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TERRY PRATCHETT

Dem Tod die Hand reichen

Mit einem Vorwort

von Rob Wilkins

Aus dem Englischen

von Gerald Jung

MANHATTAN

»Die meisten Menschen fürchten sich nicht vor dem Tod. Sie fürchten sich vor dem, was davor kommt – dem Messer, dem Schiffsuntergang, der Krankheit, der Bombe. Wenn man Glück hat, gehen diese Schrecken dem Augenblick des Sterbens nur um Nanosekunden voraus. Hat man Pech, können es Jahre sein.«

Als man bei Terry Pratchett Alzheimer diagnostizierte, war er in seinen Fünfzigern. Und der Zorn packte ihn. Nicht auf den Tod, sondern auf die Krankheit, die ihn an dessen Tür absetzen würde. Und auf das Leiden, das ihm bevorstand, wenn er seinem Zustand kein Ende bereiten durfte. In dem vorliegenden Aufsatz plädiert er für das Recht, dieses Ende wählen zu dürfen. Denn zu einem guten Leben gehörte für Terry Pratchett, der im März 2015 mit nur 66 Jahren starb, auch das Recht auf einen guten Tod.

Weitere Informationen zu Terry Pratchett sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Im Herbst 2009 fragte die Familie Dimbleby bei Terry an, ob er die alljährliche Richard Dimbleby Lecture halten wolle, eine im Fernsehen übertragene Rede im Rahmen einer Vortragsreihe, die von der Familie vier Jahrzehnte zuvor zur Erinnerung an den Journalisten Richard Dimbleby ins Leben gerufen worden war. Damals war Terry gerade unglaublich wütend, weil bei ihm im geradezu lächerlich frühen Alter von neunundfünfzig Jahren eine seltene Form von Alzheimer diagnostiziert worden war und er feststellen musste, dass Menschen in seiner Lage so gut wie keine Möglichkeit hatten, selbst zu bestimmen, wie und wann ihr Leiden enden soll. Er sagte zu und fing an zu schreiben.

Die Arbeit an der ersten Fassung von Dem Tod die Hand reichen lenkte Terrys Gefühle in positivere Bahnen: Aus Wut wurde Inspiration. Allerdings bezweifelte er, ob das, was er da niederschrieb, tatsächlich ausgestrahlt werden würde. Er war sich ziemlich sicher, dass die BBC niemals einen Vortrag senden würde, der sich mit Themen wie Tod und Sterben befasste, mit den Schwierigkeiten und Qualen, die uns am Ende unseres Lebens bevorstehen. Dessen ungeachtet und statt seinen Zorn zu mäßigen, pushte Terry ihn bis in den roten Bereich und machte einfach weiter.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er gerade die Fähigkeit eingebüßt, im Zehnfingersystem zu tippen – einer der Anfangsverluste in seinem Krieg gegen die Krankheit –, deshlab diktierte er die ersten Entwürfe der Rede direkt in den Computer. Wir hatten das Sprachprogramm, TalkingPoint, darauf trainiert, dass es Terrys Stimme verstand und die vielen merkwürdigen Namen und Schauplätze seiner Romane kannte. Er war überglücklich, dass es klaglos eine Oma Wetterwachs und einen Vetinari akzeptierte, und freute sich diebisch, wenn es über einfache Worte wie »pioneer« (Pionier) stolperte (das es auf entzückende Weise stets als »pie on ear« (Kuchen auf dem Ohr) wiedergab). Doch immer wieder schlug sich Terrys Entrüstung über das Elend der Sterbebegleitung in seiner Stimme nieder – und mit der veränderten Stimmlage kam die Software einfach nicht klar. Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, sein leidenschaftliches Anliegen zu formulieren, ohne die Worte zornig hervorzustoßen. Also sprang ich ein, setzte mich an die Tastatur, und er durfte mich anschreien.

Den Text, den Sie jetzt in Händen halten, haben wir in einer sehr ähnlichen Fassung einem geneigten BBC-Produzenten bei einigen Cappuccinos im Café des National Theatre vorgelegt. Während Terry an seinem Schaumkaffee nippte, las der BBC-Mann alles von Anfang bis Ende durch, ohne eine Miene zu verziehen. Nach einer langen Pause verzog sich sein Mund zu einem breiten Lächeln, und mir war klar, dass die BBC den Vortrag tatsächlich bringen würde. Terry hatte gut daran getan, seinem Zorn Ausdruck zu verleihen. Er hatte ihn auf eine einfühlsame und sehr menschliche Art und Weise zu einer umfassenden Beschäftigung mit der Frage genutzt, wie unsere alternde Gesellschaft den Umgang mit dem Tod neu definieren muss. Jeder, der schon mal einen von Terrys Romanen gelesen hat, weiß, dass er scheinbar mühelos die allerschönsten Sätze drechseln kann – genau das hat ihm seinen gewaltigen Erfolg beschert. Jetzt nutzte er eben dieses Talent nicht für einen weiteren grandiosen Roman und noch nicht einmal für einen persönlichen Zweck, sondern um sich zu einem sehr realen Problem zu äußern, mit dem wir uns alle früher oder später einmal auseinandersetzen müssen.

Als wir am Morgen des 1. Februar 2010 vor dem Royal College of Physicians, dem Sitz des Ärzteverbandes, eintrafen, wo der Vortrag stattfinden sollte, erwarteten uns schon auf dem Gehweg mehrere Filmteams. Das Interesse an dem, was Terry zu sagen hatte, war beträchtlich. Es folgte ein angespannter Augenblick, als sich rivalisierende Sender um Exklusivinterviews rissen, aber Terry blieb wie gewohnt sehr höflich und zuvorkommend, er redete mit jedem und gab ihnen allen etwas Einzigartiges mit auf den Weg.

Terry sollte in der prächtigen Institutsbibliothek sprechen, ein überaus angemessener Ort, denn er war der erste Romanautor, der die Dimbleby Lecture hielt. Ringsum an den eichengetäfelten Wänden der Bibliothek standen hinter Eisengittern lange Reihen staubiger, in Leder gebundener alter Wälzer. Diese vielen hinter Schloss und Riegel verwahrten Worte, die nicht herausdurften und nicht für sich selbst sprechen konnten, bildeten einen lebhaften Kontrast zu Terry, der inmitten der vielen Bände stand und seinen Vortrag lässig zusammengerollt in der Hand hielt. Nur ich wusste, wie viel Anstrengung es ihn gekostet hatte, die Sätze auf Papier zu bannen.

Doch als die Kameras für die ersten Probeaufnahmen bereit waren, folgte die nächste Herausforderung. Dieser Augenblick hatte mir große Sorgen bereitet, denn seit einiger Zeit fiel Terry das Lesen immer schwerer. In unserem Büro konnte er sich mit extrem vergrößerte Schriften auf dem Computerbildschirm behelfen, aber wie würde er mit dem Teleprompter und dessen unerbittlich weiterlaufenden Zeilen zurechtkommen?

Zum Glück hatte Terry sich selbst Gedanken über die ihm aufgezwungenen Einschränkungen gemacht und bereits eine Lösung parat. Zu meiner Freude – aber auch zu meinem nicht geringen Schrecken – schlug er vor, dass ich den Vortrag an seiner Stelle halten sollte. Die BBC erklärte sich damit einverstanden, vorausgesetzt, er würde zumindest die Einführung, selbst vortragen; also bastelten wir eilig etwas Passendes zusammen. Ich hatte schon bei vielen Anlässen für Terry gesprochen und sollte auch bald nach diesem Vortrag im ausverkauften Opernhaus von Sydney aus seinem neuesten Roman lesen, doch diesmal stand viel mehr auf dem Spiel. Die Gelegenheit, eine Dimbleby Lecture zu halten, bot sich nur ein Mal im Leben, und Terrys so mühsam erkämpfte Worte waren mehr als wichtig. Würde man uns ein »Pratchett-Double«, wie Terry es ausdrückte, abnehmen? Wir gingen auf die Bühne, Terry lieferte eine tadellose Einführung ab, und ich las den Rest seiner Rede vor – mit der gleichen Leidenschaft, wie ich sie von ihm während der langen Stunden der Arbeit am Text vernommen hatte. Das anschließende ausführliche Schulterklopfen bestätigte uns, dass es funktioniert hatte – Terrys Worte blieben auch dann wirkungsvoll, wenn sie nicht von ihm selbst vorgetragen wurden. Außerdem blieben uns mehr als sechs Stunden, um an unserem Auftritt zu feilen. Der Vortrag war sozusagen in trockenen Tüchern.

Wie es der Zufall wollte, war der Schauspieler Tony Robinson, ein guter Freund von Terry, just an diesem Nachmittag nach England zurückgekehrt, um sich den Vortrag anzuhören. Wir hatten ihm den Text per E-Mail geschickt, und er las ihn auf der holprigen Taxifahrt vom Flughafen ins Zentrum von London. Als Tony zu einem kleinen Begrüßungsimbiss in der Bibliothek eintraf, schlug der Produzent vor, Tony solle den Text probeweise vortragen, um mir für den Abend ein paar Tipps zu geben. So kam es, dass Tony auf der hell erleuchteten Bühne vor mehreren Kameras Dem Tod die Hand reichen vorlas. Es war eine Glanzleistung öffentlicher Vortragskunst, der die Zuhörer mitten ins Herz traf. Mit vollendeter Klarheit erfassten sie, welch innerer Drang Terry zum Schreiben bewegt hatte. Wir alle wussten sofort, dass Terrys Vortrag genau auf diese Weise gehalten werden musste, und als dann am Abend die Kameras liefen, trug Terry einem andächtig lauschenden Publikum seine eindringlichen Einführungssätze vor und gab dann Tony das Wort, der den Rest der Rede las.

Der Vortrag wurde am frühen Abend wie eine Livesendung aufgezeichnet, und als er etwas später landesweit ausgestrahlt wurde, saßen wir bereits bei einem festlichen Abendessen. Die Wirkung war genau so, wie Terry es sich erhofft hatte. Seine Furcht, Herr Alzheimer könnte über Nacht zu Doktor Tod werden, bewahrheitete sich nicht, vielmehr rüttelte die Thematik nun auch die Fernsehzuschauer wach und stieß eine bedeutsame Debatte an. Terry hatte nicht damit gerechnet, mit seinem Vortrag die drakonischen Gesetze zur Tötung auf Verlangen in Großbritannien zu verändern, aber es war ihm gelungen, die Öffentlichkeit und die Politiker ins Gespräch zu bringen. Zu diesem Zweck hatte er sich seinen Zorn zu Nutze gemacht und die Herausforderung gemeistert, diese Sätze aus seinem Kopf heraus erst aufs Papier und dann auf die Bildschirme zu bringen. Er hielt die Gespräche und Debatten in den folgenden Jahren weiterhin in Gang und setzte sich trotz der krankheitsbedingten Erschwernisse immer wieder für dieses Thema ein, das ihm so viel bedeutete.

Terry reichte dem Tod schließlich am 12. März 2015 die Hand. Es war ein friedliches Ende im Kreise seiner Familie, am Fußende seines Bettes schlief wie so oft Pongo, seine geliebte Tigerkatze. Auf unnötige lebenserhaltende Maßnahmen hatte Terry verzichtet, er wollte nicht von Sonden und Schläuchen am Leben erhalten werden. Er wollte, dass jedem von uns die Möglichkeit offensteht, zu einem von uns selbst bestimmten Zeitpunkt in Würde zu sterben. Ob Sie nun Terrys Ansichten teilen oder nicht, es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass er sein Leben gut gelebt hat.

Rob Wilkins

Juni 2015

Dem Tod die Hand reichen

Ausgestrahlt von BBC 1

am 1. Februar 2010

aus der Royal Society of Medicine