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Horst W. Opaschowski

Das

Abraham

Prinzip

Wie wir gut
und lange leben

Unter Mitarbeit von
Irina Pilawa

Gütersloher Verlagshaus

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-16622-9
V002

www.gtvh.de

Für unsere Kinder und Enkelkinder

»Wir müssen in den nächsten 30 Jahren

ganz neu lernen zu altern

oder jeder Einzelne der Gesellschaft

wird finanziell, sozial und seelisch gestraft.«

Frank Schirrmacher

(1959 bis 2014, Publizist, aus »Das Methusalem-Komplott«, 2004, S. 12)

Inhalt

Vorwort

1. Das Abraham-Prinzip

»Auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden!«

2. Am besten mehrere Leben leben?

Die Vision einer langlebigen Gesellschaft

3. Von Siebzig auf Hundert!

Durchstarten in ein langes Leben

4. So geht Langlebigkeit!

Das Leben bejahen, sich jünger fühlen

5. Den Geist nicht aufgeben

Geistige Fitness als lebenslange Herausforderung

6. Wohlfühlen in der eigenen Haut

Gesundsein als Lebenselixier

7. Auf Nummer sicher gehen

Für finanzielle Absicherung sorgen

8. Beziehungsreichtum

Die Familie als beste Lebensversicherung

9. Freunde als zweite Familie

Nachbarn als Wahlverwandte

10. Zusammenhalt mit Zukunft

Die neue Solidarität der Generationen

11. Generation Superior

Leben im Zeitwohlstand

12. Länger arbeiten können

Leben ist die Lust zu schaffen

13. Zuhause sein im Vertrauten

Selbstbestimmt wohnen bis ins hohe Alter

14. Gemeinsam statt einsam

Öfter das Schneckenhaus verlassen

15. Gebraucht werden

Wer eine Arbeit hinter sich hat, soll eine Aufgabe vor sich haben

16. Bestzeit

Das Beste aus dem machen, was man am besten kann

17. Lebensunternehmer

Das Leitbild der Zukunft

18. Wissen, wofür man lebt

Von der Flucht in die Sinne zur Suche nach dem Sinn

19. Gut leben statt viel haben

Vom Wohlleben zum Wohlergehen

»Erfüllt leben«: Wie geht das wirklich?

Das Generationengespräch zwischen der Tochter Irina Pilawa (44) und dem Vater Horst Opaschowski (75)

Empirische Grundlagen der Studie »Das Abraham Prinzip«

Anmerkungen

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Abraham soll 175 Jahre alt geworden sein. Das ist biblisch überliefert. Im Vergleich zu ihm bin ich mit meinen 75 Jahren geradezu ein Jugendlicher, weil mir hundert Lebensjahre fehlen. Damit Sie es gleich wissen: Ich bin wirklich 75. Mir geht es gut. Und ich bereue nichts – privat nicht und beruflich auch nicht. Ein ganzes Forscherleben lang aber beschäftige ich mich mit den Veränderungen in den Generationenbeziehungen zwischen Jung und Alt.

Schon als 29-Jähriger brandmarkte ich in meiner ersten Buchveröffentlichung den »Jugendkult in der Bundesrepublik« (1970) und kritisierte den Jugendwahn in den Betrieben (»Mit 50 zum alten Eisen«). Mitte der achtziger Jahre (1984) machte ich mir frühzeitig Gedanken über die Folgen der »demografischen Veränderungen« und die wachsende Diskrepanz zwischen dem »subjektiven Sich-alt-Fühlen und dem objektiven Alt-Sein«. Und ich prognostizierte schließlich für die nahe Zukunft: »Wir entwickeln uns zu einer langlebigen Gesellschaft!«

Jetzt sind wir auf dem besten Weg dorthin. Und Mitautorin Irina Pilawa, meine Tochter, bemerkt lakonisch: »Wer kennt schon dein Forscherleben? Viel wichtiger ist doch die Frage: Wo bleiben deine Forschungsergebnisse? Wenn sie nicht als Datenfriedhöfe in den Archiven verstauben sollen, musst du sie auf den Punkt bringen und gebündelt und persönlich bewertet veröffentlichen.« Recht hat sie - wieder einmal.

Denn seit wir gemeinsam vor zwei Jahren ein eigenes Institut für Zukunftsforschung in Hamburg gegründet haben, macht sie sich zur engagierten Anwältin für die nächste Generation, damit auch sie eine lebenswerte Zukunft vor sich hat. So entstand relativ spontan das Vater-Tochter-Gespräch, das sich in diesem Buch wiederfindet.

Von hier aus war es nicht mehr weit zur Entwicklung und praktischen Umsetzung der Buch-Idee, die meine Tochter mit begleitet hat. Was wir – leicht biblisch erhöht – das »Abraham-Prinzip« nennen, ist nur eine symbolische Umschreibung für das menschliche Streben, ein langes Leben auch zu einem guten Leben werden zu lassen. Wie sagt Irina Pilawa? »Gut und lange leben wollen: Das betrifft doch uns alle – die Enddreißiger in der rush-hour des Lebens genauso wie die Mittfünfziger in der nachelterlichen Lebensphase, von der Generation 65plus ganz zu schweigen.«

Da schließt sich der Lebenskreis. Wir müssen uns nicht neu erfinden, wohl aber ernsthafter über die Qualität eines immer länger werdenden Lebens nachdenken. Eins ist doch klar: Wer gut und lange leben will, sollte nicht den Arzt oder Apotheker fragen, sondern seinen Lebensstil ändern – mental und auch sozial.

1. Das Abraham-Prinzip

»Auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden ...«

Die Bibel kann uns viel erzählen. Aber hat Abraham je gelebt? Es gibt doch keinen Nachweis für seine Existenz. Warum – um Gottes willen – berufen sich gleich drei Religionen auf ihn: das Judentum, das Christentum und der Islam. Für diese drei nach ihm benannten »abrahamitischen« Religionen ist er ein Stammvater und eine Symbolfigur zugleich.

Abraham gilt als Vorbild für ein gutes und langes Leben.

Im biblischen Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus lässt das Lukas-Evangelium Lazarus am Ende von den Engeln in »Abrahams Schoß«1 tragen. Johann Sebastian Bach hat diese Symbolik an den Schluss seiner Johannes-Passion gesetzt: »Ach Herr, lass dein lieb‘ Engelein / Am letzten End‘ die Seele mein / In Abrahams Schoß tragen.« Selbst in Friedrich Schillers »Wallenstein« wird gefragt: »Wie machen wir’s, dass wir kommen in Abrahams Schoß?«

Auch im bekannten Kinderspiel von der goldenen Brücke, in dem sich das gefangene Kind zwischen Himmel und Hölle, für Engel oder Teufel entscheiden muss, spiegelt sich die Vorstellung von Abrahams Schoß wider. Und Seeleute, die in der Mecklenburgischen Bucht einen guten Ankerplatz finden, sagen voller Stolz: »Nu liggen wi as wenn wi in Abrahams Schot liggen.« Das Bild von Abrahams Schoß findet sich in vielen Sprachen wieder: Im Englischen heißt es »Abrahams bosom«, im Französischen »le Sein d’Abraham« und im Italienischen »il Seno di Abramao«.

Wer in Abrahams Schoß ruht, kann sicher und geborgen leben.

Und wer heute – wie die Große Koalition in Berlin – gar programmatisch über das »gute Leben« in Deutschland nachdenkt, kommt in diesen Krisenzeiten nicht ohne den Hinweis auf Sicherheit und Stabilität des Lebens aus – symbolisiert in den »4F«: Frieden, Freiheit, Freunde und Familie.

Das Abraham-Prinzip gilt als Chiffre für ein erfülltes Leben.

Nach dem Abraham Prinzip leben, heißt im biblischen Sinne: im »Gelobten Land« ankommen! Erst dann bewahrheitet sich das Buch Hiob: »Und er starb - alt und lebenssatt«. Bis dahin aber dominiert der Lebenshunger, damit es sich auch lohnt, so lange zu leben. Die Erfahrung zeigt: Nur wer gut zu leben versteht, kann auch länger leben.

Wir müssen uns nicht ständig neu erfinden, um das lange Leben als Herausforderung und Aufgabe zu begreifen. Bis ins hohe Alter mit Leib und Seele an sich arbeiten und für andere da sein, heißt: abrahamitisch leben und dem Leben einen Sinn geben. Wer aber kann schon erfülltes Leben konkret beschreiben? Davon gibt es doch kein Bild und kein Foto, allenfalls Sinnelemente, die als Ganzes das Mosaik eines guten und langen Lebens zusammenhalten.

Wer gut und lange zu leben versteht, wird am Ende des Lebens sagen können: »Ich habe Abraham gesehen!«

Erinnern wir uns: Abraham ist mit seinen 175 Jahren in die lange Reihe der Langlebigkeitsmythen2 einzuordnen – in die

Methusalem (969 Jahre),

Noah (950), Adam (930),

Kain (910) und die

Isaak (180), Abraham (175),

Jakob (147).

Die überlieferten Langlebigkeitsmythen vermitteln den Eindruck eines Goldenen Zeitalters, in dem die Menschen sehr, sehr lange lebten, nie wirklich alt wurden (Genesis 5:9:29) und am Ende sanft entschliefen. Im Vergleich zu Methusalem ist Abraham geradezu im jugendlichen Alter gestorben.

2. Am besten mehrere Leben leben?

Die Vision einer langlebigen Gesellschaft

1922, vor einem knappen Jahrhundert, beklagte sich der tschechische Schriftsteller und Erfinder des Wortes »Roboter« (tschechisch »robots«) Karel Capek in seinem Drama »Die Sache Makropulos« (Vec Makropulos) über eine menschliche Unzulänglichkeit: Zu einem Zeitpunkt des Lebens, da wir genügend Erfahrung und Weisheit besitzen, um der Welt und uns selbst das Beste zu geben, lassen unsere körperlichen Kräfte nach und beginnen unsere geistigen Fähigkeiten zu verkümmern.

Die logische Konsequenz für Capek, der Aldous Huxley und George Orwell nahestand, war: »Geben wir jedem 300 Jahre zum Leben. 50 Jahre, um ein Kind und Schüler zu sein. 50 Jahre, um die Welt und wie es in ihr zugeht, verstehen zu lernen. 100 Jahre, um zu arbeiten. Und dann, wenn wir alles begriffen haben, 100 Jahre, um ein weises Leben zu führen, zu lehren und ein Beispiel zu geben. Wie kostbar wäre das Leben, wenn es 300 Jahre dauerte!«1. Wären 300 Jahre wirklich ein Segen oder ein Fluch? Käme dann nicht die große Langeweile auf?

Eine Paradoxie des Lebens wartet auf uns: Jedes Jahr nimmt die Lebenserwartung der Deutschen um zwei bis drei Monate zu. Schön und gut?

Die meisten Bundesbürger wollen heute schon länger leben – aber nicht zu lange.

Vor einem biblischen Alter graut vielen. »Möchten Sie 150 Jahre alt werden?« Diese hypothetische Frage des Allensbach Instituts hat die Zahl der Befürworter in den vierzig Jahren zwischen 1964 (55%) und 2004 (Ost: 33% - West: 24%) fast halbiert2. Die Deutschen haben keine Angst vor dem Älterwerden – aber »Lust auf Alter« oder gar auf »Langlebigkeit« sieht anders aus. Es ist mehr die Sorge um den möglichen Verlust an Lebensqualität in den letzten Lebensjahren.

Wir »müssen« möglichst frühzeitig durchstarten lernen in ein langes Leben, das fast unausweichlich auf die meisten von uns wartet. Was ist zu tun? Gibt es auch mit hundert Jahren ein erfülltes Leben? Und wenn ja, wie?

Der demografische Wandel spricht eine deutliche Sprache: Eine Altersrevolution kommt auf uns zu. Die Bevölkerung altert dramatisch. Jeder Fünfte (21%) in Deutschland gehört zur Generation 65plus, 2060 wird es jeder Dritte (33%) sein.

Bis zum Jahr 2040 wird sich allein der Anteil der über 60-Jährigen in Deutschland verdoppeln.

Die demografische Revolution bleibt nicht allein auf Deutschland beschränkt. Nach Berechnungen des UN-Bevölkerungsfonds (unfpa) wird die allgemeine Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern bis Ende des Jahrhunderts auf 87,5 Jahre (bei Männern) und 92,5 (bei Frauen) steigen. Selbst ein Leben über 100 könnte mit Hilfe der Genforschung Wirklichkeit werden – wenn wir dies denn wollen. Eines kann man sicher voraussagen: bedrückende Aussichten für die arme Erbengeneration, die so lange warten muss ...

Unter allen westlichen Industriegesellschaften weist Deutschland die stärkste Alterung auf. Drastischer Geburtenrückgang und steigende Lebenserwartung bewirken geradezu eine Überalterung der Gesellschaft, die in Zukunft allenfalls durch Einwanderung gestoppt werden kann. Es zeichnen sich zwei Entwicklungen für die Zukunft ab: Deutschland wird Einwanderungsland und/oder Deutschland wird grau. Solange zu wenige Kinder geboren werden und gleichzeitig die Lebenserwartung stetig zunimmt, altert die Gesellschaft als Ganzes.

Wir entwickeln uns zu einer langlebigen Gesellschaft. In Zukunft wird Hochaltrigkeit, immer wahrscheinlicher.

Wer hat Angst vor Methusalem? Ein ganzer Forschungszweig droht, seinen Gegenstand zu verlieren. Weil sich die Alternsforschung zur Langlebigkeitsforschung wandelt, wird auch eine präzise Definition von »Jungbleiben« und »Älterwerden«, von »Jung« oder »Alt« immer schwieriger. Vielleicht gibt es bald den »alten Menschen« nicht mehr. Der Altersbegriff wird einfach wegdefiniert: objektiv alt, aber subjektiv jung. Bis Anfang siebzig gehört man zu den »Neuen Alten« oder »Jungen Alten«. Alt ist in Zukunft nur noch der, der sich offen dazu bekennt. Nicht mehr über das Alter, sondern über persönliche Lebensbedürfnisse und das soziale Umfeld (z.B. gute medizinische Versorgung, bedienerfreundliche Technik, generationsübergreifende Wohn-, Kultur- und Reiseangebote) wollen die älteren Generationen erreichbar und ansprechbar sein.

Die »Grauen Giganten« kommen. Damit sind die neuen Centenarians gemeint, die über hundert Jahre alt sind. 1965, vor einem halben Jahrhundert, bekamen 225 Hundertjährige in Deutschland ein persönliches Glückwunschschreiben des Bundespräsidenten und einen Scheck über 250 DM überreicht. Diese goldenen Jubiläumszeiten sind längst vorbei. Denn schon zehn Jahre später hatte sich die Zahl der Hundertjährigen auf 716 erhöht. Und seither nimmt die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland fast explosionsartig zu (1995: 2.496 – 2015: 5.523). Langlebigkeit wird ein Teil der Normalität.

Um 2030 scheiden die Babyboomer aus dem Erwerbsleben aus. Dreißig Jahre später wird man in Deutschland eine ganze Kleinstadt mit Hundertjährigen füllen können, die körperlich und geistig vitaler sind als jede Generation im gleichen Alter zuvor. Nach der Hundertjährigen-Studie der Universität Heidelberg (Institut für Gerontologie) lebt jeder zweite Hundertjährige autonom im eigenen Haushalt – und regelt auch seine Finanzangelegenheiten selbst. Die Angst vor dem Lebensqualitätsverlust im höheren Alter ist weitgehend unbegründet.

Die zunehmende Langlebigkeit erklärt sich wesentlich aus einschneidenden Veränderungen des Lebensstils vieler Menschen, insbesondere ihrer Ernährungsgewohnheiten in Verbindung mit gesünderen Umweltbedingungen und Fortschritten der Medizin.

Noch nie haben so viele Menschen in Deutschland und der westlichen Welt ein so hohes Alter erreicht.

Und ein noch längeres Leben wartet auf sie. Müssen wir bald unsere Kinder darauf vorbereiten, dass sie hundert Jahre alt werden können und nicht aufhören dürfen, sich weiterzuentwickeln und weiterzulernen? Und ist dann die provokative Forderung aus dem George-Orwell-Jahr »1984« nicht bald politische Wirklichkeit: »Schafft den Ruhestand ab!«3? Wer wird sich in Zukunft schon mit 63, 65 oder 70 Jahren einfach stilllegen lassen wie einen alten Hochofen, wenn noch dreißig Lebensjahre auf ihn warten? Und gleichen dann nicht viele langlebige Menschen einer alten Bibel, die so zerlesen ist, dass beim Umblättern einige Seiten wegbrechen, aber der Inhalt nicht veraltet ist, weil die Aussagen »taufrisch« bleiben4? Sind alte Menschen alten Büchern vergleichbar, die im Laufe der Jahre zerlesen und zerbrechlich werden, aber immer noch lesens- und lebenswert sind?

Trotz verminderter Gehgeschwindigkeit und mancher Knieprobleme bleiben alte Menschen länger gesund und sind seltener krank. Die medizinische Forschung weist nach: Ein Teil unseres Körpers, die DNA, altert nicht: »In der DNA ist der genetische Code für unser Leben festgelegt. Kopien unserer DNA bleiben in unseren Nachkommen erhalten, der Code degeneriert also nicht«5.

Langlebigkeitsgene (»Gerontogene«) entscheiden mit darüber (allerdings nicht allein), wie alt wir werden.

Die Alternsforschung über Hundertjährige (sogenannte »Centenarians«) und langlebige Familien weist nach, dass auch ihre Nachkommen überdurchschnittlich lange leben.

Die Deutschen leben immer länger. Seit 2006 hat sich die Lebenserwartung um zweieinviertel Jahre erhöht – Tendenz weiter steigend. Neugeborene Jungen haben eine Lebenserwartung von 78 Jahren und zwei Monaten vor sich, Mädchen 83 Jahre und einen Monat.

Innerhalb der letzten hundert Jahre hat sich unsere Lebenserwartung von vierzig auf achtzig Jahre verdoppelt. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Die Lebenserwartung der Deutschen nimmt jedes Jahr um zwei bis drei Monate zu (z.Zt. 2,76 Monate pro Jahr). Die medizinische Alternsforschung6 prognostiziert daher für die nahe Zukunft:

Alle zwei Wochen verlängert sich unser Leben um ein langes Wochenende.

Die Millennials, die um 2000 Geborenen, können mit jedem Jahrzehnt mindestens zwei bis drei Jahre älter werden als ihre Elterngeneration und lange leben – wenn sie gut und maßvoll zu leben verstehen.

In der Mitte des Lebens machen sich viele Menschen Gedanken über die zweite Lebenshälfte. Die wichtigste Erwartung lautet: endlich Muße. Bei den antizipierten Vorteilen dominieren zwei Bereiche: der Genuss der neuen Freiheit (frei von Verpflichtungen sein, selbst bestimmen, was man tun will, keine Rücksicht mehr nehmen müssen) und die Ruhe (kein Stress, keine Hektik, keine Termine mehr und endlich Zeit für sich selbst haben). Besonders der Aspekt viel Zeit wird anschaulich ausformuliert, wobei in den Schilderungen Begriffe wie »unbegrenzt«, »ausgiebig« und »endlos« fallen. Hier deutet sich ein starkes Bedürfnis nach Erholung und Entspannung an – nach einem offensichtlich immer belastender werdenden Berufsleben. Aktive Aspekte (z.B. die Vorfreude auf bestimmte Unternehmungen) fehlen in dieser Vorausschau.

Die primäre Erwartungshaltung der Mittvierziger: Ausruhen vom Arbeitsleben und viel Zeit und Muße haben.

Was sie nachher konkret mit dieser Zeit anfangen wollen, darüber machen sie sich vorher wenig Gedanken. Sie haben nur den einen Vorsatz, sich zu bemühen, ihr Leben möglichst »sinnvoll zu gestalten«.

Die zweite Erwartungshaltung lautet: einfach nachholen. Man will das nachholen oder intensivieren, wozu man bisher aus Zeitmangel nicht oder nicht ausgiebig genug kam. Man denkt hier vor allem an Lektüre jeder Art: »Die Zeitung von vorne bis hinten lesen« oder »mal wieder ein gutes Buch lesen«. Auch dem Garten will man sich mehr widmen als bisher, häufiger spazieren gehen und natürlich viel Reisen und Ausflüge machen. Bei den Mittvierzigern ist eine starke Tendenz erkennbar, den kommenden Wechsel und die damit verbundenen Konsequenzen von sich wegzuschieben. Die Folge ist eine Ausweichreaktion nach dem Motto: »Kommt Zeit, kommt Rat«.

Langlebigkeit ist nur gut, wenn auch die Lebensqualität gut ist.

Die langlebigste Gesellschaft aller Zeiten kommt auf uns zu. Der »Jugendkult« des 20. Jahrhunderts ist Geschichte. Und Lebensfreude und Lebensfreunde gibt es auch im hohen Alter. Wer lange »lebenshungrig« zu leben versteht, wird sich nach dem Abraham-Prinzip am Ende des Lebens »alt und lebenssatt«, d.h. zufrieden für immer von der Bühne des Lebens verabschieden können.

Von den heute geborenen Deutschen wird 100 Jahre später noch die Hälfte am Leben sein.

Daraus ergeben sich folgende Fragestellungen: Wie kann sichergestellt werden, dass ein langes Leben auch ein »gutes Leben« wird – materiell und mental, physisch und sozial? Was müssen Eltern heute tun, um die nächste Generation darauf vorzubereiten, sehr alt zu werden? Und werden wir uns nicht alle spätestens in der Mitte des Lebens die Frage stellen müssen: Beruf, Familie – und was dann?