt sein Boot ins Wasser. Der Kiel knirscht durch den Sand.

»Nein danke, ich hab’s schon.« Ich könnte es auch allein machen, aber es ist sicherer, wenn Frank mir folgt. Er ist nicht wirklich meinetwegen hier, sondern aus dem gleichen Grund, aus dem ich das immer wieder mache: um meiner Mutter zu gedenken, Paulina, die hier ertrunken ist.

Dafür, dass wir Juni haben, ist der Sund eisig, aber ich fühle mich gut, als ich erst einmal im Wasser bin, und meine Füße und Zehen legen sich um die algenbedeckten Steine, als wären sie dafür gemacht. Die Ankerketten wiegen schwer, Frank bleibt rudernd auf meiner Höhe. Ich gehe, bis das Wasser meine Brust erreicht, den Hals, und kurz bevor ich untertauche, atme ich aus und tief ein, genau wie meine Mutter es mir vor langer Zeit an einem warmen Julimorgen beigebracht hat (und ich es später meiner Schwester).

Der Trick beim Luftanhalten ist es, durstig zu sein.

»Schnell und kräftig ausatmen«, sagte meine Mutter mit sanfter Stimme direkt neben meinem Ohr. Ihr dickes schwarzes Haar trieb in Ranken durchs flache Wasser. Ich war fünf Jahre alt. Sie drückte auf meinen Magen, bis der Muskel sich nach innen stülpte und der Nabel beinahe das Rückgrat berührte. Sie drückte fest, ihre scharfen Fingernägel piksten. »Und jetzt einatmen, schnell. Schnell, schnell, schnell. Dehn die Rippen weit aus. Denk es. Weit.« Sie atmete ein, und ihr Brustkorb weitete sich, vogeldünne Knochen weiteten sich, bis ihr Leib einem Fass glich. Ihr Badeanzug war ein helles weißes Leuchten im Wasser. Ich blinzelte. Sie klopfte mit einem Finger auf mein Brustbein. Klopf, klopf, klopf. »Du atmest oben, Simon. Wenn du oben atmest, ertrinkst du. Damit blockierst du den Raum im Bauch.« Eine sanfte Berührung. Ein kleines Lächeln. Meine Mutter sagte, ich solle mir vorstellen, durstig zu sein, völlig ausgetrocknet und leer, und dann die Luft in mich hineintrinken. Dehn die Knochen, trink sie weit und tief in dich hinein. Und als sich mein Leib zu einer fetten Tonne rundete, flüsterte sie: »Wundervoll, wundervoll. Jetzt tauch unter.«

Ich tauche unter. Weiche Lichtstrahlen dringen um den Schatten von Franks Boot nach unten. Manchmal höre ich sie noch, wie sie durchs Wasser treibt, und hin und wieder erhasche ich auch einen flüchtigen Blick auf sie, hinter Algenvorhängen, das schwarze Haar durchsetzt mit Tang.

Mein Atem fährt mir als feiner Nebel über die Haut.

Paulina, meine Mutter, war eine Zirkusartistin und Kirmesattraktion, eine Zaubererassistentin und Wassernixe, die ihr Geld damit verdiente, die Luft anzuhalten. Sie brachte mir bei, wie ein Fisch zu schwimmen, und zauberte ein Lächeln auf das Gesicht meines Vaters. Oft verschwand sie, gab einen Job auf oder hatte gleich zwei, drei auf einmal, wohnte in Hotels, nur um andere Betten auszuprobieren. Mein Vater Daniel war Maschinenschlosser und ihr fester Halt im Leben. Er blieb zu Hause, lächelte, wartete auf ihre Rückkehr und darauf, dass sie ihn Liebling nannte.

Simon, Liebling. Mich nannte sie auch so.

An dem Tag, als sie ins Wasser ging, war ich sieben Jahre alt. Ich habe versucht, es zu vergessen, doch es ist meine intensivste Erinnerung an sie. Sie verließ uns morgens, nachdem sie das Frühstück gemacht hatte. Hart gekochte Eier, die seitlich am Teller angeschlagen und mit den Fingernägeln gepellt werden mussten. Kleine Stückchen blieben darunter hängen. Ich pellte auch das Ei meiner Schwester und schnitt es in Scheiben, damit sie es mit ihren Kleinkinderfingern besser zu fassen bekam. Dazu gab es trockenen Toast und Orangensaft. Die frühen Sommerstunden machten die Schatten dunkler, die Gesichter heller und alle Höhlungen noch hohler. Paulina war an dem Morgen eine Schönheit, schwanengleich und wie nicht von dieser Welt. Dad war in der Fabrik, sie war allein mit uns, sah uns zu und nickte, als ich Enolas Ei schnitt.

»Du bist ein guter großer Bruder, Simon. Pass auf Enola auf. Sie wird dir davonlaufen wollen. Versprich mir, dass du sie nicht lässt.«

»Versprochen.«

»Was für ein wundervoller Junge du bist. Ich hätte das nie erwartet. Ich habe dich überhaupt nicht erwartet.«

Das Pendel der Kuckucksuhr schwang hin und her. Meine Mutter klopfte mit dem Fuß aufs Linoleum und sagte nichts mehr. Enola bekleckerte sich mit Ei und Krümeln. Ich hatte damit zu tun, zu essen und meine Schwester einigermaßen sauber zu halten.

Nach einer Weile stand meine Mutter auf und strich sich den Stoff ihres Sommerrocks glatt. »Bis später, Simon. Tschüss, Enola.«

Sie küsste ihre Tochter auf die Wange und drückte mir ihre Lippen oben auf den Kopf. Sie winkte zum Abschied, lächelte, und ich dachte, sie ginge zur Arbeit. Wie konnte ich wissen, dass es ein Abschied für immer war? In kleinen Wörtern wohnen oft große Dinge. Als sie mich an jenem Morgen ansah, wusste sie, ich würde mich um Enola kümmern. Sie wusste, wir würden ihr nicht folgen. Es war ihre Gelegenheit zu gehen.

Nicht lange danach, Alice McAvoy und ich veranstalteten gerade ein Autorennen auf unserem Wohnzimmerteppich, ertränkte sich meine Mutter im Sund.

Ich lehne mich gegen das Wasser, drücke mit der Brust und grabe die Zehen in den Grund. Noch ein paar Schritte, und ich setze den ersten Anker ab. Mit einem gedämpften Schlag landet er auf den Steinen. Ich sehe zum Schatten des Bootes hinauf. Frank ist nervös. Die Ruder schlagen aufs Wasser. Wie muss es sein, Wasser zu atmen? Ich stelle mir das verzerrte Gesicht meiner Mutter vor und gehe weiter, bis ich den anderen Anker absetzen kann, lasse die Luft aus meiner Lunge und gehe weiter in Richtung Strand. Ich versuche so lange wie möglich am Grund zu bleiben, das ist ein Spiel, das Enola und ich immer gespielt haben. Ich schwimme nur, wenn es zu schwierig wird, beim Gehen die Balance zu halten, dann bewegen sich meine Arme mit stetigen Zügen und schneiden wie eines von Franks Booten durch den Sund. Wenn das Wasser gerade noch tief genug ist, dass es meinen Kopf bedeckt, setze ich die Füße wieder auf den Grund. Was jetzt folgt, ist für Frank.

»Langsam, Simon«, erklärte mir meine Mutter. »Halt die Augen offen, auch wenn es sticht. Beim Herauskommen tut es mehr weh als beim Hineingehen, aber halt sie offen. Ohne zu blinzeln.« Salz brennt, aber sie hat nie geblinzelt, weder im Wasser, noch wenn die Augen wieder an die Luft kamen. Sie war eine sich bewegende Skulptur. »Atme nicht, auch wenn deine Nase über der Wasseroberfläche ist. Atmest du zu schnell, gibt es einen Mundvoll Salz. Warte«, sagte sie und dehnte das Wort wie ein Versprechen. »Warte, bis dein Mund aus dem Wasser kommt, aber atme durch die Nase, sonst sieht es aus, als wärst du müde. Du darfst nie müde sein. Dann lächle.« Obwohl sie einen kleinen Mund und schmale Lippen hatte, war ihr Lächeln weit wie das Wasser. Sie zeigte mir, wie man sich richtig verneigt: die Arme hoch, die Brust vorgewölbt, wie ein Kranich, der sich in die Lüfte erhebt. »Die Zuschauer mögen sehr kleine und sehr große Leute. Verbeuge dich nicht aus der Taille wie ein Schauspieler, das macht dich kleiner. Lass sie denken, dass du größer bist.« Sie lächelte mich zwischen ihren erhobenen Armen hindurch an. »Und du wirst sehr groß werden, Simon.« Ein kleines Nicken zu einem unsichtbaren Publikum hin. »Sei anmutig. Immer anmutig.«

Ich verbeuge mich nicht, nicht für Frank. Das letzte Mal habe ich mich verbeugt, als ich es Enola beigebracht habe und uns das Salz so schlimm in den Augen stach, dass wir aussahen, als hätten wir gekämpft. Trotzdem lächle ich, atme tief durch die Nase ein, dehne meine Rippen und fülle mir den Leib.

»Ich dachte schon, ich müsste dich heraufholen«, ruft Frank.

»Wie lange war ich unten?«

Er sieht auf seine Uhr mit dem rissigen Lederarmband und atmet hörbar aus. »Neun Minuten.«

»Mom hat elf geschafft.« Ich schüttele mir das Wasser aus dem Haar und hüpfe zweimal, um es auch aus dem Ohr zu bekommen.

»Ich habe das nie verstanden«, murmelt Frank und hebt die Ruder aus den Dollen. Sie klappern, als er sie ins Boot legt. Es gibt eine Frage, die wir beide nicht stellen: Wie lange dauert es, bis jemand wie meine Mom ertrinkt?

Ich schlüpfe zurück in mein Hemd, es ist voller Sand. Lebst du an der Küste, ist der Sand immer überall, im Haar, unter den Zehennägeln, in den Falten des Bettzeugs.

Frank schnauft vor Anstrengung, als er hinter mir das Boot aus dem Wasser zieht.

»Du solltest dir dabei von mir helfen lassen.«

Er klopft mir auf den Rücken. »Wenn ich nicht hin und wieder etwas tue, werde ich nur alt.«

Wir reden über ein paar Dinge im Zusammenhang mit dem Jachthafen. Er beklagt, dass die Fiberglasboote überhandnehmen, und wir werden poetisch, als wir auf die Windmill kommen, die Segeljacht, die er sich mit meinem Vater teilte. Nach Moms Ertrinken verkaufte Dad das Boot ohne Erklärung. Es war Frank gegenüber gefühllos, aber der hätte es ja kaufen können, wenn er gewollt hätte. Über das Haus reden wir nicht mehr, obwohl klar ist, wie sehr ihn der Gedanke mitnimmt, dass ich es womöglich nicht halten kann. Ich hätte es auch lieber anders. Stattdessen tauschen wir Nettigkeiten über Alice aus. Ich sage, ich achte auf sie, obwohl es unnötig ist.

»Wie geht es deiner Schwester? Hat sie sich schon irgendwo niedergelassen?«

»Nicht, dass ich wüsste, und um ehrlich zu sein, bin ich nicht sicher, ob sie es je tun wird.«

Ein Lächeln huscht über Franks Gesicht. Wir denken beide, dass Enola genau so rastlos wie meine Mutter ist.

»Legt sie immer noch Tarotkarten?«, fragt er.

»Sie kommt zurecht.« Sie ist mit einem Kirmesunternehmen unterwegs. Als auch das gesagt ist, sind unsere Themen erschöpft. Wir trocknen uns ab und hieven das Skiff zum Ufer hinauf.

»Gehst du hoch?«, frage ich. »Dann gehe ich mit.«

»Es ist ein so schöner Tag«, sagt er. »Ich glaube, ich bleibe noch etwas.« Das Ritual ist beendet. Wir trennen uns, nachdem wir unsere Geister ertränkt haben.

Ich steige die Treppe hinauf und vermeide den Giftsumach, der über das Geländer wächst. Das Zeug wuchert wild über das ganze Steilufer. Niemand reißt es aus. Alles, was im Sand wurzelt, ist wertvoll, wie übel es auch sein mag. Quer durch den Strandhafer gehe ich zurück nach Hause. Wie viele Häuser in Napawset ist auch meines ein waschechtes Kolonialhaus, gebaut im späten 17. Jahrhundert. Bis es vom Nordostwind weggerissen wurde, hing ein Schild der Historischen Gesellschaft neben der Tür. »Das Timothy-Wabash-Haus.« Mit seiner abblätternden Farbe, den vier schiefen Fenstern und der schräg abfallenden Treppe zeugt das Haus von fortgesetzter Vernachlässigung und einem ernsten Mangel an Geld.

Auf der verblichenen grünen Eingangstreppe (um die muss ich mich kümmern) hält ein Päckchen das Fliegengitter auf. Der Bote lässt die Gittertür immer offen stehen, egal wie viele Zettel ich auch schon aufgehängt habe, dass er es nicht tun soll. Das Letzte, was ich brauche, ist eine vom Wind weggerissene Tür, die ich an einem Haus erneuern muss, an dem es seit seiner Errichtung keinen rechten Winkel gegeben hat. Ein Päckchen? Ich habe nichts bestellt, und mir will niemand einfallen, der mir etwas schicken könnte. Enola ist selten länger an einem Ort, um Zeit dafür zu finden, mehr als eine Postkarte zu schicken. Und selbst auf denen steht für gewöhnlich kaum etwas.

Das Päckchen ist schwer, plump, die Spinnenschrift auf dem Adressaufkleber die einer älteren Person. Ich kenne diese Art Schrift, gehören doch auch die Bibliotheksbesucher eher der älteren Generation an. Das erinnert mich daran, dass ich mit Janice reden muss, ob sich nicht ein paar dehnbare Dollars im Bibliotheksetat finden lassen. Vielleicht ist alles nicht so schlimm, wenn ich das Ufer oben ein bisschen befestigen kann. Es wäre keine Gehaltserhöhung, eher vielleicht ein einmaliger Bonus nach all den Dienstjahren. Den Absender kenne ich nicht, eine oder einen M. Churchwarry aus Iowa. Ich nehme einen Stapel Papiere vom Tisch, ein paar Artikel über Zirkusse und Volksfeste, die ich über die Jahre gesammelt habe, um mit dem Leben meiner Schwester Schritt zu halten.

In dem Päckchen ist ein ziemlich großes, sorgfältig eingeschlagenes Buch. Noch bevor ich es auswickle, signalisiert der muffige, leicht bittere Geruch altes Papier, Holz, Leder und Leim. Unter dem Zeitungs- und Seidenpapier kommt ein dunkler Ledereinband mit ehedem wohl feinen Verzierungen, die durch einen heftigen Wasserschaden in Mitleidenschaft gezogen wurden, zum Vorschein. Mein Herz schlägt etwas schneller. Es ist ein sehr altes Buch, im Grunde keines, das man mit bloßen Händen anfasst, doch da ich sehe, dass es bereits ruiniert ist, gebe ich mich dem stillen Kitzel hin, etwas so Altes, etwas mit Geschichte, zu berühren. Die Ränder des unbeschädigten Papiers sind grobkörnig, aber weich. Die Walfangsammlung der Bibliothek ist mit genug archivarischer und Restaurationsarbeit verbunden, dass ich sagen kann, dieses Buch fühlt sich an, als stamme es wenigstens aus dem 18. Jahrhundert. So was lässt sich nur mit Termin ansehen und ist nicht einfach zu bestellen. Aus meinen Papieren baue ich zwei kleine Stapel, um den Band zu stützen, was ein schlechter Ersatz für die Ständer ist, die er eigentlich verdient, aber so wird es gehen.

Vorne im Buch steckt ein Brief, geschrieben mit derselben zittrigen Hand wie die Adresse.

Lieber Mr. Watson,

ich habe dieses Buch bei einer Auktion als Teil eines größeren Bestands erworben. Der Schaden macht es unbrauchbar für mich, aber ein Name darin, Verona Bonn, lässt mich glauben, dass es für Sie oder Ihre Familie von Interesse sein könnte. Es ist ein entzückendes Buch, und ich hoffe, es findet bei Ihnen ein gutes Zuhause. Bitte zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren, wenn Sie Fragen haben, von denen Sie annehmen, dass ich sie beantworten kann.

Unterzeichnet ist der Brief von einem Mr. Martin Churchwarry von Churchwarry & Söhne, einem auf alte und antiquarische Bücher spezialisierten Buchhändler. Ebenfalls vermerkt ist eine Telefonnummer.

Verona Bonn. Was der Name meiner Großmutter in diesem Buch macht, ist mir schleierhaft. Als umherreisende Darstellerin wie meine Mutter hatte sie in ihrem Leben keinen Platz für so ein Buch. Mit dem Rand des Fingers blättere ich eine Seite um. Das Papier knistert vor Anstrengung. Ich muss daran denken, zusammen mit dem Ständer Handschuhe mitzubringen. Die Innenseite ist mit kunstvoll gestochener Schrift bedeckt, über die Maßen verziert mit skurrilen Schnörkeln, die das Ganze so gut wie unlesbar machen. Es scheint das Geschäfts- oder Tagebuch eines gewissen Mr. Hermelius Peabody zu sein und mit etwas zu tun zu haben, das die Worte »reisende« und »Wunder« enthält. Andere mögliche Hinweise sind dem Wasserschaden zum Opfer gefallen, und Mr. Peabodys Faible für Kalligrafie. Beim Durchblättern sehe ich Zeichnungen von Frauen und Männern, Gebäuden und Wagen mit fantasievoll gerundeten Dächern, alles in Braun. Ich habe meine Großmutter nicht mehr kennengelernt. Sie starb, als meine Mutter noch ein Kind war, und die hat kaum etwas von ihr erzählt. Mir ist nicht klar, was dieses Buch mit meiner Großmutter zu tun hat, interessant ist es auf jeden Fall.

Ich ignoriere das Gestotter, das mich auf eine Nachricht hinweist, und wähle die Nummer. Es klingelt außerordentlich lange, bis sich ein Anrufbeantworter meldet und die zittrige Stimme eines Mannes erklärt, dass ich mit Churchwarry & Söhne verbunden bin und Datum und Uhrzeit sowie eine detaillierte Angabe zu dem Buch hinterlassen soll, das ich suche. Die Handschrift hat mich nicht getäuscht. Es ist ein alter Mann.

»Mr. Churchwarry, hier ist Simon Watson. Ich habe das Buch von Ihnen erhalten. Ich bin nicht sicher, warum Sie es mir geschickt haben, aber ich bin neugierig. Heute ist der 20. Juni, gerade sechs Uhr. Es ist ein fantastisches Buch, und ich würde gern mehr darüber erfahren.« Ich hinterlasse mehrere Nummern: vom Handy, vom Haus und der Bibliothek.

Auf der anderen Seite der Straße steuert Frank auf seine Werkstatt zu, eine Scheune am Rand seines Grundstücks. Er trägt ein Stück Holz unter dem Arm, eine Art Spannvorrichtung. Ich hätte ihn nach Geld fragen sollen, nicht nach der Nummer eines Bauunternehmers. Arbeiter werde ich schon finden, das Geld, um sie zu bezahlen, ist das Problem. Ich brauche eine Gehaltserhöhung. Oder einen anderen Job. Oder beides.

Mein Blick fällt auf ein blinkendes Lämpchen. Eine Nachricht. Okay. Ich gebe die Nummer ein. Die Stimme am anderen Ende ist nicht die, die ich erwartet habe.

»Hey, ich bin’s. Ach, Scheiße, rufe ich oft genug an, um eine ›Ich bin’s‹ zu sein? Ich hoffe, du hast eine. Eine ›Ich bin’s‹, meine ich. Das wäre gut. Also, ich bin’s, Enola. Ich will dich vorwarnen. Ich komme im Juli nach Hause. Es wäre toll, dich zu sehen. Wenn du Lust hättest, da zu sein. Eigentlich möchte ich, dass du da bist. Also, noch mal, ich komme im Juli, und du solltest zu Hause sein. Okay? Bye.«

Ich spiele die Nachricht noch einmal ab. Sie ruft nicht oft genug an, um eine »Ich bin’s« zu sein. Im Hintergrund sind Leute zu hören, die reden und lachen, ich meine, sogar ein Fahrgeschäft oder zwei zu hören, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Kein Datum, keine Nummer, nur Juli. Enola hat ein anderes Zeitverständnis, für sie ist es ganz normal, sich auf die Monatsangabe zu beschränken. Es tut gut, ihre Stimme zu hören, ist aber auch leicht besorgniserregend. Sie hat seit über zwei Monaten nicht angerufen und war seit sechs Jahren nicht zu Hause, nicht seit sie verkündet hat, wenn sie noch einen Tag mit mir in diesem Haus verbringe, werde sie sterben. Es war typisch für sie, so was zu sagen, aber doch auch anders, weil wir beide wussten, dass sie es ernst meinte, und ich mich die letzten vier Jahre, seit Vaters Tod, um sie gekümmert hatte. Seitdem ruft sie von Zeit zu Zeit an und hinterlässt weitschweifige Nachrichten. Unsere Gespräche dagegen sind kurz und nüchtern. Vor zwei Jahren hatte sie die Grippe. Ich fand sie in einem Hotel in New Jersey, wo sie die Toilettenschüssel umarmte. Ich blieb drei Tage. Sie weigerte sich, mit nach Hause zu kommen.

Sie will mich besuchen. Das kann sie. Ich habe ihr Zimmer nicht angerührt, seit sie weg ist, wahrscheinlich weil ich gehofft habe, dass sie zurückkommt. Ich habe schon daran gedacht, eine Bibliothek daraus zu machen, aber es gab immer dringlichere Dinge, leckende Hähne und Rohre mussten abgedichtet, Kurzschlüsse beseitigt, Fenster ersetzt werden. Das Zimmer meiner lange enteilten Schwester einer neuen Bestimmung zuzuführen, hatte keine Priorität. Aber vielleicht war das auch einfach nur eine bequeme Ausflucht.

Das Buch liegt neben dem Telefon, ein verführerisches kleines Rätsel. Heute Nacht werde ich nicht schlafen. Das geht mir oft so. Ich werde wach sein und über Verschiedenes nachgrübeln. Über das Haus, meine Schwester, Geld. Mit dem Daumen folge ich den Windungen eines verschnörkelten H. Wenn dieses Buch für mich bestimmt ist, sollte ich besser herausfinden, warum.