Das Buch
Bea Bishop schreitet mit ihrem Verlobten Adam auf den Traualtar zu. Es ist der schönste Tag ihres Lebens, sie ist überglücklich – das denken zumindest die Hochzeitsgäste. Doch Bea ist sich da nicht so sicher. Ist Adam wirklich der Richtige? Außerdem hofft sie, in der Kirche ihren Vater zu sehen, der spurlos verschwand, als Bea acht Jahre alt war und den sie nie vergessen konnte. Doch stattdessen taucht Kieran auf, ihre Jugendliebe. Beas Zweifel werden stärker. Was wäre, wenn es mit Kieran und ihr damals geklappt hätte? Oder sie einen ganz anderen Mann kennengelernt hätte? Wäre sie dann jetzt zufriedener mit ihrem Leben? Plötzlich bekommt Bea die Chance, es herauszufinden. Und sie stellt fest, dass man auf dem Weg zum Happy End manchmal einen Umweg gehen muss …
Die Autorin
Ali Harris hat als Journalistin mit Zeitschriften wie Red, ELLE und Cosmopolitan zusammengearbeitet. Bevor sie Mutter wurde und anfing, Bücher zu schreiben, war sie stellvertretende Kulturredakteurin bei Glamour. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Cambridge.
Von Ali Harris bei Blanvalet bereits erschienen:
Der erste letzte Kuss
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Ali Harris
Ein Tag für ein
neues Leben
Roman
Aus dem Englischen
von Babette Schröder
Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Written in the Stars« bei Simon & Schuster, London.
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1. Auflage
Taschenbuchausgabe Februar 2017 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © Ali Harris 2014
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Übersetzung und Verwendung des Gedichts Shipping Good von Lemn Sissay mit freundlicher Genehmigung von Lemn Sissay und Curtis Brown, Ltd.
Redaktion: Ivana Marinović
Umschlaggestaltung und -illustration: www.buerosued.de
JB · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-17208-4
V001
www.blanvalet.de
Für meine kleinen Sterne,
Barnaby und Cecily,
ich liebe euch über alles.
Die Uhr tickt in der Hand eines Mädchens
Das im Takt des Tickens springt
Unter dem Park fliehen Tunnel das Dunkel
Während die Sonne die Uhren umringt
Blumen wachsen für jene, die wissen
Dass erblüht, wer seine Wurzeln liebt
Wer der Erde gibt, was ihr gebührt
Ihre jungen Triebe hegt
Ein Pferd trommelt mit den Hufen
Einen Rhythmus unter die Erde
Wo gar furchtlose Matrosen
Weinen im Schlaf um ihre Koje
Wenn das Moor seufzt in der Nacht
Und der Himmel sich über die Themse beugt
Sinken Greenwich und ich erneut in Schlaf
Und wachen erneut auf als Freunde
Das Pochen in meinem Ohr
Hallt wider von meinem Kissen
Als würden von einer schwarzen Stute
Träume aus dem Boden gerissen
Im Galopp hält sie zu
Auf den Längengrad
Springt über Sheperds Gate
Und taucht ein in die Zeit
Wo der alte Seefahrer
Sein Gast nicht mehr verstimmt
Einem kreisenden Albatros
Lieder von seinen Verfehlungen singt
Was du heim und mit dir nimmst
Sind die guten Gaben
Aus denen Royal Greenwich wob
Die Geschichte seiner Taten
Eine Tasse Kaffee wird an die Lippen geführt
Darin spiegeln sich das Meer und die Gischt
Wo lächelnd ein Mädchen im Boote sitzt
Und die Frau flüstert Das bin ja ich
Und das Mädchen reckt den Hals
Und segelt über den Tassenboden
Es lächelt kurz und stutzt
Dann reicht es die Blumen nach oben
Hier liegt der Anbeginn der Zeit
Wo der Fluss umfängt das Land
Hier liegt der Knotenpunkt
Ein Kreisel aus Sonne und Sand
Und der Stern erhebt sich über Observatory Hill
Und sieht denen zu, die zu ihm sehn
Und das Wasser umspült einen ruhigen Kai
An dem die silbernen Nixen baden gehn
Und eine Frau sammelt Haare
Um sie zu Hause zu spinnen
Sie fertigt Segel für den Weg zum Glück
Damit unsere Träume beginnen
»Schiffsgut«, Lemn Sissay
Prolog
30. April 2014
»Ich hatte damals vor dem Traualtar nicht vor durchzubrennen. Ehrlich nicht. Ich bin an jenem Morgen nicht mit dem Gedanken aufgewacht: Wie kann ich denen, die ich am meisten liebe, möglichst viel Kummer bereiten? Dem einen Menschen, den ich am meisten liebe …« Kurz driften meine Gedanken ab, und ich schaffe es nicht, meine wohlvorbereitete Rede fortzusetzen. Ich blicke in die erwartungsfrohen Gesichter, die mit den Tulpen um die Wette leuchten. Muss ich das wirklich alles noch einmal aufwärmen? Ausgerechnet jetzt, da alle, die mir zuhören, nur den freudigen Anlass des heutigen Tages mit mir feiern wollen?
Vereinzelt ertönt ein verlegenes Hüsteln, hier und da wird geflüstert, und in mir steigt Panik auf. Ein Gefühl von Übelkeit überkommt mich oder, noch schlimmer, als würde ich gleich ohnmächtig werden. O Gott, bitte das nicht. Nicht schon wieder. Doch da drückt jemand meine linke Hand, und durch diese ermutigende, warme Geste finde ich meine Zuversicht und mein Selbstvertrauen wieder. Als ich mich zu diesem Jemand umdrehe, lächelt er und nickt mir aufmunternd zu, als wolle er sagen, ich solle meinem Instinkt vertrauen.
»In Wahrheit glaube ich, dass ich an jenem Tag überhaupt nicht viel gedacht habe«, fahre ich fort. »Ich war sehr nervös, das war alles. Ich habe mich nur darauf konzentriert, was ich als Nächstes zu tun hatte. Wann ich aufstehen, mich fertig machen, ins Auto steigen, den Gang hinunterschreiten sollte. Und na ja …« Ich halte inne und lächle schief. »Wie das ausgegangen ist, wissen wir alle.«
Gelächter weht wie Blütenblätter durch die Luft.
»Es hat viele Momente gegeben, in denen ich an mir selbst gezweifelt habe«, spreche ich weiter. »Meinen Mann vor dem Altar stehen zu lassen war die schwerste Entscheidung meines Lebens. Viele sagen, es sei die schlechteste gewesen.« Ich lächle meiner besten Freundin Milly zu, die zustimmend nickt und die Hand hebt. »Aber egal, wie sehr ich auch an mir gezweifelt habe, tief im Innern wusste ich, dass sie nicht recht haben.« Kurz schließe ich die Augen und denke an meinen lang zurückliegenden Fehler, den ich nie vergessen werde. Aber jetzt endlich bin ich darüber hinweg. Auch wenn es mir schrecklich schwerfiel, zu meiner Entscheidung zu stehen, wusste ich doch immer, dass es die richtige war.
Ich blicke erneut in die Runde, dann wende ich mich dem Mann zu, der neben mir steht. Es fühlt sich an, als sei er schon immer da gewesen, als wäre das unsere Bestimmung …
Ein Jahr zuvor
April
Liebe Bea,
ich war nie der Meinung, dass der April der »schrecklichste Monat überhaupt« ist. Für mich stand er immer für Neuanfänge. Mit ihm bricht für Mutter Natur tatsächlich das neue Jahr an. Plötzlich bietet sich uns ein wundervolles Schauspiel. Farbenprächtige Blumen explodieren wie ein Feuerwerk in unseren Gärten. Auf den Wiesen glänzen goldene Narzissen, Hyazinthen schießen wie Raketen aus dem Boden, und daneben schwirren Anemonen in der Luft wie ein violetter Regenschleier. Nieswurz und Tulpen wiegen sich verzückt im Wind wie Brautjungfern auf einem Junggesellinnenabschied.
Zwischen all den neuen Trieben müssen zahlreiche Entscheidungen getroffen werden – und auch die erfahrensten Gärtner fühlen sich hin und wieder überfordert. Manchmal hat man das Gefühl, der trockenen Erde kein Leben mehr einhauchen zu können. Und meiner Erinnerung nach, meine liebe Tochter, habe ich im Frühling häufig den Drang verspürt, mit meiner Seele ins Reine zu kommen. Einen Augenblick innezuhalten und darüber nachzudenken, wie es mir eigentlich wirklich geht.
Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, sich mit Vergangenem zu beschäftigen sei nutzlos, empfinde ich es als sehr heilsam und noch dazu notwendig, alten Boden zu beackern. Als erfahrener Gärtner sage ich: Zupfe alle toten Pflanzen heraus, sonst hindern sie womöglich die neuen Triebe an ihrem Wachstum. Doch sei auch nicht zu grob, sonst erwischst du vielleicht versehentlich eine Blume, die dieses Jahr blühen sollte. Und denk daran: Lass nicht das Gras unter deinen Füßen wachsen, sonst wird es gelb und geht ein.
Wenn du all das berücksichtigst, wird dein Garten ganz nach deinen Wünschen gedeihen.
In Liebe, Dad
1. Kapitel
30. April 2013
Bea Bishop will den entscheidenden Schritt wa…
»Das ist nicht der Moment, deinen Facebook-Status zu aktualisieren, Bea!«, tadelt mich mein jüngerer Bruder Caleb, während er mir das Smartphone wegnimmt.
»Hey!« Ich sehe ihn empört an. Irgendwie gehe ich immer noch davon aus, dass neben mir vor der Kirche der kleine Junge mit dem Lockenkopf steht, der mich früher wie ein übermütiger Welpe über den Strand gejagt hat. Stattdessen sehe ich diesen charmanten, vernünftigen, verantwortungsvollen achtundzwanzigjährigen Mann – noch dazu Vater – mit Anzug und Krawatte vor mir. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Cal zwei Kinder hat. Wo sind nur all die Jahre geblieben?
Ich versuche, an mein Smartphone zu kommen, doch er hält es provozierend über seinen Kopf und lässt es dann in seiner Hosentasche verschwinden. Wütend wende ich mich zu Loni um, die rechts von mir steht, doch sie hebt nur die Hände, als wollte sie sagen: Ich bin zwar deine Mutter, aber damit habe ich nichts zu tun. Dann blickt sie auf ihr Dekolleté hinunter und rückt den Ausschnitt zurecht, damit man mehr Haut sieht.
»Bist du bereit, es ihnen so richtig zu zeigen, Schwesterherz?«, fragt Cal leichthin. Dann beugt er sich vor und zwinkert mir zu. »Loni ist es jedenfalls …«
Ich blicke sie beide an und würde am liebsten sagen, dass ich zu gar nichts bereit bin, solange Dad nicht hier ist. Doch stattdessen lächle ich, hole tief Luft und wende mich den schweren Kirchentüren aus Walnussholz zu. Leichter gesagt als getan in diesem lächerlich engen Spitzenkleid mit Schleppe. Mir ist klar, dass es das falsche Kleid für meine Figur ist – es passt zu einer großen, anmutigen Gestalt, nicht zu einer kleinen, etwas burschikosen Person wie mir. Ich habe es mir aufdrängen lassen, weil ich nicht wusste, was ich wollte, und weil meine künftige Schwiegermutter, Marion, meinte, dass ich »ungewöhnlich elegant« darin aussähe. Genau in dem Moment hätten meine Alarmglocken schrillen müssen. Mein Gefühl sagt mir jetzt, dass es vermutlich besser ist, wenn man am Tag seiner Hochzeit wie man selbst aussieht –natürlich wie eine herausgeputzte Version seiner selbst.
Stattdessen fühlt sich das Haarteil, um das man meine widerspenstigen Locken gewickelt hat, schwer wie Blei an, ebenso wie das gewaltige Diadem der Familie Hudson, das an meiner aufgetürmten Frisur hängt wie King Kong am Empire State Building. Marion hat mir bei der letzten Anprobe eröffnet, dass ich es tragen müsse. Ihre Begründung lieferte sie gleich mit … und wählte dafür exakt folgende Worte: »Leider Gottes werde ich – abgesehen von dir – nie so etwas wie eine Tochter haben, Bea.« Mit der Betonung auf leider!
»Bea!«, mahnt Cal ungeduldig und erinnert mich daran, wo ich mich gerade befinde und was ich zu tun habe. »Ich habe gefragt, ob du bereit bist …«
»… deine Haftstrafe anzutreten?«, schaltet sich Loni ein und stupst mich neckisch in die Seite, während ihr gigantischer violett-pinker Kopfputz auf ihren langen silbernen Korkenzieherlocken wippt.
Cal wirft ihr einen warnenden Blick zu. Mit unschuldiger Miene hebt sie die Hände, als wollte sie sagen: »Was denn? War doch nur ein Scherz!«, dann nimmt sie einen Schluck aus einer kleinen Flasche, die sie ganz offensichtlich aus der Minibar des Hotels hat mitgehen lassen. »Nur ein kleines Schnäpschen für Loni gegen ihr vorhochzeitliches Herzflattern«, bemerkt sie augenzwinkernd. Meine Mutter spricht oft in der dritten Person von sich.
Wahrscheinlich macht man das, wenn man ein bisschen verrückt ist – Verzeihung, ein ganz kleines bisschen berühmt, meine ich. Loni schreibt Beziehungsratgeber. Ihr erstes Buch hieß Warum heiraten, wenn man auch glücklich sein kann? Es war ein Überraschungserfolg und hielt sich dreiundzwanzig Wochen auf den Bestsellerlisten. Über zwanzig Jahre und unzählige Bücher später sehen die Leute in ihr noch immer den Guru für Ehescheidungen. Was, wie sich herausstellt, an meinem Hochzeitstag wenig hilfreich ist.
Loni ist nicht gerade ein Fan der Institution Ehe. Sie ist ein Freigeist, eine Single-Seele, seit mein Vater uns verlassen hat. Damals war ich sieben und Cal fünf. Sie hat immer behauptet, die Ehe sei ein widernatürlicher Zustand. Und darum habe ich das auch geglaubt.
Ich blinzle, denn als mir einfällt, was ich im Begriff bin zu tun, spüre ich die vertraute Panik in mir aufsteigen.
»Alles okay bei dir?«, wispert Milly. Ich drehe mich zu ihr um und erhasche dabei einen Blick auf Holkham Hall, die elegante palladianische Villa hinter uns, die zusammen mit der Kirche, vor der wir stehen, zu einem beeindruckenden Anwesen gehört. Später wird dort unser Hochzeitsempfang stattfinden. Gefühlt ist der Ort des Geschehens das Einzige, worüber ich bestimmt habe. Die Hochzeit sollte hier stattfinden – in Holkham. In der Nähe des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin, meinem Lieblingsstrand gegenüber. Schon als kleines Mädchen habe ich meinen Eltern erklärt, dass ich eines Tages genau hier heiraten würde. Marion war nicht besonders glücklich darüber. Sie hatte sich etwas Größeres, Prächtigeres vorgestellt, näher an London gelegen als an Norfolk. Aber ausnahmsweise bin ich standhaft geblieben. Es war mir egal, ob die Hudsons hundert Leute einladen wollten, denen ich noch nie zuvor begegnet bin (was sie im Übrigen getan haben), aber meine Hochzeit musste hier stattfinden.
Ich konzentriere mich wieder auf Milly. Sie ist die Ruhe und Gelassenheit in Person, und ihr goldglänzendes Brautjungfernkleid schmiegt sich elegant um ihren Bondgirl-Körper. Milly ist eine beeindruckende Schönheit, eine Mischung aus ihrer persischen Mutter und ihrem indischen Vater und stets der schönste Mensch im Raum. Ihr dunkel glänzendes schulterlanges Haar sitzt immer perfekt. Ein dichter Pony umrahmt ihre Schokoladenaugen, die aufgrund ihres stressigen Jobs als Hedgefonds-Managerin üblicherweise äußerst ernst blicken. In diesem Moment drücken sie große Sorge aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die meisten besten Freundinnen nicht so viel Mühe geben wie Milly mit mir. Und das schon, seit sie mich in der siebten Klasse auf dem Schulgelände aufgegabelt hat, weil ich das Klassenzimmer nicht finden konnte. Es war mein erster Tag auf der neuen Schule, und sie sagt, ich hätte ausgesehen, als habe ich keine Ahnung, in welche Richtung ich überhaupt gehen müsse.
Das weiß ich auch heute noch nicht.
Ich kann das nicht, flüstert eine Stimme in meinem Kopf.
Ich blicke Milly wie ein verängstigtes Kaninchen an und bemühe mich mit allen Mitteln, meine Zweifel zu vertreiben – oder wünsche mir, dass sie es tut.
»Du schaffst das, Bea!«, erklärt Milly sofort, als habe sie meine Gedanken gelesen. Sie nimmt meine Hand. »Du heiratest doch Adam. Die Liebe deines Lebens!«
»Milly«, platze ich in einem Anfall von Panik heraus. »Ich muss dich was fragen.«
»Wirklich? Jetzt?«, erwidert sie und steckt eine Locke zurück, die sich aus meinem Brautknoten gelöst hat. »Okay«, seufzt sie. »Schieß los.«
»Woher wusstest du, dass Jay der Richtige ist?«
Millys Blick huscht von mir zu Cal. Dann sieht sie mit einem strahlenden Lächeln erneut zu mir, doch ich erkenne, dass sie beunruhigt ist. Passt auf, Leute, die Braut will sich aus dem Staub machen!
»Woher wusstest du es?«, dränge ich und blicke auf die zwei Ringe hinunter, die seit drei Jahren fest an ihrem linken Finger stecken. Jay ist Adams Trauzeuge und Millys Ehemann. Sie hat ihn am selben Abend kennengelernt wie ich Adam, nur dass Millys und Jays Beziehung sich schneller entwickelt hat als unsere. Während Adam und ich noch ein bisschen Fangen gespielt haben.
»Ich … ich …« Ihr Blick zuckt nervös von mir zu Cal, dann zu Loni. »Das kann ich nicht erklären, Bea. Ich wusste es einfach.«
Mein Herz rutscht mir bis hinunter zu meinen albernen hohen Hochzeitsschuhen, denn die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Ich bin mir nicht sicher, und ich weiß nicht, warum. Wenn Adam so wunderbar ist, warum weiß ich es dann nicht? Was stimmt nicht mit ihm oder vielmehr mit mir?
»Komm schon, Schwesterherz!«, schaltet sich Cal ein, als könne er meine Gedanken lesen. »Wir sprechen hier von dir und Adam. Ihr seid füreinander bestimmt. Du bist verrückt, und er ist völlig verrückt nach dir.«
»Na, fantastagorisch«, erwidere ich mit einem schwachen Lächeln.
Ich schnappe Loni die Miniflasche weg und will einen Schluck nehmen, doch das Gewicht meines Haarteils und des Diadems machen es mir unmöglich, den Kopf in den Nacken zu legen.
»Bereit?«, fragt Cal sanft, als wäre ich eine seiner zweijährigen Zwillingstöchter.
ICH WEISS ES NICHT!, denke ich. »Ja, bereit!«, fiepse ich stattdessen.
Cal tritt vor, um die Türen der St.-Withburga-Kirche zu öffnen, und ich hyperventiliere ein wenig. Der dicke Spitzenstoff des Kleids juckt auf meiner Haut. Ich widerstehe dem Drang, mich an den Schenkeln zu kratzen.
»Hältst du den mal?«, frage ich Cal und drücke ihm den wunderschönen Brautstrauß in die Hand – gelbe Primeln (ich kann nicht ohne dich leben), pralle Ranunkeln (sprühender Charme) und Forsythien (kündigen einen aufregenden Augenblick an). Milly hat ihn für mich bestellt, als ich sie in Panik anrief, weil ich vergessen hatte, mich darum zu kümmern. Sie war noch bei der Arbeit, ist jedoch kurz vor Ladenschluss noch schnell zu ihrem Blumenladen in Greenwich gelaufen und hat eigens für mich nach den gelben Hochzeitsblumen gefragt – eine Handvoll Sonnenschein. Netterweise hat der Laden die Sträuße und die Ansteckblumen in letzter Minute gebunden und sie in eine altmodische Holzkiste gepackt, auf der an der Seite zusammen mit ein paar Sternen der Name des Geschäfts stand – Cosmos Flowers. Milly und Jay haben sie mir heute Morgen in aller Herrgottsfrühe gebracht. Die Kosmee ist meine Geburtstagsblume, und als ich ihren lateinischen Namen auf der Kiste mit meinen Lieblingsblumen entdeckte, kam es mir wie ein Zeichen vor – ich tue das Richtige. Aber jetzt …?
O Gott, mir ist schlecht.
»Alles okay, Bea?«, fragt Milly erneut, während sie mich stützt.
»Ich glaube, von dem Kleid bekomme ich Ausschlag«, stöhne ich, während ich versuche, das Jucken zu lokalisieren. »Vielleicht bin ich gegen den Stoff allergisch?«
Milly fasst mein Kinn und zwingt mich, sie anzusehen. »Du musst dir keinerlei Sorgen machen. Du musst es einfach nur bis vor diesen Altar schaffen. Ich bin direkt hinter dir, okay?« Sie nimmt meine Schleppe, Cal nickt zustimmend und drückt meine Hand.
Ich hole tief Luft und sage mir, dass die meisten Bräute von Angst, Zweifeln und heftiger Unruhe geplagt werden. Das ist ganz normal. Wenn erst einmal der Ring am Finger steckt, fallen alle Befürchtungen von dir ab. Ja, ich bin zuversichtlich, dass es genau so sein wird.
»Adam ist der Richtige, Bea«, bekräftigt Cal noch einmal. »Das ist er schon immer gewesen. Es hat eben ein bisschen gedauert, bis du es gemerkt hast. Jetzt musst du nur noch einen Fuß vor den anderen setzen …«
Ich nicke und staune, dass mein kleiner Bruder so erwachsen geworden ist. Und ich so ängstlich.
»Packen wir’s an!«, quietsche ich und stoße wie zur Bekräftigung zaghaft die Faust in die Luft.
Cal stemmt die schwere Kirchentür auf und sieht mich an. Als Mendelssohns Hochzeitsmarsch durch die offenen Türen schallt, bemerke ich, dass seine porzellanblauen Augen ebenso wie die von Loni vor Rührung glänzen. Die Gäste wenden sich zu uns um, starren mich an und vollführen dabei mit ihren Köpfen eine perfekte La-Ola-Welle. Ich hake mich bei Cal ein und lächle nervös hinter meinem Schleier.
»Du siehst wunderschön aus, Schwesterherz«, flüstert Cal mir lächelnd zu, während wir langsam den Gang entlangschreiten. »Und was immer du tust«, fügt er grinsend hinzu, »mach dir am Ende nicht wieder in die Hose wie auf Tante Caths Hochzeit.«
»Da war ich drei«, zische ich, muss jedoch lachen.
Während wir auf den Altar zugehen, halte ich verzweifelt nach meinem Vater Ausschau. Niemand weiß davon – noch nicht einmal Cal –, doch mein Vater ist der eigentliche Grund, warum ich unbedingt in dieser Kirche nahe dem Haus meiner Kindheit heiraten wollte. Ich habe nie aufgehört, davon zu träumen, dass wir an diesem besonderen Tag hier endlich wieder vereint sein würden. Ich habe darauf bestanden, ihm eine Einladung nach Cley-next-the-Sea zu schicken. Das ist die letzte Adresse, die wir von ihm hatten, ehe er verschwunden ist. Außerdem hat Adam eine Hochzeitsanzeige in der Lieblingszeitung meines Dads geschaltet. Seit Monaten rede ich mir ein, dass, sollte Dad weder die Einladung erhalten noch die Anzeige entdeckt haben, er dennoch durch eine kosmische Verbindung spüren würde, dass seine Tochter heute hier heiratet. Er würde instinktiv wissen, dass ich nicht ohne ihn heiraten will. Er würde sich daran erinnern, wie ich ihm als kleines Mädchen gesagt habe, dass ich eines Tages in dieser Kirche heiraten werde. Er würde spüren, dass ich ihn auch mit dreißig Jahren noch jeden Tag vermisse. Und darum hoffe ich, auch wenn ich seit dreiundzwanzig Jahren nichts mehr von ihm gesehen oder gehört habe, dass er vielleicht, nur vielleicht, hier sein wird, um zu sehen, wie seine Tochter vor den Altar tritt. Ich weiß, dass es albern ist. Ich sollte loslassen und mich auf mein Leben konzentrieren, aber ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass mein Vater eines Tages in mein Leben zurückkehrt. Es kommt mir vor, als sei heute seine letzte Chance dazu, bevor ich das Leben als seine Tochter, Bea Bishop, hinter mir lasse und ein neues als Mrs. Bea Hudson beginne.
Mein Blick schweift verzweifelt über die Hochzeitsgäste, die auf beiden Seiten des Ganges sitzen. Caleb drückt meinen Arm, er hat begriffen, nach wem ich Ausschau halte. Er bemüht sich, es zu verstehen, aber Cal scheint Dad nie so vermisst zu haben wie ich. Mein kleiner Bruder hat immer mit seinem Leben weitergemacht – auf eine unauffällige, aber ganz unglaubliche Art. Nicht nur dass Cal ein großartiger Vater für seine Zwillingstöchter ist, ein liebender Partner für ihre Mum Lucy, mit der er seit fast zehn Jahren zusammen ist (Bindungsprobleme sind uns ganz offenbar nicht in die Wiege gelegt …), er ist auch eine echte Stütze für mich. Und er wohnt in der Nähe von Loni (was bedeutet, dass es mir freisteht zu wohnen, wo immer ich will). Noch dazu rettet er jeden Tag Menschenleben, denn Cal ist Sanitäter. Mit anderen Worten, mein Brüderchen, das früher in Superman-Kostümen herumgelaufen ist, ist jetzt im wahren Leben ein Superheld. Dad wäre so stolz auf ihn. Ich habe nie verstanden, wie sich Geschwister mit denselben Wurzeln so unterschiedlich entwickeln können.
Ein Bild flackert vor meinem inneren Auge auf, ein Bild von meinem Vater, wie er vor mir steht und seine Arme ausbreitet.
Komm her, mein kleines Klammeräffchen …
Als ich an den Kosenamen denke, den Dad mir gegeben hat, weil ich mich immer an ihn gehängt habe, spüre ich einen heftigen Stich. Einen Augenblick schließe ich die Augen, dann sehe ich ein Bild vor mir, wie ich in den Garten laufe, mich an seine Beine klammere und zu ihm aufschaue, während er mich lachend hochhebt.
Ich lasse den Blick weiter über die Hochzeitsgäste gleiten. Als mir klar wird, dass mein Vater natürlich nicht hier ist, steigen mir Tränen der Enttäuschung in die Augen, und ich stolpere. Es war dumm, an einem derart unrealistischen Traum festzuhalten.
Das ist nicht mehr wichtig, sage ich mir streng. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich habe jetzt Adam … Alles wird gut, wenn ich es nur bis zu Adam schaffe …
Doch der Traualtar scheint derart weit weg zu sein, dass ich ihn nur unscharf erkenne. Alles verschwimmt.
Ich ringe um Atem und lege mir kurz die Hand auf die Stirn, während ich mir Mühe gebe weiterzugehen. Doch es ist, als wäre ich zu schnell aufgestanden und jemand hätte das Licht ausgeschaltet. Der Stoff des Kleides juckt unerträglich. Ich habe das Gefühl zu ersticken, und mein Kopf kommt mir unglaublich schwer vor. Hundert Leute blicken mich an und machen Fotos, und mir wird bewusst, dass ich die Luft anhalte, als wollte ich ins Meer eintauchen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiterhin einen Fuß vor den anderen setze und auf den Altar zugehe, doch es fühlt sich an, als würde mich etwas gleichzeitig zurück und nach unten ziehen.
Als würde ich ertrinken.
Und dann endlich erkenne ich ihn, und eine Welle der Erleichterung durchströmt meinen Körper. Denn dort am Ende des Gangs wartet Adam auf mich. Mein großer, starker, so selbstsicherer Adam. Er steht mit dem Rücken zu mir neben Jay. Ich starre auf seine breite, starke Silhouette, seinen perfekt gebügelten Anzug und die etwas aufmüpfige dunkle Haarlocke auf seinem strahlend weißen Kragen. Es ist vermutlich das Einzige in seinem Leben, das etwas in Unordnung ist. Es sei denn, man zählt mich dazu. Dann dreht er sich um, und ich blicke in seine ruhigen grauen Augen unter den dichten dunklen Brauen. Er ist die Ruhe in meinem Sturm, denke ich.
Ich hebe die Hand und winke ihm zu. Er lächelt, es ist ein sanftes Leuchten, das an den Mundwinkeln beginnt und von dort zu seinen Augen aufsteigt, wo es wie die Mittagssonne erstrahlt und mich in helles Licht badet. Er nickt bestimmt, dann bedeutet er mir, zu ihm zu kommen, und dreht sich wieder zum Pfarrer um. In jeder seiner Bewegungen liegt Entschlossenheit.
Ich blicke nach links, und in dem Moment fällt meine Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Er ist hier. Nicht mein Vater, wie ich gehofft hatte, sondern der Mann, den ich in den letzten acht Jahren zu vergessen versucht habe. Meine Brust schnürt sich schmerzhaft zusammen, während die Erinnerungen wie ein Tsunami über mich hinwegfegen und jede Mauer, die ich zum Schutz vor der Vergangenheit errichtet habe, mit sich reißen. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist. Nach all den Jahren.
Kieran Blake. Meine erste große Liebe.
Er sieht mich durchdringend an. Obwohl wir uns so lange nicht gesehen haben, erkenne ich sein Gesicht sofort wieder. Er hat den zerzausten, rebellischen jungenhaften Haarschnitt aufgegeben. Damals waren seine Haare von den jahrelangen Reisen ganz ausgeblichen. Jetzt sind sie dunkel und kurz geschnitten, was den Glanz seiner dunkelgrünen Augen noch verstärkt. Ich versuche, wieder zu Adam zu blicken, doch ich kann nicht. Ich schaffe es nicht, den Blick von Kieran zu lösen. Da hebt er eine Hand, um sich über den Kopf zu streichen, und an seinem Finger funkelt etwas Silbernes auf. Erneut verliere ich mich in Erinnerungen und werde an einen Ort, zu einem Augenblick, in eine Zeit zurückkatapultiert, in die ich auf keinen Fall zurückkehren wollte.
Ich verspreche dir, dass ich zurückkomme. Sobald ich zu mir selbst gefunden habe. Bitte warte auf mich, ja? Bis dahin trage ich den Ring, und du trägst deinen …
Ich blicke hinunter auf den Ringfinger meiner rechten Hand, an dem ich den Ring aus Platin getragen habe, bis ich es irgendwann aufgab, auf Kieran zu warten.
»Kieran Blake«, murmle ich, und Cal wirft mir einen verwirrten Blick zu.
»Was hast du gesagt?«, flüstert er und lässt den Blick über die Menge wandern, bis er ihn entdeckt. Schockiert sieht er wieder zu mir. »Hast du den etwa eingeladen?« Ich schüttle den Kopf und taumle dabei leicht zur Seite. Es ist, als wollten meine Füße mich nicht mehr tragen.
Ich versuche es dennoch. Warum spüre ich gerade jetzt, wo ich so gern Schritt für Schritt sicher in meine Zukunft schreiten würde, einen so überwältigenden Sog in die Vergangenheit? Es fühlt sich an, als würde man von zwei Seiten an mir zerren. Ich schiebe meine Zweifel beiseite und zwinge meine schwindelerregend hohen Absätze, weiter über die kalten Fliesen zu klackern.
»Hey, Bea«, sagt Cal. »Pass au…«
Seine Warnung kommt zu spät. Mein Schuh rutscht weg, und der Boden unter meinen Füßen verschwindet. Die Hochzeitsgäste halten kollektiv die Luft an, während ich aufschreie und nach hinten falle. Cal versucht noch, meinen Arm zu packen, kann mich jedoch nicht halten, und ich krache rücklings auf den Boden.
Noch während ich falle, läuft mein Leben vor meinem inneren Auge ab, genau so, wie es angeblich geschieht, wenn man stirbt.
O Gott, sterbe ich etwa? Nein, ganz sicher nicht. Ich will nicht, dass meine Grabinschrift eine Schlagzeile aus der Daily Mail wird: »38er-Braut erleidet tragischen Tod vor dem Traualtar« (die Tragödie besteht darin, dass ich Größe 38 getragen habe, nicht darin, dass ich gestorben bin). Ich bemühe mich, bei Bewusstsein zu bleiben, während ein brennender Schmerz von meinem Kopf durch meinen Körper jagt. Ich klammere mich an mein Leben. Nur …
Ich blinzle und merke, dass ich ob der drohenden Ohnmacht die Augen verdrehe. Ich klammere mich nicht an mein Leben, ich klammere mich gerade an zwei verschiedene Leben. An das, das ich früher hatte, und an das, auf das ich bis jetzt zugesteuert bin. Ich erkenne Adam und Kieran neben mir. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich weiß nicht genau, was gerade geschieht oder wo ich bin. Vor mir tauchen die geisterhaften weißen Umrisse meiner Zukunft und meiner Vergangenheit auf, die auf überirdische Weise miteinander ringen. Die eine zieht mich wie ein Engel an meiner Schulter vorwärts – die andere will mich zurückzerren. Zwei Lieben, zwei mögliche Leben – aber welches ist meins? Welchen Weg soll ich wählen? Ich kann mich nicht entscheiden und lasse den Kopf auf die Fliesen sinken. Erst sehe ich Sterne, dann wird alles um mich herum schwarz.
2. Kapitel
Ich sitze auf einem Stuhl in der kleinen kalten Kapelle neben dem Hauptschiff und reibe mir den Kopf, während Cal mich untersucht. Adams tiefe, beruhigende Stimme hat mich aus der Dunkelheit in die Gegenwart zurückgeholt. Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos gewesen bin und was in der Zwischenzeit passiert ist, ich weiß nur, dass ich mich anders fühle, seit ich wieder aufgewacht bin. Als hätte ich meinen Anker verloren und würde auf dem offenen Meer treiben. Loni, Cal und Adam sitzen neben mir, während ich meinen Kopf umklammere. Adams Eltern, George und Marion, sehen zu, ebenso wie Milly und Jay. Sie meinen, ich hätte Schmerzen – und damit haben sie recht –, aber nicht, weil ich mir den Kopf angeschlagen habe.
Ich komme mir vor, als hätte ich meinen Körper verlassen. Die Welt hat sich währenddessen rückwärtsgedreht, und ich bin wieder mit Kieran am Cromer Pier.
Es ist alles meine Schuld. Der Gedanke war damals genauso zutreffend wie heute.
Cal zieht meine Lider nach oben und untersucht meine Pupillen. Ich komme mir vor, als würde ich verhört, nur dass ich diejenige bin, die die Fragen stellt. Verliere ich den Verstand?, möchte ich ihn fragen. Du hast Kieran doch auch gesehen, oder? Er war es doch, stimmt’s? Er ist hier. Er ist zurückgekommen. Sieben Jahre später als versprochen, aber er ist zurückgekommen.
In Cals zusammengezogenen Brauen und seiner Stirn, die sich in Falten legt, finde ich keine Antworten.
»Einen Moment lang habe ich mir echt Sorgen gemacht, Schwesterherz«, murmelt er.
»Dass ich es nicht bis zum Altar schaffe oder das Gegenteil?«, stoße ich hervor.
In seiner Wange spannt sich ein Muskel, und er schüttelt den Kopf, dann blickt er in die Runde. »Keine Gehirnerschütterung«, stellt er mit einem Lächeln fest und tritt einen Schritt zurück. »Und kein Gehirnschaden. Wenn wir Glück haben, hat der Schlag sie sogar etwas zur Vernunft gebracht!« Vor Erleichterung ertönt ein leises Lachen aus dem Halbkreis aus Familie und Freunden.
Jemand reicht Cal einen Eisbeutel, und er drückt ihn gegen meine Stirn. »Au!«
»Warte, lass mich mal«, sagt Adam, und Cal tritt gehorsam zur Seite. Adam hat diese Wirkung auf Menschen. Sie hören auf ihn. Ich auch.
»Sollen wir dann loslegen?«, fragt unser Pfarrer strahlend, klatscht in die Hände und blickt auf seine Armbanduhr.
»Können Sie uns bitte einen Moment allein lassen?«, erwidere ich zitternd, und er sieht mich einen Augenblick zu lange an, bevor er alle aus der Kapelle schiebt. Cal geht als Letzter und wirft mir einen langen Blick zu, ehe er Adam und mich allein lässt.
Ich sehe zu Adam auf, der mich auf die Stirn küsst und dann erneut den Beutel mit dem Eis draufdrückt. Irgendwie kommt mir der Gegensatz zwischen seinen warmen Lippen und dem kalten Eis symbolhaft vor. Seine grauen Augen sind vor Sorge getrübt, und ich verspüre den Impuls, sein perfekt geschnittenes Kinn zu fassen und seine vollen Lippen auf meine zu drücken. Damit ich mir den letzten Kuss des Mannes einprägen kann, der mich glücklicher gemacht hat, als ich es je für möglich gehalten habe. Der Mann, der Ruhe und Sicherheit in mein Leben gebracht hat, in dem vorher nur Lärm und Chaos herrschten. Von dem ich dachte, dass er mich vor meiner Vergangenheit retten könnte, auch wenn ich mich nie überwinden konnte, ehrlich mit ihm über diese zu sprechen. Ich denke an Kieran, der dort draußen wartet, und mir wird schlecht angesichts dessen, was ich zu tun gedenke.
»Wie fühlst du dich?«, fragt Adam, geht in die Hocke und nimmt das Eis weg. »Bist du bereit, wieder aufzustehen, dort hineinzugehen und dich der Hochzeitsmusik zu stellen? Du hast da einen ganz schönen Stunt hingelegt, weißt du das? Davon kannst du eines Tages deinen Kindern erzählen …« Er grinst, und um seine Augen bilden sich Lachfalten, die wie Glasscherben in mein Herz schneiden. Er ist so perfekt.
Zu perfekt für mich.
Ich muss es ihm sagen. Ich muss. Mir bleibt keine andere Wahl. Außerdem verdiene ich ihn nicht.
Ich blicke auf den Eisbeutel. Auf die geschmolzenen Eiswürfel, die vor meinen Augen schwimmen und sich mit meinen Tränen mischen wie ein Fluss, der meine perfekte Zukunft mit sich fortreißt.
»Komm schon«, sagt Adam sanft und fasst meinen Ellbogen.
Ich schüttle den Kopf, ich kann ihn nicht ansehen. Ich komme mir vor wie ein Scharfrichter, der die Guillotine fallen lässt. »Adam«, flüstere ich und dränge den Namen an dem Kloß in meinem Hals vorbei. »Du weißt, ich liebe dich. Ich hoffe, daran hast du nie gezweifelt …«
»Natürlich nicht, darum heiraten wir doch!« Er lächelt, beugt sich vor und küsst mich zärtlich. Ich schließe die Augen und lege meine Finger auf meine Lippen. »Na, komm«, sagt er, steht auf und reicht mir die Hand. »Gehen wir. Aber versprich mir, dass du keine akrobatischen Kunststücke mehr im Gang vollführst, ja? Fast hast du Dad dazu gebracht, nicht mehr seine E-Mails zu checken!« Er grinst, doch ich bleibe ernst. Noch immer streckt er mir die Hand entgegen und wartet, dass ich sie ergreife.
»Adam.« Verzweifelt bemühe ich mich, das Beben in meiner Stimme unter Kontrolle zu bekommen.
»Bea, ich weiß, dass du nervös bist, aber du brauchst keine Angst zu haben. Wir heiraten und machen einfach weiter wie bisher. Es muss sich doch gar nichts ändern.« Seine Stimme klingt leise, beruhigend, melodisch. Er redet mit mir, als wollte er mich, metaphorisch gesprochen, davon abhalten, von der Klippe zu springen. »Weißt du noch, als ich dir den Antrag gemacht habe? Du hattest solche Angst, den nächsten Schritt zu tun, dass ich dachte, ich habe nur eine Chance, wenn du nicht in Panik verfallen sollst – ich muss den Ring in einem kleinen Strauß aus Lavendel, Jasmin und Orangenblüten verstecken, um dich zu beruhigen, zu entspannen und den Schock zu lindern …«
Bei der Erinnerung muss ich lächeln. Ich fand seine Geste hinreißend, sie war so umsichtig und zeigte, wie gut er mich verstand. Doch wieder taucht Kierans Gesicht vor mir auf, und eine Welle der Angst überwältigt mich. Ich verdiene Adams Freundlichkeit nicht. Wenn er wüsste … Ich muss das hier hinter mich bringen. Ich muss mich von der Klippe stürzen. Das Ganze hier beenden.
»Ich kann das nicht. Ich kann dich nicht heiraten, Adam«, platze ich abrupt heraus, als würde ich ein Pflaster abreißen. Ich schließe die Augen. Es tut trotzdem weh. »Ich … Es tut mir so leid …«
Er wischt meine Bemerkung zusammen mit einer meiner Haarsträhnen fort. »Das meinst du nicht so. Du hast nur einen kleinen Schock. Sobald wir wieder dort hineingehen, wird alles gut …«
Wie gern würde ich Adam glauben, aber es fühlt sich an, als hätte Cal recht, als sei ich bei dem Sturz endlich zur Vernunft gekommen. Ich kann niemandem mehr etwas vormachen. Kieran ist zurück, und alles ist anders. Das hat Adam nicht verdient, und mich hat er auch nicht verdient. Ich darf meine Vergangenheit nicht länger verdrängen und so tun, als hätte mein Leben erst begonnen, als ich Adam begegnet bin. Nein, es ist mit der Nacht der Tragödie zu Ende gegangen. Und das ist meine Schuld.
Ich hebe den Kopf und halte den Blick auf das Eis gerichtet. Es schmilzt noch immer. Alles schmilzt dahin. »Nein, Adam. Es tut mir leid, ich kann das nicht. Ich kann einfach nicht …« Meine Stimme klingt überraschend fest. Kein Zittern, kein Beben, meine Entscheidung ist gefallen.
Adam starrt mich eine gefühlte Ewigkeit an, auf seinem Gesicht zeichnen sich nacheinander Unglauben, Fassungslosigkeit, Schock und Kränkung ab, dann tritt er zurück.
»Du meinst das wirklich ernst.« Er spricht leise, fast flüstert er. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und komme mir vor, als hätte ich erst ihn und dann mich mit einem Messer durchbohrt.
Adam tritt an die kühle Steinwand und lehnt sich dagegen, als könne er sich nicht mehr auf den Beinen halten. »Warum?«, fragt er leise. Seine breiten Schultern wirken, als seien sie geschrumpft. Mit der linken Hand stützt er sich an der Wand ab, dabei spreizt er die Finger, als bräuchte er so viel Fläche wie möglich, aber auch als wollte er mich daran erinnern, dass dort kein Ehering an seinem Finger glänzt. Mit der anderen Hand hält er sich die Stirn, als hätte er einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Was vermutlich der Fall ist. »Meinst du nicht, dass du mir wenigstens erklären solltest, warum?«
»Ich … ich weiß es nicht … Ich kann es einfach … Ich kann es dir nicht erklären. Es tut mir leid …« Ich suche nach den richtigen Worten, finde sie jedoch nicht: dass ich ihn liebe und ihn brauche und ihn schon jetzt vermisse, aber dass ich nicht weiß, wer ich bin. Dass ich mich vor langer Zeit verloren habe. Verzweifelt blicke ich zu Adam auf, Tränen strömen über mein Gesicht. Ich wünschte, die Dinge wären anders, aber ich weiß, dass sich in der einen Sekunde, bevor ich gestürzt bin, alles verändert hat.
Weil Kieran zurückgekehrt ist.
3. Kapitel
Als ich wieder zu mir komme, fühlen sich die kühlen Fliesen wie Eis unter meinen nackten Schultern an. Bin ich ohnmächtig geworden, oder bin ich tot? Ich öffne die Augen und blinzle, um den schwarzen Nebel zu vertreiben. Ich trage ein langes weißes Gewand, wie ein Engel. O Gott. Das mit dem Tod war doch nur ein Witz. Dann fällt mir alles wieder ein. Na ja, fast. Ich kann mich vage daran erinnern, dass ich nach jemandem Ausschau gehalten habe, aber ich weiß nicht mehr, nach wem. Ich fühle mich irgendwie anders, aber ich weiß nicht, warum.
Adams Gesicht schiebt sich in mein Sichtfeld, seine grauen Augen sind voller Sorge. Er streicht mit den Daumen über meine Schläfen, dann legt er mir die Hand auf die Stirn. Plötzlich drängt sich Marion vor ihn, schnippt mit den Fingern, woraufhin ich hektisch blinzle, als hätte ich einen Anfall. Nicht besonders hilfreich, wenn hundert Leute zusehen und sich fragen, ob ich gerade eine Art vorehelichen Zusammenbruch erlitten habe. Dann hält sie die Hand hoch.
»Wie viele Finger sind das?«, bellt sie, ihre perfekt geschminkten Lippen öffnen sich wie ein Abgrund. »Kannst du es erkennen? Einer? Vier? Fünf?«
»Hoffentlich nicht der Mittelfinger«, sage ich schwach, »das wäre echt unhöflich.«
Daraufhin ertönt Gelächter.
»Es geht ihr gut«, lautet Cals Diagnose. »Sie wollte nur allen veranschaulichen, wie sie sich Hals über Kopf in Adam verliebt hat!« Er und Adam beugen sich über mich und reichen mir die Arme, um mir aufzuhelfen.
»Warte noch einen Moment, Junge«, ruft George. »Ich filme noch. Damit bekomme ich Millionen Klicks auf YouTube!«
»George!«, ruft Marion tadelnd.
»Mir geht’s gut. Ehrlich«, sage ich, schiebe Cal und Adam weg und kämpfe mich nach oben, bis ich sitze.
Und obwohl das im Großen und Ganzen stimmt – ich habe nicht einen einzigen Kratzer oder blauen Fleck am ganzen Körper –, fühle ich mich merkwürdig. Benebelt. Irgendwie bin ich hier, aber es kommt mir vor, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen, als würde ein Teil von mir fehlen, das zuvor noch da war. Blinzelnd betrachte ich meine ausgestreckten Finger und zähle sie, für den Fall, dass Marion recht hat. Da bemerke ich, dass ich keinen Ehering trage. Das muss es sein, beschließe ich. Das ist das fehlende Teil!
Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke zu Adam nach oben. Seine Augen sind dunkle Wolken, seine Stirn ist vor Sorge gekräuselt.
»Können wir nicht einfach weitermachen, Adam?«, bitte ich. »Ich will jetzt endlich heiraten.«
»Oh, Gott sei Dank.« Er lacht erleichtert auf.
»Hattest du Angst, dass ich es nicht vor den Altar schaffe – oder das Gegenteil?«, necke ich ihn. Ich schließe die Augen, weil es mir auf einmal vorkommt, als hätte ich das hier alles schon einmal erlebt, aber irgendwie anders. Ich habe das Gefühl, dass es etwas gibt, woran ich mich erinnern sollte, etwas Wichtiges. Doch es ist, als wäre dort, wo die Erinnerung sein sollte, nur ein schwarzes Loch.
Ich schüttle den Kopf, lächle und wende mich den Gästen auf beiden Seiten des Ganges zu, die mich gespannt anstarren wie Gaffer bei einem Autounfall.
»Es ist alles in Ordnung«, rufe ich schwach. »Mir geht’s gut! Geschieht mir recht. Ich hätte eben keine hohen Absätze tragen sollen!« Leises Lachen. »Aber es bringt Glück, wenn am Hochzeitstag etwas schiefläuft, stimmt’s?«, füge ich hinzu. »Und jetzt, nachdem ich auf den Arsch …« Marion starrt mich wütend an, und ich korrigiere mich schnell, »… Allerwertesten gefallen bin, liegt es nahe, dass alles andere perfekt laufen wird! Also los! Heiraten wir!«
Dafür ernte ich Applaus und nehme von Milly meinen Brautstrauß entgegen. Ich recke ihn in die Luft und begebe mich in Position. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, als müsste ich Adam so schnell wie möglich heiraten – bevor es zu spät ist.
Ich hake mich bei Cal und Loni unter, dann schreiten wir zu dritt den Gang entlang, wobei ich uns schnell – aber vorsichtig – zu Adam führe. Ich blicke über meine Schulter zurück. Ich bin bereit für meine Zukunft, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass meine Vergangenheit dort irgendwo im Dunkeln lauert und jeden meiner Schritte beobachtet.
4. Kapitel
Adam sieht mich nicht an. Alles, was ich sage, wirkt so erbärmlich, so jämmerlich klischeehaft. Ich stehe in der Kapelle und warte, dass er etwas sagt. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, ehe er es tut.
»Ich weiß, dass du Angst hast, aber das ergibt keinen Sinn.« Er dreht sich um, als hätte er neuen Mut gefasst, dass er mich umstimmen könnte. »Wir sind füreinander bestimmt, Bea, das weißt du! Hey, weißt du noch der Abend, an dem wir uns kennengelernt haben?«, sagt er schnell und fährt sich mit der Hand durch sein dichtes Haar. »Wir haben vor der Greenwich Tavern gesessen, es war ungefähr zehn Uhr abends, der Himmel hatte diese irre violette Farbe angenommen, und wir haben uns über unsere Verflossenen unterhalten. Und dass wir nicht so verrückt wären, uns je wieder zu verlieben …«
»Während ›Crazy‹ von CeeLo Green aus den Lausprechern tönte …«, füge ich leise hinzu. Ich schließe die Augen und fühle mich in jenen Moment zurückversetzt. Es war mir wie ein Zeichen vorgekommen – der Bruchteil einer Sekunde, wenn die Zeit kippt und den Lauf unseres Lebens ändert. Wir hatten einander angesehen, Adam und ich, und wir hatten gewusst, dass wir verrückt genug waren, genau das zu tun. Uns zu verlieben. Ich schüttle den Kopf. Adam redet noch immer, beschreibt noch immer den glücklichen Moment unseres Kennenlernens, aber ich hebe die Hand.
Ich möchte ihm so gern sagen, was ich anscheinend nicht zu artikulieren vermag: dass ich seiner nicht wert bin. Dass ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen könnte, wenn ich das hier durchziehe. Dass ich ihn jetzt verletze, um ihm künftiges Leid und Enttäuschungen zu ersparen, wenn er die Wahrheit über mich herausfindet.
»Es tut mir so leid, Adam.« Ich ersticke mit der Hand einen Schrei, lasse meinen Brautstrauß auf den Boden fallen und stolpere dann blind an ihm vorbei ins Hauptschiff, wo die Gäste noch immer warten. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt; sie starren mich an, als wäre ich ein Alien. Einen Augenblick halte ich mitten im Gang inne. Vielleicht bin ich verrückt? Vielleicht bin ich das schon immer gewesen? Und mit diesem Gedanken senke ich den Kopf und beginne zu rennen. Während ich die Türen aufstoße, reiße ich mir den Schleier vom Kopf und laufe auf einen weißen alten Rolls-Royce zu, der wie durch Zauberhand plötzlich vor der Kirche steht.
Der Fahrer blickt neugierig über die Schulter, als ich einsteige. So früh hat er mich eindeutig nicht erwartet.
Ich blicke aus dem Fenster und sehe, dass Adam unter dem Bogen des Kircheneingangs steht. Er hält die linke Hand über die Brauen und schützt die Augen vor der Sonne. In seinem Anzug sieht er wie ein Filmstar aus. Einen Augenblick stelle ich mir vor, dass ich neben ihm stehe, seine Hand halte und dass wir beide unsere Eheringe tragen. Ich sehe das Bild so deutlich vor mir, dass ich, als ich die Augen schließe, hineintreten kann. Adam und ich lachen, während wir uns inmitten unserer Freunde und unserer Familie küssen. Sie lassen Rosenblätter auf uns regnen, bis ich nur noch weiße Blüten sehe. Ich öffne die Augen, und das Bild von uns ist so schnell verschwunden, wie es gekommen ist.
»Bitte, fahren Sie«, flehe ich, und der Fahrer zuckt mit den Schultern, startet den Motor und fährt los.