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Norbert Hummelt

Fegefeuer

Gedichte

Luchterhand

für Johanna

Vom Feuer vertilgt, vom Feuer erneuert.
T. S. Eliot

I – Triptychon

die waldschlucht

mein leben war zur hälfte schon vorüber
da ging ich einmal durch den dunklen wald
u. fand den rechten weg so bald nicht wieder.

wenn ich dran denke, wird’s mir heut noch kalt.
der wald so rauh, so dornig, immer wilder
kaum kann ich’s sagen – ich versuch es halt.

selbst wenn man stirbt, gibt es nicht solche bilder.
doch weil auch manches gut war, das ich fand
beginn ich nun, daß ich es einfach schilder.

kann gar nicht sagen, über welchen pfad
ich denn dort hinkam, völlig übermüdet
ich taumelte verloren durch das fremde land.

doch angekommen an dem fuß des hügels
von dem die waldschlucht ihren ausgang nahm
riß mich das herz vor lauter angst am zügel

u. ich sah oben auf dem höchsten kamm
schon das gestirn erscheinen, das uns leitet
wo wir auch wandeln in der finstren klamm.

da war die angst nicht mehr so ausgebreitet
in meinem herzen, wo sie über nacht
so groß geworden war, daß man verzweifelt.

u. so wie einer, der aus einem bach
mit nassen füßen kaum sich retten konnte
sah ich nun seinen wilden schäumen nach

indem ich mich im fliehen wieder wandte
u. nahm die schlucht noch einmal in den blick
die mir die dunkelhellen träume sandte

u. immer wieder kehre ich zurück.

der schleier

kann nicht mehr sagen, wo genau am rand die brombeerhecke
war, bei der ich spielte; man parkte unten bei der alten mühle

wo es die fangfrischen forellen gab, u. einen teller grüner
erbsensuppe, sinalco-cola oder könig-pilsener, ernte, reval

oder attika. im schnellen wasser bei den schiefersteinen
habe ich den hohen damm gebaut; vor meinen augen flitzten

wasserläufer; da trieben blätter, zweige, rinde immer
langsamer, u. alles kam vor meinem damm ins trudeln. doch

einer sprach: auf auf, du fauler jäger, denn wir ziehen weiter!
zum sauerbrunnen, den man doch nie fand . . u. wenn er

ging u. nicht mehr wiederkam, was will ich dann noch in der
klamm, in der hochsommerlichen, der gewitterschwüle?

ist das mein leben, hab ich keine ziele? da war ein hang, war
eine lichtung; abgebrannt; u. griffe, geländer, die glitschigen

stellen . . u. hinter einem wall aus blätterzwielicht sind
die glockenhellen stimmen da, die immer klingen, u. jemand

schwenkt ein weißes tuch . . das ist der zeltplatz, ist die
jugendgruppe . . ich kann das lied erkennen, das sie singen,

doch ich kann nicht hingelangen . . der weiße schleier weht
davor, so lang ich lebe, u. immer warte ich, daß man mich ruft.

der wächter

ich bin schon oft den stillen weg gegangen unter den
säulen in den buchenhallen zum wasserfall mit dem
bemoosten stein doch eines tages hat es angefangen.

ich dachte erst daß mich termiten fressen von innen
lautlos sie sind überall sie sitzen mir schon nah am
herzen der wächter sagt zu mir: hör gar nicht hin . .

denn immer redet er in mir u. will mich stören weil
meine schätze gar nicht mir gehören weil es die
schätze nämlich gar nicht gibt. der wächter sagt

zu mir: das sind nur spiegelungen . . draußen sein,
das ist dir nie gelungen. aber was ist dann mit den
vogelstimmen, wenn ich sie auch, zugegeben, selten

unterscheiden kann? sind die vielleicht vom band
gekommen? u. dort in diesen wenn auch toten
wipfeln, ist das nicht irgendeine form von wind?

hinter der scheibe spielt im wald mein kind . .
der wächter sagt zu mir: wie ich schon sagte,
du kannst nicht draußen sein weil es nicht geht . .

die bilder dort sind spiegelungen von etwas das in
alten büchern steht. aber mein mädchen kommt es
bringt mir waldhimbeeren am wegrand hat es sie

für mich gepflückt ich hab es auch getan sieh meine
finger an ich habe mich beschmutzt mein kind u. ich
wir tauschen waldhimbeeren u. im moment wo wir

die früchte essen (ich habe sie nicht abgewaschen
u. esse auch die kleinen grauen womöglich wurm-
stichigen stellen mit) hab ich den wächter einmal

kurz vergessen ich will ihn ja nicht auch noch mit-
ernähren der in mir wohnt u. ißt von meinem glück . .
ich bin schon oft den stillen weg gegangen unter den

säulen in den buchenhallen ich brauchte luft ich wollte
eben raus . . der wächter sagt zu mir du kannst nicht
hingelangen: ich bin der wächter u. du bist das haus.

II – Jenseits des Tales

pfadfinder

ich trug einmal die züge meines vaters, sie waren leicht zu tragen, ganz ohne gewicht; über die wiesen, bei den wasserspiegeln, im ersten frühling an den hellen tagen. bis in den busch bei der seufzerallee, wo die fuchsspur im waldboden war, da wo die weißen maiglöckchen wuchsen. ich hatte auch einmal ein fahrtenmesser, die klinge stumpf, mit hirschhorngriff, oder aber war aus kunststoff u. sah nur so wie hirschhorn aus. u. einmal nahm ich dieses fahrtenmesser, das in der lederscheide hing, u. hielt es den maiglöckchen an die kehle. jetzt steck aber mal dein schwert in die scheide, sagte mein vater, komm laß et, jung, u. laß mir die maiglöckchen schön am leben – du erinnerst dich, es steht geschrieben, wer das schwert ergreift, kommt dadurch um. die tage kommen bald, das wasser schillert, der erste falter fliegt den pfad voraus, aber die kompaßnadel zuckt u. zittert, ich kenne mich in diesem wald nicht aus. es kam ein mann mit zügen meines vaters, sah durch mich durch – entschuldigung . . auf den mit totem laub bedeckten wegen ging er dem strom der kommenden entgegen.

der tollund-mann