Wer war Franziskus – und was hat der Mann aus Assisi uns heute noch zu sagen?
Die katholische Kirche hat Franz von Assisi und seinen »Traum vom einfachen Leben« stets für sich vereinnahmt, seine Lebensgeschichte zur Hagiographie umgeschrieben. Dabei hat die Lehre Franz von Assisis eine Strahlkraft über alle konfessionellen Grenzen hinweg, gerade heute. Gunnar Decker enthüllt den klerikalen Mythos, der sich hinter der Gestalt des Mönchs verbirgt. Und er zeigt, auf welche Weise uns seine Lehre noch immer bewegt.
Autor
Gunnar Decker, 1965 in Kühlungsborn geboren, wurde in Religionsphilosophie promoviert. Er lebt als Autor in Berlin, veröffentlichte vielfach gelobte Biographien unter anderem zu Hermann Hesse, Gottfried Benn und Franz Fühmann, zuletzt das Geschichtsbuch »1965. Der kurze Sommer der DDR«. Weiter ist er Filmkritiker und Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.
»Von großer Sorgfalt, hoher analytischer Kraft sowie, last but not least, von beachtlichem erzählerischem Vermögen.«
Tilman Krause, Die Welt, über Gunnar Deckers Hesse-Biographie
GUNNAR DECKER
FRANZ
VON ASSISI
DER TRAUM VOM EINFACHEN LEBEN
Siedler
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Erste Auflage
September 2016
Copyright © 2016 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe
Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg, unter Verwendung
eines Motivs von akg-images/Gerhard Ruf
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Karte: Peter Palm, Berlin
Reproduktionen: Aigner, Berlin
ISBN 978-3-641-16123-1
V002
www.siedler-verlag.de
»Diesen franziskanischen Kontrapunkt
braucht auch die moderne Welt.«
JACQUES LE GOFF
Inhalt
PROLOG
Der Sohn des Tuchhändlers als Stürmer und Dränger –
sowie als Idiot der Familie
TEIL I
Vom Anfangen
Der Spielmann Gottes
Ein Simplicissimus?
Nacktheit als Form des reinen Protests und der Apotheose
Bildnis mit Mängeln
Der unscheinbare Mensch aus Assisi als welthistorisches Ereignis
Der Vogelprediger. Franz von Assisi und die Natur
Erste Vorverständigung über die Frage: Bruderschaft oder Orden?
Wer nicht sucht, weiß nicht, wann er findet. Umwege zu Franz von Assisi über Hermann Hesse
Umbrische Landschaft. La terra trema
Ein Erdbeben für die Kirche. Das Neue in Gestalt eines Verrückten?
Die Quellen. Zwischen Dokument und Legende
Kindheit und Jugend eines Zauberers
Vorgeschichte eines Heiligen
Traumgesicht. Ein Weltenwechsel
Wallfahrt nach Rom. Ausstieg auf Probe
Jesus am Kreuz beginnt zu sprechen.
Der Auftrag von San Damiano
Der Mantel des Bischofs
Die ersten Gefährten
Die neue Religiosität der Städte – Reformkirche und Ketzerbewegungen
Wer sind die Ketzer, und was wollen sie?
Der »Ketzervater« Joachim von Fiore,
Fixstern in der Geschichte der Sozialutopien
Die mächtige Gegenkirche der Katharer
Warum werden die Waldenser verketzert
und die Franziskaner nicht?
Exkurs: Lob der Ketzer oder der Orthodoxie?
TEIL II
Die Krise des gelebten Ideals
Franz und die Seinen gehen nach Rom – Der Eintritt der Fraternitas in die katholische Kirche?
Zwiegespräch der Träume. Franz trifft Innozenz III.
Rückkehr aus Rom. Aufbruch in die Illusion
Die erste Regel.
Noch freie Assoziation oder schon Orden?
Von Rivotorto zur Portiunkula-Kapelle
Schicksal einer Frau: Klara von Assisi
Was ist ein Minderbruder? Die Feier der Armut, der Fluch des Geldes und die wiederkehrende Geschichte vom Mantel
Abschied vom Anfang. Die Mattenkapitel
Der Einbruch der Realität in den Traum
Zeit der Kreuzzüge. Märtyrerträume und der letztliche Wille zum Frieden
Rückzug oder Vertreibung von der Ordensspitze?
Bruder Elias, Freund oder Verräter Franz’ von Assisi?
Die verlorene Regel – der gestürzte Franz von Assisi zu Füßen von Bruder Elias. Die Franziskaner-Mission in Deutschland und England
Der Sonnengesang
Bologna als Ärgernis
Brüder im Geiste? Dominikus und Franz von Assisi
Das nahende Ende. Rückzug, Intrige, Erscheinung des Engels und Tod
Das Jahr 1226. Schwere Prüfungen
Bruder Feuer
Das Testament
Die Neu-Erfindung von Weihnachten. Der heilige Stall von Greccio
Monte Alverno als Zauberberg und Ort der Versuchung
Erscheinung des Engels
Bruder Tod
TEIL III
Der utopische Rest
Der Streit ums Erbe. Die drohende Austreibung des Ursprungsgeistes
Heiligsprechung und Kampf um die Deutungshoheit
Der Stein gewordene Traum. Wo ist der Leichnam von Franz von Assisi geblieben?
Immer neuer Ärger mit Elias. Zweiter Versuch als Ordensgeneral
Die Franziskuskirche
Die Versöhnung von Religion und Natur bei Giotto
Gregor IX. als Franz’ Schutzpatron und Begründer der Inquisition. Der Geist der Spiritualen aber weht überall
Papst Cölestin V. als Hoffnungsschimmer für die Spiritualen und Bonifaz VIII. als Ende aller Hoffnung
Der Armutsstreit eskaliert
Ketzer und Spiritualen. Die Apostelbrüder Gerhard Segarelli und Fra Dolcino
Bonaventura wird Ordensgeneral und unternimmt die Befriedung eines nicht befriedbaren Gegensatzes. Ein fauler Kompromiss?
Die mörderische Frage, wie eng und wie kurz eine Kutte sein darf. Und vor allem: Wem gehört sie?
Der Engel des sechsten Siegels. Die Apokalypse im Selbstverständnis der Spiritualen um Petrus Olivi
Besaß Jesus Eigentum?
König Ludwig von Bayern als Schutzpatron der Franziskaner gegen den Papst
Franziskanische Denker als Empiriker: Wilhelm von Occam, Marsilius von Padua, Duns Scotus und Roger Bacon
Der lang andauernde Streit zwischen Konventualen
und Observanten mündet 1517 in einer Spaltung des Ordens.
Wer sind die Kapuziner?
Johannes Capistranus. Der Inquisitor als Heiliger?
EPILOG
Ein Jesuitenpapst namens Franziskus.
Der späte Schulterschluss
mit der Befreiungstheologie?
Anmerkungen
Bibliographie
Zeittafel
Register
PROLOG
Der Sohn des Tuchhändlers als
Stürmer und Dränger –
sowie als Idiot der Familie
»… ward einst der Welt geboren eine Sonne«
DANTE im 11. Gesang der
Göttlichen Komödie über Franz von Assisi
Franz von Assisi war kein Fanatiker. Er zügelte den Rebellen in sich, weil er wusste, ungerechte Verhältnisse ändern sich nur, wenn sich die Menschen ändern, die diese Verhältnisse als ungerecht erkannt haben. Das ist es, was auch Papst Franziskus, schon als er noch als Bischof in Argentinien war, an ihm faszinierte. Er spürte: Franz von Assisi war kein Sektenführer, der eine Gegenkirche gründen wollte wie die Katharer, ihn trieb nicht der Hass, sondern es trug ihn die Liebe auch durch jene Zeiten, da er sein Lebenswerk bedroht sah. Franz von Assisi selbst geriet in seinen letzten Lebensjahren in einen schweren inneren Konflikt zwischen dem Ideal und der realen Geschichte, nicht nur der seines Ordens. Doch er hielt diesen Widerspruch aus, erduldete ihn nicht nur, sondern bejahte ihn schließlich. Nietzsche würde sechseinhalb Jahrhunderte später für diese Bejahung die Worte amor fati, das Schicksal lieben, finden.
In seiner 2015 erschienenen Umweltenzyklika Laudato si’ beruft sich Papst Franziskus nicht nur ausdrücklich auf Franz von Assisi, er zitiert auch seinen Sonnengesang. Das Credo eines alt gewordenen Mannes, der den Tod als natürlichen Teil des Lebens einerseits freudig bejaht und andererseits diesen Kreislauf des Lebens durch menschliche Fortschrittshybris bedroht sieht? Aber trotz Elend und Müll, die eine Welt grenzenlosen Konsums unaufhaltsam produziert: Bruder Feuer erleuchtet die dunkle Nacht.
Da lebt einer sichtlich gern, besitzt das entscheidende Quäntchen Übermut, das ihn jeden neuen Tag wie ein Geschenk begrüßen lässt. Darum nennen alle frühen Lebensbeschreibungen den jungen Franz von Assisi »lustig«. Er besitzt die Gabe, sein Leben mit angeborener Anmut leicht zu nehmen – und andere zu animieren, es ebenfalls zu tun. Warum darum herumreden: Der junge Francesco offenbart bereits ein gehöriges Maß an Exzentrik. So trifft für ihn bereits der Slogan einer späteren Zeit zu: »Lebe lieber ungewöhnlich!«
Wo Giovanni – zu Deutsch Johannes – Bernadone auftaucht, der den vom Vater nachträglich erhaltenen Namen Francesco – zu Deutsch Franz – bereitwillig trägt, da bekommen alle Dinge wie von selbst ein freundliches Gesicht. Kein Wunder, denn Francesco stammt aus einer der reichsten Familien Assisis, für seine Zukunft ist gesorgt.
Thomas von Celano, der 1228 die erste Lebensbeschreibung verfasste, mag in Francescos Leben vor der Bekehrung nicht mehr als einen fortgesetzten Sündenfall sehen. Assisi ist darin nichts anderes als ein Name für »Babylon« und die jugendlichen Freunde Francescos sind ihm gar ein »Schwarm von Bösewichtern«. Er führt ein bürgerliches Leben als Tuchhändlersohn, der schließlich selbst in des Vaters Laden steht und die Kunden auf überaus einnehmende Weise bedient. Mit seinem Charme verführt er sie zum Kaufen der keineswegs billigen Stoffe. Alle sehen in ihm bereits den geborenen Verkäufer. Er macht diese Arbeit gern, sein Wesen hat etwas Gewinnendes. Es fällt ihm leicht, seine Kunden zu etwas zu bringen, woran sie beim Betreten des Ladens noch gar nicht dachten. In der Mode, der Kunst sich zu schmücken, spiegelt sich der neue Reichtum der Stadtbewohner. Eine flüchtige Kunst gewiss, aber sie hat etwas mit dem Stolz der Bürger zu tun, bestärkt sie in ihrem für das Mittelalter bislang unbekannten Gefühl, es durch eigenen Fleiß und Tüchtigkeit zu etwas gebracht zu haben.
Dieser neue Reichtum besitzt jedoch einen Januskopf, denn er weckt Begehrlichkeiten. So ist Italien um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert ein von erbitterten politischen Verteilungskämpfen überzogenes Land. Vor allem das Papsttum und die deutschen Kaiser führen in Italien Krieg um Einflusssphären. Schon bevor Francesco Ende 1181 oder Anfang 1182 geboren wird, hat der Städtebund der Lombardischen Liga sich eine beträchtliche Unabhängigkeit erkämpft.
Noch ist man in der neben Perugia eher kleinen Stadt Assisi vom Krieg verschont geblieben. Es herrscht die Atmosphäre eines gefährdeten Friedens. Man ahnt, er wird nicht mehr von langer Dauer sein. Ist es da ein Wunder, dass die Stadtjugend die ihr verbleibende Zeit nutzt, um sich zu amüsieren – so intensiv, so laut, so ausschweifend es geht? Und Francesco ist immer mittendrin, mehr noch: der Ideengeber. Er bezahlt – mit dem Geld des Vaters natürlich – die Zeche für alle. So wird er schnell zum Anführer der wohlhabenden Stadtjugend, dem sie alle gern folgen.
Ob sie ihm tatsächlich überall hinfolgen werden, das wird sich noch zeigen, aber selbst Celano in seiner Verdammungsrede des sündhaften Lebens, will Francesco nicht den Vorwurf machen, dass er seine privilegierte Stellung missbrauche, wenn er schreibt: »Alle bewunderten ihn, und alle wollte er übertrumpfen in Prunk und eitler Ruhmgier, in Scherzen, Späßen und Schnurren, in Wortgeplänkel und Liedern, in weichlichen und wallenden Kleidern, weil er sehr reich war; doch nicht geizig, sondern verschwenderisch, kein Anhäufer von Geld, sondern ein Verschleuderer des Reichtums, ein umsichtiger Kaufmann, aber ein leichtfertiger Verteiler; dabei war er jedoch ein sehr freundlicher, gewandter und leutseliger Mensch, wenn auch zu seinem Schaden; denn viele liefen ihm gerade nach, die Beifallsklatscher bei bösen Streichen und Anstifter von Verbrechen.«1
Bei Celano findet sich kein Wort über Politik und jene Kriege, die Assisi erschüttern. Als ob dies keinerlei Einfluss auf Francescos Art in der Welt zu sein gehabt hätte! Denn erst im Schatten von Gewalt und Leiden erwächst – langsam, sehr langsam – jenes unglückliche Bewusstsein, das den Boden für eine neue Spiritualität in ihm bereitet.
In der sogenannten Dreigefährtenlegende, über deren Entstehung noch zu reden sein wird, findet sich immerhin ein einziger dürftiger Verweis auf jene für Francesco so folgenreiche Konstellation: »Als wieder einmal zwischen Perugia und Assisi Krieg herrschte, wurde Franziskus mit vielen seiner Mitbürger gefangen genommen und zu Perugia in Gewahrsam verbracht: doch wegen seiner vornehmen Sitten tat man ihn zu den gefangenen Rittern.«2 Hier ist der Krieg zwischen Perugia und Assisi von 1202 gemeint, der in einem Massaker an den Kämpfern aus Assisi mündet – Francesco mitten unter ihnen.
Die Fußtruppen schlachtet man regelrecht ab, Gefangene werden nicht gemacht. Mit unvorstellbarer Grausamkeit erschlägt, zerhackt und spießt man alles auf, was aus Assisi kommt, die Feinde waten im Blut der Toten. Nur die Adligen tötet man nicht sofort, sondern nimmt sie gefangen. Dass Francesco wegen seiner vornehmen Sitten für einen Adligen gehalten wird, ist natürlich pure Legende: Allein sein Pferd, auf dem er – für einen Bürger höchst ungewöhnlich – in den Krieg zieht, bewahrt ihn vor dem sofortigen Tod. Wer ein Pferd hat, für den kann man auch ein Lösegeld bekommen, so die Kriegslogik!
Also schützt ihn sein reiches Elternhaus, das ihm seine adlige Lebensweise ermöglicht, vor dem sicheren Tod. So sieht Francesco seine fröhlichen Zechkumpane als verstümmelte Leichen – während er selbst das Glück hat, zu überleben. Aber um Gefangenschaft im 13. Jahrhundert wenigstens eine gewisse Zeit zu überleben, dafür braucht es eine eiserne Konstitution. Und die hat Francesco nicht, er ist eher schwächlich. Und doch sagt man, seine Lebensfreude habe ihn auch in den tiefen und feuchten Verliesen der Festung von Perugia, in denen die Gefangenen von Assisi zusammengepfercht wurden, nie verlassen. Nein, er singt auch hier Lieder und preist das Leben, so dass seine Schicksalsgenossen meinen, er sei verrückt geworden. Kein Wunder bei den Umständen!
Es stimmt streng genommen auch nicht, die Zeit vor dem Krieg gegen Perugia als Vorkriegszeit zu bezeichnen, denn es war nur eine Zwischenkriegszeit. Der Streit zwischen Papst und Kaiser hatte sich zu dieser Zeit verhängnisvoll zugespitzt. Was mit dem Machtvakuum nach dem Tod des deutschen Kaisers Heinrich VI. zu tun hatte, der in Süditalien plötzlich an der Malaria gestorben war; vielleicht – so gab es Gerüchte – war er auch vergiftet worden, als er bei einer Jagd in den Sümpfen Kampaniens Wasser aus einem Brunnen trank.
Nach dem Tod des verhassten Besatzers gab es 1198 plötzlich zwei deutsche Kaiser, erst wurde Philipp von Schwaben auf dem Reichstag in Mainz zum Kaiser gekrönt, dann kurze Zeit später, auf dem Fürstentag in Aachen, Otto von Braunschweig. Während des nun folgenden Streits beider um die rechtmäßige Kaiserkrone wagten immer mehr Städte der Lombardischen Liga den Aufstand gegen die deutschen Besatzer. Zumal der dreiundneunzigjährige Papst Cölestin III. mit der unübersichtlichen politischen Situation überfordert war.
Nach seinem Tod wird dann jener siebenunddreißigjährige Graf von Segni zum Papst gewählt, der als Innozenz III. für Furore sorgen würde. Er versucht sofort, die verlorene Macht des Papsttums zurückzuerlangen.
Das alles geschieht in nur einem Jahr.
Francesco ist 1198 sechzehn oder siebzehn Jahre alt, und bereits in diesem Jahr spürt er die Gewalt der geschichtlichen Dynamik. Er beteiligt sich an der Erstürmung der Rocca, jener Festung, die über Assisi thront, von der aus die Deutschen die Stadt kontrollieren. In einem Moment der Schwäche, da der Gouverneur Konrad von Urslingen mit einem Teil der Truppen abwesend ist (er versucht beim neuen Papst diplomatisch Boden gutzumachen, doch der zwingt ihn zur völligen Unterwerfung), hatten die Stadtbewohner den Angriff gewagt – und gewonnen.
Francesco, so heißt es, sei als Bewaffneter an der Spitze der Aufständischen zur Zitadelle gestürmt. Im Siegestaumel macht man keine Gefangenen. Deutsche, die sich ergeben, werden aus dem Fenster geworfen. So einfach kann das Leben sein, wenn man denn zu den Siegern gehört. Dann wird die Festung geschleift und die Steine zum sofortigen Ausbau der Stadtmauer verwandt – Francesco mittendrin in all seiner Begeisterung.
Als die päpstlichen Gesandten kommen, die Stadt zu übernehmen, ist sie bereits in den Händen ihrer wehrhaften Bevölkerung.
Assisi gerät daraufhin unter Kirchenbann, die Eingänge zu den Kirchen werden vernagelt und die Altäre mit Tüchern verhängt. Der neu gewählte Bürgermeister Assisis heißt nun Gerardo di Gilberti und ist ein Katharer, ein Angehöriger dieser so mächtigen ketzerischen Bewegung, die ein radikaler Feind des Papsttums ist, dessen moralischem Verfall sie ein Ideal evangelischer Reinheit entgegensetzt.
So hat Franz von Assisi bereits sehr jung viel von der schrecklichen Natur des Krieges kennengelernt und als eifriger Ritter, den er in sich spürt, gewiss auch selbst Menschen getötet, auf welche Weise genau, wissen wir nicht. Jedenfalls fühlt sich Francesco als Kämpfer berufen, er muss also entsprechende Erfahrungen gemacht haben. Die Erhebung von 1198 bereitet den Boden für den Krieg mit Perugia, denn die Aufständischen beginnen den Besitz der adligen Oberschicht niederzubrennen und die Adligen zu ermorden. Es herrscht Revolution in Assisi. Ein Teil der adligen Familien aber kann sich nach Perugia retten und betreibt von dort aus die Rückeroberung, die 1202 auch gelingt.
Wie sehen jene Jahre zwischen 1198 und 1202 aus, die für Francesco so prägend waren? Julien Green hat es unternommen, eine Art Sittengemälde Assisis zu dieser Zeit zu malen. Der väterliche Laden, so schreibt er, sei für Francesco gleichsam die Bühne gewesen, auf der er zwischen seinem sechzehnten und zwanzigsten Lebensjahr versucht, die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger zu erlangen. Die Stadt sei »wie ein großes Theater« gewesen. Francesco will von Anfang an nur eines darin: eine Hauptrolle spielen. Paul Sabatier schreibt über die besondere Rolle der Tuchhändler im 13. Jahrhundert, sie seien die wahren Herren der Städte gewesen. Zugleich Bankiers, denn wertvolle Stoffe sind eine verlässliche Währung, kommen sie als Geschäftsreisende durch ganz Europa. Sie bringen Nachrichten aus der Ferne nach Hause mit, sie machen aber auch unterwegs, bei ihren Reisen durch unsicheres Land, die oft nur unter dem Schutz von Waffen möglich sind und gefährlichen Expeditionen gleichen, selbst dadurch Politik, dass sie Nachrichten von einem Ort zum anderen transportieren.
Sie sind also nicht nur die Banker, sondern auch die Zeitungen des 13. Jahrhunderts. Durch sie verbreiten sich die häretischen Ideale, wie sie aus der erstarkenden Volksfrömmigkeit erwachsen. So erklärt sich auch Pietro Bernadones, des Vaters, Selbstbewusstsein. Er ist sich der Macht, die er verkörpert, jederzeit bewusst – und er weiß, dass ihm und seinesgleichen die Zukunft gehört.
Wie viel Land er genau besitzt, weiß man nicht. Mindestens fünf Häuser in der Stadt gehören ihm – und der Besitz wächst, weil Bernadone auch geschickt zu spekulieren versteht, etwa indem er Immobilien der nach Perugia geflüchteten Adligen an sich bringt. Über den Vater ist damit bereits einiges gesagt – Franz selbst aber wird sich nie über seine Familie äußern. Und die Mutter? Ihr kommt in den Lebensbeschreibungen eine wechselnde Rolle zu. Anfangs gehört auch sie für Celano ganz zum verkommenen, bloß auf Geld fixierten Bernadone-Sumpf. Aber in seiner zweiten Lebensbeschreibung, zwanzig Jahre später verfasst, steigt sie auf zur sanften Heiligenmutter. Wahrscheinlich ist sie die ganz normale Frau eines reichen Bürgers, der selten zu Hause ist. Selbstständig, aber unauffällig.
Über die Herkunft ihres Namens »Pica« ist von den Interpreten gestritten worden, denn Pica bedeutet im Wortsinne Elster. Ist sie also besonders schwatzhaft oder gar raffsüchtig gewesen, wie die Symbolik des Vogels es suggeriert? Wahrscheinlicher ist, dass der Name auf die südfranzösische Herkunft der Mutter verweist – Französisch ist die Sprache, die bei den Bernadones besonders häufig gesprochen wird, was auch erklärt, warum Franz sein Leben lang bevorzugt Französisch predigt und singt. Er hat mindestens noch einen jüngeren Bruder, Angelo, der ihn überleben wird. Auch über ihn gibt Francesco niemals irgendwelche Auskunft, obwohl die beiden Brüder ihr weiteres Leben hauptsächlich in Assisi verbringen werden.
Am Anfang deutet nichts auf die Rolle Francescos als »Idiot der Familie« hin. In dieses Bild hatte Jean-Paul Sartre die Kindheit und Jugend von Gustave Flaubert gebracht. Dieser war der Sohn eines berühmten Chirurgen in Rouen, der in den Schriftstellerambitionen seines Sohnes nichts anderes als Faulheit und Tölpelei entdecken konnte. Und wie lange braucht so ein Kind, sich gegen die Übermacht des Vaters zu behaupten! Flaubert etwa sprach als Kind erst spät und schien dann in allem, was er tat, für den praktischen Wirklichkeitsmenschen, der der in seinem Beruf so erfolgreiche Vater war, aufreizend langsam. Ein lebensuntüchtiger Träumer!
Ist es ein Zufall, dass sich Franz in seinem Testament als »idiota et ignorans« bezeichnet – als einfältig und ungebildet? Hier ist der Dissens zur Umwelt, besonders zu seiner engsten, der Familie, berührt. Denn deren Maßstäbe sind nicht seine Maßstäbe, seine Zeit wird anders gemessen. Niklaus Kuster hat die musische Seite Francescos hervorgehoben. Der Traum, der ihn leitet, erwächst nicht aus der Heiligen Schrift, überhaupt nicht aus einem Studium, er kommt ganz unmittelbar über ihn, mit unwiderstehlicher Kraft, einer poetischen Sendung gleich: »Sein ganzes Leben wird er ein Tänzer, Dichter und Gaukler bleiben, der wie ein ›Troubadour‹ auftritt, seine Botschaft leidenschaftlich gern inszeniert und schließlich auch zu seine Predigten tanzt.«3
Er ist »idiota et ignorans«, denn ihm fehlen die Voraussetzungen, eine jener üblichen Predigten zu halten, die zumeist Auslegungen von Bibelstellen sind. Aber dieses Nicht-Können im konventionellen Sinne macht ihn frei für Außergewöhnliches! Er spricht aus, was er erblickt, um sich herum und tief in sich. Heraus kommt eine Art magischer Realismus, Visionen von dokumentarischer Kraft. Francesco sucht nach einer eigenen Ausdrucksform und findet diese schließlich in einer Art religiöser Performance. So ist überliefert, dass er einmal einer auf seine Predigt wartenden Versammlung entgegentrat und sich, statt zu sprechen, Asche über den Kopf schüttete und dann still im Gebet verharrte. Mehr nicht? Das ist viel für eine Zeit, in der sämtliche christlichen Symbole so vernutzt und missbraucht scheinen, dass man ihnen nichts anderes mehr zutraut, als bloß die Lügen zu vermehren.
Franz wird gerade durch seine gelegentlich stammelnde Sprachlosigkeit, die den Mystiker zeigt, und seine damit einhergehende kindliche Lust am Spiel mit tieferer Bedeutung zum Erneuerer der christlichen Symbolik werden. Diese Natürlichkeit des Glaubens scheint aus Übermut zu erwachsen. Denn was schließlich zur Emanzipation der Natur werden wird, setzt den Mut voraus, die eigenen Grenzen zu überwinden.
Der Gründungsheilige dieser Familie der Träumer, der im bürgerlichen Sinne tatsächlich »Verrückten«, weil gegen ihre naheliegenden Interessen Handelnden, dieser Bewahrer einer demütigen Klugheit, die eine andere ist als die Geschäftsklugheit erfolgreicher Macher, trägt von Anfang an den Namen Franz von Assisi. Von Anfang an? Ja und nein. Denn das, was seine Bekehrung genannt wird, ist kein plötzliches Ereignis, es bereitet sich lange in ihm vor – und wer will hier mit Gewissheit sagen, dass das Spätere nicht von Anfang an in ihm angelegt gewesen sei?
Als Francesco nach einem Jahr Kerkerhaft vom Vater freigekauft wird, nimmt er sein bisheriges Leben in Assisi wieder auf. Tagsüber steht er im Geschäft des Vaters und bezaubert die gehobene Kundschaft mit seinem Charme, der im dunklen Kerker offenbar keine Kratzer bekommen hat. Nachts zieht er mit den anderen Söhnen Besserverdienender durch die Stadt. Nach üppigem Essen und Trinken, das Francesco bezahlt, hält man laut singend und johlend Ausschau nach schneller Liebe für den Nachhauseweg. Es sind Freuden der Besitzenden, die sich auf diese hastig konsumierende Weise ihrer Vitalität versichern. Ja, Francesco ist nach Krieg und Gefängnis immer noch jung, gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt. Und äußerlich ist alles bei ihm wie immer – jedenfalls fast. Denn seit dem Gefängnis ist er krank, hat es auf der Lunge, vermutlich eine Tuberkulose.
Auch sein scheinbar intaktes Selbstbild bekommt erste Risse – er hat bereits zu viel gesehen und erlitten, um sich mit dem zu begnügen, was man für Geld haben kann. Das ganze oberflächliche Leben ist ihm – noch bevor er bereit ist, es sich einzugestehen – fremd geworden. Seine Seele hungert nach echter Nahrung.
Das zeigt sich in kleinen, zufälligen Begebenheiten. Die erste, die uns überliefert wurde, ist die Begegnung mit einem Bettler, der unbotmäßigerweise plötzlich im Laden steht und um eine Gabe bittet. Francesco ist empört, dieser schmutzige und stinkende Kerl vertreibt ihm noch seine gut situierten Kunden! Wütend weist er ihn hinaus. Dann vergisst er diese in einer mittelalterlichen Stadt alltägliche Begebenheit. So wie er auch die Erinnerung an den kurzen mörderischen Krieg mit Perugia und das Jahr im Kerker vergisst.
Doch die verdrängten Bilder kehren wieder – zur Unzeit, dann, wenn er besonders wehrlos gegen sie ist.
Hätte dieser elende Mensch, der nichts besitzt und sich als Bettler von seinen Mitmenschen wie ein Stück Dreck behandeln lassen muss, doch bloß nicht im Namen Gottes um Hilfe gebeten – und nicht irgendwen, nicht allgemein, sondern ihn persönlich, Francesco Bernadone! Und er hatte sich hartherzig gezeigt. War er innerlich bereits derart abgestumpft?
Die Legende berichtet allerdings, er sei dem Bettler, kurz nachdem dieser den Laden verlassen habe, hinterhergelaufen, um ihm so viele Goldstücke in die Hand zu drücken, wie er in der Eile greifen konnte. Ob dies stimmt, wissen wir nicht – aber der Gestus des Gebens hat etwas Zweideutiges. Zum einen ist da echte Scham über das eigene Verhalten, der Versuch, etwas wiedergutzumachen. Denn Gott sprach aus dem Bettler, der Bettler war Gott. Ihm soll schnell und überreich geholfen werden. Zum anderen bleibt etwas Abwehrendes in seiner Handlung. Hier nimm, es ist mehr, als du jemals bekommen hast, aber lass mich in Ruhe!
Francesco handelt in dieser Situation wie ein echter Bernadone, wenn auch milde gestimmt. Er gibt Almosen, will ihm da noch jemand wegen seines Lebens, das sich immer nur um Geld und noch mehr Geld dreht, Vorwürfe machen? Ist er etwa nicht tüchtig, und ist Erfolg denn etwas, dessen man sich schämen muss? Es ist dieselbe selbstgerechte Logik wie bisher, die ihn immer noch gefangen hält. Er ist ein Reicher, und er gibt den Armen. Reichlich durchaus, aber die Rollen sind klar verteilt.
Doch warum ist er reich und die anderen arm? Ist es Schicksal, oder sind sie so faul und dumm wie er fleißig und klug? Diese Welt, beginnt Francesco zu ahnen, ist nicht gerecht eingerichtet und brüderlich schon gar nicht. Aber was kann man tun? Soll er etwa sein ganzes bisheriges Leben fortwerfen, es ablegen wie ein Kleid, das nicht mehr passt?
Noch versucht er beides, sein Leben als vornehmer, freundlicher und großzügiger reicher Bürgersohn fortzuführen und trotzdem mit seinem Geld denen zu helfen, die es zum nackten Überleben brauchen. Aber immer wieder, regelmäßig nun sogar, greift er in die Geschäftskasse, nicht mehr nur, um das Geld mit Freunden auszugeben, das auch noch, aber immer häufiger bringt er es jenen Armen, um die er bislang einen großen Bogen machte.
Diese Ärmsten der Armen vegetieren ganz am Rande der Gesellschaft. Aus Sicht der neureichen Bürger sind sie mehr als bloß lästig, sie sind bedrohlich. Denn aus diesem Elend resultiert Verwahrlosung, und diese wiederum wird zum Nährboden für zahlreiche Krankheiten. Eine Zumutung sind vor allem die Leprösen, die am lebendigen Leibe verfaulen, dass es zum Himmel stinkt. Und es gibt immer mehr von diesen sich selbst überlassenen Aussätzigen. Wo man sie trifft, da bewirft man sie mit Steinen. Oft ziehen sie sich dann in den Wald zurück, daher der Name »Waldmenschen«, der in unserem kollektiven Unterbewusstsein immer noch Ängste auslöst. Sie ernähren sich von dem, was sie finden, auch von verfaulten Früchten und von Getreide, das von Mutterkorn befallen ist – was schlimme Folgen hat wie jene Veitstanz genannte Nervenkrankheit oder schwarze Geschwüre, die den ganzen Körper bedecken.
Die neue städtische Kultur forciert die Desintegration ganzer Gruppen, die in der traditionell ländlich verfassten Kultur noch dazugehörten. Und im 13. Jahrhundert werden es immer mehr von diesen aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen, nicht nur die Aussätzigen ziehen hungernd und bettelnd über Land.
Die Freiheit der Städte, zweifellos ein Fortschritt, wirft lange Schatten. Aber was Francesco hier sieht, das sind mehr als bloße Schatten, es scheint ihm wie eine finstere Nacht.
Rilke schreibt es in einem Gedicht, und es ist nicht einmal fromm gemeint, eher wie eine zufällige Begegnung, ein Zusammentreffen, mit dem man nicht rechnete: »Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt.«
Wie gesagt, in dieser Zeile steckt keine christliche Botschaft, dem Dichter liegt es fern, zu bekehren oder sein Innerstes vor Publikum vorzuzeigen. Er vermeldet einen Fakt. Den Einbruch einer anderen Dimension, das Aufsprengen eines Lebenskreises, den man zu lange für intakt gehalten hatte.
TEIL I
Vom Anfangen