Buch:
Rachel Kenny ist dreißig und steht kurz vor der Scheidung – nur zwei Jahre nach ihrer Hochzeit hat ihr Mann Dan sie gebeten, aus ihrem liebevoll eingerichteten Haus in Surrey auszuziehen. Und weil sie bei ihm im Büro gearbeitet hat, ist sie auch gleichzeitig ihren Job los. Zum Glück hat sie ihre beiden besten Freundinnen – Cynthia und Emma – die sich um sie kümmern und versuchen, sie auf alle möglichen Arten aufzumuntern, auch gerne mal mit einem schönen Glas Rotwein. Was ihr außerdem immer hilft, ist, Listen zu schreiben – denn sie liebt fast nichts so sehr wie das Abhaken von To-do-Punkten. Auf der Suche nach einer neuen Bleibe lernt sie Patrick kennen, einen knurrigen, aber sehr attraktiven Singlevater, der noch dazu ein wunderschönes Zimmer zu vergeben hat. Spontan zieht sie bei ihm und seinem Sohn Alex ein. Währenddessen haben Cynthia und Emma die ultimative »Zurück ins Leben«-Liste für sie entworfen – mit Dingen, die sie schon immer mal hatten machen wollen. Rachel wirft sich ins Zeug und kann mit Patricks Hilfe bald einen Punkt nach dem anderen abhaken. Doch die größte aller Herausforderungen liegt noch vor ihr: ohne eine Checkliste zu leben – und zu lieben …
Autorin:
Eva Woods lebt in London, wo sie schreibt und Creative Writing unterrichtet. Sie liebt Wein, Popmusik und Urlaub, und sie ist sich sicher, dass Onlinedating das schlechteste Brettspiel ist, das je erfunden wurde.
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Eva Woods
Die Glücksliste
Aus dem Englischen
von Ivana Marinovic
Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »The Thirty List« bei Mills & Boon,
an imprint of Harlequin (UK) Limited, London.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2015 by Claire McGowan
Copyright © 2016 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
nach einem Entwurf von © HarperCollinsPublishers Ltd 2015;
Design: www.emma-rogers.com | Umschlagabbildungen: Shuttersock
Redaktion: Melike Karamustafa
LH · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-17669-3
V002
www.blanvalet.de
Für Alexandra Turner,
meine Lieblingsgrundschullehrerin
Prolog
Wenn man den Filmen glauben will, gibt es diesen Moment im Leben, in dem sich alles fügt. Diesen Moment, wenn du alles hast, was du dir je gewünscht hast, und dein Happy End zum Greifen nah ist. Die Musik schwillt an, alle lächeln.
Nun, dies hier war mein Moment, mein Happy End. Und ich hatte mehr Angst als je zuvor in meinem Leben. Neben mir, unter dem Säulenvorbau der Kirche, war mein Dad damit beschäftigt, nervös seine Krawatte zu lockern und wieder festzuzurren, bereit für den kurzen Gang, den wir gemeinsam unternehmen wollten. Es handelte sich um maximal dreißig Sekunden, aber sobald diese vorbei waren, wäre nichts mehr wie zuvor. Ich wäre mit Dan verheiratet, jemandes Ehefrau.
»Alles in Ordnung, mein Schatz?«
»Nur ein bisschen … na ja, du weißt schon.«
»Aufgeregt?«
Tatsächlich war ich vor Angst wie erstarrt, völlig unfähig, meine Mary-Jane-Schühchen im Vintagestil auch nur einen Schritt vorwärtszubewegen.
»Ich kann es dir nicht verdenken, mit all den Blicken, die gleich auf dich gerichtet sein werden.« Er schauderte. »Es ist wie dieser Albtraum, den ich immer wieder habe. Ich bin Kandidat bei Glücksrad, und mir fehlen nur drei Buchstaben, aber das Wort will mir einfach nicht einfallen.«
»Ja, genauso ist es.«
»Nur dass ich in der Version hier Klamotten trage.«
»Danke, Dad.«
Im Inneren der Kirche ertönte bereits die Orgel. Ich hatte das nicht gewollt – wir waren nicht religiös –, aber Dans Familie bedeutete es unheimlich viel. Ich konnte seine Mutter sehen, deren gigantischer Hut fast die gesamte erste Reihe beanspruchte, und seinen gebrechlich wirkenden Vater, der sich auf einen Gehstock stützte. Letzten Monat hatte er einen Herzinfarkt erlitten, und er war immer noch sehr wackelig auf den Beinen. Ich hatte vorgeschlagen, die Hochzeit zu verschieben, doch Dan hatte nichts davon hören wollen. Ich umklammerte meinen Brautstrauß mit den Freesien, aus dem das Wasser auf den gebauschten Spitzenstoff meines Tea-Length-Kleides tropfte. Der um mein Gesicht geschlungene Schleier schien mir plötzlich die Luft zum Atmen zu nehmen.
»Dad?«
»Ja, mein Schatz?«
»Woher weiß man es? Ich meine, wie kann man sich sicher sein, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, jemanden zu heiraten?«
»Äh …« Er schien sich zutiefst unwohl zu fühlen, und das nicht nur wegen der Krawatte, die in seinen Hals schnitt. »Na ja, du lernst jemanden kennen und magst denjenigen, und dann schaust du, ob es irgendwie passt. Es ist nicht schwer. Nicht so wie Glücksrad.«
»Aber da gibt es wenigstens Regeln.«
»Du … magst Dan doch, oder?«
»Natürlich! Natürlich mag ich Dan. Wir sind sehr glücklich.«
Acht Jahre mit kaum einem Streit, in denen wir ganz mühelos vom Miteinandergehen zum Zusammenwohnen und nun zum Einanderheiraten übergegangen waren. Natürlich waren wir glücklich. Wir hatten sogar gemeinsam ein Haus gekauft, draußen in Surrey. Gleich nach der Hochzeit würden wir unsere Sachen packen und Hackney verlassen, unser Londoner Viertel mit den ständig heulenden Polizeisirenen, den Falafelbuden und dem Lädchen im Erdgeschoss, das immer noch Paninisticker von der Fußballweltmeisterschaft 2002 verkaufte. Dan hatte es vor einigen Monaten ganz beiläufig vorgeschlagen, mitten in den Hochzeitsvorbereitungen. Dort hätten wir mehr Platz, weniger Kriminalität, einen Garten, all die Dinge, die man sich eben so wünschte. Ich hatte bereits meine Kündigung in der kleinen coolen Werbeagentur über einem Tattoostudio in Shoreditch eingereicht.
»Spätzchen«, sagte Dad, der wegen meiner Unfähigkeit, mich zu rühren, zunehmend beunruhigt schien. »Wir müssen da rein. Alle warten. Außer du …«
»Alles gut! Mir geht’s gut! Ich bin nur nervös.« Durch den Türspalt hindurch konnte ich sehen, wie einige Gäste die Köpfe nach hinten wandten, um Ausschau nach mir zu halten. Leises Gemurmel war zu hören. Ganz vorne im Kirchenschiff warteten bereits meine Schwester Jess und meine besten Freundinnen Emma und Cynthia in ihren lavendelfarbenen Brautjungfernkleidern. Jess sah wie immer umwerfend aus. Der Pfarrer, ein Freund von Dans Familie, stand bereit. Das war er, mein Moment. Er wartete nur darauf, dass ich ihm entgegentrat.
Dad nahm sanft meinen Arm. »Komm schon, mein Schatz. Du willst doch keinen Rückzieher machen und das Ganze abblasen, oder? Denn wenn du das tust …«
»Nein!« Ich liebte Dan. Wir hatten ein gemeinsames Leben aufgebaut. Ich erinnerte mich daran, was er mir gestern noch gesagt hatte, bevor er zu seinen Eltern fuhr, um bei ihnen zu übernachten.
»Ich werde dich niemals verlassen, Rachel. Ich verspreche dir, dass wir für immer zusammen sein werden.« Er hatte mir sogar über die Wange gestrichen, obwohl mein Gesicht unter einer verkrusteten Schicht Avocado-Gesichtsmaske steckte.
»Auch wenn ich so aussehe?«
Er hatte gelächelt. »Für mich siehst du immer toll aus.«
Dad tätschelte meine Hand. »Wenn du nicht zurückkannst, musst du eben vorwärtsgehen. Die Zeit ist um, mein Spätzchen.« Er begann die Melodie von Glücksrad zu summen. »Du-dum-du du-dum-du …«
»Okay, okay, ich bin ja schon so weit.«
»Du weißt, was eine Heirat ist, mein Schatz?«
»Ein Wort mit sieben Buchstaben?«
»Es sind sechs Buchstaben. Ernsthaft, Mathe war noch nie deine Stärke. Egal, jedenfalls ist es kein Wort, sondern ein Satz.«
»Hm, das ist nicht gerade hilfreich.«
»Was ich damit meine, ist, dass es ein Anfang ist. Kein Ende.«
Ganz am anderen Ende des Mittelgangs konnte ich Dans Hinterkopf sehen. Seine Ohren waren unter der Last der Blicke, die auf ihm ruhten, rot angelaufen. Die Arme hatte er vor seinem taubengrauen Frack verschränkt. Ich dachte an unser gemeinsames Leben, unsere Freunde, unsere Familien. Das hier war richtig. Das hier war, was man tun sollte. Ich holte tief Luft.
»Okay, Dad. Dann mal los.«
»Exzellent. Bitte einen Konsonanten, Maren!«
Die Musik schwoll an. Und ich machte einen Schritt vorwärts.
1. Kapitel
Zwei Jahre später
Dinge, die an einer Scheidung zum Kotzen sind, Nummer drei: Exakt in dem Moment, in dem dein Leben am Tiefpunkt angelangt ist, und alles, was du brauchst, ein besonders inspirierender Song ist, um dich aus dem Tal der Tränen zu hieven und deine Seele mit Rat und Ansporn zu erquicken, kannst du die CD nicht finden, die du suchst. Und das nur, weil dein Exmann – dein sehr bald schon Exmann – sie eingepackt hat und du ihn nicht danach fragen kannst, weil du weißt, dass das wahrscheinlich nicht sehr weit oben auf der Liste seiner dringlichsten Angelegenheiten steht. Ich lag bäuchlings auf dem Boden und tastete unter die Regalwand, in der wir früher – früher – unsere CDs aufbewahrten. Wo zum Henker war sie? Warum bitte hätte er die KT Tunstall CD einpacken sollen? KT Bumsstall, wie er sie nannte.
Als meine Freundinnen unter dem Gewicht der Umzugskartons schwankend zurück ins Zimmer kamen, fanden sie mich immer noch auf dem Boden liegend vor, heulend und bei dem Versuch, meine eigene erquickliche Hintergrundmelodie zu summen, während meine Stimme unter Tränen, Staub und dem Zwei-Flaschen-Chardonnay-Kater des Vorabends langsam, aber sicher erstickte.
»Rachel, was ist passiert? Hast du noch eine Socke von ihm gefunden? Hast du dir das Lied eures Hochzeitstanzes angehört?« Emma kam herübergeeilt und drückte auf dem Weg quer durchs Zimmer Cynthia ihren Karton in die Arme.
»Vorsicht, Emma! Da ist der Le-Creuset-Schmortopf drin. Willst du mich zum Krüppel machen?«
»KT …«, brabbelte ich. »Kann sie nicht finden … Brauche das Lied!«
»Welches Lied?«
»Das eine!« In den Untiefen meiner Trauer konnte ich mich nicht mehr an den Titel erinnern. »Das Lied zum Umstyling-Zusammenschnitt aus Der Teufel trägt Prada. Ihr wisst schon, das eine, das so geht – du, du, du-du, du-du-du. Ich brauche es! Damit ich in schicken Schuhen und hübschen Klamotten herumspazieren kann, obwohl meine Chefin gemein zu mir ist. Und dann wird alles gut!«
Emma und Cynthia wechselten einen bedeutungsvollen Blick, dann zog Cynthia ihr iPhone hervor und drückte darauf herum. »Meinst du das hier?«
Suddenly I see begann etwas blechern aus dem Telefon zu plärren.
Ich weinte immer noch. »Das hier ist der Tiefpunkt! Ich muss dieses Lied hören, um mich danach besser zu fühlen und in meinen High Heels herumzustolzieren, versteht ihr?«
»Du trägst doch überhaupt keine High Heels, Süße«, sagte Cynthia sanft. »Du sagst immer, das seien Werkzeuge des patriarchalen Systems zur Unterdrückung der Frau, erinnerst du dich?«
Meine Füße steckten in schlammverkrusteten lila Gummistiefeln, in die ich geschlüpft war, um einige der Pflanzen auszugraben, die ich im Garten gepflanzt hatte, weil ich gedacht hatte, ich könnte sie in eine Kiste packen und mitnehmen. Das war allerdings, bevor ich realisierte, dass die Idee vollkommen bescheuert war, da ich weder über einen Platz zum Leben, geschweige denn einen Garten verfügte. Das ist es nämlich, was geschieht, wenn man sich scheiden lässt: Man wird verrückt. Ich schluchzte laut auf. »Ich weiß, ich habe nicht einmal High Heels! Alles ist so unglaublich schrecklich!«
Emma und Cynthia verständigten sich in Form eines kurzen Augenverdrehens, dann rief Emma mir in ihrer Wir-haben’s-mit-einer-Gestörten-zu-tun-Stimme zu: »Schau her! Wir stolzieren für dich herum, Liebes!« Und dann marschierten sie auf dem nackten Dielenboden meines schon bald Exwohnzimmers auf und ab, Emma in vernünftigen Laufschuhen und Cynthia in teuren braunen, kniehohen Stiefeln.
Wir hatten diverse kleine Veränderungen in Emmas Charakter bemerkt, seit sie Grundschullehrerin geworden war: erstens, eine exponentielle Zunahme an Rechthaberei; zweitens, die Gewohnheit uns zu fragen, ob wir noch mal aufs Klo müssten, bevor wir irgendwohin gingen; und drittens, den vollkommenen Verlust jedweden körperlichen Schamgefühls. Nun tänzelte sie über den Boden, in Begleitung einer augenrollenden Cynthia, die tapfer mit ihren langen Gliedmaßen herumwedelte, allerdings anhielt, als das Lied verstummte und dafür ihr Telefon klingelte. »Cynthia Eagleton. Um Himmels willen, nein! Ich habe doch gesagt, du sollst sie endlich rausschicken. Hör mal, Barry, das ist eine ernste Sache … Was meinst du damit, das ist nicht dein Name? Egal, ich werde dich Barry nennen. Kannst du denn nichts selbst erledigen? Wie schaffst du es überhaupt morgens aus dem Bett? Mach es einfach.« Seufzend legte sie auf. »Ich schwöre euch, es ist das reinste Wunder, dass dieser Junge sich alleine die Nase putzen kann.«
»War es schwer, den Tag freizubekommen?«, fragte ich matt.
»Ihr kennt doch den Film Gesprengte Ketten? Tja, nur so schwer wie für Richard Attenborough und seine Kumpanen, aus diesem Strafgefangenenlager auszubrechen. Aber mach dir keine Sorgen, Süße. Ich bin hier, um zu helfen. Barry, oder wie auch immer er heißt, wird einfach lernen müssen, sich die Schnürsenkel selbst zu binden.«
Cynthia musste mit vielen Dingen in ihrem Leben fertigwerden. Und zwar nicht nur mit der Tatsache, dass ihre Mum es für angemessen gehalten hatte, sie Cynthia zu nennen – der Letzte Wille irgendeiner Großtante war ebenfalls daran beteiligt gewesen –, sondern auch mit der Tatsache, dass sie zehn Jahre älter war als ihre Geschwister und das einzige der Kinder, das von der ersten Liebe ihrer Mutter gezeugt worden war; einem Typen, der nach Jamaika abgeschoben wurde, noch bevor Cynthia das Licht der Welt erblickte. Aber sie hatte sich durchgebissen, inzwischen einen juristischen Spitzenjob, säte Angst und Schrecken bei ihren Kollegen, und sie hatte wirklich tolle Haare.
Emma schenkte mir ein sanftes Lächeln. »Es ist gut, dass du dir dieses Lied anhören willst, weißt du. Heißt das, du bist mit dem ganzen R.E.M.-Zeug durch? Sechzehn Interpretationen von Everybody Hurts in Folge?«
»Weiß nicht«, nuschelte ich in Richtung Fußboden.
»Ist eigentlich auch egal. Ich habe die CD im Garten vergraben, und ich werde dir ganz sicher nicht verraten, wo.«
»Oh.«
»Stehst du jetzt endlich vom Boden auf?«
»Ich weiß nicht.«
»Komm schon, du Schnecke. Du kriegst auch einen Aufkleber von mir.«
Da war ich also, Rachel Kenny, dreißig Jahre alt, unmittelbar vor der Scheidung, und musste von meinen Holzdielenböden, meinen Hortensien und Windspielen im Garten und meinem freigelegten gemauerten Kamin weggezerrt werden. All jene Dinge, die ich kaum eines Blickes gewürdigt, und trotzdem jeden Tag gesehen hatte, und die deswegen irgendwie zu mir gehörten. Meine Vorderseite war voller Staub vom Fußboden. Ich trug einen alten Collegepulli, teils, weil alles andere schon eingepackt war, und teils, weil ich ihn besessen hatte, bevor ich Dan traf, und hoffte, mich damit auf den damaligen Stand meiner Persönlichkeit zurücksetzen zu können. Das war die Art verquerer Logik, nach der ich momentan funktionierte. Dinge, die an einer Scheidung zum Kotzen sind, Nummer sieben: Du drehst komplett am Rad.
Endlich, nach zweimaligem Umkehren zum Haus, wegen Dingen, die ich vergessen hatte und die mir in dem Moment unglaublich wichtig erschienen (Haarbürste, Muffinbackblech, Wischmopp), saßen wir in dem Transporter, den Emma gemietet hatte.
»Fertig?«, fragte Cynthia an mich gewandt, während sie es sich auf dem breiten Fahrersitz bequem machte.
»Ich weiß nicht. Es ist … Mein ganzes Leben war da drin. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.«
Sie drückte meinen Arm mit ihrer manikürten Hand. »Ich weiß, Süße. Aber wie sagt dein Vater immer?«
»Äh … Glücksrad ist nicht mehr dasselbe, seit Maren ausgestiegen ist?«
»Nein, ich meine das andere: Wenn du nicht zurückkannst, musst du eben vorwärtsgehen.«
Ich sah zum Haus. Dan würde erst später wiederkommen. Ich wusste nicht einmal, wo er untergekommen war, während ich meine Sachen packte. So weit war es also mit uns gekommen. »Findest du, ich sollte ihm eine Nachricht hinterlassen? Ich meine, ich kann doch nicht einfach so … gehen. Das kann nicht unser letztes Gespräch gewesen sein. Wir waren zehn Jahre zusammen!«
Wieder tauschten meine beiden besten Freundinnen einen Blick. »Wir haben doch schon darüber gesprochen, Rachel«, sagte Emma behutsam. »Ich weiß, dass es schwer ist, aber es muss einfach so sein.«
Wir fuhren los. Das Haus entfernte sich im Rückspiegel, bis es nur noch die Größe eines Legohäuschens hatte; bis ich beinahe das Gefühl hatte, ich könnte es aufheben und in die Tasche meines Kapuzenpullis stecken, doch da konnte ich es ohnehin nicht mehr sehen, weil mir die Tränen in die Augen stiegen, überquollen und auf meine staubbedeckte Brust tropften.
Emma reichte mir ein geblümtes Taschentuch, und Cynthia tätschelte mir die Hand, während sie die schicken Muttis in ihren protzigen Jeeps schnitt, die ihre Kinder von der Schule abholten.
Ich schloss die Augen. Dinge, die an einer Scheidung zum Kotzen sind, Nummer neun: Aus dem Zuhause ausziehen zu müssen, das du dir jahrelang aufgebaut hast, ohne einen anderen Ort, der auf dich wartet. Und auf halbem Weg auf der Autobahn fällt dir ein, dass du die KT Tunstall CD im Auto liegen gelassen hast, das ebenfalls nicht mehr deins ist, genauso wie der Rest deines Lebens.
Eine Liste der Dinge, die du findest, wenn du ausziehst
1. Eine Schachtel mit einem Durcheinander von Kabeln und Steckern, wovon kein einziger zu irgendeinem Gerät zu passen scheint, das du im Haus hast.
2. Eine kleine Schale voller Schrauben, wovon keine einzige zu irgendeinem deiner Möbelstücke zu passen scheint; was wiederum zu der Sorge führt, dass dein Esstisch eines Tages inmitten eines piekfeinen, kultivierten Brunchs zusammenbrechen könnte.
3. Einen einsamen Flipflop.
4. Ein Exemplar der Gelben Seiten, das nie aus seiner Plastikfolie genommen wurde, das du aber »nur für den Fall« behältst (womöglich für den Fall, dass ein Atomkrieg die komplette Telekommunikation lahmlegt, du aber trotzdem unbedingt eine Pizza bestellen musst).
5. Staub. Unmengen von Staub.
Auf dem Weg von Surrey nach London brach ich vier Mal in Tränen aus. Das erste Mal an einer Tankstelle, während Emma an der Zapfsäule stand (Cynthia wollte keinesfalls Benzinflecken auf ihre grünen Lederhandschuhe bekommen). Dan und ich waren nach unserer Hochzeit viel unterwegs gewesen und hatten uns einen Wagen gekauft, einen vierzehn Jahre alten Mini Cooper. Damals, als wir uns noch was zu sagen hatten. Wir kauften uns die schlimmste Compilation-CD, die wir in einer Tanke finden konnten – Siebzig Valentinstags-Rocker! Die fünfzig schönsten Straßenmelodien! –, sangen während der Fahrt laut mit und knabberten Chips, wobei unsere Hände sich in der fettverschmierten Tüte berührten. Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich nun für den Rest meines Lebens jedes Mal in Trauer versinken würde, wenn ich eine Tankstelle betrat. Kurz aussteigen, um mir ein Twix zu holen, könnte so ganz schön problematisch werden.
Eine tolle Sache am Heulen ist, dass es eine ziemlich praktische Art ist, die Zeit totzuschlagen, zumindest wenn einem Dehydration und das Glotzen der Leute nichts ausmachen. So verging die Fahrt für mich in einer verschwommenen Blase aus Autobahnen, gehicksten Schluchzern und Liebesliedern auf Mellow Magic FM, und im Nu waren wir vor Cynthias in Chiswick gelegenem Palast angelangt. Das Haus verfügte über drei Stockwerke und sogar einen Garten, in dem man gleich mehrere Schweine hätte halten können.
Wir hatten angehalten. Die Mädels sahen mich besorgt an. Ich wischte mir übers Gesicht und fühlte mich wie einer dieser Kriminellen, die in eine Decke gewickelt aus dem Gerichtsgebäude geführt werden muss. Rachel Kenny, Sie haben Ihre Ehe vermasselt! Obwohl Sie drei Le-Creuset-Töpfe und eine Festzinshypothek hatten! Das Gericht befindet Sie für schuldig, eine komplette Vollidiotin zu sein!
»Komm schon, Süße«, sagte Cynthia. »Lass uns dich ins Bett bringen.«
»Ich bin kein Baby, ja?«
»Witzig«, sagte Emma, »denn mit all dem Geheule und Gerotze fühlt es sich eigentlich ziemlich so an.«
Ich schluckte. »Wenigstens habe ich noch meine Blase unter Kontrolle. Nicht so wie du damals nach dem ganzen Wodka Red Bull.«
Emma lächelte und tätschelte meine Hand. »Das ist mein Mädchen. Lass dich bloß nicht unterkriegen.«
Cynthia hatte ein Gästezimmer mit einem Bett mit weichen weißen Laken und einer Wasserkaraffe auf dem Nachttisch, dazu noch geheimnisvolle Dinge wie Kommoden und Läufer, die ich lediglich aus Designereinrichtungszeitschriften kannte. Nachdem ich unter die Decke geschlüpft war – völlig zerschlagen, meine gesamten Habseligkeiten in irgendwelchen Kartons und mit keinem blassen Schimmer, wo meine Zahnbürste sein könnte –, piepte mein Handy. Dan? Mein Herz vollführte eine Art Purzelbaum samt anschließendem Sturzflug – Schuldgefühle und Traurigkeit und noch irgendwas anderes, ich spürte alles gleichzeitig. Aber nein, natürlich war es nicht Dan. Ich bezweifelte, dass er sich je wieder bei mir melden würde. Es war Emma, die wissen wollte, ob es mir gut ging. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also schrieb ich stattdessen imaginäre SMS an Dan und tat so, als würde er noch mit mir reden und wäre gewillt zu hören, was ich zu sagen hatte.
Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid. Bitte, lass mich nach Hause zurückkehren.
Ich vermisse dich.
Ich schaffe das hier nicht allein.
Ich schickte sie nicht ab, und den Rest der Nacht blieb mein Telefon so still und dunkel wie die R.E.M. CD, die nun irgendwo unter meinen Blumenbeeten – Exblumenbeeten – vergraben war, in einem Garten, den ich wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Ich dachte daran, was Dan mir zwei Jahre zuvor gesagt hatte: Ich werde dich nie verlassen, Rachel, das verspreche ich dir. Ja, klar, von wegen. Aber andererseits hatte genau genommen keiner von uns beiden die Versprechen gehalten, die wir uns an jenem Tag gegeben hatten.
2. Kapitel
Als ich in Cynthias Gästezimmer zwischen weißen Baumwolllaken und künstlich gealterten Holzmöbeln im Shabby-Chic-Stil aufwachte (Warum überhaupt schäbig? Sie stehen immerhin in einem reizenden Haus in Chiswick. Ich habe den Ausdruck noch nie verstanden), wusste ich für einen Moment nicht, wo ich mich befand. War ich bei einem luxuriösen Bettenausstatter eingeschlafen? Dann, mit einem Mal, kam alles zurück, und ich spürte, wie die ersten Tränen des Tages in den Augenwinkeln lauerten. Die konnte ich heute nicht gebrauchen. Heute musste ich eine neue Bleibe finden. Ich machte mich im angrenzenden Badezimmer mit der Regendusche und der viktorianischen Badewanne mit Klauenfüßen frisch und schlüpfte in Jeans und Chucks. Dann bürstete ich mir die Haare, um wenigstens einigermaßen wie ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft auszusehen, was mir unter normalen Umständen schon schwer genug fiel.
Cynthia saß am hell gebeizten Esstisch und hatte eine Ausgabe des Sunday Telegraph vor sich liegen – sie hatte einen Tory, einen waschechten Konservativen, geheiratet; selbst deinen liebsten Freunden kann so etwas passieren – und Croissants und Kaffee danebenstehen. Im Gegensatz zu dem Bild, das ich an einem Sonntagmorgen in meiner Küche bieten würde – mit zahnpastaverkrustetem Pyjama und Butter im Haar –, steckte sie in einem grauen Wollkleid und genauso teuren, kniehohen Stiefeln.
»Da bist du ja. Und, bereit für den ersten Tag vom Rest deines Lebens?«
»Ich dachte, der wäre gestern gewesen?«
»Nein, das war der letzte Tag von … einem etwas anderen Teil deines Lebens.«
»Sehr überzeugend.«
»Croissant? Bagel? Rührei? Toast?« Cynthia war einer dieser Menschen, die einen als Gastgeber zu Tode verwöhnen würden, wenn man sie ließe.
»Croissants wären toll, danke. Hast du Tee da?« Es war auf eine tragische Weise uncool, aber ich hatte mir nie angewöhnen können, Kaffee zu mögen.
Cynthia fand ein paar schamhaft versteckte Teebeutel in einem der Küchenschränke, die sie so weit von sich gestreckt hielt, als handelte es sich dabei um Giftmüll oder wenigstens eine Lidl-Einkaufstüte. »Die müssen der Putzhilfe gehören.«
Natürlich hatten sie eine Putzhilfe.
Sie rüstete mich mit Tee, Croissants, Konfitüre und Teilen der Zeitung aus. »Wovon möchtest du dich am liebsten in Depressionen stürzen lassen? Dem stagnierenden Immobilienmarkt, den steigenden Preisen für Skiurlaube oder den Gefahren unkontrollierter Einwanderung?«
»Ich nehme die Einwanderung. Weißt du, du solltest sie dazu bringen, dich zu interviewen. Junge konservative Toryanhängerin und Juristin mit einem schwarzen illegalen Immigranten als Vater. Sie würden an ihrem Teegebäck ersticken.« Oje, vielleicht hätte ich ihren Dad nicht erwähnen sollen.
Doch Cynthia erwiderte nur: »Ich bin keine Tory, ich habe nur einen geheiratet. Das kann jedem passieren.«
»Wo wir schon dabei sind, wo ist Rich?« Man konnte leicht vergessen, dass noch jemand anders in diesem Palast aus Weiß und Sisal lebte, Rich war fast nie da.
»Ist ins Büro gefahren.«
»Am Sonntag?« Natürlich war er im Büro. Ich hätte nicht fragen sollen. Es mochte sein, dass ich viel ärmer war als die meisten meiner Freunde – wenn wir die UN wären, wäre ich wohl so was wie der Jemen –, aber wenigstens konnte ich im Bett liegen und herumlümmeln, wann immer mir danach war. Das war unbezahlbar.
Ich las gerade einen Artikel über Immobilienpreise, als ich spürte, wie sich erneut die Düsternis über mich senkte. »Ich werde nie wieder auf dem Siegertreppchen der Hauseigentümer stehen. Hier steht eine Schuhschachtel zum Verkauf für schlappe hunderttausend Pfund. Angeblich ist es ein ›Kleinod‹, sehr ›kompakt‹ und aus ›umweltfreundlichen Baustoffen‹.«
»Du bist doch nicht ganz vom Siegertreppchen runter. Du bist dir nur mal kurz die Füße vertreten gegangen, das ist alles.«
»Wohl eher gestürzt.«
»Frank ist mal die Treppe runtergefallen und hat sich das Bein an drei Stellen gebrochen.«
Klang ganz nach mir, überlegte ich finster. Mit Karacho zurück auf die Erde gekracht, während alle anderen über mir weiter das verdammte Treppchen hochkraxelten. Es war wieder genauso wie damals beim Geräteturnen im Sportunterricht.
»Wie geht es Frank und deiner Mum?«
»Gut. Sie überlegen, sich einem Wohnwagenverein anzuschließen, so wird es auch richtig schön peinlich für Richs Eltern, wenn sie uns an Weihnachten besuchen kommen. Die denken, Wohnwagen sind was für Stallknechte und New-Age-Urlauber.«
Wieder fragte ich mich, wie es Cynthia damit ging, dass ihr leiblicher Vater nie versucht hatte, sie zu kontaktieren. Ich kannte sie so lange wie Emma. Wir drei hatten uns im ersten Semester an der Universität von Bristol kennengelernt, wo wir uns sofort zusammenschlossen, um einen Schutzwall gegen die Töchter aus gutem Haus mit ihren weizenblonden Haaren und Skianzügen und Bindestrich-Vornamen zu bilden. Doch manchmal hatte ich trotzdem immer noch keinen blassen Schimmer, was sie über bestimmte Dinge dachte.
»Du begibst dich heute also auf Wohnungssuche?«, fragte sie.
»Würg! Ja, was für ein Albtraum.«
»Du kannst hierbleiben, solange du willst, das weißt du doch?«
»Danke, aber ich glaube, ich und meine Sinnkrise brauchen etwas Raum für uns.«
Nachdem Cynthia mich mit ihrem BMW an der nächsten U-Bahn Haltestelle abgesetzt und hilfreich darauf hingewiesen hatte, wo sich noch Croissantkrümel in meinem Haaren versteckten, machte ich mich auf zu meiner ersten Besichtigung.
Zwei Jahre zuvor, als wir uns noch zu unseren guten Lebensentscheidungen gratulierten – heiraten, fünf Einheiten Obst und Gemüse pro Tag essen, eine private Rentenversicherung abschließen –, hatten Dan und ich uns eine Doppelhaushälfte in einem Vorort gekauft. Nichts Großes, aber mit zwei Schlafzimmern, einem Badezimmer, das keine neuartige Schimmelspezies ausbrütete, und einem kleinen Fleckchen Wiese, von dem wir ganz gerührt dachten, dass unsere Kinder irgendwann darauf herumtollen würden, mit unserem Border Collie oder Golden Retriever. So weit waren wir nicht gekommen. Und wenn ich jetzt an einige der Orte zurückdachte, an denen ich davor gelebt hatte, graute es mir vor der Wohnungssuche. Ich dachte immer, ich wäre ein recht positiver Mensch. Ich meine, das war ich nicht, überhaupt nicht, aber ich dachte es gerne. Und ich versuchte, das zu versprühen, was meine buddhistische Freundin Sunita ein »kosmisches Ja zum Universum« nannte. Einen Tag mit Wohnungssuche in London zu verbringen reichte jedoch, um ein gigantisches »Nein, nein, zur Hölle, nein« ins Universum zu schleudern, ins Bett zurückzukriechen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und darüber nachzudenken, dass man sich eigentlich kein Bett leisten konnte, nicht einmal eine Decke.
Mein Tag verlief in etwa so: Das »sonnige Studio« in Sydenham entpuppte sich als Einzelzimmer mit Einzelbett in einer Wohngemeinschaft aus fünf Personen, von denen mir ein Kerl das Zimmer zeigte und dabei lediglich einen Feinrippschlüpfer mit Eingriff und ein T-Shirt mit einem witzigen Frauenschänderspruch trug. »Du findest Partys doch okay, oder? Eine unserer Regeln lautet aber, dass jeder … na ja, seinen eigenen Marihuanavorrat hat. Ist einfach entspannter so.«
Nein.
Das »ruhige Mansardenzimmer« in Blackheath bestand aus einem schmalen Bett in der Erkernische des Wohnzimmers einer älteren Dame.
»Es gibt keine Tür?«, fragte ich und quetschte mich zum Fenster durch. Dies war definitiv der Ort, an den sich das Licht zum Sterben zurückzog, und es roch sehr streng nach Katzenpisse.
»Ach nein. Die Kleinen mögen es nicht, ausgesperrt zu werden.« Sie sagte das mit einem Gurren in Richtung einer der drei Katzen, die ich bisher entdeckt hatte. Einem schwarzen Kater mit einer Narbe über dem einen und einem heimtückischen Funkeln im anderen Auge. Der Bettüberwurf war aus etwa vierzig Jahre altem Chintz, und während die Dame mich herumführte, sprang eine andere, orangefarbene Katze von der Garderobe und zog dabei mit ihren Krallen über meinen Nacken. »Oh, er mag Sie!«
Nein.
Das »attraktive Zimmer in modernem Apartment mit Londoner Geschäftsmann« in den Docklands stellte sich als angenehmer Ort heraus, wenn auch mit ein bisschen zu viel »Chrom und Leder sind die einzigen dekorativen Materialien, nicht?« für meinen Geschmack. Dafür wurde ich mit einem geschätzten Abstand von drei Zentimetern von Mike, dem Wohnungsbesitzer, herumgeführt, der mir mindestens fünfmal versicherte, dass er das Geld nicht brauchte, weil er ja in der City einen ordentlichen Haufen Kohle verdiente, aber er gerne ein bisschen »weibliche Gesellschaft« um sich hätte.
Nein.
Das »zickenfreie Zusammenleben mit witziger Mitbewohnerin« entpuppte sich als das zum Schlafzimmer umfunktionierte Wohnzimmer von Mary aus Camden, die mir eine Liste mit den Hausregeln überreichte, kaum dass ich eingetreten war. Die erste lautete: Zieh deine Schuhe aus, wenn du reinkommst, und zieh dir die speziellen, mit Katzenköpfchen verzierten Pantoffeln über.
Nein, nein, zur Hölle noch mal, nein!
Eine Liste der Dinge, die an der Wohnungssuche zum Kotzen sind
1. Die Kosten: herauszufinden, dass du dreihundert Pfund Gebühr dafür zahlen musst, herumgeführt zu werden; zusätzlich zu dem Heidengeld an Miete, das du jeden Monat für ein feuchtes Zimmer berappen musst.
2. Die Lügen: Im Immobilienmakler-Jargon heißt »bezaubernd« lediglich »nur einen Schritt von der Gosse entfernt«, »einfach« bedeutet »nicht viel mehr als eine Schuhschachtel« und »ordentlich« so viel wie »du kannst die gegenüberliegenden Wände gleichzeitig berühren«. Die Hälfte der Wohnungen sind schon vermietet, und niemand taucht auf, nachdem man im Regen quer durch London marschiert ist, und das in Schuhen, die praktisch schon auseinanderfallen.
3. Die Neugierde: Wenn du allein etwas anmieten willst, werden sie dich fragen, warum du umziehen musst (ja, danke fürs Salz-in-die-Wunde-Streuen, Mr. Foxtons) und mit was du dein Geld verdienst. Rein formell bin ich nicht gerade die beste Anwärterin – ich bin arbeitslos und stecke mitten in einer Scheidung. Ich brauche ernsthaft einen Wisch von meiner Mum, in dem sie sich dafür verbürgt, dass ich mich ordentlich benehme und das Mobiliar nicht zu einem Nest anordnen werde wie die Leute bei Das Messie-Team – Start in ein neues Leben.
4. Dich zu fragen, ob die seltsamen Gerüche/Flecken in den Wohnungen, die du besichtigst, einfach nur bedeuten, dass dir die Schauplätze der Ganglands-Schießereien gezeigt werden, oder ob sie allesamt über uralten indianischen Begräbnisstätten erbaut wurden.
5. Ziemlich vergleichbar mit Onlinedating, dieses schleichende Gefühl der allmählich sinkenden Hoffnungen und Ansprüche. »Na ja, ich denke, ich könnte schon hier draußen leben … in einem Schuppen … Und ja, ich schätze, es ist wirklich praktisch, dass man den Kühlschrank vom Bett aus öffnen kann …«
Das Einzige, was die Wohnungssuche erträglich machte, war, mir vorzustellen, ich würde nach Locations für ein neues krasses Fernsehformat suchen, wo Leute in den schäbigsten aller Wohnungen ermordet wurden – CSI: Croydon. Ich stöpselte meine Kopfhörer ein, während ich die Straße entlangtrottete und mich fragte, was Beyoncé in meiner Situation tun würde. Eine Frage, über die ich in stressigen Momenten häufig nachsann. Vermutlich würde sie einen Privathelikopter chartern und zu einer ihrer Villen fliegen, das nutzte mir momentan also nicht viel.
In dem Versuch mich mit Tee und einem Florentiner aufzumuntern, setzte ich mich in ein Café in Kentish Town. Dann kam die Rechnung über fünf Pfund, und mir wurde klar, dass ich mir bald womöglich überhaupt keine Cafébesuche mehr leisten könnte. Ich würde einer dieser Menschen werden, die Pullis strickten und ständig ihre selbst belegten, in Alufolie eingepackten Sandwiches mit sich rumtrugen wie in der Schule. Es war wirklich deprimierend zu realisieren, dass man in der Hackordnung kein bisschen höher stand als im Alter von sieben Jahren.
Ich blätterte auf dem Smartphone die Immobilienseiten durch auf der Suche nach einem Apartment, das unter siebenhundert Pfund lag und trotzdem nicht so aussah, als gäbe es dort Flöhe, Schimmel oder schmierige Vermieter. Konnte ich mir vorstellen, in Catford zu leben? Lag das überhaupt noch in London? Würde ich angesichts der Tatsache, dass ich zurzeit von zu Hause arbeitete, eine riesige WG verkraften? Und könnte ich alternativ in einem winzigen Studio wohnen und arbeiten, in dem sich die Kühlschranktür nicht öffnen ließ, ohne dass man das Bett verschob? Könnte ich meine Selbstständigkeit wieder so weit vorantreiben, dass ich tatsächlich was damit verdiente? Ich begann damit, Berechnungen auf die Serviette zu kritzeln, aber das war eindeutig zu beängstigend, also bestellte ich stattdessen einen weiteren Florentiner, nur um mir sofort wieder Sorgen um Geld und Kalorien und die Tatsache zu machen, mit dreißig wieder Single zu sein. Nein, nicht nur Single. Geschieden! Und da waren sie wieder, die ziemlich schrecklichen Gedanken – Du solltest Dan anrufen und ihn anflehen, dich zurückzunehmen. Du kannst dir das nicht leisten, du kannst das nicht allein schaffen –, als mein Handy klingelte.
Emma. »Bist du gerade beschäftigt?«
»Nein. Ich meditiere nur über den Scherben meines Lebens.«
»Oje, läuft es nicht gut?«
»Um es mal so auszudrücken, die einzige Person mit noch mehr Pech bei der Suche nach einer Bleibe ist wahrscheinlich Schneewittchen. Ich habe die meisten der sieben Zwerge heute kennengelernt. Grummel, Pimmel, Haschi …«
»Erklär mir doch noch mal, warum du überhaupt ausziehen musstest? Es war auch dein Haus, und schließlich war er es, der …«
»Ich kann mir die Hypothek alleine nicht leisten. Und du weißt, dass es für meine Arbeit besser ist, wenn ich in London wohne.« Arbeit, die ich überhaupt noch nicht hatte. Aber darüber dachte ich lieber gar nicht erst nach.
»Tja, check mal deine E-Mails. Ich habe dir gerade eben was geschickt.«
»Okay, lass mich kurz mein Handy rausholen.
Pause.
»Du bist an deinem Handy, Rachel.«
»Ach, stimmt ja. Was hast du mir geschickt?«
»Eine absolut großartige WG in Hampstead, ein hübsches Haus mit Garten, aber das Beste ist, es ist umsonst!«
»Was? Wie soll das gehen?« Ich musste wieder an Mike, den »Londoner Geschäftsmann«, denken.
»Es ist ein bisschen Hausarbeit und Haustiersitting dabei.«
»Haustiere?«, fragte ich argwöhnisch, wobei ich an das Katzenhaus dachte, das ironischerweise nicht in Catford gelegen hatte.
»Ja, ein Hund.«
»Oh mein Gott!«
»Ich weiß. Ruf sofort da an! Ich meine, sobald ich aufgelegt habe.« Manchmal fragte ich mich, ob meine Freundinnen mich für eine komplette Idiotin hielten.
»Danke schön. Aber bist du dir auch sicher, dass es keine Mädchenhändlermasche ist?«
»Da kann man sich nie ganz sicher sein.«
»Aha.«
»Ich habe die Adresse, nur für den Fall.«
»Danke.«
»Ich kann die Liederhefte für deine Beerdigung selbst basteln. Ich habe gerade eine neue Heißklebepistole gekauft.«
»Ich muss jetzt los! Tschüss!«
Ich legte auf und wartete, bis die E-Mail geladen war. Ich spürte ein aufgeregtes Flattern im Magen. Wenn man erst die Dreißig erreicht hatte, bescherten einem Immobilienseiten dasselbe Gefühl wie Datingportale in den Zwanzigern. Nicht dass ich jemals auf einer angemeldet gewesen wäre … Das Haus war wunderschön – drei Stockwerke aus rotem Backstein von Bäumen umgeben, und es gab sogar ein Erkertürmchen. Oh mein Gott! Ich las weiter. Fußbodenheizung, Zimmer mit eigenem Bad, eine riesige Küche mit Geschirrspülmaschine. Einige der Apartments, die ich mir angesehen hatte, verfügten nicht mal über eine Waschmaschine. Wo war der Haken? Wie ich aus meinen bisherigen Erfahrungen mit der Wohnungssuche gelernt hatte, gab es immer einen. Unter Mietpreis stand »entfällt«. Konnte das wirklich sein? Ich sah auf die angegebene Nummer, und bevor ich richtig darüber nachgedacht hatte, hatte ich sie auch schon gewählt. Immerhin war ich nur zehn Minuten von Hampstead entfernt.
Die Mailbox sprang an. Eine Männerstimme, tief und abgehackt. Irgendwie vornehm. »Hier Patrick Gillan. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Anrufbeantworter waren mein persönlicher Erzfeind. Cynthia erzählte immer noch gerne, wie ich sie das eine Mal bei der Arbeit anrief, um ihr zu sagen, dass ich billige Flüge in die USA gefunden hatte, und wie ich damit endete, Hotel California in die Leitung zu plärren, während ihr gesamtes Büro auf Lautsprecher mithörte.
»Ähm … Hi. Ich habe Ihre Anzeige gelesen. Ich bin auf der Suche nach einem Zimmer. Momentan habe ich nicht besonders viel Geld …« Oh nein, das hätte ich nicht erwähnen dürfen. Es war genauso wie mit Jobs und Dates, die einzige Art und Weise, ein Zimmer zu bekommen, war, so zu tun, als ob man es gar nicht bräuchte. »Ähm … Ich meine, ich habe vor umzuziehen und bin überaus interessiert an Ihrem Zimmer. Ich würde es sehr gerne baldmöglichst besichtigen. Ähm … Ich bin gerade in der Nähe. Rufen Sie mich an. Oh … äh, hier ist Rachel.«
Ich legte auf. Klassisch bescheuerte Mailboxnachricht. Ich hatte es geschafft, gleichzeitig gestört, überspannt und bedürftig zu klingen. Ich bezahlte an der Theke und trat in den Nieselregen hinaus, wo mir prompt ein knallroter im Regen glänzender Bus mit der Aufschrift Hampstead entgegenkam. Ich habe schon Leute sagen hören, sie hätten Momente erlebt, in denen sie das Gefühl gehabt hatten, dass ihnen das Schicksal höchstpersönlich auf die Schulter getippt und »Bitte, da lang« gesagt hatte. So wie einer dieser Touriführer mit den kleinen Fähnchen, die von chinesischen Urlaubern in gleichen Regenmänteln verfolgt wurden. Mir war das noch nie passiert. Und selbst wenn ich der Aufforderung jemals gefolgt wäre, wäre ich spätestens auf der Nordlinie in der U-Bahn stecken geblieben, und das Schicksal hätte sich zu einem anderen Termin aufgemacht. Aber an diesem Tag dachte ich: Scheiß drauf! Ich stecke mitten in einer Scheidung, ich habe nichts Besseres zu tun, und der Bus steht direkt vor mir. Also stieg ich ein. Und zehn Minuten später erwischte ich mich dabei, wie ich an der Tür zu Patrick Gillans Haus läutete.