Zum Buch
Federico hat einen großartigen Sommer vor sich, in wenigen Tagen wird er zu einem Studienaufenthalt nach England aufbrechen. Die Welt steht ihm offen. Doch kommt es zu einer Begegnung, die Federicos Leben umwirft: Don Pino zeigt ihm das Viertel Brancaccio, das fest in der Hand der Cosa Nostra liegt und von rücksichtsloser Gewalt und bitterer Armut geprägt ist. Dem Jungen wird klar, wie wenig er seine eigene Stadt kennt, ihm eröffnet sich durch Don Pinos Augen und dessen Einsatz für die Menschen des Viertels eine neue Welt. Er beschließt in Palermo zu bleiben und zu helfen. Auch die Mafia, die ihn brutal zusammengeschlagen hat und massiv bedroht, kann ihn nicht abhalten, denn er hat sich in die schöne Lucia verliebt, ein Mädchen des Viertels, deren Liebe unerreichbar scheint …
Alessandro D’Avenia hat mit der Geschichte über den jungen Federico aus Palermo seinen bisher persönlichsten Roman geschrieben. Er basiert auf der wahren Lebensgeschichte seines Lehrers Don Pino, eines Geistlichen, der von der Mafia in Palermo ermordet und später vom Papst selig gesprochen wurde.
Zum Autor
Alessandro D’Avenia, geboren 1977, stammt aus Palermo. Seit einigen Jahren lebt er in Mailand, wo er am Gymnasium San Carlo Italienisch und Latein unterrichtet. Seine Romane stehen in Italien regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Alessandro D’Avenia war Schüler des Geistlichen Padre Pino Puglisi.
Alessandro D’Avenia
So unergründlich
wie das Meer
Roman
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Für Marco und Fabrizio, meine beiden Brüder,
die mir beigebracht haben zu lachen und zu streiten,
zu raufen und sich wieder zusammenzuraufen,
zu kicken und zu keilen, Wort zu halten und
Schimpfworte auszuteilen … all das bisschen,
das Männer zu Brüdern macht.
Ich frage: »Was ist die Hölle?« Ich denke so: »Das
Leiden daran, dass man nicht mehr lieben kann.«
FJODOR DOSTOJEWSKIJ, Die Brüder Karamasow,
Sechstes Buch, Kapitel III
Ich glaube mich in der Hölle, also bin ich es auch.
ARTHUR RIMBAUD, Eine Zeit in der Hölle, Nacht der Hölle
Ein Junge beobachtet sie im ersten Licht. Sie duckt sich in den windigen, salzigen Schatten des Morgengrauens, das sich noch jungfräulich vom Meer erhebt, um sich in die dämmrigen Straßen zu ergießen.
Er wohnt im obersten Stock: Von dort aus kann man das Meer sehen und in die Häuser und Straßen der Menschen blicken. Der Blick reicht bis ins Unendliche, und dort, wo er sich verliert, bleibt das Herz hängen. Allzu weit erstreckt sich das Meer, vor allem nachts, wenn es verschwindet und man die gewaltige Leere spürt, die sich unter den Sternen auftut.
Warum diese allmorgendliche Wiedergeburt? Der Junge, den die welken Blüten der Rose mehr als ihre Dornen schmerzen, weiß keine Antwort, und jeden Morgen betrachtet er sich wie ein Schiffbrüchiger im Spiegel. Er betastet sein Gesicht und sucht in seinen Augen, so unergründlich wie das Meer, was von ihr noch lebendig ist. Lebendig ist ihr Licht, das an diesem letzten Schultag gleißt. Er studiert sie wie die geheimnisvollen Karten, die er als Kind nach Schätzen und Inseln, Schiffen und Stürmen abgesucht hat.
Der Junge betrachtet sie: Sie wühlt in seinem Herzen, im Wirrwarr, das die Träume gebiert. Die vom blendenden Licht überwältigten Dinge werfen tiefe Schatten, jedes Licht hat seine Trauer, jeder Hafen seinen Schiffbruch. Doch wenn man jung ist, sieht man den Schatten nicht, man will ihn nicht wahrnehmen.
Der Junge legt die Hände an sein noch kindliches Gesicht, als könnte er es mit den Fingern belauschen. Er könnte ein Matrose sein, der auf der Mole steht und nach einer Zwangspause auf eine Heuer wartet. Wieder betrachtet er sie. Und noch einmal. Er lässt zu, dass Licht, Wind und Salz seinen Körper und seine Gedanken formen. Licht, Wind und Salz machen mit ihm, was sie wollen, wie sie es auch seit Jahrtausenden mit den kargen Klippen tun. Gott hat ihm ein Herz in die Brust gesetzt, aber wie bei allen jungen Menschen die Rüstung vergessen, weshalb Gott für die Jugend grausam ist.
Der Junge ist siebzehn und muss sein Leben noch finden. Siebzehn ist nicht gerade vielversprechend, selbst Schauspieler sind mit siebzehn hässlich und können nicht glauben, jemals schön zu werden. Das Blut ist heiß und wenn es das Herz fast zum Bersten bringt, gilt es, sich zu entscheiden.
Er steckt voller Fragen, doch die Antworten kommen erst dann, wenn er die Fragen vergessen hat. Siebzehn ist ein zeitlicher Lapsus zwischen Angebot und Nachfrage.
Er betrachtet das Junilicht und hat Angst, denn es ist der letzte Schultag, und an diesem Tag haben alle nur den Sommer und seine Fluchten im Sinn, er aber hat einen Haufen Fragen. Das Leben erscheint ihm wie eine dieser Gleichungen aus dem Mathebuch, deren Lösungen unten rechts in Klammern stehen, doch der Lösungsweg gelingt ihm nie, und es verstört ihn, dass minus mal minus plus ergibt und minus mal plus minus. Das Minus ist immer im Weg.
Dieses Meer und all das Licht betören ihn wie eine Sirene, und willenlos gibt er sich dem Zauber hin. Er verharrt in seiner Vogelperspektive, wie es junge Menschen am liebsten tun, um das Labyrinth zu entwirren, ohne sich hineinzubegeben. Ihm fehlt der Faden, an dem er sich entlanghangeln kann, um sich in den Korridoren seiner Ängste nicht zu verlieren.
Was wissen Teenager schon vom Erwachsenwerden? Was wissen sie schon davon, wie man der Nacht, den Schatten und der Finsternis begegnet? Teenager erwarten Freude vom Leben, sie wissen nicht, dass das Leben Freude von ihnen erwartet. Er wünscht sich ein leichtes Leben, doch leicht war das Leben noch nie. Obwohl alle es erleben, erleiden, davon reden und darüber schreiben, weiß man so wenig darüber. Vielleicht könnte er in Leichtigkeit leben und dem Leben sein Labyrinth aus Licht und Düsternis überlassen.
Das Licht auf den Dächern und die Düsternis in den Straßen, wie in einem Caravaggio-Gemälde: die paradoxe Ästhetik der von Menschen bewohnten Stadt, die nichts für betörte Teenager ist. Sie ignorieren den Schmerz, der im Werden liegt, und den Mut, den es braucht, um die Illusionen zu begraben. Der Junge noch mehr als alle anderen: Seine Träume haben wenig Substanz.
Für einen kurzen Moment setzt sie mit ihrer Verführung aus, eifersüchtig stiert sie ihn an, zeigt ihre Krallen, um ihn gierig wie eine Sirene zu packen, und lässt die Nacht durchblitzen, die sich in ihrem Herzen verbirgt.
Seine Stadt.
Palermo.
1993.
Erster Teil: Panormus
PANORMUS
Panormus, conca aurea, suos devorat alienos nutrit.
Palermo, goldene Muschel, verschlingt die ihren
und nährt die Fremden.
(Inschrift unter der Statue des Genio Di Palermo
am Palazzo Pretorio)
Das Meer ist auch der Rand des Landes, der Granit
In den es sich erstreckt, die Ufer, die es spielend
Mit Resten einer früheren, fremden Schöpfung bewirft;
Seesternen, Hufeisenkrebs, eines Walfisches Rückgrat,
[…]
T.S. ELIOT, Vier Quartette, The Dry Salvages, I. Vers 16–19
1
Die Straße schweigt, trotz allem.
In den Fenstern, vor denen sich die Sommerhitze staut, zuckt hier und dort ein Vorhang und lässt den zähen Hauch des Schirokkos ein. Hunde streunen von Schattenoase zu Schattenoase. Ab und zu dämpft ein Luftzug vom Meer die Hitze, selbst das Rollen der Brandung klingt matt.
Mit seinen großen Schuhen wirbelt Don Pino den Staub auf, den das blendende Licht golden färbt. Seine Schritte sind hastig, nicht, weil er es eilig hat, sondern weil er spät dran ist, denn diese Stadt ist grundsätzlich spät dran. Er geht auf seinen roten, von Sonne und Rost zerfressenen Uno zu. Der kleine Junge sitzt mit baumelnden Beinen auf der Motorhaube. Er ist sechs Jahre alt, hat ein weißes T-Shirt und dreckige kurze Hosen an, Badelatschen an den Füßen und zu Hause seine blutjunge Mutter Maria. Sonst nichts.
»Wo willst du denn so früh hin, Pater Pino?«
»In die Schule.«
»Und was machst du da?«
»Das Gleiche, was du machst.«
»Schüler verhauen?«
»Nein, lernen.«
»Aber du bist doch groß, musst du denn noch was lernen?«
»Je mehr man weiß, desto mehr muss man lernen … Gehst du denn heute nicht zur Schule?«
»Es sind Ferien.«
»Bist du sicher? Heute ist zwar letzter Schultag, aber es ist noch Schule, sonst wäre gestern letzter Schultag gewesen …«
»Die Schule ist aus, wann man will.«
»Seit wann denn das?«
»Du stellst vielleicht schwierige Fragen!«
»Und was machst du hier?«
»Warten.«
»Auf was?«
»Auf nix.«
»Wie, auf nix?«
»Muss man denn immer auf was warten?«
»Auf das hier!« Don Pino kneift ihn in die Wange.
»Ist deine Schule für Große?«
»Ja. Für Sechzehn-, Siebzehn- und Achtzehnjährige.«
»Und was kriegen die gelernt?«
»Es heißt, was wird ihnen beigebracht, nicht, was kriegen sie gelernt. Erwachsenenkram.«
»Den lerne ich mir selber.«
»In dem Fall heißt es: Den bringe ich mir selbst bei.«
»Mann, ist das kompliziert! Lernen, beibringen: Ist doch alles dasselbe.«
»Du hast recht …«
»Und was lernen die?«
»Italienisch, Philosophie, Chemie, Mathematik …«
»Und was macht man damit?«
»Hinter die Geheimnisse der Dinge und Menschen kommen.«
»Aber dafür haben wir doch Rosalia.«
»Wer ist das denn?«
»Die Friseuse.«
»Nein, in der Schule lernt man Geheimnisse, die nicht einmal sie kennt.«
»Glaub ich nicht …«
»Pech für dich.«
»Verrätst du mir eins?«
»Weißt du, was Francesco bedeutet?«
»Das ist mein Name und basta …«
»Richtig, es ist ein Name. Eine uralte Bezeichnung für Abkömmlinge der Franken.«
»Und wer sind die?«
»Das Volk Karls des Großen.«
»Und wer ist das?«
»Du fragst einem wirklich Löcher in den Bauch, Francesco … Die Franken heißen so, weil sie »frank« sind: Francesco ist ein freier Mann.«
»Und was heißt das?«
»Das erzähle ich dir ein anderes Mal.«
»Und was lernst du deinen Schülern?«
»Beibringen heißt das, ich bringe ihnen Religion bei.«
»Und wozu ist das gut?«
»Um hinter das wichtigste Geheimnis zu kommen.«
»Wie man klaut, ohne sich erwischen zu lassen?«
»Nein …«
»Was dann?«
»Das kann ich dir nicht verraten, schließlich ist es ein Geheimnis …«
»Aber ich bin keine Petze. Ich verrat’s niemandem.«
»Darum geht es nicht … es ist ein kompliziertes Geheimnis.«
»Ich bin bald sieben, ich verstehe schon alles.«
»Irgendwann verrate ich es dir.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Kannst du Wunder vollbringen?«
»Nein, ich nicht. Ich bin zu klein.«
»Aber du bist hunderttausend Jahre alt!«
»Fünfundfünfzig.«
»Ist das nicht mehr als hunderttausend?«
»Na, hör mal, du Rotzlöffel!«
»Aber wenn du klein bist, warum hast du dann so große Füße?«
»Damit ich viel unterwegs sein und zu den Menschen gehen kann, die mich brauchen.«
»Und die Ohren? Du hast vielleicht Riesenohren, Don Pino!«
»Um zuzuhören.«
»Deine Hände sind auch riesig…«
»Hast du eigentlich an allem was auszusetzen?«
Don Pino lächelt und streicht ihm über den blonden Schopf. Die Augen des Jungen sind blau, Rohdiamanten, die einst die nordischen Völker den dunkelhäutigen Arabern mitgebracht haben, als sie ihnen die Stadt raubten.
Francesco grinst, seine Augen, in denen sich die Geschichte von Jahrhunderten spiegelt, funkeln verzückt.
»Man, du weißt vielleicht viele Sachen, Don Pino.«
»Hör mal, ich muss los, sonst komme ich noch zu spät.«
»Aber du kommst doch immer zu spät, Don Pino …«
»Hör sich einer den an …«
»Und die Glatze? Wieso ist die so blank?«
Don Pino tut so, als wolle er ihm einen Tritt in den Hintern verpassen, und lacht.
»Hast du gesehen, was für herrlichen Sonnenschein wir hier in Palermo haben?«
»Aber wir sind doch in Brancaccio!«
»Na und, ist doch egal … Auf meiner Glatze spiegelt sich das Sonnenlicht. Dann können die anderen besser sehen.«
Er bückt sich, damit Francesco sie betrachten kann, und der Junge legt die Hand darauf.
»Ui, ist die hart, Don Pino!«
»Um die dicksten Wände einzurennen«, sagt der Pater grinsend und wirkt selbst wie ein Kind. Klein wie ein Samen in der Erde, wie die Samen der Blumen, die seine Mutter auf dem Balkon zog, wie die Hefekrümel, die sie in den Brotteig tat.
»Kannst du ein bisschen mein Vater sein, Don Pino?«
»Was meinst du denn damit?«
»Na ja, ich hab ja nur die Mama. Keine Ahnung, wo Papa ist. Vielleicht weißt du’s, du kennst doch so viele Geheimnisse.«
»Nein, Francesco.«
Don Pino kramt in seinen Taschen nach den Schlüsseln, wie zappelnde Fische schlüpfen sie ihm durch die Finger.
Francesco hockt reglos da und starrt zu Boden.
Endlich hat der Pater die Schlüssel gefunden und will den Wagen aufschließen, doch Francesco rührt sich nicht, er ist wie versteinert. Don Pino beugt sich hinunter, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Was hast du?«
Francesco blickt nicht auf.
»Alle dürfen dich Vater nennen, aber für mich willst du kein Papa sein, obwohl ich keinen habe.«
»Du hast recht. Aber ich bin nun mal nicht dein Vater.«
»Und warum nennen dich dann alle so, Pater Pino? Kannst du mir das verraten?«
»Weil… weil… das sagt man nun einmal so.«
»Aber warum bist du ein Pater in der Kirche und andere sind auch Väter, aber nicht in der Kirche?«
Don Pino schweigt.
»Na schön, Francesco. Dann will ich mal nicht so sein.«
Sie geben sich die Hand und der Junge springt von der Motorhaube und lächelt.
Don Pino lächelt zurück, steigt in den Wagen und zeigt ihm die gehörnte Hand.
»Ganz schön spitze Hörner hast du! Ich muss schon sagen …«
»Damit ich auch durch die dicksten Wände komme.«
Francesco schlägt die Autotür zu und streckt ihm zum Abschied die Zunge heraus.
Gespielt entrüstet startet Don Pino den Motor.
Besorgt drückt der Junge die Stirn gegen die Scheibe.
Don Pino kurbelt das Fenster herunter.
»Was ist?«
»Versprichst du mir, dass du mir Bescheid sagst, wenn du ein Wunder vollbringst?«
»Versprochen.«
»Aber ein großes, ja? So was wie Schnee in Brancaccio.«
»Schnee in Brancaccio? Du verlangst Unmögliches …«
»Schnee kenne ich nur aus Trickfilmen. Was bist du denn für ein Pater, wenn du das nicht kannst?«
»In Ordnung.«
»Ciao, Pater.«
»Ciao, Francesco.«
Er fährt los, blickt in den Rückspiegel und sieht Francescos ernstes Gesicht. Diese Kinder nehmen sein Herz in Beschlag wie Ungeborene den Mutterleib. Sie werden es ihm noch entreißen, dieses kleine Herz. Und wer weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Wer wird sich um Francesco und all die anderen kümmern? Um Maria, Riccardo, Lucia, Totò … Er hat keine Zeit mehr, sie ist abgelaufen, und da sind all diese Kinder, wie auf dem Feld verstreute Samen, die die Dornen ersticken und die hungrigen Krähen verschlingen wollen.
Die Schranke ist heruntergelassen. Die Schranke, die Brancaccio wie ein Ghetto von Palermo trennt. Ein kleines Mädchen steht hinter dem Schlagbaum auf der anderen Seite der Gleise. Es blickt in die Richtung, aus der der Zug kommt. Sie beugt sich vor wie über eine unsichtbare Linie, die nicht überschritten werden darf. Sie hält eine mit dem Kopf nach unten baumelnde Puppe in der Hand. Don Pino will aus dem Wagen steigen, da rauscht der Zug an ihm vorbei und verschluckt die Kleine. Ihr Haar wirbelt im Sog der Waggons, die sie anstarrt wie einen Film auf einer Kinoleinwand. Ihre Fantasie folgt diesem Zug und malt sich jedes nur mögliche Ziel aus. Wie gern würde sie mit ihrer Puppe aufspringen und weit, weit fort fahren. Sie weiß nicht, wohin die Züge unterwegs sind, nur, dass sie weit weg fahren. Wie die Schiffe, die dem Meer folgen, wer weiß wohin. Und deshalb ist das Schönste auf der Welt neben ihrer Puppe, wenn Papa ihr Schwimmen beibringt. Dann kann sie sehen, was hinter dem Meer liegt.
Mit dem letzten Waggon des Zuges verschwindet auch das Mädchen.
Wie vor einer Fata Morgana verharrt Don Pino zwischen der Autotür und der Schranke. Er weiß nicht, wer das Mädchen in dem bunten Kleidchen ist, das er nur für einen Sekundenbruchteil auf einen unerreichbaren Zug hat zufliegen sehen. Und wenn es überfahren wurde?
Die Schranke hebt sich. Langsam steigt Don Pino wieder ins Auto und blickt sich suchend nach dem Mädchen um, da hupt schon jemand, der es eilig hat, und das in einer Stadt, in der man die halbe Zeit auf der Stelle steht.
»Wohin denn so eilig? Zur eigenen Hochzeit?«, fragt er den Hupenden.
»Ja klar, mit deiner Schwester, Pfaffe.«
Mit einem gutherzigen Lächeln schickt Don Pino ihn zum Teufel.
Er fährt weiter. Denkt an das Mädchen. Er kennt es nicht, aber er versteht es. Es gilt, einen Zug zu erwischen, jenseits der Schranke der Angst. Einen Zug, der dich, egal wohin er fährt, aus der Hölle holt. Sein Großvater war Bahnarbeiter und hat ihm von den Reisen auf den Schienen erzählt. Er war noch ein kleiner Junge und verstand nicht, wie Züge fahren und wo ihre Schienen hinführen. Und wie konnte ein Zug ausweichen, um einen Zug aus der Gegenrichtung vorbeizulassen … und wo fuhren sie überhaupt hin?
Die Kinderfragen sind ihm geblieben, denn er ist verletzlich wie Kinder es sind, er hat Angst wie sie, er träumt wie sie, er ist gutgläubig wie sie, er vergisst sofort wie sie, er lässt nicht locker wie sie.
Nur eines ist anders: Im Gegensatz zu ihnen ist ihm der Tod vertraut.
2
Wind und Licht durchdringen die morgendlichen Straßen von Brancaccio mit seinen schuppenartig angeordneten Häusern – einem Fisch gleich in einer sterbenden Stadt, die immer matter unter der Sonne seufzt und nach Wasser und Leben lechzt. Hinter Palermo, diesem einzigen düsteren Hafenviertel mit dem Meer im Rücken, erhebt sich Brancaccio auf dem Treibgut, das jedes Meer an die Küsten schwemmt. Der Jäger wandert darüber hin.
Er ist Ende zwanzig. Eigentlich hat er einen anderen Namen, den Namen, den seine Mutter ihm bei der Geburt gegeben hat und der bei seiner Taufe bekräftigt wurde. Doch jetzt ist dies sein wirklicher Name, er verdankt ihn seiner lautlosen Zielstrebigkeit , mit der er tut, was getan werden muss, denn nur dann ist ein Mann ein Mann. Für ihn teilt sich die Wirklichkeit in Räuber, zu denen er gehört, und Beute: gewittert, erkannt, gehetzt, getötet. Er geht erhobenen Hauptes und lässt das Ziel niemals aus den Augen. Den Blick zu halten ist Zeichen unbeugsamer Kraft. Mit kaum dreißig Jahren respektiert man ihn bereits wie einen Vater. Drei eigene Kinder hat er auch. Und dann sind da noch all die anderen, denen er genug Zukunft sichert, um den Mund zu halten und zu gehorchen. Der Jäger.
Nuccio begleitet ihn. Er ist um die zwanzig, mit langer Hakennase, schmalem Mund, den Spuren der vergangenen Nacht noch im Gesicht und zwischen den Lippen die unvermeidliche Zigarette. Seine Augen sind traurig, nicht, weil er traurig ist, sondern weil die Traurigkeit ihn geprägt hat. Wie zwei Wölfe, die das Revier kontrollieren, streifen sie scheinbar ziellos durch das vom Schirokko durchwehte Labyrinth des Viertels.
Die Rollläden heben sich und unter dem unvermeidlichen Schriftzug »Ausfahrt Tag und Nacht freihalten« – früher einmal fuhren hier Fuhrwerke ein und aus – kommen die unterschiedlichsten Gewerbe zutage. An Haken hängende Rinderviertel stellen ungeniert ihr Fleisch und ihre weichen Innereien zur Schau. Schrottreife Mopeds, schmierölverdreckt. Brotlaibe mit sesamgesprenkelten Krusten. Besen, Waschmittel, Parfums, Spielzeug, Bälle. Und wer weiß was noch. Die Korbstühle vor den Läden für die Pausen zwischen einem Kunden und dem nächsten sind noch leer. Hier dauert der Winter schlimmstenfalls drei oder vier Monate, ansonsten ist man im Freien.
Der Blick des Jägers blitzt hin und her, dann wird er wieder starr und fest, er hat alles unter Kontrolle, auch wenn es nicht so scheint. Er spuckt aus, und sein Speichel mischt sich mit dem Staub der Straße, die verstopft ist von in zweiter Reihe parkenden Autos und in der bereits glühenden Morgenhitze gärenden Müllcontainern. Der faulige Abfallgestank verschmilzt mit der meergesättigten Morgenluft zu dem typischen bittersüßen Aroma des Viertels und der ganzen Stadt: in einer Straße das Paradies, in der nächsten die Hölle.
Eine Frau hängt Laken auf, schlaff baumeln sie in der beinahe reglosen Luft. Sie trägt einen Morgenmantel und Lockenwickler. Kinderbanden streunen umher, auf der Suche nach Hunden, Katzen oder Eidechsen, die sie quälen können; auf der Suche nach einem freien Fleckchen Asphalt inmitten von Beton und Ödnis, wo sich mit einem vollkommen durchgewetzten Lederball Fußball spielen lässt; auf der Suche nach Abenteuern zwischen den Hinterlassenschaften der Erwachsenen.
Sie grüßen den Jäger, der ihnen zulächelt wie ein Vater.
»Und wie heißt du?«, fragt Nuccio einen kleinen Jungen.
»Francesco«, antwortet der stolz.
»Sehr gut, sehr gut. Mir musst du immer die Wahrheit sagen. Und den Bullen?«
»Nie.«
»Bravo. Und wie alt bist du?«
»Sieben. Fast.«
»Sieben, und schon so groß? Mensch, da kannst du ja bald einen Bullen umlegen …«
»Und wie?«
»Mit der Pistole… wie sonst?«
»Aber ich hab keine …«
»Die kriegst du schon, wenn’s so weit ist.«
Nuccio geht weiter und die ehrfürchtigen Kinderaugen folgen ihm wie einem Magnet: Wer eine Zigarette und eine Pistole hat, ist ein Held. Francesco will sein wie er, mit offenem weißem Hemd, einer Zigarette im Mundwinkel und lässiger Haltung.
Der Jäger ist schon weitergegangen. Nuccio mustert ihn von hinten und wünscht sich, bald genauso mächtig zu sein, deshalb folgt er ihm und lernt. Das ist die Nahrungskette des Respekts. Das Haar des Jägers, lockig wie das eines Arabers, klebt ihm eng am Kopf. Es gibt nur wenige in Brancaccio, die so begnadet mit der Pistole umgehen wie er. »Was muss, das muss.« Das sagt er ständig. So ist es richtig. Die Familie tut nichts, was nicht richtig ist, und sorgt für Ordnung in einer Stadt, in der das Chaos nur eine andere Form von Ordnung ist. Wenn sie nicht wären, würde Nuccio sich langweilen, er hätte kein Geld für Zigaretten und müsste sich auch noch einen Job suchen. Seine Eltern haben es ihm schon tausendmal gesagt, aber er hat keine Lust, sich das ganze Leben abzurackern wie sein Vater und seine Mutter. Und wozu? Um sich weiter abzurackern. Nein, er ist zwanzig und hat andere Pläne. Er will sich eine Villa am Meer bauen und mit seiner Freundin dort einziehen. Er hat es ihr versprochen, so wahr er Nuccio heißt: geboren, aufgewachsen und noch nicht gestorben in Brancaccio.
Vor dem Stand des Fischhändlers bleibt der Jäger stehen und befühlt den Kopf eines Schwertfisches, der ihn von seinem Eisbett mit starrem weißem Auge anglotzt. Weil die Natur ihnen keine Lider gegeben hat, sind Fische dazu verdammt, selbst im Sterben alles zu sehen. Der Jäger sagt kein Wort. Dem Mächtigen reichen Gesten, man macht keine unnötigen Worte. Eilfertig säbelt ein Mann in von Blut und Schuppen verdreckter Schürze mit einem langen Messer eine Scheibe Schwertfisch herunter und schlägt sie in Papier ein. Steckt sie in eine Tüte. Lässt einen Umschlag mit hineingleiten. Hält sie dem Jäger hin, ohne ihn anzusehen.
Der Jäger überprüft den Inhalt. Nuccio studiert seine berechnende Kaltblütigkeit. Er spuckt die Kippe aus und steckt sich eine neue an. Bläst den Qualm in die Sommerluft, der träge über ihm stehen bleibt wie ein Heiligenschein. Der Tag wird heiß. Das ist immer so, wenn der Rauch reglos in der Luft hängt.
»Wie ist das?«, Nuccio malt ein Kreuz in die schwüle Hitze, um zu sagen »jemanden unter die Erde zu bringen«.
»Normal.«
»Wie, normal?«
»Normal.«
Dieser Junge muss lernen, nicht zweimal die gleiche Frage zu stellen. Das stier aufgerissene Auge des Schwertfisches erinnert den Jäger an sein erstes Opfer. Eine Kugel und ein schnelles Ende. Die Augen des Opfers erlöschen sofort, anders als bei den Fischen, die ewig brauchen, um zu sterben. Schließlich müssen wir früher oder später alle dran glauben; wie, ist Beiwerk. Was muss, das muss. Er hat eine Familie zu ernähren, drei wunderbare Kinder, die er liebt wie seinen Augapfel. Und die fünf Millionen Lire, die er monatlich kriegt und die ihm das tägliche Brot und die Zukunft sichern. Und vor allem Gesundheit. Das ist das Allerwichtigste.
Jemanden zu töten, drückt nicht aufs Gewissen, wie es im Film immer heißt. Es ist auch sehr viel einfacher als im Film. Der Wolf muss sein Rudel ernähren. Und in dieser Welt werden manche als Beute geboren und andere als Jäger. Die Natur entscheidet, auf welcher Seite du stehst, der Rest ergibt sich. Töten bedeutet nur Gleichgewicht. Bullen, Gegner, Verräter. Menschliche Tiere. Und wenn Blut spritzen muss, um sie zu treffen, kann niemand etwas dafür: Das Leben ist aus Blut gezeugt. Schicksal? Zufall? Was auch immer. Hauptsache, seine Kinder werden anständig beschützt und großgezogen. Für sie ist der Jäger zum Jäger geworden, und das seit seinem ersten Raub.
Er war die Prahlereien seiner Freunde leid gewesen und brauchte Geld. Es war ein x-beliebiger Tag, er hatte sich eine Skimaske übergezogen und einen Juwelier ausgeraubt. Ende. Mehr war’s nicht. Und mit jeder neuen Tat und jeder neuen Beute hatte er sich allmählich seinen Namen gemacht: Der Jäger. Eiskalt planen und zuschlagen, wie eine Schlange. Das Geheimnis liegt darin, dass einen Befehl zu erhalten und ihn auszuführen das Gleiche ist. Gehorsam ist die einzige Form der Treue, die verlangt wird, es ist die den Göttern des Viertels geschuldete Ehrerbietung, deren Wille geschehe.
Niemand darf das Gleichgewicht von Mutter Natur durcheinanderbringen, es dürfen keine Bullen ins Viertel, um Flüchtige zu suchen und herumzuschnüffeln, wie es dieser Pfaffe von San Gaetano macht, der sich Kinder, Jugendliche und Bullen in die Kirche und in sein Begegnungszentrum Padre Nostro direkt nebenan holt. Amen. Den muss er im Auge behalten. Da könnten noch hässliche Dinge passieren. Die Leute kommen sogar aus Palermo, aus den Reichenvierteln. Sie kreuzen mit ihren schicken Klamotten hier auf und glauben, sie könnten denen aus Brancaccio beibringen, wie man zu leben hat. Sie sprechen Italienisch. Einmal ist sein Sohn im Padre-Nostro-Zentrum Fußball spielen gegangen, und er musste ihm dieses Vergnügen mit Prügel austreiben. Er hat ihn die Mopedreifen der Jungs aufstechen lassen, die Italienisch sprechen. Er hat ihn mit zwei anderen losgeschickt, die auf der Straße herumlungern und auf eine Beschäftigung warten. Nach der Grundschule ist das in Brancaccio gang und gäbe. Zur Schule gehen die Kinder nur, wenn sie Lust haben, Hausaufgaben kriegen sie von ihnen auf.
Er ist auch bis zur Vierten in die Schule gegangen, dann ist die Straße seine Schule geworden. Das, was man will, muss man sich holen, notfalls mit den Wolfskrallen, die einem wachsen, wenn man den Fleischbrocken, der einem zusteht, nicht bekommt. Wenn man zupacken muss, wachsen sie von selbst.
Nuccio hat noch keinen umgebracht. Er wartet auf seine Stunde. Wenn er dazu aufgefordert wird, tut er’s und basta. Er weiß, dass es der Treuebeweis ist, den man liefern muss, um Karriere zu machen. Bisher kümmert er sich darum, Drogen zu verticken, Schutzgeld einzutreiben und um ein paar Nutten. Er beherrscht sein Handwerk schon ziemlich gut, fast zu gut, ein paar Kröten lässt er schon mal in die eigene Tasche wandern, auch wenn das der Jäger nicht weiß.
Der Jäger blickt die sonnige Straße hinunter. Ein Mann braucht die Straße, um Mann zu sein. Er kennt die Straße und ihre Regeln. Wer das nicht tut, stirbt wie ein Fisch, der sich aufs Trockene flüchtet, weil ihm das Wasser zu schmutzig ist. Das ist das Wasser, in das man hineingeboren wird, und man muss lernen, darin zu schwimmen. Beherrschen, um nicht beherrscht zu werden. Das ist keine Frage von Gut oder Böse. Dieser Pfaffe will das nicht kapieren. Es ist eine Frage der Würde.
»Bring ihn Maria«, trägt er Nuccio auf und drückt ihm das Päckchen mit dem Fisch in die Hand.
»In Ordnung.«
Mehr sagt Nuccio nicht. Und zusammen mit dem Schwertfischpäckchen kommt die Antwort auf die Frage, die er vorhin gestellt hat.
»Es ist, als würde man Eisen in Fleisch rammen. Nicht mehr und nicht weniger.«
Nuccio betritt den Hof eines Mietshauses mit verwitterten Balkonen und vom Sonnenlicht zerfressenen Fensterläden. Der Geruch nach gekochtem Gemüse liegt wie ein Leichentuch über dem Hof, von dem aus man den Himmel sieht. Was für ein herrlicher Tag: sonnig und heiß, perfekt für ein Bad im Meer. Ehe er die Treppe hinaufgeht, wirft er einen Blick in die Tüte und entdeckt den Umschlag. Er öffnet ihn. Zweihundert Lire für Maria sind darin. Er steckt den Umschlag in die Tasche und nimmt die Stufen. Er klingelt und ein Mädchen mit Augen, so schwarz wie die einer arabischen Prinzessin, und Augenringen, so dunkel wie die einer Nutte, erscheint im Türspalt.
»Das ist für dich.«
»Danke.«
Durch den Spalt greift Maria nach der Tüte, doch Nuccio drückt die Tür mit sanfter Gier auf.
Er drängt in die Küche, wirft den Fisch auf den Tisch und dreht sich nach Maria um. Dann presst er den Finger auf einen Fleck Wimperntusche auf ihrer Wange, packt ihr Gesicht mit Daumen und Zeigefinger und nimmt sich, was ihm zusteht.
Maria spürt, wie sich in ihr die Hölle auftut. Sie starrt ihn an wie ein Fisch auf dem Trockenen, der zuckend und zappelnd das Wasser zu erreichen versucht und das letzte Restchen Leben aushaucht, an das er sich noch klammern konnte.
In Fleisch gerammtes Fleisch kann verletzen wie Eisen.
3
Es sind ganz normale Kinder, doch in ihren arglosen Gesichtern lauert der verschlagene Zug von durch Schirokkonächte streunenden Hunden. Francesco mustert sie. Sie lachen und er lacht mit, doch er tut nur so, um sich nicht allein zu fühlen.
Der Hund hat eine zerschmetterte Pfote, ein hohles Auge und eine mit schwärzlichem Schleim verkleisterte Hüfte. Um so zu jaulen muss in diesem Fellsack noch etwas anderes kaputt sein. Er ist groß, fast wie ein Schäferhund, aber potthässlich wie ein Bastard, mit undefinierbarer Fellfarbe und verzerrten Proportionen. Von diesem nie fertiggestellten und für immer verlassenen Mietshaus voller Matratzen und alter Spritzen sieht man die Dächer der Häuser und ein paar Fetzen Himmel. Alles ist verrostet und zerborsten wie die Eisenstreben, die aus dem Zement wuchern.
Sie schleifen den Hund an den Rand dessen, was in einer besseren Welt ein Kinderzimmer gewesen wäre, in dem der Hund gelegen und von Jagd und Futter geträumt hätte. Francesco wäre gern in der Schule, aber seine Mutter hat ihn an diesem Morgen nicht hingebracht und ihn auch nicht aufgefordert, allein hinzugehen. Sie ist nicht aufgestanden. Wenn es so ist, hat er zu nichts anderem Lust als auf der Straße zu sein. Vergangene Nacht hat er sie bis spät lachen hören. Und schluchzen, als sie wieder allein war. Nachts schlägt er die Augen auf und hört seine Mutter und die Männer, die mit ihr lachen. Dann kneift er sie wieder zu und öffnet sie abermals, um zu sehen, ob er träumt, doch die Geräusche in der Dunkelheit sind noch immer da. Also hat er sich an diesem Morgen allein angezogen und ist der Straße gefolgt. Zuerst hat sie ihn zu Don Pinos Auto geführt, dann zu der Begegnung mit Nuccio und dann wohin sie wollte.
Jetzt wäre Francesco gern in der Schule, bei seiner Lehrerin Gabriella, sie riecht so gut. In dem kleinen Klassenzimmer sind die Wände bunt und man hört nicht die berstenden Knochen der besiegten Köter in den Hundeduellen, die nachts in den Kellern der Via Hazon stattfinden, wo Menschen auf den Schmerz von Tieren wetten. Dieser Hund hat keinen Namen. Ein Duellhund hat nie einen Namen.
An einer Wand des Klassenzimmers hängt ein Plakat mit einem großen H und daneben ist ein Hund ohne Blut und ohne zerschmetterte Pfoten abgebildet. Ein properer, sauberer Hund, so, wie er sein soll. Mit zufriedenen Augen. Aber in der Schule bekommt man nun einmal beigebracht, wie die Dinge sein sollen, und nicht, wie sie sind. Francesco sieht den roten Sabber, der von den kaputten Zähnen des namenlosen Hundes tropft. Er kneift die Lider zusammen und schlägt sie wieder auf, aber der Sabber ist noch immer da. Es gibt keine Fata Morganas oder Albträume, und auch keine Wunder. In Brancaccio ist alles real, im Guten wie im Schlechten. Er würde den Hund gern bei einem Hundenamen rufen, doch er kennt keinen. In Gedanken wiederholt er den erstbesten Namen, der ihm einfällt: Hund. Als könne der Hund ihn hören. Wie sehr wünscht er sich, er würde aufstehen, gesund und munter wie der Hund auf dem Schulplakat. Aber ein Hund hört nicht, wenn man ihn nur Hund ruft. Er könnte es mit Karl der Große versuchen, wie dieser Frankentyp. Das ist ein perfekter Hundename.
Auf den Schulplakaten ist alles so perfekt, wie es sein soll: Kirschen, Zwerge, Schmetterlinge, Fische, Flaschen … Seine Lehrerin Gabriella kann über die dargestellten Dinge wunderschöne Geschichten erzählen, wie die von dem Jungen, der tauchen kann wie ein Fisch, weshalb man ihn Colapesce, Nicola den Fisch, nennt. Eines Tages schwimmt er los, um den Meeresgrund zu erkunden, und bis heute wartet man auf seine Rückkehr. Wenn Francesco am Meer ist, hat er Angst, Colapesce könnte plötzlich auftauchen und aus dem Wasser kommen. Deshalb bleibt er immer nah beim Ufer. Dann ist da noch die Geschichte der Meerjungfrau, die ein Menschenmädchen werden will, und ihr wachsen Beine, aber die tun ihr schrecklich weh, weil sie sie noch nie benutzt hat. Francesco mag diese Geschichten, in denen Menschen und Fische sich mischen und man nicht mehr weiß, ob sie Fisch oder Mensch oder beides sind. Am liebsten ist er mit seiner Mutter am Meer, wenn sie ihren grünen Badeanzug anhat und das Haar so schön offen trägt. Untertauchen, die Lider öffnen und alles verschwommen sehen. Das brennt in den Augen. Aber er mag die Stille unter Wasser und er schwimmt gern in den Wellen, unter den Wellen, mit den Wellen. Das Meer und sein Klassenraum sind das Einzige, was er mag. Abgesehen von seiner Mutter ist alles, was nicht auf den Schulplakaten ist, hässlich. Häuser haben keine Dächer und Schornsteine, aus denen sich weißer Rauch kringelt. Hunde haben zerschmetterte Wirbelsäulen und hohle Augen. Kirschen hat er noch nie gesehen und Flaschen sind nur dazu da, um mit Steinen danach zu werfen.
Und er hat Angst. Vor allem, wenn es draußen windig ist und die Fenster, die wegen der Hitze geöffnet sind, klappern, aber er sich nicht traut aufzustehen und sie zuzumachen, denn vielleicht schnappt ihn der Wind und trägt ihn davon. Er hat keinen Vater, der ihn suchen geht und zurück nach Hause bringt.
Seine Freunde treten dem Hund in den Bauch, ein dumpfes Schmatzen ist zu hören, dann winselt er und knirscht mit den Zähnen. Sie brechen ihm die Rippen. Francesco weiß nicht, wie man einen kaputten Hund repariert. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als ihn auch kaputtzumachen, damit nichts leidend und lebendig bleibt, denn das ist schlimmer als der Tod.
Er verpasst ihm einen Tritt auf die Schnauze, sie knirscht. Ein Schaudern durchzuckt ihn von der Fußsohle bis in den Kopf: Er tritt noch einmal zu, um die Beklemmung abzuschütteln, und noch einmal, immer fester. Die Hölle ist, wenn man den Schmerz des Zerberstens nicht mehr spürt, wenn er einem nicht mehr durchs Rückenmark schießt, in den Kopf, ins Herz. Die Hölle ist, wenn man nicht mehr spürt, dass etwas Lebendiges lebt. Doch etwas in Francesco sträubt sich, selbst während er auf das weiche, geschundene Fleisch eintritt.
Er wiederholt die auf den Plakaten dargestellten Dinge, wie es die Lehrerin verlangt. Wir wiederholen gemeinsam. Für den Buchstaben A die Ameise, die ihn einmal gebissen hat; für das Z das Zebra, das ihn an Juventus und Roberto Baggio erinnert, er will genauso werden wie er, auch wenn andere Schillaci toller finden; das Gemälde bei G, mit dieser schönen Landschaft, in die er gern eintauchen würde; das Ei bei E, er mag es, wenn seine Mutter ihm Eischaum mit Zucker macht. An die Darstellung vom H kann er sich nicht mehr erinnern. Absolut nicht. Also tritt er abermals zu und wirkt dabei alles andere als wie ein Kind. Das blicklose Auge des Hundes, das sich bei jedem Tritt öffnet, erlischt nach und nach.
Dann werfen sie den noch zuckenden Körper in die Tiefe und versuchen, einen der Zementblöcke mit den aufragenden Eisenstreben zu treffen. Der Hund landet knapp daneben und ein verrostetes Eisen durchbohrt ihn und zerreißt ihn wie Papier. Er stößt ein heiseres Röcheln aus, dann sackt er zu Boden und die Eingeweide quellen aus dem aufgerissenen Leib. Ein letztes Zucken verkündet das Ende seines Überlebenstriebes.
Die Kinder johlen. Das Viech ist tot. Es hat verloren und verdient es zu sterben. Sie lachen. Jubeln wie Wahnsinnige, deren einziges Spiel darin besteht, dem gesichtslosen Gott der Lieblosigkeit ihre Opfer zu bringen.
Francesco öffnet die vor Angst zusammengekniffenen Lider, doch alles ist wie zuvor, er sieht das Blut, das sich wie Feuerwerksgarben um den bereits von Fliegen und Wespen belagerten Hund ausbreitet. Noch immer kann er sich nicht an die Abbildung des Buchstabens H erinnern. Er jubelt mit, was soll er auch sonst tun, die Hysterie des Rudels erfasst ihn und er spürt den Rausch der Zerstörung, der seine dünnen Ärmchen durchströmt.
Das H kann nur für Hölle stehen. Aber auf Grundschulplakaten gibt es keine Hölle, höchstens ein Feuer für F, doch Hölle und Feuer haben nichts miteinander zu tun, die Hölle ist ein Vampir, sie saugt den Dingen sämtliches Leben und sämtliche Liebe aus.