ZUM BUCH
FBI-Profilerin Dr. Jenna Ramey besitzt die Fähigkeit der Synästhesie, eine neurologische Störung, die scheinbar zusammenhanglose Sinneseindrücke in ihrer Wahrnehmung miteinander verbindet. Doch sie hat gelernt, die Assoziationen zu deuten und für ihre Arbeit zu nutzen. Denn sie können Leben retten.
Die kleine Molly wurde Zeugin einer Massenschießerei. Ihre Erinnerung ist die einzige Chance, dem Täter auf die Spur zu kommen. Es ist nun Jennas Aufgabe herauszufinden, wen oder was sie gesehen hat. Doch Molly ist kein gewöhnliches Mädchen: Die Welt der Zahlen ist der Ort, an dem sie sich wohlfühlt. Dadurch nimmt auch sie vieles wahr, was anderen entgeht: die Anzahl der Schüsse, die Anzahl der Klopfgesten des Schützen gegen sein Handgelenk, bevor er abdrückt, die Anzahl der Minuten, seit sie ihre Großmutter zuletzt gesehen hat. Aber es ist schwer, diese Informationen zu verarbeiten. Jenna gerät in einen Irrgarten von Spekulationen und falschen Fährten, während die Zahl der Toten stetig steigt. Sie muss lernen, Mollys Aussagen richtig zu interpretieren, um einen kaltblütigen Mörder zu fassen …
ZUR AUTORIN
Tagsüber ist Colby Marshall Autorin, abends Tänzerin und Choreografin. Sie hat die Angewohnheit, jedes ihrer Hobbys zum Beruf zu machen, sodass ihr als Workaholic nie die Arbeit ausgeht. Neben ihren gefühlten 9502 normalen Jobs ist sie stolzes Mitglied der International Thriller Writers und der Sisters in Crime. Colby lebt mit ihrer Familie in Georgia. Und sie weiß, worüber sie bei der Graphem-Farb-Synästhesie schreibt, denn sie hat selbst diese seltene Gabe. Besuchen Sie sie online unter colbymarshall.com.
COLBY MARSHALL
Double Vision
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Maria Zettner
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel Double Vision bei Berkley Books, New York.
Taschenbucherstausgabe 03/2017
Copyright © 2015 by Colby Marshall
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkterstraße 28, 81673 München
Redaktion: Birgit Bramlage
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München
unter Verwendung von © ilolab
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-19475-8
V002
www.heyne.de
1
»Notrufzentrale, wie können wir Ihnen helfen?«
»Ich bin im Supermarkt, und hier schießt einer auf die Leute«, sagte Molly. Sie dachte an die Ereignisse um »911«. Es war das Datum, an dem sie zur Gedenkfeier in die Stadt gingen. Die höchste einstellige Zahl und dann zweimal die kleinste einstellige Zahl. So wie ihr Geburtstag.
»Schätzchen, wie alt bist du?«
»Sechs«, antwortete Molly. Die Anzahl der Saiten auf einer Gitarre. Punkte beim Touchdown im Football. Eins weniger als sieben.
Molly steckte sich das Handy in die Tasche, kletterte in den Container mit gefrorenem Fleisch und rutschte durch auf die andere Seite, wo der Metzger die Stücke zerhackte. Neulich erst war ihr das Loch, durch das er das Fleisch in den Kühlschrank schob, aufgefallen. Sie duckte sich hinter den Container.
PENG. PENG. PENG.
»Ich bin wieder da«, sagte sie und hielt sich das Handy ans Ohr.
»Welcher Supermarkt? Kannst du mir sagen, wo du bist?«
»Lowman’s Discounter«, erwiderte Molly. Mit Mommy kam sie nie hierher. Mommy sagte, die vielen Menschen würden sie verrückt machen, was immer das bedeuten mochte. Grandma dagegen sparte gerne Geld. Ein einzelner Cent macht dich noch nicht reich, hatte sie Molly erklärt, aber hundert Cent sind schon ein Dollar.
»Wie heißt du, Schätzchen?«
Grandma hatte ihr auch gesagt, sie solle Fremden nicht ihren Namen nennen, aber das hier war ja der Mann am anderen Ende von 911. Der zählte nicht.
»Molly Keegan.«
»Hilfe ist unterwegs, Molly. Leg nicht auf, ja? Hast du die Person gesehen, die den Leuten wehtut?«
Peng.
»Ein bisschen.«
»Ist es ein Mann oder eine Frau?«
»Weiß nicht«, flüsterte Molly. Masken waren da nicht sehr hilfreich.
Stille. Jetzt war nichts mehr zu hören.
»Vielleicht ist er ja auch schon weg«, sagte sie.
»Wo bist du gerade, Molly?«, fragte der Mann am Telefon.
»In einem Versteck.«
»Bleib, wo du bist, okay?«
Aber Molly konnte nicht bleiben, wo sie war. Sie musste nachsehen gehen. Was war mit Grandma?
Sie wagte sich ein Stückchen hinter dem Container hervor, spähte umher. Niemand war da. Sie richtete sich auf und kletterte nach draußen. In einem Gang lagen Leute und bewegten sich nicht. Auf dem Boden glitzerte es rot. Schau nicht auf das Rot.
Auf Zehenspitzen schlich sie sich bis zum Gang mit den Müslis, wo sie Grandma das letzte Mal gesehen hatte. Ein benommen aussehender Mann, so ungefähr im Alter ihres Pop-Pops, ihr Grandpa, saß zusammengesackt vor dem Regal, blutete aber nicht. Weiter hinten im Gang lag auf der linken Seite noch ein Mann.
»Haben Sie meine Grandma gesehen?«, flüsterte Molly dem Mann zu.
Dann hörte sie Sirenengeheul, schnelle Schritte. Die Person mit der Waffe tauchte am anderen Ende des Gangs mit den Müslis auf und schaute zur Tür des Supermarkts, wo in der Ferne die Polizeisirenen zu hören waren.
Die Waffe kam nach oben, und der Mann weiter hinten im Gang schrie auf.
Molly ging unter dem untersten, halb leeren Regalbrett in Deckung und zog die Füße ein. Um sie herum fielen krachend Kartons zu Boden, dann knallte sie mit dem Kopf gegen das Metall, sodass ihr Kopf wehtat.
Peng.
»Molly? Molly! Bist du noch da?«, schrie der fünfundzwanzigjährige Yancy Vogul in den Hörer. Dispatcher sollten eigentlich unter Druck die Ruhe bewahren, die Anrufer beruhigen, aber hier handelte es sich um ein Kind. Darauf war er nicht gefasst.
Abgehacktes Keuchen drang an sein Ohr. »Ich bin hier«, sagte die Kinderstimme.
Heilige Scheiße. Danke, Gott.
»Hilfe ist unterwegs«, erklärte Yancy noch einmal. Er hatte seinen Job erledigt, sodass die Cops jetzt wussten, worauf sie sich einließen. Sie waren darauf angewiesen, dass er alles richtig verstand und ihnen genug Informationen lieferte, damit sie nicht ins offene Messer liefen. Damit sie am Abend wieder heil zu ihren Familien zurückkehren konnten.
Aber jetzt war er einfach froh zu hören, dass die Kleine am Leben war.
»Bist du verletzt?«
»Nein«, antwortete sie. »Er ist weggelaufen.«
»Der Schütze?«, fragte Yancy nach.
»Ja.«
Er hätte noch gerne gewusst, in welche Richtung der Schütze geflohen war, was das Mädchen gesehen hatte, aber womöglich durchstreifte sie, wenn er sie das fragte, noch den ganzen Laden, um es herauszufinden. Deswegen unterhielt er sich weiter mit ihr, bis Verstärkung eintraf.
Er trug das letzte Update des Mädchens in sein Protokoll ein in der Hoffnung, dass das ausreichte.
»Sieben«, klang Mollys Stimme in seinem Ohr.
Yancy hatte gar nichts gefragt. »Was meinst du mit Sieben?«
»Mm-hm«, erwiderte sie. »Sieben Schüsse.«
»Woher weißt du das?«
Er hörte Mollys Seufzer am anderen Ende. Als sie wieder etwas sagte, klang sie frustriert angesichts seiner Begriffsstutzigkeit. »Weil ich mitgezählt habe.«
2
Jenna Ramey drückte ihrem Bruder einen Schlüsselbund in die Hand.
»Und vergiss nicht, sowohl die Haustür als auch die Seitentür zu verriegeln, wenn du und Dad im Haus seid, und wenn ihr rausgeht, dann lasst die Verriegelung an der Seite offen. Ich habe heute das Passwort an der Alarmanlage neu eingegeben. Es lautet …«
»Sri Lanka 49 Captain C2«.
»Ich weiß, ich weiß. Du hast es mir schon mal gesagt«, knurrte Charley und nahm Jenna Ayana vom Arm. »Ich dachte, dass du jetzt wieder fürs FBI arbeitest, würde bedeuten, du traust Dad und mir die Bewachung der Festungsanlage zu. Schließlich hast du uns für diesen Job alle aus unserer gewohnten Umgebung gerissen und nach Virginia verschleppt. Und wir machen das ja auch schon seit Jahren.«
Aber das war vorher. »Ich weiß, verbuche es unter nervöse Mutter eines Kleinkinds, okay?«
Natürlich hatte die Tatsache, dass ihre Tochter ein Kleinkind war, nichts damit zu tun. Als ihr Dad und Charley früher auf Ayana aufgepasst hatten, war Claudia sicher in einer geschlossenen Anstalt weggesperrt gewesen. Doch im vergangenen Jahr war es ihrer Mutter irgendwie gelungen, das System zu überlisten. Jetzt streifte sie ungehindert durch die Straßen.
Charley ließ Ayana auf den Boden vor dem Fernseher plumpsen und schaltete den DVD-Player ein. Ayana hatte den Schnuller auch mit drei Jahren noch fest zwischen den Lippen, klatschte in die Hände, als auf dem Bildschirm der Vorspann zu Findet Nemo erschien.
Wie immer spulte Charley vor, bis die gruselige Stelle mit dem Barrakuda vorbei war. »Rain Man, ich weiß, warum du das machst, ich erinnere dich nur daran, dass wir das alles schon besprochen haben. Ich war einverstanden, dein irres Schließanlagensystem umzusetzen, und wir haben sogar ein Sicherheitstraining absolviert, das sich jemand ausgedacht hat, der noch paranoider ist als du. Und das will schon was heißen. Dieses Haus ist besser vor Hausfriedensbruch geschützt als das von dem Typen die Straße runter, der die Halloween-Filme ein bisschen zu ernst genommen hat. Und jetzt raus mit dir!«
Jenna gab Ayana einen Kuss auf das feine blonde Haar, aber das kleine Mädchen nahm keine Notiz davon. Im Fernseher brachte Marlin Nemo gerade bei, in die Anemone zu schwimmen und wieder heraus.
»Hab dich lieb!«, flüsterte Jenna ihr ins Ohr.
Bei diesen Worten nahm Ayana den Schnuller aus ihrem Mund. »Ha liiieeb!«
Und dann war der Schnuller schnell wieder drin und Ayanas Blick auf das Gerät gerichtet.
Charley zuckte die Achseln. »Disney nimmt auf niemanden Rücksicht.«
»Komm, lass mich raus«, sagte Jenna.
Sie wartete geduldig, bis Charley jedes einzelne Schloss entriegelt hatte. Die Schließanlage war nicht sonderlich kompliziert, sofern man mit ihr vertraut war, aber es gab nirgendwo eine schriftliche Anleitung. Jeder Schlüssel war farblich gekennzeichnet, aber die Schlüsselfarben stimmten nicht mit den Farben auf den Schlössern überein. Um zu wissen, welcher Schlüssel in welches Schloss gehörte, musste man die Kombination auswendig lernen. Roter Schlüssel in grünes Schloss, oranger Schlüssel in hellblaues Schloss, gelber Schlüssel in violettes Schloss. Wollte man sie alle öffnen, musste man sie auch in genau dieser Reihenfolge aufschließen. Andernfalls blockierten die Riegel der anderen Schlösser das erste, und die Tür blieb zu. Es existierte nur ein Satz mit den richtigen Schlüsseln, und den musste der »Hauptverantwortliche« im Haus zu allen Zeiten bei sich tragen. Den Schlüsselsatz konnte man nicht auseinandernehmen oder nachmachen, und er war mit einem Peilsender ausgestattet.
Auch die Passwörter wurden niemals aufgeschrieben, und Jenna änderte sie täglich. Deswegen ging Jenna sie auch so oft durch, bevor sie das Haus verließ – ihr Dad und ihr Bruder durften sie nicht vergessen. Es war ihnen ausdrücklich untersagt, sie zu mailen oder sonst wie zu übermitteln. Sie durften immer nur verbal und persönlich weitergegeben werden.
»Ich richte es Dad aus, wenn er von seinem Nickerchen aufwacht. Möchtest du, dass ich eine Urinprobe nehme, um sicherzustellen, dass es auch wirklich Dad ist, bevor ich das mache?«
»Nein danke, Klugscheißer«, erwiderte Jenna. »Der Bluttest reicht völlig. In ein paar Stunden bin ich wieder da.«
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Viermal machte es klick. Und damit war sie wieder im Rennen.
Als Jenna nach Quantico kam, war sie anscheinend die Letzte von den Leuten der Behavioural Analysis Unit, der Einheit für Verhaltensanalyse, kurz BAU, die den Raum betrat. Der Konferenztisch innerhalb der verglasten Wände war schon voll besetzt. Ein paar neugierige Blicke folgten ihr, als sie die Tür schloss und das Stimmengewirr von den Arbeitsnischen um sie herum abklang. Aber niemand sagte etwas. Sie sahen alle noch so jung aus, ganz frisch im Job. Ein College-Beau mit Baseballkappe, eine junge Frau in Charleys Alter, die aussah, als könne sie als Linebacker für die Dolphins antreten. Das versprach interessant zu werden.
Jenna setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, schon gleich als Außenseiterin deklariert.
Saleda Ovarez, verantwortlicher Special Agent und die Einzige im Raum, mit der Jenna, mit Ausnahme des Kriminaltechnikers Irv, schon zusammengearbeitet hatte, heftete Bilder an ein riesiges Whiteboard. Die dunkelhäutige Frau warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ich wollte eigentlich noch auf Agent Dodd warten, bevor wir weitermachen, aber es ist schon zwei Minuten nach. Wir müssen loslegen.« Ihr Bostoner Akzent war deutlich zu hören. Jenna war demnach doch nicht die Letzte. Sie nahm die spitze Bemerkung ihrer Vorgesetzten über die zweiminütige Verspätung als eine Warnung. Beim nächsten Mal würde sie ihren Vater und ihren Bruder morgens gleich als Erstes instruieren, bevor ein möglicher Anruf kam.
»Ein Killer ist in den Lowman’s Discounter auf der Grady eingedrungen, hat das Feuer eröffnet und ist zu Fuß entkommen. Sieben Opfer, darunter ein ganz spezielles«, erläuterte Saleda und tippte auf das Foto in der linken oberen Ecke. »Miriam Holman, zweiundfünfzig.«
»Sie meinen die Miriam Holman, die Gouverneurin von Virginia?«, fragte der junge Kollege mit der Baseballkappe.
»Genau die.« Saleda nickte.
»Demokratin, stramm links. Hat allen einen höllischen Schrecken eingejagt, als sie gewählt wurde. War der Schütze womöglich ein eingetragenes Mitglied der NRA?«, meinte der Junge. Er rasierte sich doch bestimmt erst seit gestern. Wie hatte er es nur schon bis zur BAU gebracht?
Anfänger.
Saleda kam Jenna zuvor. »Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass die Tat politisch motiviert war, da die Gouverneurin eine Stunde später nebenan in der Stadtbibliothek sprechen sollte. Aber es ist noch zu früh, um derartige Schlüsse zu ziehen.«
Jenna warf einen raschen Blick auf die übrigen sechs Toten auf der Tafel. Verschiedene Ethnien und Geschlechter. »Die anderen Opfer?«
»Ihre Profile sind in euren Unterlagen«, erwiderte Saleda und gab dem Jungen mit der Baseballkappe einen Stapel mit Schnellheftern in die Hand.
Er nahm sich einen und reichte die restlichen nach rechts weiter. »Noch weitere Prominente?«
Saleda nickte und wies auf das Bild neben dem der Gouverneurin. »Frank Kuncaitis, Bürgermeister von Falls Church. Ist gekommen, um seine Solidarität mit der Gouverneurin zu demonstrieren.«
»Könnte es auch um ihn gegangen sein?«, fragte das grobschlächtige Mädchen mit der langen Hakennase.
»Unwahrscheinlich. Er war nicht sonderlich bekannt oder umstritten. Die anderen sind alle unbeschriebene Blätter.«
»Gibt es Zeugen?«, wollte das Linebacker-Mädchen wissen.
Saleda zog sich die Spange aus den Haaren und schüttelte ihre dunkelbraunen Locken. Sie sah jetzt schon aus, als hätte sie den längsten Tag ihres Lebens hinter sich. »Wie der Zufall es wollte, hatten sie bei Lowman’s Seniorentag. Wir haben eine Reihe von Zeugen, aber die meisten davon können sich nur mit Mühe erinnern, was für ein Tag heute ist, von wichtigen Verbrechensdetails ganz zu schweigen.«
»Wie viele Schüsse gab es?«, erkundigte sich Jenna.
»Wir glauben, es waren sieben«, erwiderte Saleda.
Wie beim Seven-up-seven-down-Kartenspiel. Das sprach Bände. Der Kerl ballerte nicht wild in der Gegend herum in der Hoffnung, alles zu treffen, was sich bewegte. Die Schüsse waren einigermaßen zielgerichtet.
Jenna nickte zum Bild der Gouverneurin hin. »War Miriam Holman das erste Opfer?«
Sie war zwar an erster Stelle angeheftet, aber das konnte auch an ihrem Rang liegen.
»Nein«, antwortete Saleda. »Das vierte. Kuncaitis war das fünfte.«
Viertes und fünftes. Genau in der Mitte. Jenna dachte an Charley, der mit Ayana zu Hause saß und sich vermutlich gerade die Szene anschaute, in der Marlin die Meeresschildkröte trifft. Warum hatte sie nur den Job wieder angenommen?
»Wann brechen wir auf?«
Auf dem Weg zum Tatort nahm sich Saleda endlich die Zeit, Jenna dem Team vorzustellen. Sehr viel mehr konnten sie auch nicht tun, bis sie bei Lowman’s Discounter ankamen. Sowohl der grobschlächtigen Teva als auch Porter, dem College-Beau, verschlug es bei Jennas Namen den Atem, als hätten sich auf Saledas Stirn Hörner gebildet, als sie ihn nannte.
»Tut mir leid«, murmelte Saleda vom Fahrersitz des schwarzen SUV aus.
»Kein Problem. Das passiert mir andauernd«, erwiderte Jenna wahrheitsgemäß. Ihr Name hatte schon unter vielen Aufsätzen in psychiatrischen Fachzeitschriften im ganzen Land gestanden, aber in der Branche kannten sie alle nur von den Geschichten aus ihrer Teenager-Zeit her, die sie zur nationalen Legende gemacht hatten. Sie hatte mithilfe ihrer einzigartigen Fähigkeit, Tage, Zahlen, ja selbst Menschen und Bauchgefühle mit Farben zu assoziieren, der Polizei geholfen, eine »Schwarze Witwe«, ihre Mutter Claudia, dingfest zu machen. Ihre Graphem-Farb-Synästhesie hatte Jenna berühmt gemacht, ihr die Karriere vorgezeichnet und seither unzählige Fälle beeinflusst. Entweder sie akzeptierte es, oder sie entzog sich ihm. Nur eins von beiden würde sie im Leben weiterbringen.
»Übrigens, wo ist Dodd denn eigentlich?«, fragte Jenna vorsichtig. Wer auch immer das noch fehlende Teammitglied war, er konnte sich auf eine gehörige Abreibung gefasst machen, wenn er denn auftauchte.
»Keine Ahnung. Dabei ist es auch noch sein erster Tag, stell dir vor!«, bemerkte Saleda mit einem Anflug von Verachtung in der Stimme. »Ein neues Team aufzubauen ist ein Scheißjob.«
Jennas Handy vibrierte in ihrer Jackentasche. Sie fasste hinein und holte ihr Smartphone heraus. Es war Yancy. Sie hatte ihm gesimst, dass sie unterwegs zu einem Tatort war und dass er heute beim Mittag-, Abend- oder irgendeinem anderen Essen nicht mit ihr rechnen konnte, weil es nach einer größeren Sache aussah.
Jetzt schaute sie auf seine Nachricht.
Ich weiß, dass ich eigentlich nicht fragen darf, aber ich mach’s trotzdem. Ist es das, was ich vermute?
Bei jedem anderen würde sie es bezweifeln, aber wenn man an die vielen Male dachte, bei denen sie aus rein zufälligen, unerklärlichen Gründen auf einer Wellenlänge gelegen hatten, konnte sie es nicht ausschließen. Außerdem arbeiteten sie schon lange bei Ermittungen zusammen, dass sie ihm getrost das eine oder andere Detail anvertrauen konnte.
Sie simste zurück:
Sag mir nicht, dass die Sache in dem Laden schon Schlagzeilen gemacht hat.
Seine Antwort kam in weniger als zwanzig Sekunden.
Doch, hat sie, aber so habe ich nicht davon erfahren. Ich habe den Anruf entgegengenommen.
Scheiße. Jenna schrieb zurück:
Sollte ich da etwas wissen?
Auf jeden Fall. Mach ein Kind namens Molly ausfindig.
Jenna gab Yancys Information an Saleda weiter, während sie an der Absperrung, die die örtlichen Cops vor dem Lowman-Parkplatz aufgestellt hatten, ihren Ausweis zückte. Einer von den diensthabenden Cops nickte und schob die Barriere beiseite, damit Saleda durchfahren konnte. Normalerweise wäre ein solches Blutbad ein Fall für die Ortspolizei, aber wenn zwei gewählte Regierungsvertreter erschossen wurden, hatte das höchste Priorität. Streng genommen war es immer noch ein lokaler Fall, aber die BAU war bereits hinzugezogen worden.
»Wussten wir, dass der Notruf von einem Kind kam?«, fragte Jenna.
Saleda schüttelte den Kopf. »Die Notrufe werden noch ausgewertet. Anscheinend sind mehr als ein Dutzend von Handys aus dem Laden eingegangen. Warum sollen wir das Kind ausfindig machen?«
Jenna zuckte die Achseln. Wenn Yancy fand, sie sollte mit dem Kind reden, dann hatte er schon einen guten Grund dafür. Er kannte das Spiel – und Jennas Arbeitsweise – gut genug, um zu wissen, was hilfreich sein würde. »Das werden wir dann schon sehen.«
So ziemlich alle Polizeifahrzeuge der Stadt schienen sich auf diesem Parkplatz versammelt zu haben. Offenbar hatte die Fahndung nach dem Killer keine besondere Priorität.
Kann die Ortspolizei mit so viel Blut nicht umgehen, oder haben sie Grund zu der Annahme, dass der Schütze keine Gefahr darstellt? Ein toter Verdächtiger? Einer in Haft? Jenna sprang aus dem Wagen und folgte Saleda zum Eingang des Ladens.
»Verantwortlicher Special Agent Saleda Ovarez. Das hier sind Dr. Jenna Ramey, Special Agent Teva Williams, Special Agent Porter Jameson«, erklärte Saleda dem Cop, der sie vor der Tür in Empfang nahm.
Die Bohnenstange von einem Mann schüttelte ihr die Hand.
»Lieutenant Daly, DCPD. Danke, dass Sie gekommen sind. S. A. Dodd ist bereits drinnen.«
Oh, oh.
»Was?«, entfuhr es Saleda halb als Frage, halb als Aufschrei.
»Er inspiziert den Tatort«, erklärte der verdutzte Officer Daly.
»Aha«, erwiderte Saleda, und Jenna nahm wahr, wie sie ihren Ärger mit einer Kraftanstrengung herunterschluckte. Dieser Dodd war schon jetzt ein ziemlicher Problemfall.
»Zeigen Sie uns den Weg?«, bat Saleda den Officer.
»Klar«, sagte Daly. Das Team folgte ihm ins Innere des Ladens.
Als Jenna den Supermarkt betrat, brannte sich die Szene, die sich ihr bot, in ihr Bewusstsein ein, wo sie sich zu all den anderen Tatortbildern gesellte, mit denen sie im Laufe der Jahre konfrontiert worden war. Überall auf dem Boden Blutflecke und Fußspuren. Hoffentlich ist die Spurensicherung da rangekommen, bevor die örtlichen Cops alles nach Strich und Faden kontaminiert haben.
Die ersten drei Opfer befanden sich in der Obst- und Gemüseabteilung. Zwei von ihnen lagen nahe beieinander vor der Apfel- und Apfelsinenauslage, Opfer Nummer eins mit dem Kopf an den Füßen von Opfer Nummer zwei.
»Eins und zwei, Clovis Carter und Lily Ross. Beide weiblich, achtundfünfzig beziehungsweise fünfundfünfzig Jahre alt«, fasste Saleda für das Team zusammen.
Der Schütze musste hereingekommen sein, sich nach rechts gewandt und die Ersten umgelegt haben, die er zu Gesicht bekam. Entweder hatte er keine Bedenken zu schießen, oder doch eher so viele Bedenken, dass ihn eventuell der Mut verlassen würde? Wie blindwütig war der Täter vorgegangen?
»Eiskalt«, murmelte Porter. »Sieht das nach Auftragsmord aus?«
»Kann man jetzt noch nicht sagen«, erwiderte Saleda.
Weiter hinten in der Obst- und Gemüseabteilung lag Opfer Nummer drei, Sherman Frost. Der Siebenundsechzigjährige hatte ursprünglich quer über den Zucchini gelegen, aber jemand hatte versucht, ihn von dort weg in Sicherheit zu bringen. Durch die Kugel in seinem Rücken war er verblutet, bevor Hilfe eintraf.
Als Nächstes hatte sich der Schütze den Gang mit den Konserven vorgenommen. Den ging Jenna jetzt schweigend hinter Officer Daly hinunter, als wäre das hier eine Touristenattraktion und er ihr Fremdenführer. Nach den Blutspritzern auf Miriam Holmans Gesicht zu urteilen, hatte der Schütze den Schuss vom Ende des Ganges ausgeführt. Ihr Gesicht war an der linken Seite gestreift worden, und das Blut war über ihre linke Schulter auf ein Bord mit Nudeln geströmt. Bizarr.
»Nach dem Schuss auf das dritte Opfer zu urteilen, scheint der Schütze kleiner zu sein«, bemerkte Teva.
Der Killer hatte außerdem auf die ersten beiden Opfer aus einem Winkel geschossen, der für einen Rechtshänder sprach. Dieser Schuss dagegen tendierte nach links. Wenn er hergekommen war, um diese spezielle Zielperson, die Gouverneurin, zu töten, hatte er einen echt miserablen Schuss abgefeuert. Der Job war zwar erledigt, aber trotzdem …
»Wenn du der Schütze wärst, würdest du dann nicht präziser auf jemanden zielen, den du abknallen sollst?«, fragte Jenna.
»Was hast du im Sinn?«, wollte Saleda wissen.
Jenna biss sich auf die Lippe. »Er ist nicht größer, als der Schuss auf das dritte Opfer nahelegt. Dieser hier ist einfach nur anders. Bei den ersten drei Opfern hat er die Waffe direkt vor sich gehalten. Hier sieht es fast aus, als ob …«
»Er ihn über seine Schulter abgefeuert hätte«, ergänzte Porter.
Jenna nickte. »Fast so, als wäre es ihm erst nachträglich noch eingefallen.«
»Könnte es sein, dass er sie zuerst nicht gesehen hat? Hatte er vielleicht Angst, sie könnte ihm entwischen?«
»Hm, vielleicht«, erwiderte Jenna. Falls er sie doch gesehen hatte und verhindern wollte, dass sie entkam, würde das die These stützen, dass er Angst vor dem Töten hatte, es ihm an Selbstvertrauen mangelte. Das zeichnete ein ganz anderes Bild als das eines abgebrühten Schlächters, der Freude am Töten hatte. Andererseits …
Jenna machte keine Anstalten, die Farben hervorzuholen, die sich in ihrem Kopf bemerkbar zu machen versuchten. Sie hatte bestimmte Ahnungen, wollte aber warten, bis sie sich konkretisieren ließen.
»Weiter«, sagte Saleda bestimmend.
Officer Daly führte sie nach rechts, vorbei an den Gängen mit Müslis, Backwaren und Keksen. In der Feinkostabteilung im hinteren Ladenbereich, gegenüber der Obst- und Gemüseabteilung, lag die Leiche von Opfer Nummer fünf, Bürgermeister Frank Kuncaitis.
»Ihm wurde aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen«, fasste Officer Daly das Bild für sie zusammen.
»Und wir sind sicher, dass der Bürgermeister nicht die Zielperson sein kann?«, fragte Teva.
»Sag niemals nie«, murmelte Jenna. Irgendetwas war hier total daneben. Sie zwang sich, die Blautöne zu ignorieren, die sich mit Gewalt Aufmerksamkeit zu verschaffen suchten. Keine Farbanalysen, bevor sie nicht Zeit gehabt hatte, alles zu verarbeiten.
Opfer Nummer sechs befand sich in der Nähe der Kassen. Eine Kugel war von hinten zwischen ihre Schulterblätter eingedrungen. Rita Keegan war mit dem Gesicht nach unten auf den Fliesen gelandet. Allerdings waren ganz offensichtlich panische Kunden, vielleicht sogar der Schütze selbst, durch ihr Blut gelaufen und hatten es über den gesamten Eingangsbereich verschmiert.
»Warum hat er wieder Kurs auf den Ausgang genommen?«, fragte Porter. »Sein Bewegungsmuster ergibt überhaupt keinen Sinn.«
Saledas Blick wanderte von Opfer Nummer sechs zur Tür. »Und wo ist Opfer Nummer sieben?«
Officer Daly zeigte in die Richtung des Müsli-Regals, an dem sie vorhin vorübergekommen waren. »Wir müssen ein Stück zurück.«
»Hatte er Angst, sein Schuss auf die Gouverneurin könnte nicht getroffen haben? Nochmal zurück, um sicherzugehen?«, warf Porter ein.
Teva schüttelte den Kopf. »Aber wieso ging er weiter in den Laden hinein für den Bürgermeister und kam dann noch mal zurück für sie? Wenn sie deine Zielperson ist, gehst du doch direkt auf sie zu, verpasst ihr eine Kugel zwischen die Augen und haust ab.«
»Was das angeht, warum nicht besser warten und sie erschießen, während sie ihre Rede in der Bibliothek hält? Da wäre sie eine leichte Beute gewesen«, murmelte Jenna. »Da gäbe es dann zwar ein Sicherheitsteam, aber für einen vorsätzlichen Mord ist das einfacher. Vorhersehbar. Wenn die Security dort ein Problem war und hier nicht, konnte er doch warten, bis sie in die Bibliothek hineinging. Er wusste ja, dass sie da lang musste.«
»Vielleicht hat es ja mehr mit dem Bürgermeister zu tun, als wir dachten«, sagte Saleda. Sie hatte neben Rita Keegan gekniet und die Richtung der Blutspritzer untersucht. Jetzt erhob sie sich.
In Gang sieben war Opfer Nummer sieben, Blake Spiegel, ebenfalls frontal erschossen worden, nur schien er dem Schützen das Gesicht zugewandt zu haben. Die Kugel hatte ihn in die Brust getroffen, nach hinten geworfen und war dann durch ihn hindurchgegangen und in eine Wand im hinteren Ende des Ladens eingedrungen.
Manche Schüsse in den Rücken, die Brust. Andere treffen ins Gesicht, aber nicht sauber. »Er scheint nicht besonders geübt zu sein. Er trifft sieben mit sieben Schüssen, aber keiner ist perfekt ausgeführt. Ich würde sagen, ein militärischer Hintergrund ist zweifelhaft.«
»Der Einschusswinkel der Kugel, die Spiegel getroffen hat, ist auch eigenartig. Sie ist durch ihn durchgegangen, aber die Einschussstelle liegt etwas links von der Austrittsstelle. Es scheint, als ob er ein bisschen von der Seite her auf ihn geschossen hat, genau wie bei der Gouverneurin«, sagte Porter.
Die Unstimmigkeiten bei den Schüssen, die Reihenfolge der Opfer. Irgendetwas an der ganzen Sache war faul. Jenna war noch nicht bereit dafür, dass sich die Farben schon so deutlich einstellten. In der Vergangenheit waren mit Verbrechen assoziierte Farben in ihrem Kopf aufgeleuchtet, die auf Bauchgefühlen beruhten. Aber erst, nachdem sie genügend Informationen hatte, um diese Gefühle zu deuten. Dieses Mal dagegen waren die Schüsse im Gang mit den Müslis von Violett überlagert, bevor sie genug gesehen oder gehört hatte, um sich darauf einzulassen. Eine völlig andere Farbe als das Blau, das den restlichen Tatort durchdrang.
»Das ist der einzige junge Mann«, stellte Teva fest. »Die anderen waren alle über fünfzig.«
»Na ja, es ist nun mal Seniorentag«, sagte Officer Daly.
Da war was dran. Deshalb sollte man aber trotzdem nicht das Alter dieses Opfers außer Acht lassen. Überhaupt fragte sich Jenna, je mehr sie sich den Tatort vergegenwärtigte, ob die ursprüngliche Schlussfolgerung, dass die Gouverneurin das Motiv für die Bluttat war, nicht vollkommen danebenlag. Das erste und das letzte Opfer sollten auf jeden Fall noch einmal genauer unter die Lupe genommen werden. Die chronologische Reihenfolge war beim Opfer-Profiling sehr wichtig, selbst dann, wenn eins der Opfer ein politisches Amt bekleidete. Die Opfer mochten zwar nach dem Zufallsprinzip ausgewählt sein, aber es konnte sich eben auch anders verhalten.
Saleda sprach in ihr Handy. »Irv, wir brauchen Material zu den Opfern, Genaueres als das, was wir derzeit haben. Vorgeschichte, Familie, Freunde. Wir geben dir noch mehr Einzelheiten durch, aber nimm erst mal die Namen und klopfe sie auf das Übliche hin ab: Militär, Finanzen, Beruf, Stressfaktoren und so weiter.«
Sie beendete das Gespräch mit dem Kriminaltechniker und wandte sich an das Team. »Teva, Sie fangen mit den Zeugen auf dem Parkplatz an. Porter, sehen Sie nach, was die SpuSi Interessantes zu bieten hat. Jenna und ich nehmen uns die Zeugen vor, die den Schützen tatsächlich gesehen haben.«
»Irgendwelche Vorgaben für mein Team bezüglich der Fahndung?«, erkundigte sich Daly.
Saleda warf Jenna einen Blick zu.
»Noch nicht. Suchen Sie weiter, aber gehen sie behutsam ans Werk. Der Verdächtige ist bewaffnet und gefährlich«, erwiderte Jenna. Sie sah noch einmal auf das siebte Opfer auf dem Boden und malte sich aus, wie die Kugel in einem eigenartigen Winkel durch seine Brust in den hinteren Bereich des Ladens geflogen war. Dann fügte sie noch als Nachtrag hinzu: »Bewaffnet, gefährlich und möglicherweise psychisch labil.«
3
Eldred saß auf dem Parkplatz des Supermarkts. Er kannte sich nicht mehr aus. Die Polizei hatte ihm gesagt, er müsse noch bleiben, aber er verstand nicht, warum. Hatte er etwas Unrechtes getan? War er etwa verhaftet?
In letzter Zeit hatte sich in seinem Leben immer mehr verändert. Zuerst hatte Nancy ihm gesagt, er könne nicht mehr allein zu Hause bleiben. Eines Tages hatte sie eine nette Pflegerin mitgebracht, die an den Abenden bei ihm bleiben sollte, wenn Nancy keine Zeit hatte. Dann hatte seine Tochter seine Lebensverhältnisse ein zweites Mal geändert. Sie erklärte ihm, das mit der Pflegerin zu Hause würde nicht funktionieren. Er müsse in ein Haus mit betreutem Wohnen ziehen, zu seiner eigenen Sicherheit.
Papperlapapp. Zu seiner eigenen Sicherheit. Für seine Sicherheit konnte er ja wohl selber sorgen, Himmelherrgott. Er war doch schließlich kein Baby mehr! Er lebte schon über siebzig Jahre auf dieser Erde und sorgte für sich, verdammt! Andererseits … er befand sich in einem Supermarkt. Wie war er da hingekommen? Seine Tage waren in letzter Zeit so in Schieflage geraten, wie in einem Zerrspiegel auf dem Jahrmarkt.
»Sir?«, sagte eine große junge Frau mit braunen Haaren zu ihm und berührte ihn dabei an der Schulter.
»Wer sind Sie?«
»Sir, mein Name ist Special Agent Teva Williams. Ich bin vom FBI. Können Sie mir Ihren Namen nennen?«
Selbstverständlich konnte er ihr seinen Namen nennen! Eldred. Eldred. Oh, verdammt. Eldred … »Eldred Beasley.«
»Danke, Mr. Beasley«, erwiderte sie und notierte sich seinen Namen in einem Notizbuch. Ach, sie hatte große Ähnlichkeit mit Nancy und war bestimmt so in den Zwanzigern. Vielleicht auch dreißig mit diesen langen Haaren, die im Wind rauschten. »Mr. Beasley, können Sie mir sagen, wo im Laden Sie sich befanden, als Sie hörten oder sahen, dass etwas nicht stimmte?«
Nicht stimmte? Was meinte sie damit?
Konzentriere dich.
»Was meinen Sie?«, fragte er.
»Sir, wo waren Sie, als die Schüsse fielen? Können Sie sich erinnern?«
Selbstverständlich kann ich mich erinnern! »Schüsse?«
»Dad!«
Eldred drehte sich um und sah seine Tochter hinter einem orange-weißen Absperrgitter, wo sie auf und ab hüpfte und ihm wie wild zuwinkte. Sie redete hitzig auf den Officer vor dem Gitter ein, allerdings konnte Eldred nicht verstehen, was sie sagte.
»Mr. Beasley?«, sagte die junge Frau vor ihm noch einmal.
»Ja?«
»Mr. Beasley, als die Schüsse losgingen, in welchem Teil des Ladens waren Sie da?«
Er starrte die Frau an. War sie womöglich verrückt? Schüsse. Da waren keine Schüsse. »Ich … ich weiß nicht, was Sie wissen wollen …«
Einen Augenblick später schlängelte sich ein Cop zu der jungen Frau durch. »Das da an der Absperrung ist die Tochter des Mannes. Sie sagt, ihr Vater hat Alzheimer und ist sich möglicherweise nicht im Klaren, wo oder wer er ist. Sie würde gerne herkommen …«
Die junge Frau blickte auf Eldred, dann wieder zurück zu Nancy. »Lassen Sie sie durch.«
Alzheimer? Das war ja wohl das Lächerlichste, was er je gehört hatte! Er war vollkommen in Ordnung!
Nancy kam auf ihn zu gerannt und nahm ihn in den Arm. »Oh, Gott sei Dank ist dir nichts passiert!«
»Was machst du hier, Nan?« Er trat ein Stück von ihr zurück, damit er ihr in die Augen sehen konnte. Ihr Gesicht war … irgendwie anders. »Hast du was Neues mit deinem Make-up gemacht?«
Nancys Augen wurden feucht, und sie machte ein verzagtes Gesicht. »Nein, Dad, ich …« Sie hielt inne und wandte sich an die junge Frau. »Nancy. Ich bin Eldreds Tochter.«
»Freut mich. S. A. Teva Williams.« Sie gaben sich die Hand.
Jetzt, wo er sie aus der Nähe sah, merkte Eldred sofort, dass Nancy und diese Frau überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander hatten. Die Frau war viel jünger und Nancy reifer, als er dachte. Das war wohl typisch für Väter. Man machte sich immer das schmeichelhafteste Bild von seinem Kind.
»Kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte Nancy die junge Frau.
»Sicher«, kam als Antwort zurück.
Sie traten ein Stück zur Seite, und Eldred sah zu, wie Nancy und die junge Frau ein paar hastige und gedämpfte Worte wechselten. Er sah sich um. Zum ersten Mal nahm er den Parkplatz bewusst wahr. Überall Polizeifahrzeuge, Menschen mit Decken um den Schultern, die sich umarmten und weinten.
Etwas regte sich undeutlich in Eldreds Hinterkopf. Was ging hier vor?
Im nächsten Augenblick war Nancy wieder neben ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich werde hier bei dir sitzen bleiben, Dad. Wir müssen noch ein bisschen warten. Dann kommst du für eine Weile mit zu mir nach Hause. Wie wäre das?«
»Wozu?« Erklär mir das bitte mal alles hier.
Nancy drückte beruhigend seine Schulter. »Ich möchte dich im Moment einfach gerne in meiner Nähe haben, weil ich nicht … Dad, erinnerst du dich, was da drinnen passiert ist?«
Eldred fühlte, wie die Hitze in seinem Gesicht hochstieg. »Erinnern? Natürlich erinnere ich mich! Ich war nur …«
Doch bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte, brannten ihm die Tränen in den Augen. Er biss sich kräftig auf die Lippe, um sie zurückzuhalten, doch Nancys gerunzelte Stirn sagte ihm, dass sie es bereits bemerkt hatte.
»Ach, Dad«, sagte sie und nahm ihn fest in die Arme.
Er sah zu, wie ein paar Tränen auf den Hals seiner Tochter tropften, dann drückte er die Augen fest zu. Jetzt, wo er sie geschlossen hatte, fühlte sie sich an wie Sarah. Seine Frau gehörte zu den wenigen Dingen, an die er sich noch deutlich erinnern konnte, obwohl Jahre vergangen waren, seit sie an einen Ort verschwunden war, an den er ihr nicht folgen konnte.
Mochte Gott ihm beistehen, wenn er sie je verlieren sollte. Alles andere konnte er entbehren, aber wenn ihm Sarah entglitt …
Er durfte sie nicht verlieren. Nicht noch einmal.
Blut. Schüsse. Schnelle Schritte. Ein Monster.
Eldred löste sich aus der Umarmung seiner Tochter und sah ihr in die Augen. »Da war Blut.«
Nancy blinzelte. »Hast du was gesehen, Dad? Hast du den Schützen gesehen?«
Wovon redete sie da? »Welchen Schützen?«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Schon gut!«
Und sie schloss ihn erneut in die Arme.