Klaas Huizing
Scham Ehre
Eine theologische Ethik
Gütersloher Verlagshaus
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-19552-6
V001
www.gtvh.de
Den Schwiegersöhnen
Paul Huizing
Thomas Kusitzky
Inhalt
Vorwort und Dank
Das Wüten von Maarten ’t Hart
Einleitung
Vorspiel
Scham und Ehre
Nachspiel
Shame on you!
Scham als Grundbegriff der Ethik
Einleitung: Der emotional turn
1. Homo sensualis
2. Ethik, Scham und Schamhaftigkeit
3. Scham als moralische Autorität
4. Die Konstitution des ethischen Subjekts in der Scham
5. Über die Attraktivität, Scham in Schuld zu verschieben
6. Falsches und richtiges Schämen
Kleine Rekapitulation: Schammanagement
Nachspiel
Ehre, wem Ehre gebührt
Karte und Gebiet einer weisheitlichen Ethik
Einleitung: Inszenierter Optimismus
1. Die biblische Weisheitsanthropologie
2. Weisheitliche Modell-Lektüren
3. Renovierung des Ehrbegriffs
4. Göttliche Atmosphären
5. Kleine Hymne auf die Bibel: Bling Bling
6. Hoch und tief. Baupläne des Hymnischen
Kleine Rekapitulation: Wohlwollende Begleitung
Nachspiel: Jubilieren
Scham, Schuld und Schulden
Ethik in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise
Einleitung: Möbelhaus, später
1. Die magische Aufladung der Ökonomie
2. Der schamgeschulte Homo oeconomicus
3. Scham als ökonomische Klugheitsregel
3.1 Makroebene: Scham und Kooperationsgerechtigkeit
3.2 Mesoebene: High speed money und die Scham der alten Banker
3.3 Mikroebene: Digitale Leibeigenschaft?
Kleine Rekapitulation: Plädoyer für eine schamgesteuerte ökonomische Klugheit
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Rettungsangebot
Nachspiel
Werden wir »elektrooptisch gedopt«?
Grundriss einer Medienethik
Einleitung: Baisse
1. Kehraus
2. Ezechiel und die Performer der Beschämung
3. Das Disneyland des Christentums in den Alpen
4. Der Homo medialis und seine Handlungsfelder
4.1 Das Netz: digitaler Spielplatz oder Normierungsmaschine?
4.2 Professionsethik – emanzipativer Umgang mit schambesetzten Themen
4.3 Der fehlende Schamblick im Netz
5. Medien als Maschinen der Schamsensibilisierung
Kleine Rekapitulation: Über Teflonisierung und Identitätsmanagement
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Lob der Medienträger
Nachspiel
Exkurs Selfie, Belfie, Footsie und Nudie
1. Das Wörterbuch der Selbstentblößung
Einleitung: Klausur im Dunklen, online in der hellen Kammer
Idolatrie und Teilnahme
2. Identitätsstabilisierung, Verknautschung und der kleine Alltagsroman zum Selfie
Erotischer Exzess
Nachspiel
Prometheische Scham
Überlegungen zu einer theologischen Technikethik
Einleitung: Faust und Prometheus 3.0
1. Der Homo faber reloaded
2. Die Scham des Homo faber und der Hass auf das Handy
3. Technik, Kunst und die Gelassenheit
4. Der Entzauberungskünstler und die Religion
5. Theologische Technikethiken in der Kritik
6. Der Cyborg und das Ende der prometheischen Scham
Kleine Rekapitulation: Reifizierungswahn und der Charme der Ergänzung
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Abschied von der prometheischen Scham
Nachspiel
»Lust ist wahrscheinlich ein Beiname Gottes!«
Eine Ethik der Sexualität, Liebe und Lebensstile
Einleitung: Sexualität – ein verwahrlostes Thema
1. In Spermiengewittern. Eine Lendenlegende
2. Die Applausmeister der Wollust und der Fruchtbarkeit
3. Biblische Lektüren der Entschämung
4. Im Treibhaus der Ehe
5. Wie zusammen leben?
6. »To be baptized in banality«. Jeff Koons Entschämungsparcours der Sexualität
Kleine Rekapitulation: Über die Feier des Orgasmus und die Metaphysik der Fruchtbarkeit
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Die Doxologie der Sexualität
Nachspiel
Die Enhancement-Gesellschaft
Über Körper- und Psychopolitiken
Einleitung: BMI-Gläubigkeit
1. Beschämungspraktiken im Gesundheitsdispositiv
2. Macht Krankheit Sinn?
3. Enter. Sind Leben und Gesundheit Gaben?
4. Exit. Die Frage nach der Rück-Gabe des Lebens
Kleine Rekapitulation: Über Heil und Heilung
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Nachspiel Verhaltenes Lob der Zellulitis und des Doppelknies
Nach dem Schlachten
Über Tier-, Pflanzen- und Umweltethik
Einleitung: Beschämungspraktiken und eine Heuristik der Scham
1. Die Sonderstellung des Menschen
2. Sphärenerweiterung I
3. Sphärenerweiterung II
4. Biblische Befunde und theologische Tier- und Umweltethiken
5. Das Internet der Tiere und die leise Beschämung durch die Kunst
Kleine Rekapitulation: Und die armen Tiere und Pflanzen auch?
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Die Erregungskommune
Nachspiel
Der Liberalismus der Scham
Ein Versuch zur Rechtsethik
Einleitung: Zeugen der Scham
1. Alphabetisierte Scham
2. Die Gefühlsbasis des Rechts
3. Re-Shaming und Beschämungspraktiken
4. Der lange Schatten der Sünde
Kleine Rekapitulation: Das Rechtsgefühl als Stimulans
Verschiebung von Scham in Schuld, Schuld in Scham
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Law and Literature
Nachspiel
Exkurs: Politische EthikSelfies von Europa Über Bildpolitiken in der Migrationsdebatte
Einleitung: Willkommenskultur oder: Welches Bild von Europa hätten Sie denn gerne?
1. Schockphotos oder: Wie Bilder uns bestechen
2. Scham und Ehre als Grundbegriffe politischer Ethik
3. Scham und Ehre in biblischen Narrativen
4. Die europäische Kultursynthese, die Bildung und die Trockenheit der Herzen
Kleine Rekapitulation: Schockphotos und die Folgen
Epilog
Vor der Tafel
Die Liturgie eines demütigenden Beschämungsrituals
Literatur
Filmverzeichnis
Namenregister
Vorwort und Dank
Das Wüten von Maarten ’t Hart
Auch noch jenseits der Siebzig wütet der niederländische Autor Maarten ’t Hart nahezu atemlos gegen seine calvinistische Erziehung und gegen das desaströse Menschenbild, das ihm vor allem durch seine Mutter vermittelt worden ist. So lässt er in seinem Roman Magdalena über die eigene Mutter sie selbst sagen: »(A)lles, was von Menschenhand geschaffen wurde, ist von der Sünde befleckt, ist mit Sünde getränkt, ist mit Sünde beschmutzt, durch Sünde gebrandmarkt.«1 Zwar hat Maarten ’t Hart seinen leisen Humor nicht eingebüßt, aber für den Calvinismus empfindet er nur laute Verachtung: »Der Calvinismus war eine abartige, bizarre, grauenhafte Form des Christentums.«2 Andere christliche Konfessionen stehen nicht in seinem Fokus, für ihn ist das Christentum aber insgesamt eine Lebensform, vor deren Nebenwirkungen dringend gewarnt werden muss, deshalb endet sein Roman Magdalena mit einer unerbittlichen und verächtlichen Gegenlesung des Credos und des Vaterunsers. Ein kleiner Katechismus der finalen Verweigerung. Kehraus mit dem Christentum. Eine Bitte um Verschonung nach der erlebten Verwüstung. Eine Schlussstrichgeste, der man die Erleichterung ansieht. Maarten ’t Hart bleiben als Trost noch die musikalischen Heroen Bach und Mozart. Immerhin. Ganz ohne vertikale Verdrahtung muss auch er nicht auskommen.
Ich bin ebenfalls in einem calvinistischen Elternhaus aufgewachsen, also Maarten ΄t Harts idealer Leser, folge seit zwanzig Jahren, während der Lektüre seiner autobiographischen Romane unweigerlich nickend, als litte ich an einem Hospitalismus, seinem nie gemütlichen Wüten. Die durch die Erziehung verschriebene Sündenbrille abzulegen, ohne dem Christentum damit abzuschwören, scheint, liest man Maarten ’t Hart, unmöglich. Als Augentraining, so der protestantische Instinkt, hilft nur die neuerliche Lektüre. Und die Lektüre hilft sehen, denn an einem biblischen Text, der Kain- und Abel-Geschichte, ging mir auf, dass die biblischen Schriftsteller gegen den ersten (und zweiten) Anschein eine weniger sündenfixierte Lesart zulassen und nahezu trotzig – ohne naiv zu sein – auf die Bildbarkeit des Menschen bauen. Biblische Schriftsteller trainieren den rechten Umgang mit Scham als Warnung davor, schuldig und sündig zu werden. Das ist eine alternative, weniger misanthropische Sicht der Dinge, die durch die asketischen calvinistischen Mütter bedient wurde. Diese neue Sicht erprobe ich in diesem Buch. Mein ethischer Entwurf ist deshalb zunächst und zumeist als Präventivethik angelegt, ohne den Tatbestand von Schuld und Sünde leugnen zu wollen. Dieser Zugang, der mit dem sündenfixierten Selbstverständnis vieler Theologen sehr grundsätzlich bricht, hat einige Vorteile. Ein entscheidender Vorteil dieser Herangehensweise ist das milde, optimistische christliche Menschenbild. Ein Gespräch mit säkularen Ethikern wird durch das Absenken der Diskursschwellen in dieser Frage sehr viel leichter möglich. Die Generation meiner Töchter und Schwiegersöhne, die nahezu täglich mit der missbrauchten Religion in vielen Facetten konfrontiert werden, können mit dem pessimistischen Menschenbild der christlichen Tradition kaum – kaum ist noch ein Euphemismus – etwas anfangen. Diese Präventivethik, die die Lebensdienlichkeit der christlichen Religion deutlich machen will, ist ein Angebot zum Dialog. Meinen beiden Schwiegersöhnen ist deshalb dieses Buch gewidmet.
Das intensive Gespräch mit meinen Assistenten Dr. Michael Bauer, Johannes Lange, Martin Schott und meinen Assistentinnen Dr. Iris Kreile und Theresa Michalik zu den Themen der Ethik hat mich in der unverbiesterten Sicht der Dinge bestärkt. Unschätzbar ist der Beitrag, den seit zehn Jahren Dr. Michael Bauer geleistet hat. Auch wenn die Diskussionen manchmal kontrovers ausfielen, war der immer von Humor geprägte Disput der Sache geschuldet. Für einen gelernten Dialogiker wie mich, ich habe in der Philosophie über Levinas promoviert, ist der Dialog die Urform des Glücks. Unser beider Hochschätzung der Literatur des Alten und Neuen Testaments – für theologische Ethiker durchaus keine Selbstverständlichkeit – gab der Arbeit immer wieder neuen Schwung. Michael Bauer gilt deshalb mein besonders herzlicher und nachhaltiger Dank.
Meine Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl, Xena Hospes, Deborah Wildenhues, Julia Kleemann, Annika Margraf, Theresa Kuhn, Veronika Geißler und Sabrina Maiwald bedienten mit immer neuen Lieferungen meine manische Buchtrinkersucht, pflegten klaglos das ausufernde Literaturverzeichnis, beschafften Bilder und führten dem Fehlerteufel geschuldete Korrekturen aus. Vielen Dank. Aus dem Freundeskreis danke ich vor allem Wolfgang Kerkhoff, der als gelernter Journalist und stellvertretender Regierungssprecher der Saarländischen Landesregierung auf die Lesbarkeit des Buches gedrängt hat.
Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, sein Vorname prädestiniert ihn zum Hermeneutiker, der Texte aufschließen kann, hat nicht nur vor vier Jahren vorgeschlagen, meine drei lange vergriffenen Bände der Ästhetischen Theologie in einem Band neu aufzulegen, sondern auch den Denkprozess der Ethik mit großem Engagement und extrem viel Sympathie begleitet. Dafür bin ich dankbar.
Im Juli 2016 Klaas Huizing
1 ’t Hart (2016: 275).
2 ’t Hart (2016: 276). Aus katholischer Sicht ringt beherzt mit dem Christentum der Romancier Emmanuel Carrère (2016). Carrère ist neben Paulus an Lukas interessiert: »Ich bin ein Autor, der zu verstehen versucht, wie ein anderer Autor ans Werk gegangen ist.« (328) Verblüffend sind seine poetologischen Überlegungen (315-321), aber sehr einleuchtend. Herrlich präzise diagnostiziert Carrère im Christentum einen »Schuldterrorismus« (444).
Christian Jankowski, Schamkasten, 1992, Video (1 x Digital Betacam, 1 x DVD), 120:00 min, PAL,4:3, color, sound, German, and 34 b/w photographs, each 30.4 x 23.9 cm, edition of 5, II. In collaboration with Frank Restle.
»Muss es nicht in der Lexik eines Autors immer ein Mana-Wort geben, ein Wort,
dessen brennende, vielgestaltige, nicht zu fassende und gleichsam sakrale Bedeutung
die Illusion gibt, dass man mit diesem Wort auf alles antworten kann?«
Roland Barthes
Einleitung
Vorspiel
»Die Ethik ist eine Optik.«
Emmanuel Levinas
»›Angst vor Gesichtsverlust‹ (der bösartigste aller Dämonen).«
Roland Barthes
»›Es fragt sich, ob das nicht Gott war‹, meinte Geir. ›Das Gefühl,
gesehen zu werden, von dem auf die Knie gezwungen zu werden,
was einen sieht. Wir haben nur einen anderen Namen dafür.
Das Über-Ich oder die Scham.‹«
Karl Ove Knausgård
Scham und Ehre
Die vorliegende Ethik betritt Neuland, indem sie das Phänomen Scham ins Zentrum ihrer Ausführungen rückt. Meine Schamethik unterscheidet sich von bisherigen ethischen Erörterungen, die mit dem Schambegriff arbeiten, markant dadurch, nicht zum x-ten Mal ein Plädoyer für Tugendhaftigkeit im Sinne der Schamhaftigkeit zu halten.1 Solche Plädoyers verkürzen und entwerten das Phänomen der Scham. Dagegen pointiere ich die zentrale Bedeutung der Schamsituation für die Konstitution der ethischen Person und zeige, wie zahlreiche ethische Konflikte in unserer Gesellschaft durch Scham und vorweggenommene Scham gesteuert oder verursacht werden. Der konzeptuelle erste Teil meiner Schamethik bietet entsprechend eine theoretische Erörterung des Phänomens der Scham, Teil zwei wendet sich den Konflikten in unterschiedlichen ethischen Bereichsfeldern zu, identifiziert Scham als eine der oft übersehenen Ursachen und erwägt Strategien, mit der Scham klug umzugehen, um künftig Konflikte zu vermeiden.
Der erste Essay verortet die Schamethik im bisher nur vage kartographierten wissenschaftlichen Diskurs zum emotional turn. Mein Held ist der Philosoph Hermann Schmitz, der bereits einen emotional turn vollzog, als die Geisteswissenschaften noch hüftsteif in eine andere Richtung marschierten. Scham ergreift den Überwältigten mit einer normativen Autorität, die zugleich die Verletzung der sozialen Synthesis hautnah spürbar macht. Die Philosophie von Emmanuel Levinas dient mir dazu, die Schamsituation als eine primordiale Schlüsselsituation zu deuten, die für die Konstitution der ethischen Person schlechterdings notwendig ist. Nach Levinas ist die Ethik die erste Philosophie und Schäm dich! – so interpretiere ich ihn – der erste ethische Imperativ, dem der Imperativ Töte mich nicht! beigeordnet ist. Darin kommen beide Philosophen überein: Menschen sind Antwortwesen.2 Präziser: Menschen sind schamgeboren.
Obwohl die Schamerfahrung unerlässlich ist für die Konstitution der ethischen Person, bringt sie eine Gefahr mit sich: Die Scham drängt den Beschämten in eine extrem passive Rolle. Um diese Passivität zu überwinden und wieder die aktive Rolle zu erlangen, scheint es für den Beschämten attraktiv zu sein, Scham in Schuld zu verschieben, also eine aktive Handlungsweise zu wählen, die von der Scham ablenkt, indem der Beschämte gewalttätig wird. Damit ist aber zugleich gesagt: Die Situation der Scham markiert den kritischen Punkt menschlicher Freiheit: sich zu ändern, sprich: den eigenen Charakter zu formen und Haltungen auszubilden, die Schamerfahrung zu verdrängen oder – in unterschiedlichen Graden – schuldig zu werden. Daraus ergibt sich die notwendige Schlussfolgerung: Menschen sind nicht zur Schuld verdammt. Als Ursache für die Entstehung von Gewalt wird in diesem Buch die Sehnsucht, Scham in Schuld zu verschieben, ausgemacht. Eine Schamethik will die Konfliktpotentiale und Konfliktkanten, die durch diese Generaltheorie beschreibbar werden, präventiv bearbeiten.
Scham ist ein Schlüsselbegriff im ethischen Entwurf von Ernst Tugendhat, der mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit und in immer neuen Anläufen und Retraktationen die Möglichkeiten und Grenzen einer autonomen Begründung der Moral untersucht, in seinem Spätwerk aber auch den mystischen Nahverkehr mit der Transzendenz zugelassen hat. In der Auseinandersetzung mit seiner Ethik, die mich von allen aktuellen säkularen Ethiken am nachhaltigsten überzeugt, wird das Verhältnis einer theologischen zu einer nichttheologischen Ethik sehr präzise beschreibbar. Das ist für beide Seiten, sofern deren Vertreterinnen3 sich darauf ohne Überlegenheitsunterstellung einlassen, ein Diskursgewinn.
Ein zweiter Essay fragt nach der theologischen Verankerung der Schamethik, die im ersten Essay ohne explizite religiöse Anleihen auskommt. Mustert man die gängigen evangelischen Ethiken, dann entdeckt man ein Füllhorn an Begründungsinstanzen: Schöpfungslehre, Christologie, Pneumatologie, Trinitätslehre, Rechtfertigungslehre, Erwählungslehre, Eschatologie. Ich werbe für die bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Weisheitslehre. Die biblische Weisheitslehre ist eine Wahrnehmungs- und Inszenierungsschule, die durch ihre Texte versucht, Selbst, Welt und Gott religiös erfahrbar zu machen, und zugleich eine hochsensible Persönlichkeitsbildung anbietet. Biblische Modell-Lektüren bestätigen (und erweitern) die im ersten Essay präsentierte Phänomenologie und Anthropologie der Scham. Narrationen, die Schlüsselsituationen inszenieren, verleihen durch ihre emotional gesättigten Überzeugungen orientierende Kraft und Motivation, die dort erschlossene Weltsicht zu übernehmen. Genau hierin besteht das Surplus einer narrativen Ethik.4
Weil in weisheitlicher Perspektive der Mensch trotz aller Rückschläge für fähig gehalten wird, mit Kontingenzen und der geschenkten Freiheit lebensdienlich umzugehen, ist eine weisheitliche Anthropologie in ihrer Anlage optimistisch gestimmt. Diese die Weisheitstheologie und Weisheitsethik befeuernde, milde optimistische Anthropologie macht sie allerdings hochgradig verdächtig für Theologen, die ihre pessimistische Weltsicht schnappatmend pflegen. Die biblischen Schriftsteller präsentieren einen Gott, der mit wohlwollender Beschämung und souverän mit Satire arbeitet, um das irdische Personal, an dessen Bildungsfähigkeit dieser literalisierte Gott trotz aller Rückschläge trotzig glaubt, an die Hand zu nehmen und zu schulen – und der selbst im Vollzug seiner Schulung einen von den Schriftstellern zugeschriebenen Bildungsprozess durchläuft. In dieser Hinsicht ist der Weisheitserzähler und Geschichtenerzähler Jesus von Nazaret der Vollender der weisheitlich-pädagogischen Tradition, die Altes und Neues Testament verbindet. Ich lese die Bibel aus Altem und Neuem Testament als weisheitliches Beispielbuch zur ästhetisch-ethischen Erziehung des Menschengeschlechts.
Die Weisheitstheologie deutet das eigene Leben im Kontext mit anderem Leben und eingebettet in die Welt als wohlwollend begleitet durch Gott. Die dogmatische Tradition hält dafür den Topos vom concursus divinus bereit, vulgo als göttliche Mitwirkung tradiert.5 Mal diskret wie ein warmer, stabilisierender Schatten, mal nachdrücklich indiskret zeigt sich in den biblischen Texten das begleitende und schulende Handeln Gottes. Der narrativ inszenierte Optimismus ist ansteckend und bewahrt in den Bereichsethiken davor, Möglichkeiten, die durch die neuen technisch-wissenschaftlichen Leitwissenschaften erschlossen werden, theologisch reflexhaft alarmistisch zu dämonisieren.
Das Kontrastgefühl zur Scham ist die Ehre – ein vorbelastetes und etwas aus der Mode gekommenes Gefühl. Ich verstehe darunter das soziale und symbolische Kapital eines Menschen6, sein Kapital an Ansehen und Anerkennung, das in der Schamsituation auf dem Spiel steht.7 »Ehre«, so treffend Notger Slenczka, ist »ein Bewusstsein des Anerkanntseins in einem sozialen Gefüge, ein ›Sich wissen als anerkannt‹.«8 In der Schamsituation droht eine galoppierende Inflation dieses Kapitals. Wenn ich Scham und Ehre verbinde, dann greife ich die in der Antike vorgeschlagene Zuordnung wieder auf und setze mich betont von der bei Augustin und Thomas von Aquin vollzogenen Verjochung von Scham und Schuld, Scham und Sünde ab.9 Präzise in dieser Umwidmung verorte ich den Sündenfall der schuldfixierten Theologie. Biblische Lektüren legen eine andere Sicht der Dinge nahe.
»Die Ethik ist eine Optik«10 – eine spezifische Sichtweise auf die Welt. Damit wird die Frage drängend, durch welche Stilmittel und welche Pragmatik weisheitliche Literatur diese Sicht für Leserinnen und Leser erschließt und bis in den Habitus hinein prägt. Wer den Inszenierungskünsten für die neue Weltsicht auf die Spur kommen will, wer also die Frage beantworten will, wie Glaube entsteht, muss die poetischen, sprich: produktionsästhetischen Kniffe der biblischen Schriftsteller untersuchen. Nichts weniger als eine Poetik des Geistes der Weisheit (oder des Heiligen Geistes) steht damit künftig auf der Agenda – ein mächtiges Projekt für eine interdisziplinäre Forschungsgemeinschaft.
Immer wieder greife ich in meinen Essays auf die biblische Literatur und nachbiblische Literatur zurück, um der Struktur der Scham und ihren möglichen Konkretionen näherzukommen. Ulrich Greiner, ehemals Feuilleton-Redakteur der ZEIT, hat eine beeindruckende kulturwissenschaftliche Studie über die Scham vorgelegt und sehr zu Recht die Literatur gefeiert: »Die Literatur ist ein hervorragendes Archiv, das die Wandlungen der Gefühlskultur sammelt und aufbewahrt. Der Komplex aus Schuld und Scham und Peinlichkeit zählt zu den stärksten Antriebskräften, die Literatur entstehen lassen: als Ausdruck eines unlösbaren Konflikts, als rückwirkende Schambewältigung, als Erklärungsversuch des Unverstandenen, vielleicht gar Unerklärbaren.«11 Anders als Ulrich Greiner votiere ich für stärkere begriffliche Differenzierungen, trenne etwa die Scham entschieden von der Schuld. Diese Differenz aufzumachen scheint mir eine Entdeckung biblischer Literatur zu sein.12 Und die Charakterisierung der Literatur als Archiv klingt semantisch etwas verstaubt und uninspiriert: Literatur, die vielfältige, eigentümliche, überraschende, lebenspralle und zugleich detailgenaue Angebote zur spielerischen Identifizierung macht, ist für mich ein pathischer Übungsraum im Umgang mit Gefühlen, nachdrücklich im Umgang mit der Scham.
Obwohl wir uns im Augenblick der Scham, eigenleiblich gespürt, absolut sicher sind, uns zu schämen, können wir uns nicht immer sicher sein, ob wir uns nicht falsch schämen, weil etwa neoliberale Dispositive der Macht13 uns dazu drängen, uns zu schämen, um unser Handeln hinterrücks zu steuern. (Literarische) Kunst, so meine These, ist ein idealer Distanzfilter, um die Autorität des Gefühls zu testen. Zentrale Partien der biblischen Literatur und der nicht-biblischen Literatur sind Lernräume im Umgang mit Scham und wohlwollender, demütigender oder funktionalisierter Beschämung. Lesen, das ist die große Stärke dieser alten Kulturtechnik, verlangt keine spontanen somatischen Reaktionen und steht somit nicht in der Gefahr, das Anerkennungskapital vor den Augen der Anderen zu entwerten. Lektüre ist – um ein semantisches Ungetüm zu wählen – schamangstfrei. Spielerisch wird der Umgang mit kontingent sich einstellenden Situationen trainiert. Eine spielerische Identifizierung mit Protagonisten der Scham, mit denen ich den Umgang mit Scham und Beschämung einübe, gelingt aber nicht nur in der alten Kulturtechnik der Lektüre, sondern selbstredend auch an anderen Orten: im Kino, im Theater oder vor dem Computer.14
In den Bereichsethiken (Essay 3-9) untersuche ich gegenwendig auch jene Verfahren, die Beschämung und Scham strategisch im Rahmen einer Biopolitik (Michel Foucault, Giorgio Agamben) oder inzwischen verstärkt in einer Psychopolitik (Byung-Chul Han, Gernot Böhme), die nicht mehr nur den Leib, sondern auch die Emotionen ausbeuten, einsetzen. Meine Schamethik versteht sich als eine kritische Theorie neoliberal gesteuerter, nahezu invisibler Beschämungspraktiken. Einleitend will ich die Fragestellungen, die ich in den Bereichsethiken15 behandle, und das Storyboard der Erzählung knapp skizzieren.
Wirtschaftsethik. Dieser Essay geht der Frage nach: Wie lassen sich Ökonomie und (theologische) Ethik konstruktiv aufeinander beziehen? Ein bisher unterschätztes Thema in wirtschaftlichen Kontexten ist die Führungsscham: Ein Auslöser der ersten Finanzkrisen (selbstredend nicht der einzige) war die nicht eingestandene Scham der ergrauten Vorständler in den Logen, die nicht begriffen, was ihre Börsenprofis auf dem Parkett trieben. Prompt verschoben die Entscheider die vorweggenommene Scham zur Schuld, indem sie die Broker gewähren ließen. Romane und Filme leisten entscheidende Sehhilfen für diese Deutung des Finanzdramas. Führungsscham verbunden mit Schamangst (Wurmser) haben Ingenieure im VW-Konzern dazu getrieben, vorgegebene Abgaswerte durch Manipulation zu erreichen. Aus Ingenieuren wurden Schurken. Auch hier hat die vorweggenommene Scham als Schamangst zu einer Verschiebung in die Schuld geführt. Sogar ganze Staaten können aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwäche kollektiv in einem Scham-Trauma versinken und dadurch in den gefährlichen Verschiebemechanismus von Scham zu Schuld abrutschen. Zu einem weisheitlich-entspannten Umgang mit Geld, Führungsscham und Schamangst motiviert, so meine Überzeugung, ein bis heute verblüffendes biblisches Gleichnis – obwohl ein breiter Graben die Welt der Bibel von unserer durch einen Finanzkapitalismus beherrschten Welt trennt. Inzwischen zählt Das Gleichnis vom Haushalter (Lk 16,1-8) zu meinen ethikproduktiven Schlüsseltexten. Während der ersten Lektüre zögert die Leserin, ob sie den Haushalter klug oder einfach nur korrupt nennen soll, spätestens in der zweiten Lektüre entdeckt sie die Kraft dieses Textes, die Logik des Wirtschaftens durch eine kluge Umgangsweise mit drohender Scham ethisch zu unterfüttern. Sowohl auf der staatlichen, der unternehmerischen als auch auf der Ebene des individuellen Produzenten und Konsumenten, auf der Mega-, Miso- und Mikroebene, lassen sich durch die Brille des Textes geschärft Schamprozesse identifizieren und bearbeiten.
Medienethik. In der Mediengesellschaft wird die Beschämung gerne öffentlich inszeniert, um durch wenig elegante Motivationsverstärkungen eine Veränderung des Verhaltens beim Publikum zu erzwingen: Englische Boulevard-Zeitungen veröffentlichen mit Vorliebe auf der ersten Seite Bilder von prominenten Verhafteten, die es an Anstand haben fehlen lassen, name and shame, wie die Briten, phonetisch nicht unbegabt, es nennen. Facebook und Twitter sind, gleichsam im Nebenerwerb, zu einer basisdemokratischen Strip-Show und zu einem digitalen Pranger geworden, an dem die User, je nach Geschmack, aus Lust am Fremdschämen oder um der Arbeit an der Entschämung willen, teilnehmen. Qua Shitstorm kann jeder User selbst zum Dämon und Medienzombie werden. Unter den Händen etwas vorlauter theologischer Medienkritiker verkümmert die Medienethik allerdings oft zur niveaulosen Medienschelte. Das ist unbegründet, zumal die Medienethik für die Theologie durchaus kein Nebenerwerb ist, arbeitet die Theologie doch seit ihren Anfängen mit einem starken Medienbegriff: Medien bringen das Fernste (Gott) nahe. An vielen Medienrevolutionen war die Theologie beteiligt. Am Beispiel der Professionsethik von Journalisten zeige ich, wie ein Journalismus, der sich an der Einzigartigkeit von Schicksalen orientiert, Scham auch als emanzipatorische Kategorie einsetzen kann. Eine Mediennutzerethik sollte allerdings auch über die Probleme eines durchaus positiv zu bewertenden Identitätsmanagements im Netz aufklären: So droht durch die ausufernde Selbstpreisgabe im Netz die Scham- und Peinlichkeitsschwelle abzusinken. Zu den Aufgaben einer neu zu organisierenden Medienpädagogik zählt die Aufklärung darüber, dass die Preisgabe von Daten, die zu einer kurzfristigen Bereicherung in der Währung der Aufmerksamkeit oder zu monetären Vorteilen führt, langfristig Nachteile bringen kann. Mich interessieren schließlich jene Beispiele, die in den Medien Probleme der Mediennutzung aufgreifen und künstlerisch verdichtet Medienkritik und Medienethik betreiben. Ein besonders gelungenes Beispiel aus der Welt des Films heißt nicht zufällig: Shame. Ein Exkurs feiert das Selfie als glückendes Kleinritual.
Technikethik. Eng mit der Wirtschaftsethik und der Medienethik ist die Technikethik verknüpft. Christliche Technikethiken neigen häufig dazu, die Technik zu dämonisieren, und ihre Verfechter lassen sich gerne zu Maschinenstürmern umschulen. Theologische Technikethiken deuten, mit wenigen Ausnahmen, nahezu immer Technik als Hybris. Mir geht es um eine Entdämonisierung von Technik und um eine Therapie der von Günther Anders frühzeitig diagnostizierten prometheischen Scham. Die Gedankenfigur des concursus divinus setzte ich ein, um Handlungsspielräume für ein lebenskluges technisches Handeln zu erschließen. Auch ein Cyborg ist kein transhumanes Gespenst, sondern der Cyborg schickt die prometheische Scham selbstbewusst in Rente. Und woher nimmt Martin Heidegger die Gelassenheit im Umgang mit der Technik? Hilft sein Versuch, Kunst und Technik in eine Beziehung zu setzen, dazu, Technik genauer zu bewerten? Gibt es eine Logik der Weltbilder, wie Günter Dux will, die zwangsläufig im wissenschaftlich-technischen Weltbild mündet? Ist dieses Weltbild nicht eine sehr grundsätzliche Beschämung des theologischen Weltbildes? Und zugleich der Triumph einer instrumentellen Vernunft? Endspiel der Entzauberung?
Sexualethik. Mit der Fleischeslust hatte der Protestantismus – mit Ausnahme einer kurzen Phase während der Romantik – immer seine Probleme. Eine Ethik der Scham wird sehr grundsätzlich der Frage nachgehen, ob nicht die Sexualität einen gelungenen Umgang mit der Scham bietet. Zwar nicht durchgängig, aber gefühlsintensiv wird das Problem der Vereinzelung und Unvollkommenheit im Sexualakt, in welcher Kombination auch immer, zeitweise geschlossen – auch wenn die Kondition nicht, wie bei den zwei Protagonisten in Péter Nádas’ Roman Parallelgeschichten, zu einem viertägigen Akt reicht.16 Die Sexualität ist der Königsweg im Umgang mit der (sexuellen) Scham, weil hier Personalität und Sozialität glücklich zusammenfinden, sofern der Sexualakt nicht zum egoisme à deux verkommt. Hermann Schmitz hat nicht zufällig sprachmächtig den Orgasmus als Neuanfang, als Initium beschrieben! Die Homo-Ehe ist der Stresstest für eine gegenwartstaugliche religiöse Sexualethik. Entschämung ist das Gebot der Stunde. Wie zusammen leben?, diese von Roland Barthes17 mit einem leichten Seufzer ausgegebene Frage, ermuntert zur Suche nach neuen, schamfreien Lebensformen.
Gesundheitsethik. Scham steuert unterschwellig viele Felder der Medizin- oder Gesundheitsethik. Besonders medienwirksam wird der Wellness-Wahn beklatscht und Gesundheit zur Religion hochgeschrieben. Krankheiten wie Depression oder Burnout, für die sich die leistungswilligen Protagonisten schämen, sind offenbar Folgen unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft, wie der Philosoph Byung-Chul Han und der Soziologe Hartmut Rosa behaupten. Am Beispiel von Adipositas zeigt der Essay, wie das Gesundheitsdispositiv Fettleibigkeit von einer ästhetischen Norm, die beschämende Blicke auf sich zieht, zu einer moralischen Norm, die empörte Blicke auf sich zieht, umcodiert. Fettleibige müssen mit empfindlichen Beschränkungen, etwa einer verweigerten Verbeamtung, die einer Bestrafung gleichkommen, rechnen. Droht, wie Juli Zeh in ihrer Dystopie Corpus delicti beschwört, eine Gesundheitsdiktatur? Müssen wir uns also für Krankheiten schämen? Den Stifter der christlichen Religion porträtiere ich als großen Entschämer, der Krankheiten aus der Umklammerung von Schuld, Sünde und Strafe befreit. Weil Krankheit und Leiden keinen Sinn macht, hilft die jesuanische Entschämungspraxis, die Frage nach der Gabe des Lebens genauer zu betrachten. Alarmismus und Hysterie sind auch aus theologischer Perspektive zur Bewertung medizintechnischer Möglichkeiten wie der Präimplantationsdiagnostik (PID) und Pränataldiagnostik (PND) nicht angebracht, sondern verlangen eine besonnene Einzelfallentscheidung. Scham bestimmt nicht wenige Probleme der medizinethischen Gerontologie. So besteht eine große Gefahr darin, dass ältere Menschen sich für auftretende Gebrechen schämen und deshalb zum Lebensende hin aus Scham weitreichende Entscheidungen treffen, die vermuteten Erwartungen entsprechen und verstärkend auf die gesamtgesellschaftliche Mentalitätslage zurückwirken. Darf man die Gabe des Lebens auch selbstbestimmt zurückgeben?
Tier-, Pflanzen- und Umweltethik. Ist der Anthropozentrismus in Fragen der Tier- und Umweltethik überholt? Die Karriere von pathozentrischen und biozentrischen Ansätzen lässt ein entschiedenes Ja vermuten. Die Antwort ist komplizierter. Zumindest ein epistemischer Anthropozentrismus scheint unvermeidlich. Evolutionsanthropologische Forschung (Tomasello) macht wahrscheinlich, dass Tiere keine moralischen Subjekte sind. Tiere können sich nicht schämen. Ich zeige anhand der autonomen Moralbegründung bei Tugendhat, warum Scham ein für moralische Subjekte geteiltes Gefühl ist, wir uns aber nicht zwingend im Angesicht von malträtierten Tieren schämen oder Mitleid empfinden müssen, weil sie nicht zur Klasse der moralischen Subjekte zählen, die sich wechselseitig Respekt und Mitleid schulden. Universal Mitleid für Tiere zu fordern setzt, so die vielleicht überraschende Pointe, ›religiös-mystische‹ (Tugendhat) oder (versteckt) metaphysische Hintergrundtheorien voraus. Wir Menschen können nicht zwingend gegenseitig von uns fordern, uns mitleidig Tieren gegenüber zu verhalten, können es uns aber wünschen. Um diesen Wunsch zu stützen, helfen technische, aber auch poetische und dramaturgisch inszenierte Erfahrungen der Eigentümlichkeiten von Tieren (und Pflanzen).
Rechtsethik. Mit Hermann Schmitz frage ich nach der Gefühlsbasis des Rechts und entdecke sie in Scham und Zorn. Der Jurist Dieter Krimphove versucht, Scham und Recht neu aufeinander zu beziehen, und fordert Täterscham von den Angeklagten. Die vor allem in Amerika, jetzt aber auch in Deutschland in der Gefängnisseelsorge in den Focus tretende Re-Shaming-Methode im Umgang mit Tätern, versucht, die der Tat vielleicht vorangegangene Schamsituation zu bearbeiten und besser aufzulösen. Trotz der großen Risiken, die diese Methode mit sich führt (Retraumatisierung des Täters, Funktionalisierung der Scham), halte ich Re-Shaming für eine Option, sofern nicht der Staat als Beschämer auftritt. Im Rahmen meiner Präventivethik kann Re-Shaming als mögliche Prävention künftiger Straftaten gewürdigt werden. Protestantische Rechtsethiken deuten die Institution des Rechts häufig als notwendige Institution für den durch die Sünde korrumpierten Menschen oder als Förderer der Freiheit im Rahmen einer transformierenden Gerechtigkeit. Ich inventarisiere Stärken und Schwächen dieser Ansätze und deute Beschämungsdispositive der Kunst als ideale Sensibilisierungsschule für versteckte Gewalt und kreative Formen gelingenden Zusammenlebens. Die vor allem im angelsächsischen Raum etablierte Forschungsrichtung von Law and Literature untersucht die Dechiffrierkunst der Literatur. Nicht zufällig stammt einer der wirkmächtigsten Romane zum Thema Scham und Schuld, Der Vorleser, aus der Feder eines Staatsrechtlers. Ein Exkurs zur politischen Ethik schließlich untersucht die Bildpolitiken in der Flüchtlings- und Migrationsdebatte. Schockphotos (im Sinne von Roland Barthes) dienen als Beschämungsszenario, dem man sich nicht entziehen kann und sich auch nicht entziehen soll(te). Gibt es Auswege aus dem dann häufig drohenden Samariterdilemma? Lassen sich Gesinnungsethik und Verantwortungsethik versöhnen oder droht ein clash of morals (Ott)?
Die Bachelorisierung unserer Universitätslandschaft hat zum stetigen Anwachsen der Lehrbuchproduktion geführt. Verfasser eines Lehrbuches müssen immer den Eindruck erwecken, sie wüssten Definitives zu sagen. Diese scheinbar souveränen Gesten sind stets mit Macht legiert. Mir jedenfalls sind Lehrbuchgesten peinlich. Ich habe deshalb das Buch als Essay-Sammlung angelegt, die in immer neuen Anläufen und geschwungenen Linien das Thema bearbeitet. Vielleicht sah William Hogath, der englische Kupferstecher, richtig, als er die geschwungene Linie als The Line of Beauty and Grace18 auszeichnete.
Nachspiel
»›Schämen Sie sich, allein in einem Lokal zu sitzen?‹ Diese Frage müsste ich mit Ja beantworten. Ich schäme mich, allein in einem Lokal zu sitzen. Weil es so aussehen könnte, als hätte man mich versetzt. Da hilft alles nichts. Das in Anankastikerkreisen empfohlene Mitbringen von Lektüre zur Überbrückung der Wartezeit wird von Kreisen mit qualifiziertem Geschmack, denen ich ebenfalls angehöre, strikt abgelehnt. Gerade hier in Ostberlin ist das Kneipenlesertum unangenehm verbreitet. Ich habe schon Leute gesehen, die bei Kerzenschein und Tumult drei Stunden Adorno vortäuschten. Es ist offensichtlich, dass diese Leute nicht mal jemanden haben, mit dem sie sich verabreden könnten, damit er sie versetzt.«19
1 Der Begriff »Schamethik«, mit dem diese Ethik arbeitet, ist bisher kein eingeführter Begriff. Sichtet man die spärlichen Belege, so zeigt sich schnell, dass darunter zumeist die Tugend der Schamhaftigkeit verbucht wird: Schneuwly (1954: 6, 14, 89 u.ö.); Schmidt (1986: 62); Emecheta/ Nwapa (2002: 268).
2 Diese Lesart untermauern auch Bernhard Waldenfels (2000; 2007) und aus soziologischer Perspektive Hartmut Rosa (2016).
3 Ich mische in diesem Text feminine und maskuline Formen, immer mitgemeint sind alle anderen Geschlechtervarianten.
4 Siehe dazu Lesch (2003: 184-199).
5 Zur dogmatischen Verortung des Begriffs siehe Härle (2000: 287-296).
6 Bourdieu (2007).
7 Ein subtiler Text zum Thema stammt von Michael Walzer (2006: 356-369): Der Kampf um Anerkennung. Eine Soziologie der Titel. Die Rede vom Kampf scheint etwas misslich zu sein, wie noch zu zeigen, versuche ich deshalb die kompetitiven Elemente aus dem renovierten Ehrbegriff herauszuhalten.
8 Slenczka (2014: 253).
9 Siehe dazu den konzisen Artikel von Elisabeth Gräb-Schmidt (2015b: 174-181).
10 Levinas (2003: 23).
11 Greiner (2014: 21f.) legt »eine strukturelle Betrachtung« vor und verfolgt die These, »dass an die Stelle der alten Schuldkultur und der noch älteren Schamkultur eine neue Kultur getreten ist: die Kultur der Peinlichkeit.« (24) Judith N. Shklar (1997) sieht die Aufgabe von Literatur darin, für alle Formen von Verletzungen, Demütigungen, üblen Beschämungen und Grausamkeiten zu sensibilisieren; ähnlich argumentiert Rorty (1989); vgl. Berthould/Elderkin/Bünger (2013: 253). Zu den emotionalen Wirkungspotentialen von Erzähltexten siehe Hillebrandt (2011). Jacobs (2014: 134-154) ist unterwegs zu einer neurokognitiven Poetik am Beispiel des Lesens.
12 Dazu ausführlich Huizing (2012a).
13 Den Begriff des Dispositivs verwende ich im Anschluss an Michel Foucault und Giorgio Agamben (2008: 26f.): »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern. Also nicht nur die Gefängnisse, die Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die Beichte, die Fabriken, die Disziplinen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinne offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und – warum nicht – die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist. […] Kurz, wir haben […] zwei große Klassen, die Lebewesen (oder die Substanzen) und die Dispositive. Und zwischen den beiden, als Drittes, die Subjekte. Subjekte nenne ich das, was aus der Beziehung, sozusagen dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht.«
14 Eine Kulturgeschichte der Szene von Aischylos bis YouTube bietet Heiko Christians (2016). Vielleicht gelingt diese Einübungskunst auch während des Computerspiels. Daniel Michael Feige (2015) hat eine hoch inspirierende Ästhetik des Computerspiels vorgelegt.
15 Dieser Titel, aus dem amerikanischen Kontext als »applied ethics« in den 1960er-Jahren importiert, hat inzwischen Karriere gemacht. Vgl. Pieper/Thurnherr (1998); Nida-Rümelin (2005); Bayertz (1991). Fischer (2008: 95f.) weist zu Recht darauf hin, dass die Bereichsethiken nicht einfach Anwendungen Allgemeiner Ethiken auf konkrete Fälle bieten, sondern häufig auftretende Probleme in den Bereichsethiken zu Korrekturen an Allgemeinen Ethiken nötigten, so drängte exemplarisch die Ökokrise zu einer Revision anthropozentrischer Ethikkonzeptionen. Diese Schamethik ist protestantisch geprägt, wer sich über die Bereichsethiken der Weltreligionen informieren will, wird bestens bedient in dem Handbuch von Michael Klöcker und Udo Tworuschka (2015).
16 Nádas (2012: 364).
17 Barthes (2007a).
18 Hogarth (2002: 2). In ihrem Roman Gnade spielt Linn Ullmann (2004) auf diese Tradition an, wenn sie ihre Protagonistin wiederholt mit einer Bürste die geschwungene Schönheitslinie ihrer Haare nachfahren lässt.
19 Herrndorf (2015: 382).