Das Buch
1916, Texas. Während im Süden die Mexikanische Revolution und in Europa der Erste Weltkrieg tobt, kämpft der ehemalige Texas Ranger Hackberry Holland mit den Konsequenzen schlechter Entscheidungen, den Erinnerungen an vergangene Gräueltaten und den Umwälzungen des neuen Jahrhunderts. Auf der Suche nach seinem Sohn Ishmael, zu dem er seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat, durchstreift Hackberry den Norden Mexikos. Dabei fällt er Soldaten der Revolutionsarmee in die Hände, die ihn verdächtigen, als Texas Ranger im Rahmen einer Strafexpedition mexikanische Zivilisten massakriert zu haben. Mit Hilfe einer geheimnisvollen Prostituierten namens Beatrice DeMolay kann er fliehen und kommt dabei in den Besitz einer gestohlenen Reliquie. Doch ein skrupelloser Waffenhändler aus Österreich setzt alles daran, das religiöse Artefakt zurückzugewinnen – notfalls muss Hackberrys Sohn daran glauben, der mittlerweile schwer verletzt von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in Frankreich zurückgekehrt ist.
Der Autor
James Lee Burke, 1936 in Louisiana geboren, wurde bereits Ende der Sechzigerjahre von der Literaturkritik als neue Stimme aus dem Süden gefeiert. Nach drei erfolgreichen Romanen wandte er sich Mitte der Achtzigerjahre dem Kriminalroman zu, in dem er die unvergleichliche Atmosphäre von New Orleans mit packenden Storys verband. Burke, der als einer der wenigen Autoren sogar zweimal mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet wurde, lebt abwechselnd in Missoula/Montana und New Orleans. Sein Roman Regengötter wurde 2015 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet.
James Lee Burke
Vater
und Sohn
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Daniel Müller
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
In Gedenken an John Neihardt und A. B. Guthrie,
ohne deren Werk es sehr wahrscheinlich
keinen amerikanischen Westen gäbe.
Go tell my baby sister
Never do like I have done,
To shun that house in New Orleans,
They call the Rising Sun.
– Aus »House of the Rising Sun«
(in der von Alan Lomax aufgezeichneten Version)
Wahrlich ich sage euch: Die Zöllner und Huren mögen
wohl eher ins Himmelreich kommen denn ihr.
– Matthäus 21,31
Auf Flanderns Feldern weht der Mohn
Zwischen den Kreuzen, Reih’ um Reih’,
Die unseren Platz markier’n; und am Himmel
Ziehen noch immer die Lerchen, wacker singend
Hörbar kaum, zwischen Geschützen am Grund.
– Aus »Auf Flanderns Feldern«,
von John McCrae
1916
Kapitel 1
Am Horizont war gerade die Sonne aufgegangen. Aufgedunsen, glühend rot und zähflüssig wirkte sie, wie ein verirrter Planet. Sie warf ihr Licht auf eine Landschaft, die aus Lehm und weichem Stein geformt schien und von den versteinerten Spuren unbekannter Tiere durchzogen war, als ein groß gewachsener, barfüßiger Mann mit zerschlissener Kleidung die Zügel seines Pferdes fallen ließ, vom Rücken des Tieres glitt und in ein ausgetrocknetes Flussbett hinabstieg, in dem die Wasserpfützen glänzten wie Lachen frischen Blutes. Der zimtfarbene, von grünem Gras durchbrochene Sand fühlte sich kühl an seinen geschundenen, von entzündeten Narben überzogenen Füßen an. Er ging in die Knie, wischte die Insekten von der Oberfläche einer Pfütze, formte einen Kelch mit seinen Händen und trank. Anschließend wusch er sich das Gesicht und strich sich die Haare aus den Augen. Seine Haut war von Dreck und Staub überzogen, seine Hose steif vom Salz des getrockneten Pferdeschweißes. Für einen Augenblick glaubte er, sein Spiegelbild in der Pfütze zu sehen. Nein, das konnte unmöglich sein. Dieser Kopf mit dem schmalen Gesicht, den schulterlangen Haaren und diesen merkwürdigen Augen, dunkel und leer, gehörte eher auf ein Silbertablett oder auf die Schultern eines hoffnungslosen Kreuzritters, der der Gnade der Sarazenen ausgeliefert war.
»¡Venga! Oder muss ich dir vielleicht noch erklären, wie man Wasser trinkt?«, sagte er in Richtung Pferd. »Es spricht nicht gerade für mich, dass ich das wohl dümmste Pferd aus Pancho Villas Armee gestohlen habe, ein Pferd, das noch nicht mal den Anstand hatte, einen Sattel zu tragen.«
Das Pferd antwortete nicht.
»Oder ist Dummheit am Ende gar nicht das Problem, und du hältst mich für ein zweibeiniges Scheusal, das von jeder Kreatur auf diesem Planeten gefürchtet und gemieden werden sollte?«, sagte der Mann. »Was auch immer der Grund sein mag, mein Freund, ich bin momentan äußerst sensibel und würde es sehr begrüßen, wenn du langsam deinen armseligen Arsch hier runterbewegen würdest.«
Als das Pferd schließlich die Böschung hinunterkam und zu trinken begann, setzte sich der Mann, der auf den Namen Hackberry Holland hörte, auf einen Felsbrocken, tauchte seine Füße in die Pfütze vor sich, schloss die Augen und atmete in Ruhe durch die Nase ein und aus. Es war ein sonderbarer Ort, an den es ihn verschlagen hatte. Eine Landschaft, vom Schöpfer geformt, mit Ecken und Kanten versehen und mit einem Hintergrund aus haifischzahnartigen Bergen dekoriert und dann, aus einem Grund, den Er nicht mitzuteilen gedachte, am äußeren Rand der Welt entsorgt. Kein Vogelgesang, keine Weiden, die sich im Wind wiegten, keine Kuhglocken und auch kein Windrad, das scheppernd zum Leben erwachte, Wasser aus der Erde pumpte und es in einen verzinkten Tank prasseln ließ. Dieses Land war wild, sein Charakter roh und gefräßig wie ein gigantisches Raubtier, das die Arglosen und die Unvorsichtigen verschlang. Ein Ort, der Hölle näher als dem Himmel.
Er sehnte sich nach einer Waffe in seiner Hand, wünschte sich eine Trinkflasche mit frischem Wasser, einen Hut mit hoher Krone, ein Paar Stiefel, weiche Socken und ein sauberes Hemd. War das wirklich zu viel verlangt? Der Tod, so dachte er zumindest darüber, war nur etwas Schlimmes, wenn er dich erniedrigte, wenn er dich heimsuchte, während du krank und einsam auf einer besudelten Matratze lagst und deine Ängste dich bedrängten wie Gespenster in der Dunkelheit.
»Siehst du die zwei dünnen Rauchsäulen da oben am Berg?«, sagte er zu dem Pferd. »Ich schätze mal, da machen sich deine früheren Besitzer gerade was zu essen. Vielleicht sind es aber auch nur ein paar Bandidos. Die haben allerdings auch nicht sonderlich viel für Gringos aus Texas übrig. Für uns bedeutet das vor allem eins: Wir müssen diese Berge im Norden überqueren. Und viel mehr als das bisschen Gras in diesem sandigen Flussbett hier wirst du bis zum Rio Grande nicht zu fressen bekommen. Meinst du, das hältst du durch?«
Er legte seine Hände auf den Knien ab. »Dachte ich mir«, sagte er. »Dann lautet die große Frage wohl jetzt: Was sollen wir tun? Und die Antwort darauf: Ich habe keinen blassen Schimmer.«
Er starrte auf das Wasser, das sich in der Pfütze über seinen Füßen kräuselte. Wie ein unheilvolles Opiat breitete sich ein großer Überdruss in seinem Körper aus und schien ihm zuraunen zu wollen, dass es Zeit für eine lange Rast sei, Zeit, den Kampf gegen das Schicksal einzustellen. Aber das konnte es noch nicht gewesen sein. So konnte der Tod nicht zu ihm kommen, versuchte er sich selbst einzureden. Unter seinen Fingernägeln klebte Dreck, an seiner Hose fehlte der Gürtel, den seine Peiniger ihm abgenommen hatten, und seine Zehen waren dort, wo sie ihm wieder und wieder auf die Füße getreten hatten, schwarz gefärbt. Er schaute zum Himmel empor. »Da kreisen sie schon«, sagte er. »Erst werden sie sich über mich hermachen. Danach stürzen sie sich auf dich, mein Brauner, und es ist ihnen völlig gleich, ob du noch atmest oder nicht. Tut mir leid, dass es so gekommen ist, mein Junge. Es ist nicht deine Schuld, du hast alles richtig gemacht.«
Das Pferd hob den Kopf und stellte die Ohren auf. Ein Zittern huschte über seine Haut, als eine Bremse auf seinem Rücken landete.
»Was ist los, Partner?«, sagte Hackberry.
Dann drehte er den Kopf und wandte das Gesicht in die Brise, die den knapp einhundert Meter vor ihm liegenden Hang hinunterwehte. Aber es war nicht einfach nur eine Brise frischer Luft, sondern eine Brise, die den Geruch von Nebeldunst mit sich brachte, von Bäumen, möglicherweise Kiefern, und von Gewitterwolken, die sich wie ein Deckel über den Canyon legte. Es roch nach Höhlenluft und frischem Wasser, nach Blumen, die nur nachts blühen, nach einem Paradies inmitten einer Bergwüste. »Sieht so aus, als hätten wir Walhalla gefunden«, sagte Hackberry. »Entweder das, oder ich drehe langsam durch. Ich höre nämlich Musik. Meinst du, du schaffst es noch den Hang hinauf, alter Junge?«
Dieses Mal wartete Hackberry nicht auf eine Antwort. Überzeugt von seiner bevorstehenden Erlösung, griff er die Zügel und zog das Pferd die Böschung auf der anderen Seite des Flussbetts hinauf.
Oben auf der Böschung quälte er sich in den Sattel und führte das Tier in den Canyon hinein. Dort folgte er einem von abgebrochenen Stein- und Felsbrocken übersäten Pfad um eine Biegung, wo er auf einem grasigen Fleckchen ein einstöckiges Haus im viktorianischen Stil erblickte. Es hatte eine breite Veranda und kleine Kuppeln an beiden Seiten der nicht gestrichenen Holzfassade, und hinter dem Gebäude waren Obstbäume und zwei Zisternen zu sehen. Aus dem Inneren war die Stimme des Opernsängers Enrico Caruso zu hören. Die Absurdität der Szene wurde von einem Leichenwagen vor dem Haus gekrönt. Er war mit kupfernen Wagenlampen ausgestattet und mit weißen und grünen Lilienmotiven überzogen. Unter dem Geschirr der vier Schimmel, die vor den Wagen gespannt waren, lugten hier und da rote Wundmale hervor, groß wie Vierteldollarmünzen.
Mindestens ein Dutzend Pferde waren an einer Stange vor dem Haus angebunden, weitere im Garten neben dem Gebäude festgemacht. Einige der Pferde trugen Sättel der United States Army. Der Pfad zum Vorgarten des Hauses war von zerbrochenen Bier- und Tequilaflaschen gesäumt. Als plötzlich der Wind stärker wurde, scheute Hackberrys Pferd und riss mit weit geöffneten Augen den Kopf gegen die Zügel zur Seite.
»Schon gut, mein Junge«, sagte Hackberry. »Sieht so aus, als wären wir auf ein Freudenhaus gestoßen. Aber ich gebe dir recht: Der Leichenwagen passt nicht so richtig ins Bild.«
Die Nüstern des Pferdes waren geweitet, seine Ohren angelegt. Hackberry stieg ab, führte das Tier den Weg hinauf und versuchte, in das Innere des Leichenwagens zu schauen, aber ohne Erfolg. Im Haus hatte jemand die Platte von Enrico Caruso noch einmal aufgelegt, aber Hackberry konnte niemanden hinter den Fenstern entdecken. Direkt über ihm hatten die Wolken einen gelben, fast schwefelfarbenen Ton angenommen. Der Wind, nun um einiges kühler und stärker, blies durch die Bäume und klang dabei wie das Rauschen eines Flusses. Hackberry kam es so vor, als wäre er an einen magischen Ort gelangt, der vollkommen losgelöst von seiner Umgebung war. Genau wie sein Pferd wusste auch er allerdings nur zu gut, dass Gedanken dieser Art über ein Land wie Mexiko unsinnig waren und ins Nirgendwo führten. Die Campesinos wurden in bitterer Armut gehalten und hatten keinerlei Bildungsmöglichkeiten, die Polizei war korrupt bis auf die Knochen und die Aristokratie von einer Arroganz und Grausamkeit zerfressen, die der Welt bereits die Inquisition beschert hatte. Menschen, die sich diesen Realitäten nicht stellten, unterstützten seiner Ansicht nach die dunklen Kräfte der unzivilisierten Machthaber und des Imperialismus und riskierten durch ihre Naivität Leib und Leben.
Er wandte sich vom Leichenwagen ab und schaute zu den Bäumen hinter dem Haus. Sie hatten dicke, dunkelgrüne, wachsige Blätter und standen im Schatten der Wände des Canyons. Irgendetwas aber wollte nicht stimmen. Irgendetwas passte nicht in das Bild, das Gauguin mit seinen Ölfarben von dieser Szenerie gefertigt hätte. Hackberry schloss die Augen, öffnete sie wieder und rieb sie sich mit den Händen, um sicherzugehen, dass Hunger und Flüssigkeitsmangel weder seine Sehkraft beeinträchtigten noch Bilder in seinem Schädel heraufbeschworen, die er in den Tiefen seines Unterbewusstseins verscharrt hatte. Nach einem erneuten Blick hatte er Gewissheit, und es gab keinen Zweifel mehr über das, was sich in dem Canyon abgespielt hatte, über dem sich nun gelbe Wolken zusammenzogen. An den Ästen der Bäume baumelten vier schwarze Männer in Armeeuniformen. Bei zweien hatte man die Hosen bis zu den Knöcheln heruntergezogen; allen hatte man die Stiefel abgenommen und die Hände hinter den Rücken gefesselt. Da sie an unterschiedlichen Bäumen aufgehängt waren, wirkte es fast, als hätte jemand mit dem Tod der vier Soldaten die Landschaft dekorieren wollen.
Hackberry wendete das Pferd und wollte es gerade wieder den Weg hinabführen, als hinter ihm eine Männerstimme erklang.
»Hey, hombre! ¿A dónde vas?«
Ein mexikanischer Soldat – ein schlanker Kerl in Kakiuniform mit sonnengebräunter Haut – war auf die Veranda getreten. Er trug eine Schirmmütze mit kurzer, schwarzer Blende und hatte den quer über seinen Oberkörper verlaufenden Pistolengurt unter seiner Schulterklappe befestigt. Sein Gesicht war schmal, seine Haut großporig, seine Zähne lang, mit großen Lücken und graubraun wie verfaultes Holz. »Du siehst aus wie ein Gringo, Mann«, sagte der Soldat. »¿No hablas español?«
Hackberry ließ seinen Blick über den Garten schweifen. »Ich kann noch nicht mal inglés«, antwortete er. »Zumindest nicht richtig.«
»Du bist ein lustiger Kerl.«
»Das würde ich nicht unbedingt sagen.« Hackberry machte eine kurze Pause und schaute mit arglosem Ausdruck gen Himmel, die Augen zusammengekniffen. »Was ist das eigentlich für ein Ort?«
»Una casa de citas. Und jetzt erzähl mir nicht, da wärst du nicht selbst drauf gekommen. Wie gefällt dir eigentlich, was da hinten in den Bäumen hängt?«
»Ich versuche, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und mir nicht den Kopf über den Kummer anderer Leute zu zerbrechen.«
»Du weißt schon, dass dein Pferd ein mexikanisches Brandzeichen hat, oder?«
»Ich hab’s draußen in der Wüste gefunden. Wenn du mir den Namen des Besitzers sagst, gebe ich es gerne zurück«, sagte Hackberry. »Kannst du mir vielleicht verraten, wo genau ich hier eigentlich bin?«
»Du willst wissen, wo du gelandet bist? Ich sag’s dir: in einem riesengroßen Haufen Scheiße.«
»Wieso das? Sehe ich vielleicht wie eine Bedrohung aus? Ich könnte noch nicht mal einer Fliege was zuleide tun.«
»Ja, ja, Hombre. Hab gesehen, wie du vorhin zu dem Leichenwagen rübergeschielt hast. Sag bloß, Leichen und Skelette machen dir zu schaffen?«
»Nun ja, der Anblick von Särgen sorgt bei mir schon für etwas Unbehagen.«
»Du lügst wie gedruckt, Hombre!«
»Für einen Mann in meiner Lage sind das ziemlich harte Worte. Fast schon gemein, würde ich sagen, auf jeden Fall aber unfair«, sagte Hackberry. »Außerdem würde ich mich um einiges wohler fühlen, wenn du den Ballermann wieder ins Holster schiebst.«
»Versteh ich das richtig, du willst meinen Ballermann halten, Hombre?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Gut möglich, dass ich dir deinen Wunsch erfülle. Gut möglich, dass du noch darum betteln wirst, mein bestes Stück halten zu dürfen«, sagte der Soldat mit einem lüsternen Grinsen. »Du verstehst schon, Gringo, oder?«
Hackberry blickte den Hang hinauf zu den Figuren, die dort wie Schatten in den Bäumen hingen und bei jedem Windstoß die Äste unter ihrer Last zum Knarzen brachten. »Was haben die schwarzen Soldaten eigentlich getan?«
»Was sie getan haben? Nun, sie haben geflennt wie kleine Kinder. Was hast du denn gedacht, Mann?«, sagte der mexikanische Soldat. »Was hättest du getan?«
»Genau dasselbe wahrscheinlich. Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag: Ich hab zwar kein Geld, um für Essen zu bezahlen, aber ich könnte dafür arbeiten. Holzhacken zum Beispiel. Mein Pferd könnte auch etwas Futter vertragen. Danach würde ich gern einfach meiner Wege ziehen und alles vergessen, was ich hier gesehen habe.«
Der mexikanische Offizier fischte einen Zahnstocher aus seiner Hemdtasche und steckte ihn sich in den Mund. Er hatte dickes schwarzes Haar, das unter seiner Schirmmütze hervorquoll und in der Sonne glänzte. »Neulich haben ein paar Texas Ranger einen unserer Züge angegriffen und eine Menge von unseren Leuten getötet. Hast du davon vielleicht was mitbekommen?«
Hackberry schaute zu den aufgewühlten Wolken empor, die wie Rauchschwaden über den Himmel zogen. Er rieb sich mit der Hand über den Nacken, als würde er einen steifen Hals massieren wollen. Seine blassblauen Augen waren vollkommen leer. »Warum sollten die so etwas machen?«
»Am liebsten würde ich dir jetzt sagen, dass du sie selbst fragen sollst. Geht aber nicht. Sind nämlich alle tot. Bis auf einen. Einer der Kerle, ungefähr so groß wie du, ist davongekommen.«
»Ich versteh immer noch nicht ganz, warum ihr diese schwarzen Soldaten da aufgeknüpft habt. Dürfen die nicht in eure Freudenhäuser oder wie?«
»Hast du schon mal gesehen, wie jemand eine Menschenleiche an ein Auto bindet? Ich meine, festgezurrt am Kühlergrill wie ein erlegter Hirsch, um damit spazieren zu fahren? Amerikaner haben das in meinem Dorf gemacht. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, Gringo!«, sagte der Mexikaner und zog mit dem Zeigefinger die Haut unter seinem rechten Auge nach unten, um seine Aussage zu bekräftigen.
»Das erste Mal, dass ich von so etwas höre.«
»Du bist ein groß gewachsener Bursche, auch ohne Schuhe. Wenn wir dich aufhängen, wirst du den Erdboden mit den Zehenspitzen berühren und eine ganze Weile am Ast baumeln, bevor du endlich verreckst.«
»Tja, mein Pech, würd ich sagen. Bevor du aber irgendetwas in der Art unternimmst, musst du mir noch eine Frage beantworten. Die Soldaten da oben in den Bäumen müssen vom zehnten oder elften Kavallerieregiment gewesen sein. Im zehnten gibt es einen weißen Captain, einen jungen Kerl, nicht ganz so groß wie ich, aber mit ähnlichem Aussehen. Genau den Burschen suche ich. Hast du vielleicht einen jungen Offizier gesehen, auf den die Beschreibung passen könnte?«
Der Mexikaner zog den Zahnstocher aus dem Mund und deutete damit spielerisch in Hackberrys Richtung. »Du bist wirklich ein lustiger Vogel, Mann«, sagte er. »Und jetzt komm, wir gehen rein und unterhalten uns mit General Lupa. Aber erzähl ihm bloß keinen Scheiß, hörst du? Diesem Typen willst du keinen Mist auftischen, glaub mir.«
»Verstehe ich das richtig: Du sagst, dieser Mann ist General in eurer Armee, obwohl er ziemlich unreif ist und sich nicht im Griff hat?«
»So kannst du es natürlich auch ausdrücken … wenn dir nichts an dem Kopf auf deinen Schultern liegt. Und wegen der Sache mit den Texas Rangern sollte ich dir vielleicht noch sagen, dass deine Landsleute bei dem Angriff auf den Zug den Sohn des Generals erschossen haben.«
Kapitel 2
Die Wände des Salons waren mit blauem und purpurnem Samt bedeckt, den Zeit und Staub hatten verblassen lassen. Die weißen Vorhänge vor den Fenstern waren aus hauchdünnem Stoff und an den Rändern bestickt. Sie flatterten leicht im Wind und sahen so aus, als hätte ein Dekorateur dem Etablissement eine unbeschwerte Leichtigkeit und Reinheit verleihen wollen, die es niemals besitzen würde. Der Raum war mit einem ausgefransten Teppich ausgelegt, in der Ecke stand ein Harmonium. Auf den Kanapees lagen rote Kissen, und an den Wänden hingen Bilderrahmen mit gewölbtem Glas, die Fotos von nackten Damen mit üppigen Proportionen zur Schau stellten. Auf dem Kaminsims stand ein gerahmtes, ebenfalls mit gewölbtem Glas geschütztes Gemälde, das in Rosa- und Orangetönen einen Sonnenaufgang zeigte, inklusive kleiner Engelchen, die auf den Sonnenstrahlen saßen. Vom Salon führte ein breiter Flur mit vielen Türen bis zur Rückseite des Gebäudes, genau wie in den Shotgun Houses im Süden Louisianas.
In der Ecke saßen zwei Mädchen mit indianischen Gesichtszügen. Sie trugen nur Unterwäsche, hatten die Beine eng aneinandergepresst, den Blick gesenkt und die Hände auf den Knien gefaltet. Hinter der kleinen, von Bierflaschen übersäten Theke stand eine Frau mittleren Alters. Sie trug ein dunkelblaues Brokatkleid mit weißem Rüschenkragen. Ihre tief liegenden Augen leuchteten wie Sterne und schienen niemals zu blinzeln. Hinter ihr befand sich ein Tisch mit Stapeln von Schallplatten in weißen Papierhüllen und einem Grammofon mit Aufziehkurbel und Trichterlautsprecher, auf dessen fein geriffelter Oberfläche eine großbusige Meerjungfrau mit purpurfarbenen Lippen prangte.
Hackberrys Aufmerksamkeit galt allerdings einem massigen Mann in einem Armsessel. Seine kakifarbene Hose hatte einen Riss, durch den ein blutgetränkter Verband zu sehen war. Wie sein jüngerer Kollege trug auch er eine Schirmmütze mit schwarzer Blende, die ihm allerdings leicht schief auf dem Kopf saß. Seine Hand umklammerte eine offene Flasche Mezcal, die auf seinem Oberschenkel ruhte. Als er zum Trinken ansetzte, rutschte der weiße Wurm, der im Mezcal als ein Zeichen von hoher Qualität galt, aus dem Bodensatz im unteren Teil der Flasche in Richtung Flaschenhals. Die Lippen des Generals schimmerten feucht, als er die Flasche wieder auf seinem Oberschenkel absetzte. Der Mantel über seinem Wanst war steif von alten Essens- und Getränkeresten. Er rümpfte die Nase.
»Sie sehen aus, als hätten Sie sehr lange kein Wasser mehr gesehen, Señor«, sagte er.
»Wenn Sie hier eine Wanne haben, hätte ich nichts gegen ein Bad einzuwenden.«
»Was führt Sie in diese Gegend? Sind Sie Goldsucher?«
»War ich, bis ich von ein paar Yaqui überfallen wurde.«
»Wissen Sie, was unsere Regierung den Yaqui angetan hat?«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Dann haben Sie noch nie von den einhundertfünfzig armen Seelen gehört, die in einer Kirche verbrannten? Die Indianer sind ein Volk mit einer langen Leidensgeschichte.«
»Vielleicht waren die Yaqui ja deshalb so schlecht auf mich zu sprechen.«
»Wissen Sie, Sie haben nicht die Augen eines Goldsuchers. Eher die eines Revolverhelden. Ihre Augen passen nicht zum Rest Ihres Gesichts.«
»Ich habe 1909 angefangen, südlich von Mexiko-Stadt nach Gold zu suchen, später auch in Yucatán und Chile. Ich habe auch andere Dinge getan, immer ehrliche Arbeit«, sagte Hackberry. »Und jetzt könnte ich wirklich etwas zu essen vertragen.«
»Ja, ich denke auch, dass Sie etwas essen sollten, damit Sie wieder zu Kräften kommen.«
»Ich würde auch gern mein Pferd füttern.«
Der General verneinte mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Nein, mein Freund, um Ihr Pferd brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das ist ein mexikanisches Pferd und bleibt bei uns.«
»Heißt das, dass ich auch bleibe?«
»Wissen Sie, die Leute gehen dorthin, wo sie hingehen müssen. Unter gewissen Umständen ziehen sie sich in ihre Gedanken zurück, um dort Sicherheit und Ruhe zu finden. Oder zumindest versuchen sie das.«
»Von was für Umständen sprechen wir hier, General?«
Der General steckte den Korken zurück auf die Flasche und drückte ihn mit dem Daumen in den Hals. »Ich glaube, dass Sie entweder ein Waffenhändler oder ein Texas Ranger sind. Wie es aussieht, müssen wir bestimmte Methoden anwenden, um die Wahrheit herauszufinden. Und dieser Gedanke stimmt mich sehr traurig.«
»Mich macht er noch trauriger, glauben Sie mir.«
»In einer Stunde wird man kein Wort mehr aus Ihrem Mund glauben können. Warum wollen Sie sich dieser Tortur aussetzen?«
»Sie glauben doch jetzt schon nicht, was ich sage. Was für einen Unterschied macht da eine Stunde? Ich habe gehört, dass Villa seinen Gefangenen einen kleinen Vorsprung gab und damit die Chance, ihr Heil in der Flucht zu suchen.«
»Mein Freund General Villa musste auch keines seiner Kinder begraben.«
»Hören Sie, mein Sohn ist Offizier im zehnten Kavallerieregiment. Sein Name ist Ishmael Holland. Ich bin hergekommen, weil ich nach ihm suche«, sagte Hackberry. »Für Ihre Revolution hier unten interessiere ich mich nicht. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen, oder? Er ist so groß wie ich und hat ein breites Lächeln.«
»Warum muss ein Vater nach seinem Sohn suchen? Sagt Ihnen der Junge denn nicht, wo er hingeht?«
»Er hat den Glauben an seinen Vater vor langer Zeit aufgegeben.«
»Sie sind wirklich ein bedauernswerter Mann.«
»Was soll jetzt passieren, General?«
»Nun, vielleicht fühlen Sie sich besser, wenn Sie uns Ihre Sünden beichten.«
Hackberry schaute aus dem Fenster, wo das Licht der Sonne die Wände des Canyons flutete. »Ich hab mal John Wesley Hardin ins Gefängnis gesteckt. Das haben nur zwei Gesetzeshüter geschafft. Ich war einer von ihnen.«
»So was interessiert uns nicht. Warum erzählen Sie uns Geschichten von texanischen Revolverhelden?«
»Nun, ich hätte gern ein paar nette Worte auf meinem Grabstein stehen.«
»In Mexiko haben nur die Reichen Inschriften auf ihren Grabsteinen. Sehen Sie die Wunde an meinem Bein? Ich habe keine Medizin dafür. In Ihrem Land kosten die Medikamente, mit denen ich mein Bein retten könnte, nur ein paar Pennys. Stimmt es eigentlich, dass die Schwarzen ihre Munition mit Knoblauch einreiben?«
»Villa hat nördlich der Grenze geplündert, General. Ich glaube, Sie machen die falschen Leute für Ihre Probleme verantwortlich.«
»Geplündert?! Und deshalb können die Texas Ranger ohne Rücksicht in die Waggons unseres Zugs schießen und meinen sechzehnjährigen Sohn ermorden? Ihre Dreistigkeit wird Ihr Untergang sein, Señor.«
»Dann kommen wir besser gleich zur Sache.«
Hackberry sah, wie eine der Prostituierten den Kopf hob und ihn anschaute. Ihre Augen waren feucht und voller Bedauern, ein Zittern huschte über ihre Wange.
So schlimm wird es schon nicht sein. Es ist niemals so schlimm, wie man vorher denkt, versuchte er sich einzureden.
Sie brachten ihn nach draußen, in die Nähe der Bäume, wo die Leichen der schwarzen Soldaten an den Ästen hingen; in Sichtweite der mexikanischen Soldaten, die seinen Besuch im Garten Getsemani mit der Gleichgültigkeit von Steinstatuen verfolgten.
Der Schmerz kam in Form eines messingfarbenen Lichtstrahls und traf ihn mit voller Wucht. Blut spritzte auf die Grashalme am Boden, ein Geruch nach brennendem Tierfell stieg ihm in die Nase. Er kam erst wieder zu sich, als ihm jemand Wasser ins Gesicht schüttete, ihm dann aber ein Handtuch um den Kopf wickelte und seinen Mund und seine Nase wieder und wieder mit Wasser flutete. Er wurde erneut ohnmächtig, und es schien so, als würde genau das eintreten, was der General über die Suche nach einem sicheren Hafen vorhergesagt hatte. Er flüchtete sich an einen Ort tief in seinem Inneren, den er nie wieder verlassen wollte. Es war ein kühler Ort, der nach Klee und von Sonnenstrahlen erwärmten Steinen roch, nach Regen, den der Wind durch die Bäume trieb, und nach den Blumen, die auf den Fensterbänken seiner Mutter blühten. Der Ort duftete nach Frühling und kindlicher Unschuld und wurde von einem Regenbogen überspannt, der aus einer grünen Wiese in den Himmel emporstieg. Für einen Moment lang glaubte er sogar, seine Mutter zu sehen, wie sie ihm von der Küchentür aus zulächelte.
Irgendwann spürte er, dass er unsanft hochgehoben und von Männern davongetragen wurde, denen er und sein Leben genauso gleichgültig war wie die Träume, die ihn in seine Kindheit zurückgeführt hatten. Sie schleppten ihn ins Haus, stießen ihn dabei aus Unachtsamkeit gegen den einen oder anderen Türrahmen und ließen ihn schließlich auf eine dreckige Matratze fallen. Einer der Männer fesselte ihm die Handgelenke hinter dem Rücken, wickelte das Seil anschließend um seinen Hals und seine Knöchel und knotete es fest. Dann ließen sie ihn allein. Je höher draußen die Sonne in den Himmel stieg, desto mehr verwandelte sich der Raum in eine stickige Holzkiste ohne Sauerstoff, die nach alter Tapete und Schimmel stank, und natürlich nach den Aktivitäten, die auf der Matratze stattgefunden hatten. An Bewegung war nicht zu denken. Wenn er versuchte, seine Glieder auszustrecken, zog sich die Schlinge um seinen Hals zusammen und schnitt die Blutzufuhr zu seinem Kopf ab. Kurze Zeit später fiel er wieder in einen Dämmerzustand, in dem ihm kleine braune Männer Grassoden in den Mund stopften und brennende Zweige in die Achselhöhlen pressten.
Er erwachte, als plötzlich das Seil gelockert wurde, mit dem seine Handgelenke an Hals und Knöchel gefesselt waren. Er öffnete die Augen und starrte in das Gesicht der Frau mit dem Brokatkleid. Sie hielt ein kurzes Messer mit matter Klinge in der Hand. »Ist es wahr, dass Captain Holland Ihr Sohn ist?«
Es dauerte eine Weile, bis seine Augen scharfe Bilder lieferten. Sein Hals fühlte sich an, als wäre er mit Rost belegt, seine Worte waren von zähem Schleim überzogen. »Wie bitte?«, krächzte er.
»Ist Ishmael wirklich Ihr Sohn?«
»Warum sollte ich lügen?«
»Weil Sie meiner Meinung nach ein ehrloser Taugenichts sind, der regelmäßig die Unwahrheit sagt.«
»Woher kennen Sie meinen Sohn?«
»Es gab da mal einen Vorfall. Huertas Schakale hielten meinen Wagen an und wollten mich bei lebendigem Leib begraben. Sie behaupteten, ich würde für die Regierung arbeiten.«
»Was hat Ishmael mit Huertas Männern gemacht?«
»Er tötete sie. Jetzt wartet der General mit seinen Männern auf ihn. Sie wollen ihn in einen Hinterhalt locken.«
»Die Kerle wollen meinen Sohn in einen Hinterhalt locken?«
»Ja. Was denken Sie denn, warum die Typen immer noch hier sind? Meine Mädchen haben sie schon alle durch. Jetzt geht es ihnen nur noch darum, Ihren Sohn zu töten.«
»Ist mein Junge hier Stammkunde?«
»Nein, das ist er nicht. Aber er wird nach seinen Männern suchen, wenn sie nicht ins Lager zurückkehren.« Sie durchtrennte die Fesseln an seinen Handgelenken. »Da ist eine Pistole unter der Matratze. Ich hab einem der Mädchen erlaubt, sie dort zu verstecken, nachdem sie von einem Kunden geschlagen wurde.«
»Wer sind Sie?«
»Was kümmert Sie das?«
»Warum sind Sie so wütend auf mich?«
Sie griff in eine der Taschen ihres Kleides und zog eine kleine, halb voll mit Whiskey gefüllte Flasche hervor. »Hier, trinken Sie das.«
Er versuchte aufzustehen, aber seine Knie gaben nach, und er sackte mit zitternden Händen zurück auf die Matratze. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, drehte sich der Raum um ihn herum. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte er. »Sie haben mich noch nie gesehen, und trotzdem verurteilen Sie mich.«
»An Ihnen klebt das Blut, das Sie vergossen haben. Sie sind ein Söldner, egal, wie Sie es drehen und wenden«, sagte sie. »Ich hoffe, dass Sie Ihrem Sohn helfen können, aber ich will, dass Sie mein Haus verlassen. Stehen Sie auf und verschwinden Sie!«
Er schob seine Hand unter die Matratze und ertastete einen harten Gegenstand. Es war eine vernickelte Derringer. Er öffnete den Verschluss und sah zwei Patronen Kaliber .41 in den übereinander angeordneten Läufen. »Damit komme ich nicht weit«, sagte er und legte die Taschenpistole auf seinem Oberschenkel ab.
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen: Haben Sie vielleicht eine Flinte oder ein Gewehr?«
Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie Mühe hatte, ihren Groll zu unterdrücken. »Im Schrank steht ein Gewehr. Es gehört dem Österreicher, der das Mädchen geschlagen hat.«
»Was für ein Österreicher?«
»Ein Österreicher eben. Ein Mann, von dem Sie sich besser fernhalten. Er hat sich für heute angekündigt.«
»Sie haben einen französischen Akzent und sehen aus wie eine Kreolin. Ich schätze mal, Sie stammen von den Karibikinseln oder aus New Orleans, richtig?«
»Seien Sie doch einfach froh, dass ich Sie gerettet habe, und sparen Sie sich die Fragerei.« Sie öffnete die Schranktür. In der Ecke stand ein Krag-Jørgensen, Kaliber .30–40. »Der Österreicher schießt Kojoten damit. Die Munition ist in der Ledertasche auf dem Boden.«
»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass die ganze Geschichte hier mit dem Leichenwagen vor der Tür zu tun hat?«
»Das kommt davon, weil Sie ständig an Ihren persönlichen Vorteil denken. Es ist gut möglich, dass keiner von uns diesen Tag überlebt, aber Sie sind mehr an Profit als an Ihrem Überleben interessiert«, sagte sie. »Ihr Sohn hat mir erzählt, was Sie ihm angetan haben.«
Hackberry musste schlucken. »Er hasst seinen Vater immer noch, nicht wahr?«
»Ich denke nicht, dass er seine Zeit damit verschwenden würde, Sie tatsächlich zu hassen. Sie sind ein bemitleidenswerter Mann, Mr. Holland.«
»Sind Sie Ishmaels Geliebte?«
»Ich bin eine Freundin.«
»Eine Freundin, die mit ihm in die Kiste springt?«
Sie verpasste ihm eine Ohrfeige.
Er wartete einen Moment, bevor er wieder sprach. »Es tut mir leid, dass ich meine Probleme in Ihr Haus geschleppt habe. Es stimmt, ich war bei dem Angriff auf den Zug dabei, aber ich habe dem General die Wahrheit gesagt: Ich bin hier, weil ich meinen Sohn finden will«, sagte Hackberry. »Ich stehe in Ihrer Schuld, weil Sie sich bei den Kerlen für mich starkgemacht haben.«
Aber sie hörte nicht mehr, was er sagte, sondern starrte gedankenversunken auf seine Füße. Praktische Erwägungen schienen die Verachtung und die Wut in ihrem Inneren zu verdrängen. »Lupas Männer haben Ihnen die Fußsohlen verbrannt. Sie werden nicht laufen können. Warten Sie hier.«
Sie ging aus dem Zimmer und kehrte mit einer Schüssel Wasser, einem Paar Socken und lammfellgefütterten Schuhen zurück. Dann kniete sie sich vor ihm auf den Boden, badete seine Füße, rieb sie mit Fettcreme ein und zog ihm die Socken vorsichtig erst über die Zehen mit den herausgerissenen Nägeln, dann über die von Brandblasen übersäten Füße.
»Danke«, sagte er.
Mit erhobener Hand bedeutete sie ihm zu schweigen. Dann machte sie ein paar Schritte Richtung Fenster und blieb still stehen. Vor ihr tanzten die Vorhänge im Wind. Als sie sich wieder umdrehte, waren ihre Augen hell erleuchtet. »Da ist ein Pferdewagen auf dem Weg hierher. Sie kommen tatsächlich.«
»Wer?«
»Amerikanische Soldaten.«
»Woher wissen Sie, dass es Amerikaner sind?«
»Die amerikanischen Wagen haben eisenbeschlagene Räder, die mexikanischen Karren nicht.«
»Von wem sind die Schuhe, die Sie mir gegeben haben?«
»Von einem Regierungsbeamten aus Mexiko-Stadt. Ich habe mit angesehen, wie sie ihn da draußen zwischen den Bäumen exekutiert haben. Er war korrupt, hat den Reichen gedient und sein Volk betrogen. Er musste sogar sein eigenes Grab schaufeln. Doch dann ist er auf die Knie gegangen und hat die Namen der Spitzel in den Reihen der Revolutionäre preisgegeben. Ich schätze, dass darunter auch einige Namen von unschuldigen Menschen waren«, sagte die Frau. »Ich behaupte nicht, dass Sie so sind wie dieser Kerl, aber Sie dienen denselben Herren. Sie haben bei dem Angriff auf den Zug notleidende Zivilisten überfallen und getötet, Menschen, die jeden Abend mit knurrendem Magen ins Bett gehen. Sind Sie etwa stolz auf diese Taten?«
»Warum trifft Ihr Zorn nur mich und nicht auch meinen Sohn?«
»Er ist Soldat und führt Befehle aus, die er nicht mag. Sie hingegen töten für Geld und aus Spaß an der Sache. In Mexiko gibt es jede Menge Texaner von Ihrer Sorte.«
»Wie heißen Sie?«
»Beatrice DeMolay.«
»Nun, Miz DeMolay, was Sie eben gesagt haben, ist wahrscheinlich das Schlimmste, was mir je ein Mensch an den Kopf geworfen hat«, sagte er. »Sind Sie sicher, dass ich nicht schon längst tot bin?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich verdammt noch mal das Gefühl habe, bereits in der Hölle zu schmoren.«
Während er durch die Hintertür nach draußen ging, lud er das Krag-Jørgensen durch und schob die Derringer in die Gesäßtasche seiner Hose. Er schlich hinter den Pfählen der beiden Zisternen herum und kam dann an zwei Bretterhütten vorbei. In einer lagerte Scheitholz, in der anderen befanden sich eine gusseiserne Badewanne und ein Holzofen zum Erhitzen von Wasser.
Anschließend lief er durch die Baumgruppe, in der die Leichen der schwarzen Soldaten hingen. Wie in der Sonne geschmolzene Wachsfiguren baumelten sie von den Ästen, die Gesichtszüge unkenntlich, die Hälse abgeknickt.
Er arbeitete sich weiter vor, zu einer kreisförmigen Sandsteinformation, die außerdem von Felsgeröll geschützt war und ein perfektes Scharfschützennest mit freiem Schussfeld auf den General und seine Männer weiter unten am Hang abgab. Er ging zwischen zwei Felsbrocken in Stellung und vergewisserte sich, dass seine Silhouette von unten nicht gesehen werden konnte. Dann wickelte er den Lederriemen des Krag-Jørgensen um seinen linken Unterarm und legte auf den Rücken des Generals an. Etwa einhundert Meter vom General entfernt konnte er auf der staubtrockenen Ebene einen von Eseln gezogenen Wagen mit zwei schwarzen Soldaten ausmachen, dahinter ritt ein weiterer Mann in Uniform auf einem Buckskin. Sie trugen spitz zulaufende, breitkrempige Filzhüte mit herabhängenden Rändern, blinzelten mit zusammengekniffenen Augen in die von gleißenden Sonnenstrahlen überflutete Landschaft und gaben sich sehr wahrscheinlich dem einen oder anderen lustvollen Gedanken über das vor ihnen liegende Freudenhaus hin, ohne etwas von der Gefahr zu ahnen, in der sie sich befanden.
Vielleicht ritt Ishmael ja in einigem Abstand hinter seinen Männern her, versuchte sich Hackberry einzureden, und vielleicht würde es ja trotz der gefährlichen Situation gleich ein Wiedersehen mit seinem lange verschollenen Sohn geben. Aber er wusste nur zu gut, dass er sich selbst belog. Wäre Ishmael mit seinen Männern unterwegs, würde er ungeachtet des militärischen Protokolls vorneweg reiten. Als kleiner Junge schon hatte Ishmael keine Herausforderung gescheut, war oft mit stolz geschwellter Brust vorgetreten, hatte seinen Vater beim Spitznamen angeredet, als wären sie langjährige Waffenbrüder, und hatte Verantwortung übernommen. »Hey, Big Bud!«, hatte es dann geheißen. »Ich trage meine Wasserflasche selber!«
Hackberry spürte, wie eine Mischung aus Scham und Reue sein Herz zusammenpresste. Wie nur hatte er diesen kleinen Burschen, den liebenswürdigsten Jungen, den er je kennengelernt hatte, derart grausam verraten und enttäuschen können? Schlimmer noch: Wie war es möglich gewesen, dass er sich von seinem eigenen Sohn abgewandt hatte, nur weil sein von Neid zerfressenes Weibsbild ihren Ehemann, einen moralischen Feigling par excellence, immer wieder meisterhaft zu manipulieren und um den Finger zu wickeln gewusst hatte?
»Hey, Lupa! Ich bin’s noch mal«, rief er den Hang hinab.
Der General drehte sich um. Um stehen zu können, musste er sich auf zwei aus Ästen gefertigte Krücken stützen, deren Enden sich in seine Achselhöhlen gruben. Der Schweiß glänzte auf seinem runden Gesicht. »Hey, Amigo! Schön, dass es Ihnen schon wieder besser geht«, antwortete er.
»Wie wär’s, wenn Sie Ihren Muchachos sagen, dass sie die Waffen niederlegen sollen?«
»Machen Sie Witze, Señor? Es ist gut möglich, dass wir gleich angegriffen werden.«
»Oben in den Bergen haben Sie doch noch viel mehr Männer. Ich frage mich, warum Sie die nicht mitgebracht haben.«
»Die müssen unsere Landesgrenzen schützen.«
»Ist es nicht eher so, dass Sie hier ein paar Geschäfte abwickeln, von denen möglichst wenig Leute wissen sollen?«
»Das Echo … ich kann Sie nicht gut verstehen, Señor. Außerdem blendet die Sonne ziemlich stark. Kommen Sie doch runter zu uns, damit wir uns als Compañeros unterhalten können. Dann können Sie das Bad nehmen, von dem wir vorhin sprachen, und wir hören uns etwas Musik auf dem Grammofon der Puta an.«
»Diese Buffalo Soldiers in der Ebene da draußen haben gerade einen Heliografen benutzt, um ihre Truppe zu benachrichtigen«, rief Hackberry. »Das sind die Jungs von General Pershing. Und wie ich das sehe, wird der alte Pershing ziemlich sauer sein, wenn er die Schweinerei sieht, die Sie und Ihre Muchachos hier veranstaltet haben.«
Der General hatte sichtlich Mühe, sein komplettes Körpergewicht auf dem gesunden Bein zu halten. Der Schmerz begann seinen Tribut zu fordern. In den hellen Sonnenstrahlen glänzte seine von Narben überzogene Gesichtshaut in einem gelb-braunen Ton wie abgenutztes Sattelleder, und der Schweiß rann unter seinem Hut hervor. »Ich habe eine Überraschung für Sie, Señor. Passen Sie gut auf, was wir mit den Geschenken der Deutschen anstellen können.«
Als der General etwas zu dem hinter ihm knienden Soldaten sagte, entdeckte Hackberry die Zündmaschine neben dem Mann und das Kabel, das von dort in die Ebene führte. Der Soldat packte den Griff der Zündmaschine mit beiden Händen und drückte ihn nach unten.
In einer pilzförmigen Fontäne aus grauer und orangefarbener Erde explodierte draußen in der Ebene der Wagen. Zersplittertes Holz, zerrissenes Zaumzeug, abgetrennte Maultierhufe, blutige Innereien, zerborstene Räder, Achsen und Federn und Uniformfetzen flogen in die Luft und regneten einen Augenblick später auf den Boden herab wie die verkohlten Reste von Feuerwerksraketen.
Auch der Reiter des Buckskin war durch die Explosion zu Boden gerissen worden, sprang aber gleich wieder auf und rannte davon. Im Laufen versuchte er noch, seine Pistole aus dem Holster zu zerren, doch als er einen kleinen Hügel überquerte, erwischte ihn eine Gewehrsalve. Für einen Moment wirkte es so, als würden die Kugeln der Mexikaner ihn in seiner Bewegung erstarren lassen und gegen den Himmel nageln. Dann brach er zusammen.
Das Donnern der Explosion rollte durch den Canyon.
»Jetzt können wir uns unterhalten, Amigo«, rief der General. »Kommen Sie runter, und wir rauchen eine Zigarre zusammen. Es ist nicht gut, sich so anzuschreien.«
Kaum hatte der General seine Einladung ausgesprochen, hatten sich schon vier der mexikanischen Soldaten auf den Weg gemacht. In Zweierpaaren kletterten sie an den Flanken durch Felsbrocken und Geröll auf Hackberrys Position zu. Hackberry nahm zuerst den Soldaten ins Visier, der ihm am nächsten war, und drückte den Abzug des Krag-Jørgensen. Einen Sekundenbruchteil später presste sich der Mann die Hand auf den Brustkorb, als hätte ihn dort ein übergroßer Hammer getroffen. Dann sackte er zwischen den Felsbrocken zusammen. Sein Mund stand offen, er atmete schwer und starrte Hackberry mit fassungslosem Blick an, so als könnte er nicht begreifen, was ihm gerade widerfahren war.
Hackberry lud das Krag-Jørgensen durch und nahm den Mexikaner ins Visier, der hinter dem Getroffenen stand. Der Mann versuchte, auf Hackberry anzulegen, starrte aber nur mit tränenden Augen geradewegs in die Sonne. Einen Augenblick später riss ein Vollmantelgeschoss Kaliber .30–40 ein Loch in seine Stirn. Die Knie des Mannes gaben nach, und er ging zu Boden, wie sie es alle taten, wenn es die Zentrale erwischte.
Die Soldaten, die sich auf der anderen Seite des Canyons an Hackberry heranschlichen, waren offensichtlich sehr verblüfft über die Tatsache, dass der Mann, den sie eben noch gefoltert hatten, auf einmal ein durchschlagskräftiges Gewehr besaß. Ohne Deckung standen sie auf einem großen, runden Felsbrocken und starrten direkt in die Sonne zu Hackberry hinauf, als dieser anlegte und dem ersten in die Brust, dem zweiten ins Gesicht schoss.
Hackberry riss das Gewehr herum und richtete es auf den General. Er nahm den Flecken nackter Haut zwischen Kehlkopf und Unterhemdkragen ins Visier und spannte den Zeigefinger im Abzugsschutz des Krag-Jørgensen an.
»Soll das heißen, wir sind keine Amigos mehr?«, rief der General. »Na los, raus mit der Sprache. Sag schon, Gringo, Mörder meines Sohnes, Henker der Armen und Entrechteten.«
Mit einem Mal schien das Bild des Generals hinter dem Korn an Hackberrys Gewehr zu verschwimmen. War es der Schweiß in seinen Augen oder die Reflexion des Sonnenlichts auf dem Gewehrlauf? Der Hunger in seinem Magen oder die kräftezehrende Folter durch die Mexikaner? Oder lag es am Ende doch an den Worten des Generals, die Hackberry wie ein Stich ins Herz getroffen hatten?
Hackberry drückte den Abzug und sah, wie sich der Kragen an der Uniform des Generals kurz aufplusterte, als wäre ein Windstoß daruntergefahren. Lupa presste die Finger gegen den roten Streifen auf seinem Hals, wo ihn der Schuss gestreift hatte. Dann starrte er auf seine Handfläche. »Lässt dich dein Auge im Stich, Amigo? Schlecht für dich, gut für mich, nicht wahr?«
Hackberry drückte fünf neue Patronen in das Magazin, zog den Kammerstängel zurück, schob ihn wieder nach vorn und legte an. »Die nächste sitzt.«
»Chinga tu madre, du verdammter Maricón.«
»Ich sehe also wie ein warmer Bruder für dich aus?«
»Na los, schieß doch! Ich hab keine Angst. Im Gegenteil: Ich scheiß auf dich, und ich scheiß auf deine ganze Familie. Me cago en la puta de tu madre.«
Der junge Offizier und zwei der restlichen Soldaten hatten sich hinter einem Haufen Felsbrocken und ein paar abgestorbenen Zypressenbäumen verschanzt. Sie hatten Repetiergewehre, möglicherweise Mauser, und trugen schwarze Patronengürtel aus Leder mit kleinen Taschen, die sehr wahrscheinlich mit einsatzbereiten Magazinen gefüllt waren. Hackberry schob sich rückwärts aus seinem Nest und kroch mit dem Sonnenlicht im Rücken und außerhalb des Sichtfelds der Mexikaner über einen Tafelfelsen. Dann sprintete er zur Wand des Canyons, ging in deren Schatten in die Hocke und verschwand im Schutz einer Gruppe Weidenbäume neben einer rötlich gefärbten Wasserpfütze. Das Dröhnen in seinem Kopf war auf die Lautstärke von Kesselpauken angestiegen.
Er konnte den General, den jungen Offizier und die beiden Soldaten sehen, diese jedoch ahnten nicht einmal, wo er sich befand. Durch das verwirrende Echo der Schüsse wäre er wahrscheinlich in der Lage, einen nach dem anderen niederzustrecken, ohne dass sie herausfinden würden, von wo das tödliche Feuer kam. Es gab nur ein Problem. Er konnte die Worte des Generals nicht aus seinem Kopf kriegen. Henker der Armen und Entrechteten.