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Mark Miodownik

Wunderstoffe

Zehn Materialien, die unsere
Zivilisation ausmachen

Aus dem Englischen übersetzt
von Jürgen Neubauer

Deutsche Verlags-Anstalt

Zum Buch

Warum ist Glas durchsichtig? Wieso bricht Porzellan so leicht? Was macht aus Kakaobohnen gute Schokolade? Warum kann sich Beton selbst heilen? Der englische Materialforscher Mark Miodownik begibt sich tief ins Innere von menschengemachten Materialien, die für uns alltäglich und meist auch ganz unentbehrlich sind, deren Geheimnisse wir aber selten kennen. Er zeigt auf unterhaltsame Weise und für jeden verständlich ihre verborgenen faszinierenden Seiten, die erklären, warum diese Stoffe auf der ganzen Welt verbreitet sind und zu wichtigen Bausteinen unserer Zivilisation wurden. Ein Buch, das uns die Dinge in unserer Umgebung mit neuen Augen betrachten lässt und Begeisterung weckt für die Welt der Kristallgitter, Moleküle und wundersamen Mixturen.

 

»Wunderbar. Miodownik schreibt so gut, dass sogar Beton funkelt.« Financial Times

Zum Autor

Mark Miodownik, geboren 1969, ist Materialwissenschaftler am University College London. Bereits 2010 zählte ihn die Times zu den 100 einflussreichsten Wissenschaftlern. In Großbritannien ist er in Radio und Fernsehen ein gefragter Gesprächspartner und Moderator von Wissenschaftssendungen. Miodownik schreibt außerdem regelmäßig für den Guardian und die Times. Wunderstoffe wurde 2014 als bestes Wissenschaftsbuch des Jahres mit dem Royal Society Winton Prize ausgezeichnet.

Für Ruby, Lazlo und Ida

Inhalt

 

Einleitung

Kapitel 1

Unbezwingbar

Kapitel 2

Vertrauenswürdig

Kapitel 3

Grundlegend

Kapitel 4

Köstlich

Kapitel 5

Wunderbar

Kapitel 6

Fantasievoll

Kapitel 7

Unsichtbar

Kapitel 8

Unzerstörbar

Kapitel 9

Fein

Kapitel 10

Unsterblich

Kapitel 11

Synthese

 

Dank

 

Ausgewählte Literatur

 

Bildnachweis

 

Register

Einleitung

Blutend stand ich im Zug und überlegte, was ich tun sollte. Im allerletzten Moment war ich in den U-Bahn-Waggon gesprungen, aber mein Angreifer hatte es gerade noch geschafft, mir einen Stich in den Rücken mitzugeben. Es schmerzte, als hätte ich mich an Papier geschnitten, nur viel schlimmer, aber in diesem Moment hatte ich noch keine Ahnung, dass die Wunde dreizehn Zentimeter lang war. Und weil ich damals noch ein pickliger Schuljunge war und es mir einfach zu peinlich gewesen wäre, jemanden um Hilfe zu bitten, biss ich die Zähne zusammen und fuhr nach Hause.

Um nicht an den Schmerz denken zu müssen und um das unangenehme Kribbeln des Blutes auf meinem Rücken zu vergessen, ließ ich die Ereignisse der letzten Minuten noch einmal an mir vorüberziehen. Als ich auf dem Bahnsteig gestanden hatte, war mein Angreifer auf mich zugekommen und hatte mich um Geld gebeten. Als ich den Kopf geschüttelt hatte, war er mir ungemütlich nahe gekommen, hatte mich entschlossen angesehen und behauptet, er habe ein Messer. Er hatte eine feuchte Aussprache, und ein paar Tropfen seiner Spucke landeten auf meiner Brille. Ich folgte seinem Blick hinunter zur Tasche seines Anoraks, in der seine Hand steckte. Dort sah ich eine Ausbeulung, aber ich nahm an, dass es kein Messer war, sondern sein Zeigefinger. Und selbst wenn er ein Messer hatte, dann konnte es ja nicht allzu groß sein, weil es sonst nicht in die Tasche gepasst hätte, dachte ich. Deswegen würde es nicht viel Schaden anrichten. Ich hatte selbst ein Taschenmesser und wusste, dass dessen Klinge meine vielen Kleiderschichten kaum durchbohren würde: Ich trug meine Lederjacke, auf die ich so stolz war, das graue Jackett meiner Schuluniform, einen Pullunder aus Polyester, ein weißes Baumwollhemd mit der Schul­krawatte und eine Baumwollweste. Schnell fasste ich einen Plan: Ich wollte ihn reden lassen, und dann genau in dem Moment, in dem sich die Türen der U-Bahn schlossen, an ihm vorbei in den Waggon springen. Der Zug fuhr ein, und ich war mir sicher, dass er nicht schnell genug reagieren würde.

Mit einem sollte ich Recht behalten: Er hatte tatsächlich kein Messer. Aber er hatte eine Rasierklinge, die er auf der einen Seite mit Klebeband umwickelt hatte. Dieses winzige Stück Stahl, kaum größer als eine Briefmarke, hatte problemlos und in einem einzigen Schnitt fünf Kleiderschichten, meine Oberhaut und meine Lederhaut aufgeschlitzt. Als ich die Tatwaffe später auf der Polizeiwache sah, war ich wie hypnotisiert. Natürlich kannte ich Rasierklingen, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich nicht das Geringste über sie wusste. Damals hatte ich gerade angefangen, mich zu rasieren, und kannte sie nur in Form von Einwegrasierern, die Klinge umhüllt von Kunststoff in einem freundlichen Orange. Als mir der Polizeibeamte Fragen zu der Waffe stellte, zitterte der Schreibtisch zwischen uns, und die Rasierklinge zitterte mit. Dabei glitzerte sie im Neonlicht, und ich konnte gut sehen, dass die Stahlkante noch wie neu war und der Angriff vom Nachmittag nicht die geringste Spur hinterlassen hatte.

Später ließ mich der Polizeibeamte ein Formular ausfüllen, während meine Eltern nervös neben mir saßen und sich fragten, warum ich zögerte. Hatte ich meinen Namen und meine Adresse vergessen? In Wirklichkeit starrte ich auf die Klammer, mit der die Seiten zusammengeheftet waren. Ich war mir sicher, dass sie auch aus Stahl war. Dieses harmlose Stückchen aus silbrigem Metall hatte sich sauber und präzise durch das Papier gebohrt. Ich besah mir die andere Seite der Klammer: Die beiden Enden waren fein säuberlich umgebogen und hielten den Papierstapel fest zusammen. Ein Goldschmied hätte es nicht besser machen können. (Später sollte ich herausfinden, dass der erste Papierhefter für Ludwig XV. von Frankreich handgefertigt worden war und dass auf jeder Heftklammer die Insignien des Königs eingraviert waren. Wer hätte gedacht, dass Büroartikel blaues Blut haben?) Staunend zeigte ich dieses Meisterwerk meinen Eltern, die einander besorgt ansahen und vermutlich befürchteten, dass ich noch unter Schock stand.

Was gut möglich ist. Es war jedenfalls der sonderbare Beginn meiner Begeisterung für Materialien, beginnend mit Stahl. Plötzlich wurde mir bewusst, dass die Welt voller Stahl ist, und wenn Sie sich einmal umsehen, werden Sie das bestätigen können. Die Spitze des Kugelschreibers, mit der ich das Polizeiformular ausfüllte, war aus Stahl. Es klimperte an dem Schlüsselbund, mit dem mein Vater nervös spielte. Später stieg ich in eine Kiste aus Stahl, das auf die Stärke von Pappkarton ausgewalzt war, und ließ mich nach Hause fahren. Unser stählerner Mini, der sonst so laut knatterte, verhielt sich an diesem Tag erstaunlich ruhig, so als wolle er sich für den Angriff durch seinen stählernen Vetter entschuldigen. Zu Hause setzten wir uns an den Küchentisch und aßen schweigend einen Teller Suppe. Während ich vor mich hin sann, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich ein Stück Stahl im Mund hatte. Ganz bewusst lutschte ich an dem Löffel, dann nahm ich ihn aus dem Mund und betrachtete das glänzende Metall. Es war so poliert, dass ich sogar mein verzerrtes Spiegelbild darin erkennen konnte. »Was ist das für ein Zeug?«, fragte ich meinen Vater und hielt ihm den Löffel vor die Nase. »Und warum schmeckt das nach nichts?« Ich steckte den Löffel wieder in den Mund, um diese Tatsache noch einmal zu überprüfen.

Plötzlich purzelten die Fragen durch meinen Kopf. Wie konnte es sein, dass dieses Material so viel für uns tut, es uns aber kaum der Rede wert ist? Es spielt eine intime Rolle in unserem Leben – wir stecken es in den Mund, benutzen es, um unerwünschte Haare zu entfernen, und fahren damit durch die Gegend. Es ist unser treuester Freund, aber wir wissen so gut wie nichts darüber. Warum schneidet eine Rasierklinge, und warum biegt sich eine Heftklammer? Warum glänzen Metalle? Und wo wir schon dabei sind: Warum ist Glas durchsichtig? Warum hassen wir Beton, warum lieben wir Diamanten? Warum schmeckt Schokolade so gut? Warum sehen Materialien so aus, wie sie aussehen, und warum haben sie die Eigenschaften, die sie haben?

Seit jenem denkwürdigen Angriff mit der Rasierklinge hat mich die Begeisterung für Materialien nicht mehr losgelassen. Ich habe an der University of Oxford Materialwissenschaften studiert, meine Doktorarbeit über Metalllegierungen für Flugzeugmotoren geschrieben und in einigen der modernsten Laboratorien der Welt als Materialforscher und Ingenieur gearbeitet. Darüber ist meine Faszination für Materialien immer größer geworden, und mit ihr meine Sammlung außergewöhnlicher Materialproben. Diese Sammlung ist inzwischen in eine gewaltige Materialbibliothek eingegangen, die ich mit meinen Freunden und Kollegen Zoe Laughlin und Martin Conreen aufgebaut habe. Einige dieser Materialien sind unglaublich exotisch, zum Beispiel ein Stück Aerogel der NASA, das zu 99,8 Prozent aus Luft besteht und an geronnenen Rauch erinnert; andere sind radioaktiv, wie das Uranglas, das ich in einer Ecke eines Antiquitätenladens in Australien entdeckte; andere sind klein, aber unglaublich schwer, wie ein Barren aus dem Metall Wolfram; und wieder andere wirken vertraut, haben aber ein verborgenes Geheimnis, zum Beispiel ein Brocken von selbstheilendem Beton. Diese über tausend Stoffe unserer Bibliothek sind die Zutaten, aus denen wir unsere Welt zusammensetzen – unsere Häuser, Kleider, Maschinen und Kunstwerke. Sie befindet sich heute im Institute of Making am University College in London. Mit dem Inhalt dieser Bibliothek könnte man unsere Zivilisation wiederaufbauen, aber man könnte sie damit auch zerstören.

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Es gibt jedoch eine noch viel größere Bibliothek, die schon heute viele Millionen Materialien enthält und exponentiell wächst: die vom Menschen geschaffene Welt selbst. Sehen Sie sich das Foto auf dieser Seite an: Es zeigt mich, wie ich auf der Dachterrasse meines Hauses sitze und Tee trinke. Kein besonderes Foto, aber wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie einen ganzen Katalog der Stoffe, aus denen wir unsere Zivilisation geschaffen haben. Der Stoff macht’s: Wenn Sie sich den Beton, das Glas, die Textilien, das Metall und all die anderen Materialien aus dem Foto wegdenken, dann sitze ich nackt und bibbernd an der frischen Luft. Wir bezeichnen uns als zivilisiert, aber wir machen uns gar nicht klar, dass wir unsere Zivilisation in erster Linie diesen Stoffen verdanken. Ohne sie wären wir den Elementen genauso ausgeliefert wie die anderen Tiere. In gewisser Weise werden wir zum Menschen erst durch unsere Kleider, unsere Häuser, unsere Städte und das ganze Zeug, das wir mit unseren Gewohnheiten und unserer Sprache zum Leben erwecken. (Das wird besonders deutlich, wenn man einmal ein Katastrophengebiet besucht.) Die stoffliche Welt ist nicht nur ein Zeugnis unserer Technologie und Kultur, sondern sie ist Teil von uns selbst. Wir haben sie erfunden, wir haben sie erschaffen, und sie macht uns umgekehrt zu dem, was wir sind.

Wie wichtig unsere Materialien für uns sind, verdeutlichen schon die Namen, mit denen wir die verschiedenen Epochen der menschlichen Zivilisation bezeichnen: Steinzeit, Bronze­zeit, Eisenzeit. Jedes neue Zeitalter der menschlichen Existenz wurde von einem neuen Material eingeläutet. Das 19. Jahrhundert wurde durch den Stahl bestimmt, mit dem Ingenieure ihre kühnsten Träume verwirklichten und Brücken, Eisenbahnen, Dampfmaschinen und Passagierschiffe bauten. Der große Ingenieur Isambard Kingdom Brunel veränderte mit diesem Material die Landschaft und bereitete der Moderne den Weg. Das 20. Jahrhundert wird oft als Silizium-Zeitalter bezeichnet, nach dem Durchbruch der Materialforschung, die den Computerchip und die Informationsrevolution ermöglichte. Damit vernachlässigen wir jedoch ein ganzes Kaleidoskop von anderen Materialien, die im vergangenen Jahrhundert unser Leben umgekrempelt haben. Mit massenproduzierten Glasscheiben und Stahlskeletten errichteten Architekten Wolkenkratzer und erfanden damit eine ganz neue Form des städtischen Lebens. Kunststoffe inspirierten Produkt- und Textildesigner und veränderten damit unsere Haushalte und Bekleidung. Aus Polymeren wurde Zelluloid hergestellt, und das war der Grundstein für die größte Revolution der Bildkultur der vergangenen Jahrtausende: das Kino. Dank Aluminium- und Nickellegierungen können wir Flugzeugmotoren bauen und kostengünstig in alle Welt fliegen, was den Kontakt zwischen den Kulturen verstärkt. Mithilfe der Keramik erneuern Ärzte und Zahnärzte unseren Körper und definieren Behinderung und Alter neu; wie der Begriff »plastische Chirurgie« andeutet, sind Materialien heute ein Schlüssel zu neuen Behandlungsformen, die uns verlorene Fähigkeiten zurückgeben (zum Beispiel mit künstlichen Hüftgelenken) oder unsere körperlichen Eigenschaften verändern (zum Beispiel mit Brustimplantanten aus Silikon). Und Gunther von Hagens Ausstellung »Körperwelten« führt uns vor Augen, wie neue Biomaterialien sogar die Wahrnehmung unserer Körperlichkeit verändern.

Dieses Buch ist für all diejenigen, die die stoffliche Welt verstehen wollen, die wir geschaffen haben, und die wissen wollen, woher diese Stoffe kommen, wie sie funktionieren und was sie über uns aussagen. Obwohl diese Materialien überall in unserer Umgebung sind, wissen wir oft erstaunlich wenig über sie. Auf den ersten Blick geben sie nichts über sich preis und fügen sich nahtlos in unseren Alltag ein. Die meisten Metalle sind glänzend und grau – wie viele Menschen erkennen den Unterschied zwischen Stahl und Aluminium? Holz sieht zwar irgendwie unterschiedlich aus, aber wer könnte schon sagen, warum? Kunststoffe sind noch verwirrender – wer kennt schon den Unterschied zwischen Polyethylen und Polypropylen? Und warum sollte sich überhaupt jemand dafür interessieren?

Ich interessiere mich dafür, und in diesem Buch möchte ich Ihnen verraten, warum. Wenn man die Stoffe beschreiben möchte, aus denen unsere Welt gemacht ist, könnte man an jedem beliebigen Punkt beginnen. Deshalb nehme ich als Ausgangspunkt und Inspiration das Foto, das mich auf dem Dach meines Hauses zeigt. Ich habe zehn Materialien ausgewählt, die auf diesem Foto zu sehen sind, um die Geschichte unserer stofflichen Welt zu erzählen. Bei jedem Material gehe ich der Frage nach, welcher menschliche Wunsch hinter seiner Erfindung stand, wie es aus wissenschaftlicher Sicht funktioniert, welche technischen Entwicklungen zu seiner Herstellung nötig waren und warum es für uns so wichtig ist.

Dabei werden wir feststellen, dass – genau wie bei uns Menschen – die eigentlichen Unterschiede zwischen den Materialien unter der Oberfläche verborgen sind. Wir erkennen sie nur, wenn wir uns eine wissenschaftliche Brille aufsetzen. Deshalb verlassen wir hin und wieder die Dimension der menschlichen Erfahrung und betrachten das Innenleben dieser Materialien. Auf dieser mikroskopischen Ebene finden wir eine Erklärung dafür, warum manche Stoffe einen Geruch haben und andere nicht; warum die einen Jahrtausende überdauern und andere in der Sonne vergilben und zerfallen; warum Panzerglas kugelsicher ist, während ein Weinglas leicht zerbricht. Unsere Reise in die mikroskopische Welt offenbart uns die tiefen Strukturen unserer Nahrungsmittel, unserer Bekleidung, unserer Geräte, unseres Schmucks und sogar unseres Körpers.

Während die räumlichen Maßstäbe winzig sind und wir ein Mikroskop benötigen, sind die zeitlichen Maßstäbe oft gewaltig und erstrecken sich über Jahrtausende. Nehmen wir zum Beispiel einen Bindfaden, der eine ähnliche Größendimension hat wie ein Haar. Der Faden ist ein menschliches Erzeugnis, das wir gerade noch so mit bloßem Auge erkennen können und aus dem wir Taue, Decken, Teppiche und vor allem Kleider herstellen. Textilien gehören zu den ältesten von Menschen hergestellten Materialien. Die Jeans und alle anderen Kleidungsstücke an unserem Körper sind gewebte Strukturen, deren Ursprung weit hinter Stonehenge zurückreicht. Seit Urzeiten verwendet der Mensch Kleider, um sich zu wärmen, zu schützen und zu schmücken. Aber es gibt auch Hightech-Kleidung. Im 20. Jahrhundert haben wir gelernt, Stoffe für Raumanzüge zu weben, die Menschen auf dem Mond beschützen; wir haben feste Textilien für künstliche Gliedmaßen entwickelt; und aus persönlichen Gründen freue ich mich, dass es inzwischen auch ein synthetisches Material namens Kevlar gibt, aus dem schnitt- und stichfeste Kleidung hergestellt wird. Auch diese viele Jahrtausende überspannende Geschichte der Materialentwicklung werde ich in diesem Buch immer wieder beschreiben.

In jedem Kapitel stelle ich ein neues Material vor und betrachte es aus unterschiedlichen Blickwinkeln – mal aus historischer Sicht, mal aus eher persönlicher; mal erzähle ich eine dramatische Geschichte, mal eine nüchtern wissenschaftliche; mal gehe ich auf die kulturelle Bedeutung eines Materials ein, mal auf seine erstaunlichen technischen Fähigkeiten. Weil jedes Material anders ist und weil wir zu jedem ein anderes Verhältnis haben, bietet jedes Kapitel eine ganz eigene Herangehensweise. Mithilfe der Materialwissenschaften können wir die technischen Aspekte verstehen, aber Materialien sind viel mehr als Technik. Schließlich wird alles aus irgendetwas gemacht, und die Hersteller – Künstler, Designer, Köche, Ingenieure, Schreiner, Goldschmiede, Chirurgen und so weiter – haben jeweils ein ganz eigenes Verständnis der praktischen, emotionalen und sinnlichen Seiten der Materialien, mit denen sie arbeiten. Und genau diese Vielfalt des Wissens um Materialien versuche ich in diesem Buch einzufangen.

So ist zum Beispiel das Kapitel über Papier eine Abfolge von Schnappschüssen, weil es Papier in vielen Formen gibt und weil es jeder von uns auf vielfältige Weise benutzt. Das Kapitel über Biomaterialien führt uns dagegen tief unter die Oberfläche unserer eigenen stofflichen Existenz, sprich unseres Körpers. Gerade auf diesem Gebiet herrscht heute Aufbruchstimmung: Neue Materialien eröffnen ein völlig neues Zeitalter der Biotechnologie, mithilfe von Bioimplantaten, die intelligente Verbindungen mit unserem Fleisch und Blut eingehen, sollen ganze Organe rekonstruiert werden. Materialien wie diese haben gewaltige Auswirkungen für die gesamte Menschheit und bedeuten eine radikale Veränderung unseres Verhältnisses zu uns selbst.

Weil letztlich alles aus Atomen besteht, müssen wir uns auch deren Gesetze ansehen, und diese werden von der Quanten­theorie beschrieben. Das heißt, wenn wir in die Welt der Atome vordringen, müssen wir unseren gesunden Menschenverstand einen Moment lang beiseitelegen und über Wellen und Teilchen sprechen. Immer mehr Materialien werden auf dieser Ebene gewissermaßen aus ihren Grundbausteinen hergestellt und können schier Unmögliches leisten. Siliziumchips, deren Funk­tionsweise auf der Quantenmechanik basiert, haben bereits das Informationszeitalter eingeläutet. Auf ähnliche Weise werden Solarzellen hergestellt, die in Zukunft unser Energieproblem lösen sollen. Allerdings sind wir noch nicht so weit. Warum das so ist und an welche Grenzen die Materialentwicklung stößt, sehen wir uns am Beispiel des Graphens an, das heute der große neue Hoffnungsträger auf diesem Gebiet ist.

Die Materialwissenschaft geht von dem Gedanken aus, dass Veränderungen auf mikroskopischer Ebene das Verhalten eines Materials auf unserer menschlichen Ebene verändern. Das entdeckten schon unsere Vorfahren, als sie neue Materialien wie Bronze und Stahl herstellten, obwohl sie keine Mikroskope hatten und nicht wussten, was sie da taten – eine erstaunliche Leistung. Wenn Sie zum Beispiel auf ein Metallstück schlagen, dann verändern Sie damit nicht nur seine äußere Form, sondern auch seine innere Struktur. Wenn Sie es auf eine bestimmte Weise schlagen, dann verändern Sie diese Struktur so, dass das Metall härter wird. Das wussten unsere Vorfahren aus Erfahrung, aber sie wussten nicht, warum das so war. Mithilfe eines immer größeren Erfahrungsschatzes gelangte der Mensch von der Steinzeit bis ins 20. Jahrhundert; aber erst heute verstehen wir allmählich, was wirklich in einem Material vor sich geht. Trotzdem behält die Erfahrung, die von Schmieden und anderen Handwerkern weitergegeben wird, ihre Bedeutung: Die meisten in diesem Buch beschriebenen Materialien verstehen wir nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen.

Mit vielen Materialien verbindet uns eine sinnliche und sehr persönliche Beziehung, die nichts mit Logik zu tun hat. Deswegen lieben wir zum Beispiel manche Materialien, obwohl sie ihre Schwächen haben, während wir andere ablehnen, obwohl sie viel praktischer wären. Zum Beispiel die Keramik. Für uns ist sie untrennbar mit dem Essen verbunden, aus ihr stellen wir unsere Teller, Schüsseln und Tassen her. Kein Haushalt und kein Restaurant kommt ohne Keramik aus. Das ist schon seit der Erfindung der Landwirtschaft vor mehr als zehntausend Jahren so, und das, obwohl dieses Material in den unmöglichsten Momenten bricht, springt und splittert. Warum stellen wir unsere Teller und Tassen nicht aus beständigerem Material her, zum Beispiel aus Kunststoff? Warum halten wir trotz aller Schwächen an Tassen und Tellern aus Keramik fest? Diese Frage beschäftigt Archäologen und Anthropologen genauso wie Designer und Künstler. Es gibt sogar eine Wissenschaft, die unsere sinn­liche Beziehung zu Materialien untersucht und hochinteressante Erkenntnisse zu Tage gefördert hat: die Psychophysik. Diese Wissenschaft hat zum Beispiel beobachtet, dass die »Knusprigkeit«, also das Geräusch beim Kauen, genauso viel zum Genuss bestimmter Nahrungsmittel beiträgt wie ihr Geschmack. Deswegen entwickeln Köche neuerdings Gerichte mit Geräuscheffekten, und Hersteller von Kartoffelchips machen nicht nur die Chips selbst knuspriger, sondern verpacken sie auch in Tüten, die lauter rascheln. In einem Kapitel über Schokolade gehe ich auf diese psychophysischen Aspekte ein und zeige, dass sie die Materialentwicklung bereits seit Jahrhunderten beeinflussen.

Dieses Buch ist keine umfassende Darstellung von Materialien und unserer Beziehung zu ihnen. Es will vielmehr schnappschussartig zeigen, welchen Einfluss sie auf unser Leben haben und wie schon ganz alltägliche Situationen – zum Beispiel der Genuss einer Tasse Tee auf einer Dachterrasse – Teil einer komplexen stofflichen Welt sind. Sie müssen nicht ins Museum gehen, um darüber zu staunen, wie die Technik unser Leben verändert hat. Es reicht, wenn Sie sich in Ihrem Alltag umsehen. Meistens sind wir für diese Veränderungen blind. Und das ist auch ganz gut so: Man würde uns für verrückt halten, wenn wir dauernd seufzend Betonmauern streicheln. Aber es gibt auch Momente für solche Betrachtungen. Für mich war es der Tag, an dem ich auf dem Bahnsteig der U-Bahn aufgeschlitzt wurde. Und ich hoffe, dieses Buch ist ein solcher Moment für Sie.

Kapitel 1

Unbezwingbar

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Ich war zuvor nie in die Verlegenheit gekommen, auf einem Kneipenklo eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben zu müssen. Deswegen war ich beinahe erleichtert, dass Brian nicht mehr von mir verlangte. Ich hatte den Mann erst eine Stunde zuvor kennengelernt. Wir saßen im Sheehan’s, einem Pub im Südwesten von Dublin, nicht allzu weit von meinem damaligen Arbeitsplatz entfernt. Brian war ein rotbackiger Mittsechziger, der hinkte und an einem Stock ging. Er trug einen schicken Anzug und hatte dünnes graues Haar mit einem Gelbstich. Außerdem war er Kettenraucher. Kaum hatte er gehört, dass ich Wissenschaftler war, hatte er mich mit Anekdoten aus seinem Leben im London der Siebziger überschüttet, als er mit dem richtigen Gespür für ein gutes Geschäft mit Intel-4004 – Microchips gehandelt hatte. Er hatte die Chips kistenweise zu einem Stückpreis von einem Pfund importiert und in kleinen Mengen zu zehn Pfund pro Stück an die aufstrebende Computerbranche weiterverkauft. Als ich erwähnte, dass ich am University College von Dublin Metalllegierungen erforschte, sah er mich nachdenklich an und schwieg zum ersten Mal. Ich sah meine Gelegenheit gekommen, in der Toilette zu verschwinden.

Die Vertraulichkeitserklärung war auf ein Stück Papier gekritzelt, das Brian offensichtlich eben aus einem Notizbuch gerissen hatte. In wenigen Worten stand dort, dass er mir seine Erfindung beschreiben würde und dass ich Stillschweigen darüber zu bewahren hatte. Im Gegenzug würde er mir ein Irisches Pfund bezahlen. Ich bat ihn, mir mehr zu verraten, doch er führte nur eine Hand über seinen Mund, als schließe er diesen mit einem Reißverschluss. Mir war nicht klar, warum wir uns über dem Pinkelbecken darüber unterhalten mussten. Über die Schulter sah ich, wie andere Gäste in die Toilette kamen und wieder gingen. Sollte ich um Hilfe rufen? Brian kramte in seiner Jackentasche und zog einen Kugelschreiber hervor. Dann holte er einen Pfundschein heraus. Er ließ nicht locker.

Ich hielt den Zettel an die mit Sprüchen beschmierte Wand und unterschrieb. Dann unterschrieb er, reichte mir den Schein, und damit war unser Vertrag rechtskräftig.

Wieder am Tresen, erzählte mir Brian, er habe eine elektrische Maschine erfunden, mit der sich stumpfe Rasierklingen schärfen ließen. Das würde die gesamte Rasurbranche auf den Kopf stellen, erklärte er mir, denn nun bräuchte jeder Mensch nur eine einzige Rasierklinge im Leben. Auf einen Schlag wäre eine milliardenschwere Branche überflüssig, und er wäre ein reicher Mann. Außerdem könnten auf diese Weise wichtige Rohstoffe eingespart werden. »Was hältst du davon?«, fragte er und nahm triumphierend einen Schluck aus seinem Glas.

Misstrauisch sah ich ihn an. Früher oder später muss sich jeder Wissenschaftler von wildfremden Menschen mit verrückten Erfindungen ein Ohr abkauen lassen. Ganz abgesehen davon, dass Rasierklingen für mich ein sensibles Thema waren. Meine Narbe am Rücken kribbelte, aber ich nickte und hörte ihm weiter zu.

Sonderbarerweise erforschte die Wissenschaft den Stahl erst im 20. Jahrhundert. Davor wurde das Wissen um die Stahlherstellung jahrtausendelang von einer Handwerkergeneration zur anderen weitergegeben. Selbst im 19. Jahrhundert, als die Wissenschaft auf Gebieten wie der Astronomie, Physik und Chemie bereits eindrucksvolle Fortschritte gemacht hatte, wurden Eisen und Stahl, auf denen die gesamte industrielle Revolution fußte, ausschließlich mit empirisch entwickelten Verfahren hergestellt – also durch Schätzung, genaue Beobachtung und eine gehörige Portion Glück. (Sollte Brian eine solche Portion Glück gehabt haben und zufällig über ein neues Verfahren zur ­Schärfung von Rasierklingen gestolpert sein? Ich wollte es jedenfalls nicht ausschließen.)

Während der Steinzeit waren Metalle ausgesprochen selten und wertvoll. Damals kannte man nur Kupfer und Gold, die in Reinform in der Erdkruste vorkommen (während die meisten anderen Metalle aus Erz gewonnen werden müssen). Auch reines Eisen gab es in geringen Mengen, wobei der größte Teil in Form von Meteoriten vom Himmel gefallen war.

Radivoke Lajic, ein Mann aus dem Norden Bosniens, weiß alles über sonderbare Metallbrocken, die vom Himmel fallen. In den Jahren 2007 und 2008 wurde sein Haus sage und schreibe fünfmal von Meteoriten getroffen – das ist statistisch derart unwahrscheinlich, dass seine Vermutung, Aliens hätten es auf ihn abgesehen, schon beinahe vernünftig scheint. Seit Lajic dies 2008 öffentlich behauptet hat, ist ein weiterer Meteorit in seinem Haus eingeschlagen. Die Wissenschaftler, die den Fall untersuchen, bestätigen, dass es sich um echte Gesteinsbrocken aus dem All handelt, und untersuchen Magnetfelder rund um sein Haus, um eine Erklärung für diese ungewöhn­liche Häufung zu finden.

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Radivoke Lajic und die fünf Meteoriten, die sein Haus seit 2007 getroffen haben

© Central European News

Da unsere steinzeitlichen Vorfahren keine Metalle zur Verfügung hatten, stellten sie ihre Werkzeuge aus Stein, Holz und Knochen her. Wenn Sie schon einmal versucht haben, mit derart primitiven Werkzeugen zu arbeiten, dann wissen Sie, wie schnell sie an ihre Grenzen stoßen: Schlägt man mit einem Stück Holz ein paarmal auf den Boden, dann fasert, splittert oder bricht es. Das gilt auch für Stein oder Knochen. Metalle unterscheiden sich von diesen Materialien, weil sie sich verformen lassen: Sie fließen, sie sind schmiedbar. Mehr noch, sie werden härter, wenn sie geschlagen werden. Sie können ein Schwert ganz einfach härten, indem Sie auf es einschlagen. Umgekehrt wird Metall weicher, wenn Sie es im Feuer erhitzen. Als die Menschen diese Eigenschaften vor zehntausend Jahren zum ersten Mal beobachteten, hatten sie ein Material entdeckt, das fast so hart war wie Stein, das aber verformbar war und sich fast beliebig wiederverwenden ließ. Mit anderen Worten, sie hatten das perfekte Material für ihre Werkzeuge entdeckt, vor allem für Schneidwerkzeuge wie Äxte, Meißel und Rasierklingen.

Diese Fähigkeit, sich aus einem weichen in ein hartes Material zu verwandeln, muss unseren Vorfahren wie Magie erschienen sein. Auch für Brian war es Magie, wie ich bald herausfinden sollte. Er erklärte mir, dass er seine Maschine durch Ausprobieren entdeckt und keine Ahnung von der Physik oder Chemie hatte; trotzdem schien sein Apparat zu funktionieren. Er wollte nun von mir, dass ich die Schärfe der Klingen vor und nach seiner Behandlung maß. Nur mit diesem Beweis in der Hand konnte er mit Rasierklingenherstellern ins Geschäft kommen.

Ich erklärte Brian, dass mehr als nur ein paar Messungen nötig waren, damit man ihn ernst nahm. Das liegt daran, dass Metalle aus Kristallen bestehen. Jede Rasierklinge besteht aus Abermilliarden solcher Kristalle, und in jedem dieser Kristalle sind die Atome in einem dreidimensionalen, nahezu perfekten Gitter angeordnet.

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Ein Metallkristall, wie es in einer Rasierklinge vorkommt. Die Punkte stehen für Atome.

Zwischen den Atomen bestehen Bindungen, die sie im Gitter festhalten und den Kristallen ihre Festigkeit verleihen. Eine Rasierklinge wird stumpf, weil sich einige Bindungen durch die vielen Kollisionen mit Haaren lösen und neue entstehen. Auf diese Weise verformen sich Kristalle und bilden winzige Dellen in der Klinge. Ein elektrischer Apparat zur Schärfung von Rasierklingen, wie er Brian vorschwebte, müsste diesen Prozess umkehren, das heißt, er müsste die Atome so bewegen, dass die zerstörte Struktur wiederhergestellt würde. Um ernst genommen zu werden, müsste Brian nicht nur zeigen, dass die Klinge auf der Ebene der Kristalle umgebaut wurde, sondern er müsste auch erklären können, was auf der Ebene der Atome vor sich ging. Hitze, egal ob sie aus einer elektrischen Quelle stammt oder nicht, hat in der Regel den gegenteiligen Effekt: Sie macht die Metallkristalle weicher. Das erklärte ich Brian, aber der behauptete standhaft, sein Apparat erhitze die Stahlklingen nicht.

Vielleicht verwundert es Sie, dass Metalle aus Kristallen bestehen sollen, denn unser typisches Bild von einem Kristall ist ein durchsichtiger, funkelnder Edelstein, zum Beispiel ein Diamant oder Smaragd. Bei Metallen denken wir nicht an eine kristalline Struktur, weil Metallkristalle undurchsichtig und meist mikroskopisch klein sind. In einem Elektronenmikro­skop sehen die Kristalle in einem Metallstück aus wie ein verrücktes Mosaikpflaster. Innerhalb der Kristalle ist ein Gewirr von Linien erkennbar, die sogenannten Versetzungen. Dabei handelt es sich um Fehler in den Metallkristallen, Abweichungen von der perfekten Anordnung der Atome im Kristall – Störungen, die es eigentlich nicht geben sollte. Das mag bedrohlich klingen, aber in der Praxis sind diese Versetzungen ausgesprochen nützlich. Gerade diese Fehler machen nämlich Metalle zu guten Werkzeugmaterialien und ermöglichen die Herstellung scharfer Klingen, denn sie erlauben den Metallkristallen, ihre Form zu verändern.

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In dieser Zeichnung deute ich nur ein paar Versetzungen an, damit sie besser zu erkennen sind. In Wirklichkeit sind die meisten Metalle von gewaltigen Mengen einander überschneidender Versetzungen durchzogen.

Sie brauchen keinen Hammer, um die Auswirkung dieser Fehler beobachten zu können. Wenn Sie eine Heftklammer umbiegen, dann sind es in Wirklichkeit die Gefüge aus Kristallen, die sich biegen. Andernfalls wäre die Klammer spröde und würde zerbrechen wie ein trockenes Stöckchen. Die Verformung der Klammer wird möglich, weil sich die Versetzungen innerhalb des Kristalls verschieben. Dabei verlagern sich kleine Mengen des Materials von einer Seite des Kristalls auf die andere. Dies passiert mit Schallgeschwindigkeit. Wenn Sie eine Heftklammer biegen, sorgen Sie dafür, dass sich rund 100000000000000 Versetzungen mit der Geschwindigkeit von Hunderten von Metern pro Sekunde bewegen. Jede Versetzung bewegt zwar nur ein winziges Stück des Kristalls (eine Atomschicht, um genau zu sein), aber weil es so viele sind, verhält sich das Kristall nicht wie sprödes Gestein, sondern eher wie eine superstarke Knetmasse.

Der Schmelzpunkt eines Metalls ist ein Hinweis darauf, wie fest die Atome zusammengebunden sind und wie leicht sich folglich die Versetzungen bewegen. Blei schmilzt schon bei relativ niedrigen Temperaturen, weshalb sich die Versetzungen leicht bewegen und das Metall weich ist. Kupfer hat einen höheren Schmelzpunkt und ist fester. Wenn ein Metall erhitzt wird, können sich die Versetzungen bewegen und neu gruppieren, und das hat unter anderem zur Folge, dass das Metall weicher wird.

Die Entdeckung der Metalle war ein wichtiger Moment in der Frühgeschichte der Menschheit, aber ein entscheidendes Problem blieb ungelöst: Es gab nicht allzu viel davon. Es wäre eine Möglichkeit gewesen, einfach zu warten, dass mehr vom Himmel fällt, aber dazu wäre eine Menge Geduld nötig gewesen. (Pro Jahr fallen ein paar Kilogramm auf die Erde, das meiste davon ins Meer.) Doch irgendwann machte jemand eine Entdeckung, die die Steinzeit beendete und den Zugang zu schier unbegrenzten Mengen an Metall eröffnete. Die Menschen beobachteten, dass sich ein ganz bestimmter grünlicher Stein, ins Feuer geworfen und mit Glut bedeckt, in glänzendes Metall verwandelte. Dieser grünliche Stein war Malachit, und das Metall war Kupfer. Es muss eine ganz erstaunliche Entdeckung gewesen sein. Plötzlich stellten die Menschen fest, dass sie nicht von totem Gestein umgeben waren, sondern von geheimnisvollen Substanzen mit einem Eigenleben.

Diese Verwandlung funktionierte nur mit einigen wenigen Gesteinen wie dem Malachit, denn damit dieser Prozess ablaufen kann, braucht man nicht nur die richtige Sorte Gestein, sondern man muss auch die chemischen Bedingungen des Feuers kontrollieren. Aber die Menschen müssen geahnt haben, dass auch die Steine, die sich selbst im heißesten Feuer nicht verwandeln ließen, ihr eigenes Geheimnis hatten. Und sie hatten Recht. Das Verfahren funktioniert bei vielen Mineralien, aber es sollten Jahrtausende vergehen, ehe die Menschen über das erforderliche chemische Wissen verfügten, um die Reaktionen zwischen Gestein und Gasen im Feuer zu kontrollieren und den nächsten Durchbruch zu erzielen.

Bis es so weit war, verfeinerten sie durch stetige Experimente die Kupferherstellung, mit der sie um etwa 5000 v. Chr. begonnen hatten. Kupferwerkzeuge ermöglichten einen gewaltigen technologischen Sprung, denn mit ihrer Hilfe ließen sich neue Techniken entwickeln, Städte bauen und erste große Zivilisationen errichten. Die Pyramiden von Ägypten sind ein Beispiel dafür, was alles möglich war, sobald man genug Kupferwerkzeuge zur Verfügung hatte. Jeder Steinquader wurde mit Kupfermeißeln aus einem Steinbruch geschlagen und behauen. Um die erforderlichen 300000 Meißel herzustellen, müssen im alten Ägypten rund 10000 Tonnen Kupfererz gefördert worden sein. Das ist eine gewaltige Leistung, ohne die man die ­Pyramiden nie hätte bauen können, egal wie viele Sklaven zum Einsatz gekommen wären, weil es kaum möglich ist, das Gestein ohne Metallwerkzeuge zu bearbeiten. Der Bau der Pyramiden ist umso eindrucksvoller, als Kupfer zur Bearbeitung von Stein nicht sonderlich gut geeignet ist, da es verhältnismäßig weich ist. Wenn man Kalkstein mit einem Kupfermeißel behaut, dann wird dieser schnell stumpf. Man nimmt an, dass die Meißel schon nach wenigen Schlägen wieder geschärft werden mussten. Aus diesem Grund bietet sich Kupfer auch nicht zur Herstellung von Rasierklingen an.

Auch Gold ist ein verhältnismäßig weiches Metall, weshalb Ringe nur selten aus reinem Gold hergestellt werden, weil sie sonst allzu schnell verkratzen würden. Aber wenn man Gold legiert, indem man ein paar Prozent von einem anderen Metall wie Silber oder Kupfer zugibt, dann verändert sich nicht nur dessen Farbe – Silber macht Gold weißer, Kupfer röter –, sondern das Gold wird auch sehr viel härter. Die Eigenschaften von Metallen lassen sich erheblich verändern, wenn man kleine Mengen von anderen Zutaten beimischt – ein Grund, warum die Beschäftigung mit Metallen so faszinierend ist. Im Falle der Goldlegierungen setzen sich die Silberatome an die Stelle von Goldatomen in das Kristallgitter, und diese Ersetzung verleiht der Struktur insgesamt mehr Härte.

Wenn Legierungen tendenziell härter sind als reine Metalle, dann hat das einen einfachen Grund: Die hinzukommenden Atome haben eine andere Größe und andere chemische Eigenschaften als die Atome des ursprünglichen Metalls. Wenn sie sich in das Kristallgitter setzen, verursachen sie alle möglichen mechanischen und elektrischen Störungen, die sich zu einem entscheidenden Effekt summieren: Die Versetzungen bewegen sich nicht mehr so leicht. Somit verformen sich die Kristalle weniger leicht, und das Metall wird härter. Die Herstellung von Legierungen ist also die Kunst, die Bewegung der Versetzungen zu verhindern.

Die Ersetzungen von Atomen kommen übrigens auch in anderen Kristallen vor. Ein Aluminiumoxidkristall ist in Reinform farblos, aber wenn er mit Eisenatomen verunreinigt wird, dann ist er blau: Das ist der Edelstein, den wir als Saphir kennen. Und wenn genau derselbe Aluminiumoxidkristall mit Chrom verunreinigt ist, dann nennen wir den Edelstein Rubin.

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Gold-Silber-Legierung im Atommaßstab. Die Silberatome ersetzen im Kristall einige der Goldatome.

Die Abfolge der menschlichen Epochen von der Kupfer- über die Bronze- bis zur Eisenzeit ist nichts anderes als eine Abfolge immer härterer Legierungen. Kupfer ist ein weiches Metall, aber es kommt in der Natur vor und lässt sich leicht schmelzen. Bronze ist eine Legierung aus Kupfer mit kleinen Mengen Zinn oder Arsen und deutlich härter als Kupfer. Mit Kupfer und ein bisschen praktischem Wissen ließen sich also relativ einfach Waffen und Klingen herstellen, die zehnmal stärker und härter waren als Kupfer. Das Problem war nur, dass Zinn und Arsen ausgesprochen selten sind. In der Bronzezeit entstanden daher Handelsnetze, über die das Zinn aus Gegenden wie Cornwall oder Afghanistan in die Zentren der Zivilisation im Nahen Osten transportiert wurde.

Auch moderne Rasierklingen werden aus Metalllegierungen hergestellt. Wie ich Brian erklärte, handelt es sich jedoch um eine ganz besondere Sorte von Legierungen, die unsere Vorfahren jahrtausendelang vor große Rätsel stellte. Stahl ist eine Legierung aus Eisen und Kohlenstoff, die noch härter ist als Bronze und deren Bestandteile vor allem sehr viel häufiger vorkommen: So ziemlich jeder Gesteinsbrocken enthält ein bisschen Eisen, und Kohlenstoff ist im Brennmaterial enthalten. Unsere Vorfahren wussten nicht, dass Stahl eine Legierung war und dass die Holzkohle nicht nur ein Brennstoff war, mit dem sich das Eisen erhitzen und formbar machen ließ, sondern dass sich der darin enthaltene Kohlenstoff bei der Bearbeitung in die Eisenkristalle einlagern konnte. Bei Kupfer, Zinn oder Bronze lagert sich der Kohlenstoff bei der Schmelze nicht in die Metallkristalle ein, wohl aber beim Eisen. Das muss ein ungeheures Rätsel gewesen sein, und erst heute, mit den Kenntnissen der Quantenmechanik, können wir wirklich erklären, warum es dazu kommt. (Im Stahl treten die Kohlenstoffatome nämlich nicht an die Stelle der Eisenatome, sondern sie schieben sich dazwischen und strecken den Kristall.)

Es gibt allerdings noch ein kleines Problem. Wenn die Legierung zu viel Kohlenstoff enthält – wenn dem Stahl zum Beispiel nicht ein, sondern vier Prozent Kohlenstoff beigegeben werden –, dann wird sie extrem brüchig und ist für Waffen und Werkzeuge nicht mehr zu gebrauchen. Allerdings befindet sich in einem Feuer in der Regel eine ganze Menge Kohlenstoff. Wenn das Eisen also zu lange im Feuer ist oder zu flüssig wird, dann lagert sich eine Menge Kohlenstoff in die Metallkristalle ein, und die Legierung wird zu spröde. Schwerter, die aus diesem stark kohlenstoffhaltigen Stahl geschmiedet sind, zerbrechen im Kampf.

Erst im 20