DIE AUTORIN
Foto: © Georgette Aranow
Kim Culbertson hat bereits mehrere preisgekrönte Jugendromane verfasst. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Kalifornien, wo sie Englisch und Schreiben unterrichtet. Sternengewitter war ihr erstes Buch, das auf Deutsch erschien.
Von der Autorin ist außerdem bei cbt erschienen:
Sternengewitter
Aus dem amerikanischen Englisch
von Clara Mihr
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe November 2016
© 2016 by Kim Culbertson
Die Originalausgabe erschien unter
dem Titel The Possibility of Now bei Point, einem Imprint von Scholastic Inc.
Published by arrangement with Kimberly A. Culbertson Sagebiel.
© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Clara Mihr.
Lektorat: Christina Neiske
Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin
Umschlagmotive: Shutterstock (David Pereiras,
Ksana_uk, Fesus Robert)
MI · Herstellung: AnG
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-17892-5
V001
www.cbt-buecher.de
Für die weisen Jedi-Feen-Dixons,
das beste Ski-Team, das man sich wünschen kann –
danke, dass ihr mich immer wieder daran erinnert,
innezuhalten und das Alpenglühen zu genießen.
Und für Melissa Sarver White und Jody Corbett,
die Mara geholfen haben, ihren Weg zu finden.
Kapitel Eins
Ich schreibe Listen, um zu überleben. Damit bin ich nicht allein. Egal, was man googelt, es ist immer eine Liste unter den Treffern. Einmal habe ich nach »Warum machen Leute Listen?« gesucht. Abgesehen von 127 Gründen, warum wir Listen lieben, bin ich dabei auf noch mehr Listen gestoßen: 11 ungewöhnliche Verwendungszwecke für eine Büroklammer. 15 misslungene Heiratsanträge. 23 Orte, die man im Leben gesehen haben muss.
Wann haben die Menschen damit angefangen? Vielleicht hat vor langer Zeit ein zotteliger Höhlenmensch in einer dunklen Höhle Mammut töten, Feuer machen, aufrecht gehen in die Wand geritzt.
Anscheinend stehen wir darauf. Und nach dem, was mir passiert ist, brauche ich meine Listen mehr denn je.
»Worüber denkst du nach?« Moms Augen huschen zu mir und dann zurück auf die Straße vor uns.
»Nichts.« Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her und starre aus dem Fenster in die beigefarbene Landschaft Kaliforniens entlang der Interstate 5.
Ungefähr alle 80 Kilometer fragt Mom mich auf eine andere Art und Weise, ob sie umdrehen, nach Hause fahren und wir das Ganze vergessen sollen. Ich erzähle ihr jedes Mal eine neue Version von ich will das, fahr weiter, ich habe einen Plan und beobachte dabei, wie die Landschaft vor dem Fenster sich immer stärker von den hellen Erdtönen unterscheidet, die wir in San Diego zurückgelassen haben.
Ach was, Plan – ich habe eine Liste! Und ich liebe Listen. Diese hier ist nur anders als die Listen, die ich sonst gemacht habe.
Wir fahren Richtung Norden, die I-5 entlang, bis wir irgendwann die Autobahnen erreichen, die uns durch den dichten Tahoe Forest und dann weiter nach Squaw Valley führen.
Zu Trick McHale, meinem biologischen Vater.
So nennt ihn meine Mutter. Trick McHale, dein biologischer Vater. Ich hatte im ersten Jahr auf der Highschool eine Eins im Bio-Leistungskurs. Es besteht also kein Grund, mich an die Vererbungslehre zu erinnern. Außerdem denke ich nicht so über ihn. Meistens denke ich überhaupt nicht an ihn. Für mich ist Trick McHale nur eine Liste: Neun Geburtstagskarten (davon drei mit Zwanzig-Dollar-Schein), fünf Anrufe, ein Besuch im Zoo von San Diego, als ich sieben war. Das ist auch der Grund, warum Moms Überraschung nur von meiner eigenen getoppt wurde, als ich vor fünf Tagen verkündete, dass ich für eine Weile bei ihm leben wolle, einfach um mir eine Auszeit zu nehmen, um meinen schlimmen Tag (Moms Worte) hinter mir zu lassen. Ich kann es ihr nicht verübeln. Es kam wie aus dem Nichts. Völlig untypisch für mich. Das stand auf keiner meiner Listen. Aber hier bin ich. Auf dem Weg nach Norden. Noch schockierender ist eigentlich nur, dass Mom es erlaubt hat.
So schlimm ist es nämlich.
Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so schlimm. Gar. Nicht. So. Schlimm. Am Tag nach meinem schlimmen Tag habe ich eine Liste gemacht und innen an meine Zimmertür geklebt. Meine Reiß-dich-zusammen-Liste.
– Niemand ist gestorben.
– Niemand hat Krebs.
– Niemand hat mich in einem Kriegsgebiet ausgesetzt.
– Ich wurde nicht in die Kindersklaverei verkauft.
– Ich bin nicht in eine Sekte eingetreten, – die sich nur von Weizengras und Limetten ernährt.
– Ich habe keinen Körperteil verloren.
Allerdings fühlt es sich ein bisschen so an, als hätte ich das. Einen Körperteil verloren.
»Wenn ich bei dieser Ausfahrt umdrehe, sind wir bis zum Abendessen wieder zu Hause.«
Mom schaut in den Rückspiegel, bevor sie die Spur wechselt und einen staubigen weißen Minivan überholt. Ein kleiner Junge auf dem Rücksitz schaut zu uns und presst seine winzige Hand gegen die Scheibe.
»Vielleicht habe ich Lust, in Squaw Valley zu essen.« Ich rücke den schmalen roten Ordner auf meinem Schoß zurecht. Meine Listen über langfristige Ziele lege ich gerne in Ordnern ab, in richtigen Ordnern zum Anfassen, nicht bloß elektronisch. In dem Punkt bin ich altmodisch. Ich habe ein System. Gestern hab ich ein Deckblatt dafür ausgedruckt: DIE HIER-UND-JETZT-LISTE, und im Hintergrund ein Sonnenuntergang auf Hawaii. Nichts schreit so sehr »Lebe im Hier und Jetzt« wie ein Sonnenuntergang, stimmt’s? Ich betrachte das Bild mit zusammengekniffenen Augen und Zweifel steigen in mir auf.
Auf der Interstate 5 reihen sich die Sattelschlepper aneinander wie Waggons von Spielzeugzügen und Mom drängt den Lexus daran vorbei. Während wir Geschwindigkeit aufnehmen, sagt sie: »Oder wir drehen einfach um. Ich glaube wirklich, dass das Ganze nur ein Strohfeuer ist.«
Offenbar verwechselt sie »Strohfeuer« mit »Lauffeuer«, denn es breitet sich immer weiter aus. Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, hatte das Youtube-Video 616 487 Klicks.
Ich räuspere mich und sage in heiterem Ton: »Nein, mir geht’s gut. Ich glaub, das wird großartig!« Ich höre mich an wie eine Disneyprinzessin nach ihrem dritten Helium-Ballon.
Mom entgeht das nicht und sie schaut mich finster von der Seite an. »Ja, so hörst du dich auch an.«
Ich schalte einen Gang runter. »Ehrlich. Stell dir einfach vor, das wäre mein Auslandssemester, mit dem Unterschied, dass ich für ein Vierteljahr weg bin und nach Tahoe gehe statt nach Italien oder Südamerika. Wie eine Austauschschülerin. Nur dass ich kein Geld tauschen muss oder mich wundern, warum mein Getränk ohne Eis serviert wird.«
Ihr Blick wird noch finsterer. Offenbar findet sie überhaupt nicht, dass diese Reise einem Austausch ähnelt. Sie hat mir schon gesagt, wofür sie das Ganze hält. Für eine Flucht.
Ich weiß immer noch nicht, was passiert ist. Nicht wirklich. Ich meine, ich weiß, was passiert ist; ich hab die Videoaufnahmen gesehen. Aber ich weiß immer noch nicht, wie es passiert ist. Im einen Moment hat Mr Henly uns aufgefordert, Bleistifte der Stärke HB zu benutzen, und im nächsten habe ich den Test zerrissen und »Das ist sinnlos, es hat alles keinen Sinn, es ist völlig sinnlos« geschluchzt, immer und immer wieder, bis Mr Henly jemanden aus dem Sekretariat gerufen hat, um mich zu holen.
»Das wird großartig, ich schwör’s«, sage ich noch einmal mit dünner Stimme und schaue nach draußen, wo das kahle Landesinnere Kaliforniens an mir vorbeizieht. »Ich habe eine Liste gemacht.«
Mom presst die Lippen aufeinander und starrt auf die Straße.
Als wir ein paar Stunden später die Südstaaten langsam hinter uns gelassen haben und statt Palmen jetzt Kiefern die Straße säumen, fragt Mom wieder: »Bist du sicher, dass ich nicht umdrehen soll?«
Ich wünschte, sie würde aufhören zu fragen. »Wir sind fast da.« Mit schwitzigen Händen umklammere ich meinen Ordner, schaue in die stille Landschaft und versuche Luft zu holen.
Sie fährt auf die Autobahn 89 Richtung Squaw Valley, vorbei an Campingplätzen und Picknicktischen, deren Tischplatten dunkel aus dem Schnee hervorschauen. Das Campingplatz-Schild ist mit Plastik abgedeckt. Kaum zu glauben, dass wir San Diego heute Morgen erst verlassen haben und jetzt hier sind. Wo Trick lebt. Wir haben nur ein Mal angehalten, um ein paar Sandwiches und Kaffee zu kaufen, daher sind wir gut durchgekommen. Mom liebt es, schnell voranzukommen, also sage ich ihr nicht, dass ich pinkeln muss. Wir sitzen dicht nebeneinander, und ich ertrage es nicht, dass sie noch öfter auf ihre Uhren schaut, als sie es ohnehin schon tut. Mom hat immer mehrere Uhren zur Absicherung. An ihrem Handgelenk. Auf ihrem Handy. Am Armaturenbrett. Sie überprüft ständig, ob sie synchron gehen. Das scheint sie gleichzeitig zu beruhigen und nervös zu machen.
»Ich weiß nicht, wie Tricks Wohnverhältnisse sind.« Mom starrt auf die verschneite Straße. »Ich will dich nur vorwarnen. Er lebt, na ja, anders als wir.« Sie sagt das, als würde er in einem Zelt auf dem Feld leben. Gar nicht so unwahrscheinlich, wenn ich mich hier so umschaue.
Meine einzige Erinnerung an den realen Trick McHale ist unser Ausflug in den Zoo von San Diego. Mom hat die Tickets besorgt und uns Geld fürs Mittagessen gegeben und auf dem Parkplatz gewartet, falls ich sie brauche. Trick ist mit mir im Zoo herumspaziert und hat ein Bier geschlürft, das er in seiner Socke reingeschmuggelt hatte. Am besten erinnere ich mich an sein schallendes Gelächter über meine entsetzte Reaktion auf die Nacktmulle. »Da steht, sie sind gar nicht völlig nackt«, sagte er mit Blick auf das Schild, auf dem stand, sie hätten über hundert Haare, die ihnen bei der Orientierung helfen. »Für mich sehen die aber splitternackt aus.« Ich konnte nicht mehr vor Lachen. Es war so ein Kleinmädchen-Lachen, ganz tief aus dem Bauch heraus – nur mit meiner besten Freundin Josie lache ich noch manchmal so. Er sah so überrascht und erfreut aus. Erst als wir beim Polarfuchs waren, habe ich aufgehört zu lachen.
Beinahe zehn Jahre hab ich ihn nicht gesehen und die Abstände zwischen den Geburtstagkarten und Anrufen wurden immer länger. Mom hat mir nie verboten, Trick zu sehen. So war das nicht. Es gab keine Feindschaft, er war einfach nur nicht da. Sie hat ihn all die Jahre kaum erwähnt, und er hat sich nie bemüht, also hab ich mich auch nicht bemüht. Ich war beschäftigt. Ich hatte Mom und meinen Stiefvater, Will, und meine kleinen Zwillingsbrüder, Seth und Liam, und viel zu tun in der Schule. Unser Ausflug in den Zoo kam mir vor wie ein Traum, aber vor ein paar Jahren fand ich ein Kinderbuch mit dem Titel Der Nacktmull zieht sich an. Ich schickte es Trick, weil es mich an meinen Lachanfall erinnerte und daran, wie überrascht er davon gewesen war.
Keine Ahnung, ob er es je bekommen hat.
»Alles klar bei dir?« Mom schaut flüchtig zu mir rüber. Das hat sie mich in letzter Zeit oft gefragt.
Ich fummele an der Lüftungsklappe herum und lasse die warme Luft über mich strömen.
»Ja, danke.«
Nach meinem schlimmen Tag hab ich mich die ganzen Ferien im Haus verbarrikadiert. Mom und Will klangen immer besonders fröhlich. Josie kam mit Pizza und DVDs vorbei und wollte mich ins Einkaufszentrum schleppen, aber ich bin nicht mitgekommen. Der Weihnachtsbaum wurde aufgestellt und wieder abgebaut. Ich starrte in das Meer aus Geschenkpapier und Verpackungen von Plastikspielzeug, das Seth und Liam hinterlassen hatten. Hauptsächlich versuchte ich, nicht an die unzähligen Online-Aufrufe meines öffentlichen Nervenzusammenbruchs zu denken.
Miss Perfects epischer Zusammenbruch.
Als ich ihn mir anschaute, nur ein einziges Mal, habe ich das Mädchen mit dem aschblonden Pferdeschwanz und dem blassblauen O’Neill-Kapuzenpullover, den Will mir letzten April an einem windigen Tag auf Hawaii gekauft hatte, kaum wiedererkannt. Aber das ist mein zusammengekniffenes Gesicht, runzlig wie ein Pfirsichkern, und ich zerreiße meinen und die Tests der anderen zu Papierregen. Die Testfetzen segeln zwischen meinen fassungslosen Klassenkameraden durchs Klassenzimmer und draußen vor den hohen Fenstern biegen sich die Palmen unter dem strahlend blauen Himmel von San Diego. Ich will das nie wieder anschauen.
Aber ich hab mir gesagt: Gar. Nicht. So. Schlimm.
Jeden Tag kam etwas Neues auf meine Reiß-dich-zusammen-Liste.
– Ich bin nicht drogenabhängig geworden.
– Ich wurde nicht entführt.
– Ich habe nicht die Liebe meines Lebens an eine schlimme Krankheit verloren.
Wobei, irgendwie schon. Wenn die Liebe meines Lebens Jahrgangsbeste wäre und die Krankheit Hashtags hätte, wie: #schauteuchdieseirrean und #wasfüreinedramaqueen und #ichhassediesesmädchen.
Trotzdem dachte ich, ich könnte zurück an die Ranfield. Schließlich haben meine Eltern und die Ranfield und unzählige Filme und Autoaufkleber mich dazu erzogen, nicht aufzugeben. All die Jahre im Tennis und Fußball und in den ersten Jahren im Schwimmteam war das Motto immer klar: Schüttle dich. Steh auf. Mach weiter. Alles nur Kopfsache.
Klar, alles Kopfsache.
Als ich nämlich vor fünf Tagen zum ersten Mal das Haus verließ, sträubten sich mir die Nackenhaare, denn die Leute im Supermarkt tuschelten hinter vorgehaltener Hand.
»Das Mädchen, das ausgerastet ist.«
»Die Jahrgangsbeste aus dem Video.«
»Was für ein Psycho.«
Schließlich sagte ich zu Mom, ich würde einfach im Auto warten. Nachdem sie die Einkäufe hinten eingeladen hatte und eingestiegen war, platzte ich heraus: »Ich will für eine Weile bei Trick in Tahoe leben.«
Mom sagte: Scher dich nicht darum, was andere Leute denken.
Josie sagte: Das sind Idioten; mach dir wegen denen keinen Kopf.
Will sagte: Menschen haben die Aufmerksamkeitsspanne einer Mücke; vergiss es.
Tolle Ratschläge. Ich weiß nur nicht, wie das gehen soll.
Mich nicht darum scheren. Mir keinen Kopf machen. Es vergessen. Fehlt mir dazu ein bestimmtes Gen?
Links von uns taucht, im blassen Sonnenlicht glitzernd, der Truckee River auf. Alles in dieser Landschaft ist grell – weiß, blau, grau, silbern. Sogar das Grün ist satt und dunkel. Es wird wirklich wie ein Auslandssemester – in einem fremden Land, wo das einzige Flüstern, das zu hören ist, vom herabfallenden Schnee auf den Kiefern stammt. Mom bremst vor einer Ampel und biegt an einem großen Schild ab, auf dem SQUAW VALLEY USA, INTERNATIONALES SKIGEBIET steht. »Squaw Valley hat 1960 die olympischen Winterspiele ausgerichtet«, erzählt sie mir, während wir die Squaw Valley Road entlangfahren. Die Straße schlängelt sich zurück ins Tal und wir fahren an einer Abzweigung zum Ferienort am Squaw Creek vorbei. Als wir um eine Linkskurve biegen, taucht vor uns eine Schneefläche auf und dahinter die verschneiten Berge.
»Wow«, flüstere ich angesichts der schneebedeckten Gipfel.
»Ja, ich weiß. Es ist wunderschön.« Mom fährt auf einen Parkplatz neben einer gewaltigen Ansammlung brauner, alpin anmutender Häuser. »Das Dorf.« In ihrer Stimme liegt eine Spur von Abneigung, so wie jedes Mal, wenn ich sie gefragt habe, warum wir Squaw Valley verlassen haben, als ich knapp drei war. »Wir sind da.« Sie stellt den Motor ab, zögert einen Moment und zieht dann schnell den Schlüssel aus dem Zündschloss. Als sie den Ort vor sich betrachtet, kann ich beinahe sehen, wie die Erinnerungen über ihr Gesicht flackern. Sie wird ganz still. Was immer es war, das sie damals von hier vertrieben hat, kommt jetzt unter dem Schnee hervorgekrochen.
»Mom?« Sie ist bestimmt ganz durch den Wind. Mom erstellt auch Listen, sie hat farblich gekennzeichnete Ordner mit wichtigen Formularen und führt einen Google-Kalender für mich und die Zwillinge mit unterschiedlichen Schriftfarben für jeden von uns. Lila. Blau. Grün.
Mein schlimmer Tag in der Elften tauchte auf keiner ihrer Listen auf.
»Ja, sorry.« Sie klimpert ein wenig mit den Schlüsseln und lehnt sich dann ohne Vorwarnung zu mir rüber und greift nach meiner Hand. »Du kannst einfach nur Hallo sagen, eine Nacht bleiben, um den Kopf freizukriegen, und morgen zu mir ins Auto steigen und zurück nach Hause fahren. Das weißt du, oder?«
Mir kommen wieder Zweifel. »Ich weiß.«
Ich weiß auch, dass sie nicht will, dass ich das tue. Sie denkt, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen Kurswechsel ist, und da hat sie wahrscheinlich recht. Mir wird klar, dass ich unseren geplanten Weg verlasse, wenn ich aus dem Auto steige, um Trick kennenzulernen. Den Weg, auf dem ich heute mit hocherhobenem Kopf in der Schule erschienen wäre und mich nicht um das Getuschel geschert hätte. Den Weg, auf dem ich mich schüttle, weitermache und ein Stipendium für ein ordentliches College erhalte. Eine der Unis auf Moms immer längerer Liste.
Auf diesem richtigen Weg bemitleide ich die Person, die dieses Video von mir gepostet hat, weil sie klein, gemein und unbedeutend ist. Ich schreibe einen Aufsatz für die College-Bewerbung darüber, dass ich eine schwere Zeit durchgemacht habe, aber wieder aufgestanden bin und mich nicht habe unterkriegen lassen – stattdessen habe ich mich meinen Ängsten gestellt und bin dadurch stärker geworden. Vielleicht gründe ich eine Selbsthilfegruppe für Leute wie mich, Opfer von Cybermobbing. Die zukünftigen Auswahlgremien würden verständnisvoll nicken und mir dafür applaudieren, dass ich wieder aufgestanden bin, mir den Staub abgeklopft und das Beste aus einer schlimmen Situation gemacht habe.
Mara James. Angenommen. Zukunft gesichert. Na, Highschool, hast du gesehen? Klingt ganz nach etwas, das die alte Mara getan hätte.
Das Problem ist nur, dass ich es nicht schaffe, mich nicht unterkriegen zu lassen, die Selbsthilfegruppe zu gründen oder den Aufsatz zu schreiben. Ich verspüre weder Mitleid noch Stärke oder Entschlossenheit. Ich fühle mich klein und verletzt und durcheinander.
»Ich bin bereit.« Das ist gelogen.
Mom zieht sich eine lavendelblaue Strickmütze über. Das bläuliche Lila lässt ihre Augen dunkler wirken. Vielleicht ist es auch nur ihre Enttäuschung.
»Also gut«, seufzt sie. »Schauen wir mal, wie das Neverland sich gehalten hat.«
Die Hier-und-jetzt-Liste
1. Ski fahren lernen: grüne Pisten, blaue Pisten, schwarze Pisten??
2. Internet-Abstinenz (keine sozialen Medien, keine Nachrichten, Skype ist okay!)
3. Meditation – mindestens 10 Minuten pro Tag!!
4. an Schultagen bis 8 ausschlafen
5. ätherische Öle zur Entspannung – Lavendel, Kamille, Orange
6. Einen Gang zurückschalten und Ballast abwerfen!!
7. Einen süßen Snowboarder küssen!! (Josies Vorschlag)
8. Atmen! (logisch)
9. Mutig sein! (von Will)
10. Mal nur zum Spaß lesen? (siehe angehängte Bücherliste)
Kapitel Zwei
Als ich aus dem Auto steige, fällt mir als Erstes auf, dass es verdammt kalt ist in Tahoe. Ich friere ja nicht zum ersten Mal, aber diese Kälte beißt einem ins Gesicht und schüttelt einen herum, als wäre man ein Kauspielzeug. Mom hat gesagt, ich soll viele Schichten anziehen. Sie hat nur nicht erwähnt, dass eine der Schichten eine Heizdecke sein sollte. Aber wenigstens bin ich aus dem Auto raus. Hastig mache ich mich auf die Suche nach einer Toilette und bin dankbar, dass sie beheizt ist.
Als ich mir die Hände abtrockne, summt mein Handy. Josie.
Bist du schon da?
Ich rufe sie an und sie nimmt sofort ab. »Bist du erfroren?« Die Verbindung knistert ein bisschen.
»Ja. Ich bin erfroren und rufe dich aus meinem Grab an.« An ihrem Ende der Leitung erkenne ich das Geräusch von Tennisbällen auf Tennisschlägern. »Coach Jeffers wird es nicht gefallen, dass du mich während des Trainings anrufst.«
»Er glaubt, ich hole mir eine Schmerztablette gegen meine Frauenbeschwerden.« Bei unserem Coach muss man nur Frauenbeschwerden sagen und er lässt einen in Ruhe. Mehr will er nicht wissen. Ziemlich praktisch.
»Ich kann gerade nicht wirklich reden. Bin auf dem Klo.« Meine Stimme hallt von den Wänden wider. »Wir treffen gleich Trick.«
»Wie? Ihr trefft ihn auf dem Klo?«, fragt Josie laut.
»Nein, wir sind auf dem Weg zu ihm!« Ich senke die Stimme. »Josie, sag mal … na ja, reden die Leute darüber?«
Sie antwortet nicht. Stattdessen höre ich Coach Jeffers brüllen: »Martinez, wehe, du bist am Handy!«
»Muss los«, sagt Josie schnell, und dann ist sie weg.
Ich stopfe mein Handy in die Tasche der eisblauen Daunenjacke, die Mom mir gekauft hat, und gehe zurück nach draußen.
Nachdem Mom einen schnellen Kaffee getrunken hat (doppelter Espresso ohne Milch) laufen wir an Ski-Geschäften und Restaurants vorbei durch den Ort. Obwohl es noch nicht mal fünf ist, dämmert es bereits, die Schatten auf den Gehwegen werden länger und der Himmel verfärbt sich. Die Kombination aus diesem wunderschönen Anblick und der messerscharfen Kälte macht das Atmen mit einem Mal schwer.
Es ist Dienstag und nicht viel los. Ein paar Leute lungern an Feuerschalen herum, schlürfen Kaffee und Bier und unterhalten sich über ihren Tag, dabei benutzen sie Wörter wie shredden und Buckelpiste. Ihre Stiefel haben sie in die Nähe der Feuerschale gestellt und die Skier oder Snowboards an freie Stühle gelehnt. Sie erinnern mich an die Surfer in Oceanside, die sich mit ihrem Fachvokabular vom Rest der Welt abschotten.
Gut möglich, dass mir gerade die Jeans an den Beinen festgefroren ist. Offenbar werde ich die lange Unterwäsche, die Mom mir gekauft hat, ständig tragen – nicht nur zum Skifahren.
Nachdem wir quer durch den ganzen Ort gelaufen sind, landen wir vor einem Ski-Geschäft. Auf einem Schild steht NEVERLAND in großen Buchstaben, die so aussehen sollen, als wären sie in den Schnee geschrieben. Anscheinend kann man dort Klamotten und Ausrüstung kaufen, aber auch ausleihen. Ein Aufkleber am Fenster verkündet: JEMAND AUS TAHOE: MEIN LEBEN IST BESSER ALS DEIN URLAUB. Als Mom ihn bemerkt, verdreht sie die Augen, drückt die Tür auf und eine unsichtbare Glocke läutet.
Drinnen ist es warm, und auf den abgewetzten Teppichen liegt jede Menge geschmolzener Schneematsch, den die Leute an ihren Stiefeln hereingeschleift haben. Der Laden ist vollgestopft mit Regalen, auf denen sich Skihosen, Jacken, Helme, Brillen, Socken und Stiefel stapeln, aber menschenleer. Ich suche die hölzernen Wände hinter der Kasse ab. Auf einem glänzenden Schild in der Mitte zwischen Bildern von Skifahrern und Snowboardern steht wieder NEVERLAND und darunter ein Zitat aus Peter Pan von J. M. Barrie:
WELCHES DIESER ABENTEUER SOLLEN WIR AUSWÄHLEN?
Bevor ich es Mom zeigen kann, kommt ein Mann durch eine Schwingtür mit der Aufschrift ›Werkstatt‹ aus dem hinteren Teil des Ladens. Er trägt verwaschene Jeans, ein ausgeleiertes Santa-Cruz-Sweatshirt, das vielleicht irgendwann mal schwarz war, und eine Baseballkappe mit orangefarbenem Schirm.
Trick McHale.
Unwillkürlich füge ich in Gedanken hinzu: dein biologischer Vater.
Mein Körper vibriert vor Aufregung. Er hat uns noch nicht gesehen, also kann ich ihn einen Moment lang unverhohlen in seinem natürlichen Lebensraum beobachten. In der Hand hält er etwas, das aussieht, als gehöre es an einen Ski. Eine Bindung vielleicht? Er hat die Augen fest auf die Bindung gerichtet und kaut auf der Lippe herum. Das mache ich auch immer. Wenn ich an einer besonders schwierigen chemischen Gleichung sitze.
»Hallo, Trick.« Mom spricht als Erstes, im selben Ton wie mit ihren Kunden.
Erschrocken reißt er den Kopf hoch. »Oh, Lauren – huch, hab dich gar nicht gesehen.« Seine Stimme ist ein tiefes Poltern, wie das Lachen, das mir von unserem Tag im Zoo in Erinnerung geblieben ist, ganz der Surfertyp mit weichem Kern. Seine grünen Augen mustern mich überrascht. »Oooh, Mara, ich glaub’s nicht. Schau dich an.«
Ich weiß nicht, was ich mit meinem Körper anstellen soll. Soll ich ihn umarmen? Wäre das normal? Nichts von alldem fühlt sich normal an. Das Zeitfenster, in dem eine Umarmung vertretbar wäre, vergeht, und ich stehe einfach nur da, meine Augen wandern zurück zu dem Zitat aus Peter Pan. »Hi, äh, Trick.« Er nickt und schaut weg. Vielleicht ist ihm aufgefallen, dass ich Trick gesagt habe, nicht Dad. Er räuspert sich. Räuspert sich noch mal. Hätte ich ihn Dad nennen sollen? Nein, das wäre zu seltsam. Ich habe öfter mit unserem Postboten geredet als mit Trick McHale.
Die Stille um uns herum verdichtet sich.
Schließlich sagt Trick zu Mom: »Du siehst gut aus, Lauren.« Seine Stimme klingt zögerlich.
Mom nimmt die Mütze ab und schüttelt ihr gesträhntes Haar. »Oh, na ja, danke.« Sie gibt das Kompliment nicht zurück. Stattdessen öffnet sie ihre Handtasche und wühlt darin herum. Das macht sie manchmal, um beschäftigt auszusehen, auch wenn sie eigentlich gar nichts sucht. Auch jetzt ist es nur ein Vorwand, das merke ich. Um nicht reden zu müssen und um ein bisschen Leben in das tiefe Schweigen zu bringen.
Trick beobachtet sie mit leicht amüsierter Miene. Weiß er, dass sie immer diese Ablenkungsmanöver startet, wenn sie sich unwohl fühlt? Anscheinend schon, denn er fragt: »Suchst du was?«
Mom wird rot. »Oh, Moment – hab ihn!« Sie trägt eilig Lippenstift auf, als wollte sie sagen: Siehst du? Das war’s, wonach ich gesucht hab, vielen Dank. Ich schaue sie erstaunt an. Mom verhält sich nie so seltsam; sie ist immer gelassen und hat sich unter Kontrolle. Was ist los?
Trick grinst. »Ein Glück. Lippenstift-Krise abgewendet.«
Moms Miene verändert sich, ihre Augen werden schmal. Oh-Oh. Dieser Blick. Wenn sie uns so anschaut, fühlen meine Brüder und ich uns normalerweise schlagartig dazu inspiriert, unsere Zimmer aufzuräumen. »Nun ja, einigen von uns ist es eben nicht egal, wie sie auf andere Leute wirken.« Sie bemüht sich, einen heiteren Ton zu wahren, schafft es aber nicht wirklich. Ihre Blick-Muskeln müssen mit den Stimm-Muskeln verbunden sein.
Trick hört auf zu lächeln. Wenn wir an den olympischen Spielen der Peinlichkeiten teilnehmen würden, bekämen wir alle drei eine Goldmedaille.
Glücklicherweise läutet die Ladenglocke und ein paar Jungs platzen in den Laden. Sie stürmen laut und lachend durch die Tür, als wäre der Laden ihr Revier. Zunächst sieht es so aus, als würden sie sich als eine Einheit bewegen, aber schließlich erkenne ich einzelne Jungs. Fünf Stück. Bis auf einen tragen alle seltsame enge Anzüge, wie ein Quartett jugendlicher Superhelden ohne Capes. Offenbar sind das Skianzüge, ihre Stiefel sehen nämlich so aus, als gehörten sie an Skier. Der Größte steuert direkt auf die Ladentheke zu. Sein schlanker, athletischer Körper steckt in einem mitternachtsblauen Anzug mit Spinnweben über der Brust. Er geht um den Tresen herum und sucht die Regale ab. Trick gesellt sich zu dem mitternachtsblauen Spider-Man hinter die Theke. »Hier, Logan«, sagt er und zieht ein paar Skier aus dem Regal. »Sind fertig.«
»Danke, Trick.« Logan nimmt die Skier, wirft sie sich über die Schulter und die Jungs trampeln zurück in Richtung Tür. Der Junge ohne Superhelden-Anzug zögert. Er trägt einen glänzenden schwarzen Anorak und Jeans, unter seiner roten Mütze kringeln sich kastanienbraune Locken. Er zerknüllt seine leere Chipstüte und lässt sie auf der Ladentheke liegen. Er sieht gut aus, aber übertrieben selbstbewusst, was mich normalerweise nervt, aber als er den anderen aus der Tür folgt und mir dabei zuzwinkert, spüre ich, dass mein Gesicht glüht. Trick schaut den Jungs hinterher und wirft die Chipstüte in einen Mülleimer unter der Theke.
Meine Mom hat die Jungs ebenfalls beobachtet, mit leicht geöffnetem Mund.
»War das Logan Never?«, fragt sie, als die Tür zugefallen ist und wir wieder allein sind.
Trick nickt. Die beiden wechseln einen Blick, eine Variante des Blicks, den Mom im Auto hatte, als wir angehalten haben, dieser Geist der Erinnerung.
»Wer ist Logan Never?«, frage ich.
»Der große Junge mit den Skiern«, murmelt Mom und starrt einen Moment lang die geschlossene Tür an. »Seinen Eltern gehört der Laden. Matt und Jessica.«
»Der andere war Beck Davis«, erzählt Trick, und ich weiß, dass er den Jungen meint, der seine Chipstüte auf der Ladentheke gelassen hat.
Moms Gesichtsausdruck ändert sich merklich, als hätte sie etwas Saures gegessen.
»Wer?«, frage ich. Die gemeinsame Vergangenheit, die den Raum flutet, gibt mir das Gefühl, etwas verpasst zu haben.
»Jungs, die ich mal kannte«, sagt sie.
»Ja«, kommt von Trick hinter der Theke. »Wir sind alle noch hier.«