Buch
Alles begann, wie es manchmal eben so ist, mit einem toten Mann. Er war ein Nachbar – niemand, den Abby gut kannte, und dennoch: Einen Verstorbenen zu finden, wenn man sich nur gerade eine Dose Tomaten fürs Abendessen ausleihen möchte, ist schon ein bisschen schockierend. Oder sollte es jedenfalls sein. Zu ihrem eigenen Erstaunen ist Abby von dem Ereignis zunächst seltsam ungerührt, doch nach diesem Mittwochabend gerät das fragile Gleichgewicht ihres Lebens immer mehr ins Wanken, und Abby scheint nichts dagegen unternehmen zu können …
Autor
Gavin Extence, geboren 1982, lebt mit seiner Frau, seinen Kindern und einer Katze in Sheffield. Mit seinem Debütroman Das unerhörte Leben des Alex Woods schrieb er sich in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen. Der Roman wurde in Großbritannien mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, eroberte auch in Deutschland die Bestsellerliste und gehört zu den meistempfohlenen Büchern 2014. Libellen im Kopf ist der zweite Roman von Gavin Extence.
Von Gavin Extence bereits erschienen
Das unerhörte Leben des Alex Woods
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GAVIN EXTENCE
LIBELLEN
IM KOPF
ROMAN
DEUTSCH VON ALEXANDRA ERNST
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»The Mirror World of Melody Black«
bei Hodder & Stoughton, London.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2015 by Gavin Extence
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Limes
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Susann Rehlein
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotive: Getty Images/Saemilee; www.buerosued.de
WR · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17064-6
V001
www.limes-verlag.de
Für ACE und TOE,
wenn ihr alt genug seid.
1
HINTER DEN SPIEGELN
Simons Wohnung war ein Spiegelbild unserer eigenen. Ein Schlafzimmer, ein Duschraum statt eines Badezimmers, ein Wohn-Esszimmer mit Küchenzeile, das ein Immobilienmakler in ein paar Wochen großspurig als »offen geschnitten« anbieten würde. Die Diele war eng und fensterlos, erleuchtet durch einen Deckenfluter, der konzentrische Pfützen aus Licht und Schatten auf schmucklose, gestrichene Wände warf.
Der Mangel an Dekorationsgegenständen fiel mir gleich auf, als ich über die Schwelle trat. Beck und ich waren in unserer Wohnung den entgegengesetzten Weg gegangen. Überall hingen diese kleinen Kronleuchter aus Acrylglas, die man für zehn Pfund in jedem Haushaltswarengeschäft bekam, und jeder Zentimeter Wandfläche war mit Drucken oder Fotos behängt – Landschaften und Schnappschüsse von unseren Urlaubsreisen –, außerdem mit einem halben Dutzend Spiegel in allen möglichen Formen und Größen, um Weitläufigkeit vorzutäuschen. Ich fand schon immer, dass die Art, wie jemand seine Umgebung gestaltet, Bände spricht. Die Deko bei mir würde zum Beispiel jedem auf Anhieb sagen, dass ich eine Schwäche für Kitsch habe, dass ich dazu neige, Krimskrams anzuhäufen, und dass ich von Größerem träume.
Aber was sagte Simons Wohnung über ihn aus? Oberflächlich betrachtet gar nichts. Sie war nur ein weiteres Puzzlestück in dem ganzen Rätsel. Die Diele, die vor mir lag, wies nicht ein einziges Totem auf, das einen Einblick in seine Persönlichkeit gegeben hätte. Nichts, was den skizzenhaften Eindruck, den ich von dem Mann hatte, mit Leben erfüllt hätte. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob man das, was ich von ihm hatte, einen Eindruck nennen kann. Es war nicht so sehr Realität, sondern eher eine Fantasie, so in der Art der halbgaren Geschichten, die wir uns über die Nebenfiguren in den Daily Soaps zusammenreimen. Was Tatsachen betraf, so hätte alles, was ich über Simon wusste, auf einem Post-it Platz gehabt. Er war in den Vierzigern, lebte allein, war gepflegt, ausgesprochen höflich, hielt immer mindestens eine Armlänge Distanz, sprach ohne Akzent und hatte einen Job, bei dem er ein weißes Hemd und manchmal ein Jackett tragen musste, aber keine Krawatte. Ich hatte nie so viel Interesse an ihm gehabt, dass ich mir die Mühe gemacht hätte, herauszufinden, was für ein Job das genau war.
Ich weiß nicht, wie lange ich an der Wohnungstür stehen blieb. In meiner Erinnerung zieht sich dieser Augenblick endlos hin. Ich kam mir vor wie ein Insekt, das in Bernstein gefangen sitzt. Aber ich vermute, das war nur der Effekt einer düsteren Vorahnung, die mich befiel. Irgendwie wusste ich, was mich erwartete. Die Tür zum Wohn-Esszimmer (mit integrierter Küchenzeile) stand einen Spalt offen, und der Fernseher plärrte laut. Das, so dachte ich mir, könnte der Grund dafür gewesen sein, dass er auf mein Klopfen nicht reagiert hatte. Ich klopfte noch einmal etwas lauter an die Innenseite der Wohnungstür, dann rief ich seinen Namen, bekam aber keine Antwort. Nur das unermüdliche Geplapper aus dem Fernseher.
Weitergehen oder umkehren? Neugier und Zurückhaltung lieferten sich eine kurze, blutige Schlacht (mehr ein Geschubse und Gerangel, um die Wahrheit zu sagen), und dann brachten mich viereinhalb Schritte zu der halb offen stehenden Wohnzimmertür, wo ich mitten in der Bewegung erstarrte, den linken Arm halb erhoben und die Hand zum Klopfen leicht gekrümmt.
Simon war tot. Ich musste keinen Schritt weitergehen, um mich von dieser Tatsache zu überzeugen. Er saß in einem Sessel auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, knapp drei Meter von mir entfernt, die Augen weit offen und der Rücken unnatürlich gerade und steif. Aber im Grunde genommen lag es nicht an seiner Haltung, dass ich Bescheid wusste, es war auch nicht der leere, glasige Blick, in dem sich das Flackern des Fernsehers spiegelte. Es war vielmehr ein Gefühl von Abwesenheit – und gleichzeitig die Gewissheit, dass ich der einzige Mensch in dieser Wohnung war. Ich war ein Mensch, und Simon war eine Leiche.
Mein unmittelbarer Gedanke war, dass ich eine rauchen musste, gefolgt von der Erkenntnis, dass ich die Zigaretten in meiner Handtasche hatte. Auf dem Couchtisch lag eine Packung Marlboro. Na ja, was machte es schon aus? Beck konnte es sowieso nicht leiden, wenn ich in unserer Wohnung rauchte, egal, wie weit ich meinen Kopf aus dem Fenster streckte. Simon dagegen konnte schlecht Einwände erheben. Es war eine durchaus vernünftige Reaktion auf die Situation, in der ich mich befand. Ich ging zum Couchtisch, zog eine Zigarette aus dem Päckchen – es waren noch sieben übrig – und schaute mich nach einem Feuerzeug um. Es lag keins auf dem Tisch neben dem Aschenbecher, also war der nächste logische Schritt, in Simons Hosentasche zu suchen. Das allerdings erschien mir doch ein wenig zu pietätlos. Stattdessen zündete ich die Zigarette an dem Gasherd in der Küchenzeile an, wobei ich aufpasste, dass ich mit den Haaren nicht in die Flamme geriet. Dann lehnte ich mich an die Arbeitsplatte und dachte nach.
Ich hatte schon einmal eine Leiche aus der Nähe erlebt, bei der Beerdigung meiner Großmutter, aber das war etwas völlig anderes gewesen. Die ganze Sache hatte wie eine öffentliche Aufführung gewirkt, in der alle – ich, meine Mutter, der Vikar, der Organist – eine per Drehbuch vorgegebene Rolle spielen mussten. Hier und jetzt war ich allein mit meinen Gedanken, und das vorherrschende Gefühl war ein ruhiges Verstehen. Gleichzeitig haftete der Situation auch etwas Erregendes an. Es war immer so, dass ich mich lebendiger fühlte, wenn ich rauchte – das ist ja das wundersame Paradoxon des Rauchens –, aber hier ging es darüber hinaus noch um etwas anderes. Meine Sinne waren klar und geschärft, es war wie an einem heißen Tag eiskaltes Wasser zu trinken, und ich fühlte meinen Puls bis in die Fingerspitzen. Ich nahm mir vor, Dr. Barbara bei unserem nächsten Treffen von diesem Gefühl zu berichten. Sie würde die Einzige sein, die davon erfuhr; bei anderen Menschen war die Offenlegung solcher Gefühle nicht angebracht.
Als ich die Zigarette bis zum Filter geraucht hatte, löschte ich die Kippe unter dem Wasserhahn, rieb die Spüle trocken und ging dann mit entschlossenen Schritten zu Simons Sessel. Mein Finger verharrte nur ganz kurz in der Luft, ehe ich gegen seine Wange stupste. Sein Fleisch fühlte sich nicht organisch an, sondern eher wie Gummi oder Latex, aber es war nicht so kalt, wie ich erwartet hatte. Allerdings hatten meine Erwartungen vermutlich wenig mit der Realität zu tun. Man dachte wohl immer, dass sich der Tod eiskalt anfühlen würde, aber stattdessen ähnelte er eher abgekühltem Badewasser. Oder vielleicht fühlte sich einfach allgemein dieser Abend im Londoner Spätfrühling so an.
Natürlich war weit und breit kein Telefonbuch zu sehen, und mein Handy steckte in meiner Handtasche, zusammen mit meinen Zigaretten, aber mir war so, als gäbe es eine Nummer der Polizei, die man in einem solchen Fall – der ja kein Notfall war – anrufen konnte. Ich glaubte mich zu erinnern, dass sie mit einer 1 anfing. Beck hätte sie sofort gewusst, er kam mit Zahlen viel besser zurecht als ich, aber aus irgendeinem Grund wollte ich jetzt noch nicht in unsere Wohnung zurück und alles erklären. Ich fand es wichtig, dass ich allein mit dieser Sache zurechtkam, als wäre das hier ein Test über meine Kompetenz als verantwortlich handelndes Individuum. Für Erklärungen war später noch Zeit.
Ich nahm den Hörer ab und wählte die Kombinationen mit drei Zahlen, die mit einer 1 begannen, die mir am naheliegendsten erschienen. Davon gab es nicht viele, aber trotzdem brauchte ich vier Anläufe. 111 war die Servicenummer der Gesundheitsbehörde, 100 stellte mich zu der Telefongesellschaft durch, und bei 123 kam die automatische Zeitansage. Diese Nummer kannte ich sogar, was ich aber in diesem Moment vergessen hatte. Als ich bei 101 angekommen war, trommelten meine Finger ungeduldig gegen die Wand. Ich hätte mir eine zweite Zigarette anzünden sollen, bevor ich mich in diesen Trial-and-Error-Albtraum begab. Dann klickte es in der Leitung, und ich war mit der Polizeizentrale verbunden.
»Ich möchte eine Leiche melden«, sagte ich zu der Frau am Telefon. Eine Leiche. Das war zweifellos die korrekte Bezeichnung, die keine Fragen offenließ. Das dachte ich zumindest.
»Eine Leiche?«, wiederholte die Beamtin.
»Eine Leiche«, bestätigte ich. »Die Leiche meines Nachbarn.«
»Okay. Können Sie mir bitte Ihren Namen sagen? Und dann erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Mein Name ist Abby. Abigail Williams.«
»Abby oder Abigail?«
Was für eine merkwürdige Frage.
»Spielt das eine Rolle? Entweder Abby oder Abigail. Abigail steht auf meiner Geburtsurkunde. Abby, wenn Sie sich eine Silbe sparen wollen.«
Stille.
»Okay, Abby. Erzählen Sie mir, was passiert ist?«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kam in seine Wohnung, und er ist tot. Er ist kalt und steif.«
»Sind Sie absolut sicher, dass er tot ist?«
»Wie bitte?«
»Haben Sie seinen Puls gefühlt? Ich kann Sie über das Telefon anleiten, wenn Sie möchten.«
Ich schaute zu Simon, seinem verkrampften Hals, den schlaffen Handgelenken. Beides sah nicht gerade anziehend aus. »Er ist kalt und steif«, wiederholte ich. »Er ist offenbar schon eine ganze Weile tot.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja doch, ich bin mir sicher!« Diese Frau war wirklich dämlich. »Er ist tot. Er hat schon seit vielen Stunden keinen Puls mehr.«
»Okay, ich weiß, dass Sie sich in einer Stresssituation befinden. Aber Sie machen das wirklich gut, Abby. Ich brauche nur noch ein paar Informationen, ehe ich jemanden zu Ihnen schicken kann. Sie sagen, der Verstorbene war Ihr Nachbar?«
»Ja, er ist mein Nachbar. War mein Nachbar. Er wohnte nebenan. Ich kam rüber, weil ich mir eine Dose Tomaten ausleihen wollte. Mein Freund kocht gerade Nudelsoße. Aber als ich reinkam, war er tot, verstorben, wie ich Ihnen bereits sagte.«
»Abby, Sie reden ziemlich schnell« – eine sehr subjektive Betrachtung –, »und ich muss Sie bitten, ein bisschen langsamer zu machen. Wie lautet der Name Ihres Nachbarn?«
»Simon …« Ich stockte und dachte nach, versuchte, mir einen an ihn adressierten Briefumschlag vorzustellen. »Simon …« Aber da war nichts, kein Bild. »Ich kann mich nicht an seinen Nachnamen erinnern«, gestand ich. »Ich kannte ihn nicht besonders gut.«
»Wissen Sie, wie alt er war?«
»In den Vierzigern. Anfang vierzig, würde ich sagen.«
Durch die Leitung hörte ich, wie sie tippte. »Und jetzt die Adresse bitte.«
»129 Askew Road, W12.«
»Okay. Ich schicke Ihnen einen Streifenwagen. Er sollte in etwa zehn Minuten da sein.«
»Super. Es gibt eine Gegensprechanlage. Sagen Sie denen, sie sollen bei Wohnung Nr. 12 klingeln, dann lasse ich sie rein.«
»Danke, Abby.«
»Keine Ursache.«
»Es ist wi…«
In dem Moment, in dem ich auflegte, wurde mir klar, dass sie noch etwas gesagt hatte. Jetzt würde ich nie erfahren, was es war. Wichtig? Wirklich? Wirklich – was? Ich wartete noch eine halbe Zigarette, ob sie zurückrufen würde.
Sie tat es nicht.
Als ich in unsere Wohnung zurückkehrte, schwitzte Beck in der Pfanne noch immer eine einsame Zwiebel an, die mittlerweile zu einem gelblichen Brei zerfallen war. Ich stellte die Dose mit den Tomaten neben den Herd.
»Simon ist tot«, sagte ich. Anders konnte ich es nicht ausdrücken.
»Tot.« Er schaute mich an, als würde er auf die Pointe warten. »Was denn – wollte er die Dose etwa nicht kampflos aufgeben, und du hast ihn alle gemacht? Das würde zumindest erklären, wo du so lange gesteckt hast.«
Ich schmollte. »Das ist kein Scherz. Er war schon tot, als ich reinkam. Er sitzt in seinem Sessel.«
»Tot?«
»Tot.«
»Wie jetzt – richtig tot?«
»Herrgott noch mal! Was gibt’s denn sonst noch? Fast tot? Ein bisschen tot? Er ist tot! Einfach nur tot. Kalt und steif.« Warum vertraute bloß niemand meinem Urteil in dieser Angelegenheit?
»Wow, das ist …« Er verstummte, senkte den Blick und runzelte die Stirn. »Ähm.«
»Was ist?«
»Du hast dir trotzdem die Tomaten genommen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Was macht das denn für einen Unterschied? Wir müssen etwas essen. Du kannst ohne Tomaten nun mal keine Tomatensoße machen.«
»Na ja … stimmt schon, da hast du recht.« Wieder eine bedeutungsschwangere Pause. »Ist alles klar bei dir?«
Aus irgendeinem Grund ärgerte mich diese Frage. »Natürlich ist alles klar. Was soll denn sein?«
»Also … ach, du weißt schon.« Er deutete vage auf die Küchenwand – oder besser gesagt durch die Wand zu Simons Wohnung, die von unserer nur durch eine etwa fünfundzwanzig Zentimeter dicke Backsteinmauer getrennt ist und durch eine dünne Schicht Fliesen an der Wand. Es war komisch, sich vorzustellen, dass er uns da drüben in seinem Sessel so nahe war.
»Mir geht’s gut«, versicherte ich ihm.
Beck nickte, aber er wirkte nicht überzeugt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht – zu bemüht neutral – verriet mir, dass er bereits über seinen nächsten Einwand nachdachte.
»Hör mal, Abby, du solltest dich ein paar Minuten hinsetzen. Du kommst mir so …«
»Wie lautet die Nummer der Polizei, die man wählen muss, wenn es kein Notfall ist?«, fragte ich.
»101«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
»Richtig.«
»Ich kann anrufen, wenn du möchtest.«
»Schon erledigt. Sie müssten gleich da sein.«
»Oh. Und warum hast du dann …?«
»Weil ich wissen wollte, ob du’s weißt. Ich hab’s mir aber schon gedacht. Ich glaube, die Zwiebel brennt an.«
Wie die meisten Männer ist auch Beck nicht multitasking-fähig. Er wandte sich wieder der Bratpfanne zu, und ich nutzte die Gelegenheit und verzog mich in die Diele. Kurz danach klingelte es.
Ich drückte meine Nase gegen die Glasscheibe, damit ich sehen konnte, was unten auf der Straße passierte. Mein Spiegelbild wurde unscharf. Blaulicht, das aufblitzte wie ein Stroboskop. Ein Streifenwagen und ein Krankenwagen. Ich wunderte mich über den Krankenwagen. Sollte es nicht … irgendwas anderes sein? Ein Kühlwagen oder so? Vielleicht wurde meine Diagnose immer noch angezweifelt. Man sollte eine Art Kompetenztest für die Telefonzentrale der Polizei einführen. Oder vielleicht gab es den schon: Wer ihn bestand, durfte die Notrufnummer bedienen, wer durchfiel, landete bei 101.
Es dauerte noch weitere zehn Minuten, ehe sie seine Leiche abtransportierten, in einem Sack auf einer Bahre. Kurz danach klopfte die Polizei an unsere Tür. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, und ich goss mir ein Glas Rotwein ein. Beck kochte Tee für die anderen, für sich selbst und die beiden Polizisten – was mich als Außenseiterin dastehen ließ. Ich war nicht nur die einzige Frau, ich war auch die einzige Person, die Alkohol trank. Die Ironie dabei war, dass es doch völlig irre ist, an einem Mittwochabend um Viertel vor zehn gesüßten Tee zu trinken. Ich war immerhin die Einzige mit einem der Uhrzeit angemessenen Getränk.
Einer der Beamten nannte uns seinen und den Namen seines Kollegen, aber ich vergaß sie sofort wieder. Wachtmeister Soundso und Wachtmeister Irgendwas. Noch bevor wir uns einander fertig vorgestellt hatten, wurde ich von dem Gedanken abgelenkt, dass jede Begegnung mit der Polizei von einem fundamentalen Ungleichgewicht der Kräfte geprägt ist, angefangen damit, dass sie unsere Vornamen wussten, wir dagegen lediglich ihren Rang und ihre Nachnamen. Ich weiß noch, dass ich mich einmal mit Dr. Barbara darüber unterhielt, dass kurz nach der Jahrtausendwende die Psychiater plötzlich gemeinschaftlich entschieden, sich künftig nicht mehr mit dem Vornamen, sondern mit dem Nachnamen anreden zu lassen. Dr. Barbara behauptete, sie hätte sich diesem Trend vehement widersetzt (nicht zuletzt, weil sie keine Psychiaterin war). Sie hatte schon früh in ihrer Laufbahn begriffen, dass ihren Patienten die Gewissheit, dass sie nicht nur Ärztin, sondern auch ein Mensch war, viel bedeutete, und dass sie sich eher einer Frau Dr. Barbara anvertrauten als einer Frau Dr. Middlebrock. Aber für die Polizei kam ein derartiges Konzept wohl nicht infrage. Man konnte sich nur schwer einen Wachtmeister Peter oder Wachtmeister Timothy vorstellen – allein schon bei dem Gedanken brodelte ein unfreiwilliges Kichern in meinem Magen nach oben. Ein paar Sekunden später tauchte es aus meinem Mund auf, wo ich es rasch als Schluckauf tarnte, aber keiner der Beamten schien etwas zu bemerken.
Noch einmal musste ich in allen Einzelheiten erzählen, was vorgefallen war, woraufhin sie sich auf all die Kleinigkeiten stürzten, die ich weggelassen hatte, um die Schilderung nicht ausufern zu lassen, angefangen bei dem unerklärlichen Geruch nach Zigarettenrauch. Ob mir das aufgefallen war.
»Ach, das war ich«, stellte ich klar. »Ich habe eine Zigarette geraucht, anderthalb Zigaretten, um genau zu sein. Nachdem ich ihn gefunden hatte.«
»Das hätten Sie nicht tun sollen«, tadelte mich Wachtmeister Soundso. »Das ist ein potenzieller Tatort.«
»Oh. Na ja, ich habe eine gebraucht. Und Beck will nicht, dass ich hier in der Wohnung rauche.« Ich glaubte, einen Blickwechsel zwischen den Beamten zu bemerken, und so setzte ich hinzu: »Er ist kein Kontrollfreak, wenn Sie das denken. Es ist nur, na ja, Sie wissen schon, eine dieser Sachen, bei denen man Kompromisse machen muss. Ich meine, im Allgemeinen haben wir eine gute Beziehung.« Ich legte meine Hand auf Becks Bein und lächelte ihn an, um ihn zu ermuntern, mir Rückhalt zu geben. Stattdessen warf er mir einen ungläubigen Blick zu, der mich zu fragen schien, was zum Henker in mich gefahren sei. Im Nachhinein betrachtet war dieser Blick wohl begründet. Ich weiß auch nicht, woher dieser verbale Dünnpfiff kam, aber vermutlich hing er mit der Enge und der schlechten Luft hier im Zimmer zusammen. Unsere Wohnung war nicht für vier Insassen designt. Eigentlich nicht mal für einen. Beck und ich saßen auf dem Zweisitzer, und die Polizisten hatten sich Stühle vom Esstisch herangezogen. Wir hatten etwa so viel Platz, als würden wir zu viert auf einer Waschmaschine hocken. Da ist es doch kein Wunder, dass sich unser Gespräch eher wie ein Verhör anfühlte.
»Können wir noch einmal von vorne anfangen?«, verlangte Wachtmeister Irgendwas. »Was genau wollten Sie in seiner Wohnung?«
»Tomaten«, sagte ich. »Ich wollte mir eine Dose Tomaten ausleihen.« Ich hatte eigentlich geglaubt, dass ich diesen Punkt unmissverständlich klargemacht hätte.
Der Polizist nickte langsam. »Ja, ich begreife, was Sie ursprünglich wollten. Aber dann, warum sind Sie in die Wohnung hineingegangen? Hatten Sie irgendeinen Grund zu glauben, dass etwas nicht stimmte?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Warum dann? Sie sagten, die Tür sei zu gewesen.«
»Ja, das stimmt.«
»Hat er Sie erwartet?«
»Nein.«
»Und es war auch nicht üblich, dass Sie einfach so unangekündigt bei ihm vorbeischauten?«
»Nein.« Ich verschwieg den Umstand, dass dies das allererste Mal war, dass ich überhaupt Simons Wohnung betreten hatte, dass ich den Typen kaum gekannt hatte. Die ganze Sache war ohnehin schon kompliziert genug. »Ich habe aus einem momentanen Impuls die Türklinke heruntergedrückt«, sagte ich. »Ich habe nicht wirklich gedacht, dass sich die Tür öffnen würde. Ich dachte, sie wäre verschlossen.«
»Aber sie war offen, also sind Sie hineingegangen.«
»Ja.«
»Noch so ein Impuls?«
»Ja. Mehr oder weniger. Nun ja, der Fernseher war sehr laut, und ich dachte, vielleicht hat er mich nicht klopfen gehört.«
»So ein Zufall«, sagte Wachtmeister Soundso, »dass Sie ausgerechnet heute hinübergegangen sind.«
»Ja, das dachte ich mir auch.«
Was hätte ich sonst sagen sollen?
Ich nippte an meinem Wein und wartete ab, ob noch etwas folgen würde.
»Herrgott, Abby! ›Im Allgemeinen haben wir eine gute Beziehung.‹ Was sollte das denn?«
»Klang das verrückt?«
»Oh ja, das kann man wohl sagen.«
»Oh.«
»Bist du betrunken?«
»Nein.« Nach zwei Gläsern Wein fühlte ich mich ein bisschen schwerelos, aber das musste ich Beck ja nicht auf die Nase binden. Es war nicht wichtig. »Das lag nur an der Art, wie die beiden sich Blicke zugeworfen haben. Das muss dir doch aufgefallen sein. Die haben mich nervös gemacht.«
»Sie haben sich Blicke zugeworfen, weil du ihnen gerade erzählt hattest, dass du dich hingesetzt und eine Zigarette geraucht hast – entschuldige, anderthalb Zigaretten – und zwar direkt neben einer Leiche. Als ob es das Normalste von der Welt wäre.«
Ich zuckte mit den Schultern. Was an diesem Abend war schon normal?
»Ich frage mich, was passiert ist«, sagte ich später, bereits zum wiederholten Mal. Wir saßen wieder auf dem Zweisitzer, vor uns eine leere Flasche Wein und die zweite gerade geöffnet.
»Wer weiß?«, sagte Beck. »Wie alt war er überhaupt? Vierzig? Fünfundvierzig?«
»Ja, so in etwa. Kein Alter zum Sterben.«
Das war ein ziemlich blöder Spruch, aber Beck schien es nicht zu bemerken. Er streichelte meinen Nackenansatz mit zwei Fingern.
»Ich glaube nicht, dass es ein natürlicher Tod war«, fuhr ich fort. »Es sah zwar nicht wie der Ort eines Verbrechens aus, aber trotzdem …«
»Hm.«
»Gesunde Leute um die vierzig fallen nicht einfach so tot um, richtig? An der Sache ist bestimmt mehr dran, ein Selbstmord oder so. Obwohl … na ja, man hört doch hin und wieder von einem plötzlichen Todesfall: Blutgerinnsel, Hirnblutung, Herzversagen, so etwas in der Art.«
Becks Finger massierten jetzt meine linke Schulter, unter dem Träger meines BHs, und schienen mit jeder Sekunde weiter südlich zu wandern. Was ging nur in den Köpfen der Männer vor? Wenn es auch nur ein einziges Thema gab, das ihre Aufmerksamkeit von Sex ablenken konnte, so hatte ich es noch nicht entdeckt. Ich verlagerte meine Sitzposition und lehnte mich zurück, um seine Hand in eine andere Bahn zu lenken, aber mein Manöver wurde missverstanden.
»Weißt du, mir ist momentan nicht nach Sex zumute«, sagte ich also.
»Oh.« Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Verwirrung und Enttäuschung, gespickt mit einem Hauch Empörung, als ob ich ihm seit einer Stunde eindeutige Avancen gemacht hätte. »Wegen Simon?«
»Nun ja, teilweise«, log ich.
»Ich dachte, es ginge dir gut.«
Ich zögerte, nur ganz kurz.
»Nein, natürlich geht es dir nicht gut. Du bist …«
»Doch, bei mir ist alles klar«, versicherte ich ihm. »Das ist nicht der Grund.«
Was war der Grund? Ich wusste es nicht. Sex war ja nun kein so abwegiger Vorschlag. Wir hatten etwas getrunken, und es war Mittwochabend. Nicht, dass wir bereits in dem Stadium angekommen waren, wo wir Sex planen mussten. Aber er war auch nicht mehr ganz und gar spontan. Mittwochs schien es einfach nur besonders gut zu passen. Wir waren stillschweigend übereingekommen, dass wir nicht unseren ganzen Sex auf das Wochenende legen wollten.
»Ich bin ein bisschen verwirrt«, sagte Beck. »Simon ist tot, und das hat dir … ähm, die Lust auf Sex genommen? Aber nicht die Lust auf seine Tomaten?«
Ich sagte nichts.
Beck schaute mich ein paar Sekunden lang ernst an, dann nahm er meine Hand und sagte: »Also, wenn du dich dann besser fühlst, können wir eine Schweigeminute einlegen, bevor wir anfangen.«
Ich musste unwillkürlich grinsen, was natürlich seine Absicht gewesen war. Er versuchte, mir dabei zu helfen, mit der Sache auf meine Art zurechtzukommen, wie wenig er diese Art auch verstand.
»Oder danach. Oder währenddessen. Such’s dir aus.«
Ich verdrehte die Augen. »Natürlich werden wir währenddessen schweigen. Wir sind doch Engländer.«
»Ich erlaube dir auch, danach eine Zigarette zu rauchen. Im Bett. Ich werde mal ausnahmsweise nicht den Kontrollfreak raushängen lassen.«
Ich gebe es nicht gerne zu, aber damit hatte er mich.
Der Sex erwies sich als überraschend gut, wenn auch ein wenig seltsam. Nicht der Sex an sich war seltsam, im Gegenteil, er war völlig normal: fünfzehn Minuten Vorspiel, gefolgt von fünf Minuten Missionarsstellung. Seltsam war eher meine Reaktion auf den Sex. Anfangs rasten meine Gedanken wild durcheinander. Ich dachte an das Outfit, das ich mir für morgen überlegt hatte, für das Interview mit Miranda Frost, und überprüfte noch einmal das Spiegelbild, das ich mental von mir abgespeichert hatte. Kühl, ruhig, klar. Dann dachte ich an Simon, wie sich sein Fleisch an meinem Finger angefühlt hatte. Teigig und schwammig. Und in diesem Augenblick veränderte sich etwas. Ich driftete aus der Realität weg. Ich war körperlos, schwebte über mir, als ob ich eine künstlerische Einstellung in einem ansonsten mies abgedrehten Pornostreifen betrachten würde.
Als ich zurückkehrte, war alles anders, obwohl ich nicht genau wusste, warum. Vielleicht war es mir gelungen, mir genau die richtige Menge Alkohol einzuflößen – genug, um zu entspannen, aber nicht so viel, um gefühllos zu werden. Vielleicht erlebte auch meine Libido ihre Renaissance, nach so vielen Monaten im freien Fall. Vielleicht war es der Gedanke an Simon. Jedenfalls empfand ich in diesem Moment ein spontanes Glücksgefühl darüber, am Leben zu sein, warm und beweglich. Wie auch immer, ich kam sehr schnell, und nach einer relativ langen Phase mit mittelmäßigem Sex fühlte es sich an wie das längst überfällige Ablassen eines Überdruckventils.
»Ich bin froh, dass du mich überredet hast«, sagte ich zu Beck, als ich mit dem Kopf auf seiner Brust dalag. Er strich mit der Hand über meinen Rücken und meinen Hintern, sagte aber nichts. Als ich ihn noch einmal ansprach, war er erwartungsgemäß eingeschlafen.
Ich aber war wach. Hellwach.
Ich legte mich neben ihn und rauchte eine Zigarette. Dann eine zweite. Dann lag ich einfach nur im Dunkeln und wartete darauf, dass mein Geist den Betrieb einstellte. Nach einer Weile wünschte ich, ich hätte die Nachttischlampe angelassen. Dann hätte ich wenigstens lesen können.
Unser Schlafzimmer war ein Nicht-genug-Zimmer. Die Vorhänge waren nicht dicht genug gewebt, um das Licht der Straßenlaternen auszusperren, und die Doppelverglasung der Fenster war nicht gut genug in die Rahmen eingesetzt, um den Straßenlärm Londons abzuhalten. Außerdem wurde es im Sommer ziemlich warm hier drin. Wenn ich jemals ein Schlafzimmer designen müsste, würde ich es so kühl und dunkel und still machen wie auf dem Grund des Meeres.
Um 1.37 Uhr gestand ich meine Niederlage ein und stieg aus dem Bett. Mit der Geräuschlosigkeit eines Einbrechers zog ich die Schlafzimmertür auf und schloss sie wieder. Dann schaltete ich das Wohnzimmerlicht an und goss mir ein Glas Wasser ein. Ich hatte Lust auf Kaffee, machte mir zu diesem Zeitpunkt aber immer noch Hoffnungen, dass ich vor dem Morgengrauen müde werden würde.
Trotz allem, trotz der Tatsache, dass ich in etwa sechs Stunden ausgeruht und wie aus dem Ei gepellt bei Miranda Frost auftauchen musste, war es irgendwie interessant, mitten in der Nacht wach zu sein, allein und aus keinem besonderen Grund. Die Wohnung kam mir fremd vor, so wie sich ein Heim anfühlt, wenn man die Weihnachtsdekoration abgenommen hat oder aus einem langen Urlaub zurückkehrt. Es schien nicht mehr dieselbe Wohnung zu sein, die ich vorhin verlassen hatte, um eine Dose Tomaten zu holen. Es war, als ob Simons Tod das Tor zu einer leicht veränderten Realität geöffnet hätte. Mir wurde klar, dass ich mehr als alles andere wieder nebenan sein wollte. Ich wollte still und reglos in dieser leeren Wohnung sitzen. Aber als ich mich hinausschlich, fand ich die Tür verschlossen vor.
Also öffnete ich stattdessen ein Fenster in unserem Wohnzimmer, lehnte mich so weit wie möglich nach draußen und rauchte. Hin und wieder fuhr unten auf der Straße ein Taxi vorbei, sonst war niemand unterwegs. Die Häuser gegenüber waren dunkel. Kein Licht war an. Es war eine gleichförmige, anonyme Front aus Backstein. Jedes Gebäude verschmolz mit dem danebenliegenden. Ich zog den warmen Rauch in meine Lungen, gepaart mit der kalten Nachtluft, und fragte mich, wie viele einsame Tode in London an einem durchschnittlichen Mittwochabend vorkamen. Und wie viele dieser Tode plötzlich und unerklärlich waren. Etliche, kein Zweifel. Auf jeden Fall genug, um aus Simons Ableben nur eine Zahl in einer Statistik zu machen. Nicht genug, um im Evening Standard Erwähnung zu finden. Anders wäre es, wenn ich nicht in London leben würde. In anderen Teilen des Landes, wo die Leute nicht so dicht wie in einer Legebatterie aufeinanderhockten, wäre es einfacher zu trauern, wenn ein Nachbar starb. In anderen Teilen der Welt würde niemand mit der Wimper zucken – und schon gar nicht die Augenbrauen hochziehen –, wenn man einfach nach nebenan ging und um eine Dose Tomaten bat. Aber hier, in einer Stadt mit acht Millionen Einwohnern, vermittelte man mir das Gefühl, dass diese Handlung Simons überraschenden Tod erst ausgelöst hatte. Es war, als ob ich eine der wichtigsten Regeln des Lebens in einer modernen Großstadt gebrochen hatte und jetzt die Konsequenzen dafür tragen musste. Vielleicht hätte ich das Wachtmeister Soundso sagen sollen: An meinem Besuch in Simons Wohnung war nichts Zufälliges. Hier ging es um Ursache und Wirkung.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich zog mich vom Fenster zurück und versuchte es eine Weile mit Lesen. Als ich mich auch darauf nicht konzentrieren konnte, klappte ich mein Notebook auf und checkte meine E-Mails. Ich hatte nur eine neue Nachricht, von meiner Schwester. Sie wollte sich vergewissern, dass ich mich nicht vor dem Familienessen Ende diesen Monats drücken würde. Ich schickte ihr eine Antwort, in der ich ihr versicherte, dass ich bereits eine Liste von guten Ausreden anlegte. Danach stöberte ich eine Weile auf meiner Google-Homepage. Der Spruch des Tages stammte von Einstein: »Der Unterschied zwischen Genie und Dummheit ist, dass Genie seine Grenzen hat.« Das Wetter morgen war grau in grau. Einem Impuls folgend tippte ich »Empfindungslosigkeit Tod« ein und verbrachte die nächsten fünfzehn Minuten damit, einen Psychotest zu absolvieren und dann einen Beitrag über einen Mann zu lesen, der nichts gefühlt hatte, als seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam. Ich klickte mich durch einen Link nach dem anderen, folgte einer willkürlichen Spur durch den Cyberspace, ohne ein Ziel vor Augen.
Und dabei stolperte ich über den Affenkreis.