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Buch

Was, wenn morgen dein letzter Tag wäre? Was, wenn jede Minute, jede Sekunde wirklich zählt? Der jugendliche Held dieser feinsinnig versponnenen Geschichte erlebt diese Fragen als realen Horror, nachdem ihm sein Arzt mitgeteilt hat, dass er innerhalb kürzester Zeit sterben wird. Betäubt von dem fürchterlichen Befund bricht er zu seiner letzten Reise auf, die ihn auf eine mystische, malerische Insel führt. Hier verbringt er im Kreis ebenfalls todgeweihter Jugendlicher seine verbleibenden Tage und erlebt noch ein letztes Mal die berauschende Fülle des Lebens und die kompromisslose Hingabe in der Freundschaft und der Liebe. Ein Buch voll tiefer Einsichten darüber, wofür es sich wirklich zu leben lohnt.

Autor

Albert Espinosa, geboren 1973, ist Autor, Schauspieler, Film- und Theaterregisseur und lebt in Barcelona. Sein Erstling »Glücksgeheimnisse aus der gelben Welt« wurde weltweit in über zwanzig Sprachen übersetzt und in mehreren Ländern höchst erfolgreich als TV-Serie verfilmt. Seither hat Albert Espinosa diverse weitere Romane und Sachbücher veröffentlicht.

Von Albert Espinosa sind bei Goldmann außerdem erschienen:

Club der roten Bänder (22176)

Glücksgeheimnisse aus der gelben Welt (22024)

ALBERT ESPINOSA

CLUB DER BLAUEN WELT

AN WAS GLAUBST DU, WENN MORGEN DEIN LETZTER TAG WÄRE?

Aus dem Spanischen von Sonja Hagemann

Die spanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel El mundo azul. Ama tu caos bei Grijalbo & Rosa dels Vents, einem Imprint von Penguin Random House Grupo Editorial, S.A.U, Barcelona.

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Oktober 2016

© 2016 Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© Albert Espinosa, 2015

© Penguin Random House Grupo Editorial S.A.U., 2015

Gedicht (siehe hier): Rafael Alberti, »Lanzarote. Primera estrofa«, FUSTIGADA LUZ

© Rafael Alberti, 1980. El alba del alhelí, S. L.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Lektorat: Ralf Lay, Düsseldorf

fm ∙ Herstellung: cb

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-19987-6
V001

www.goldmann-verlag.de

Ja, riskier es.

Das ist immer die Antwort.

Geschrieben in und auf …

Ischia, Lanzarote,

Santiago de Chile,

Barcelona, Buenos Aires,

Menorca und New York.

Inhalt

Vorwort

1. Ein Problem ist bloß der Unterschied zwischen deinen Erwartungen und dem, was du in Wirklichkeit vom Leben und den Menschen bekommst

2. Im Moment macht doch jeder, was er für seine Pflicht hält … Und was hat es uns gebracht?

3. Ich wache auf, ohne dass ich es will – Ich träume und kann es nicht kontrollieren – Ich liebe, aber nicht die, die ich lieben will

4. Wie tausendjährige Drachenbäume kranke Kinder wiegen

5. Du musst laut schlagen, damit die Welt weiß, dass du existierst

6. Nur wer frei ist, kann glücklich sein – Und es ist nur frei, wer das ist, was er sein soll

7. Ungeklärte Zweifel sind nicht akzeptierte Ängste

8. Die Welt ist der größte Spielplatz, den es gibt

9. Wir sind Naturgesetze, die sich erfüllen müssen

10. Ein Sklave zu sein ist angenehm – Dabei ist es doch am schönsten, sich nichts zu unterwerfen

11. Das Chaos ist deine Persönlichkeit ohne Urteil oder Moral

12. An klaren Tagen kann man seine Seele sehen

13. Wenn uns niemand zeigt, wie wir am besten groß werden, dann sollten wir es vielleicht auch nicht

14. Es geht nicht darum, gegen Verbote zu verstoßen, sondern darum, ihnen keine Bedeutung beizumessen – Es geht nicht darum zu leiden, sondern darum, das Leiden zu verstehen – Es geht einfach nur darum zu leben

15. Die Narben der Ängste entstehen durch verlorene Zärtlichkeit

16. Gehörst du zu den Blas- oder Saiteninstrumenten – oder vielleicht zur Perkussion?

17. Hirte der Vulkane

18. Jeder hat zwei Geburtstage – den Tag, an dem er geboren wird, und den, an dem er dem Leben gegenüber aufwacht

Der beste Moment, um einen Baum zu pflanzen, war vor zwanzig Jahren. Der zweitbeste ist heute.

Chinesisches Sprichwort

In zwanzig Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die du nicht getan hast, als über die Dinge, die du getan hast. Also löse die Knoten, laufe aus dem sicheren Hafen aus. Erfasse die Passatwinde mit deinen Segeln. Erforsche. Träume.

Mark Twain

Vorwort

Nach den Glücksgeheimnissen aus der gelben Welt beziehungsweise dem Club der roten Bänder und der gleichnamigen Serie war es mir ein Anliegen, diese Trilogie der Farben zu Ende zu führen, die von Leben, Kampf und Tod berichtet.

Der Club der roten Bänder hat für mich alle Erwartungen übertroffen, und damit meine ich nicht einmal all die Sprachen, in die das Buch übersetzt wurde, und auch nicht die Anzahl der Ausgaben, sondern den viel wichtigeren Kontakt zu meinen Lesern. Jeden Tag haben mir unzählige Menschen per E-Mail versichert, wie wichtig dieses Buch für ihr Leben ist.

Diese achttausend E-Mails jeden Tag sind eine Belohnung, für die ich nur schwer Worte finde, diese Zuneigung für eine Farbe rührt mich sehr. Jeder hat unter seinen Veröffentlichungen wohl ein Lieblingsbuch, und für mich sind das die Glücksgeheimnisse. Das kann man mit dem Stolz eines Vaters aufs erste Kind vergleichen.

Meinen übrigen Büchern gegenüber empfinde ich etwas ganz anderes.

Marcos und der Zauber des Augenblicks (2010) entstand aus meinen Träumen und Wünschen. Dieser Roman hat einiges gemeinsam mit dem Theaterstück El fascinant noi que treia la llengua quan feia treballs manuals (»Der faszinierende Junge, der beim Basteln immer die Zunge rausgestreckt hat«), das im selben Zeitraum das Licht der Welt erblickte. Sie betrachten das gleiche Thema von unterschiedlichen Standpunkten aus.

Es geht um einen Jungen, der schlafen will, aber nicht kann, der lieben will, aber nicht weiß, wie, und der sich vor allem einer Gabe stellen muss, die er nicht unter Kontrolle hat.

Ich komme, wenn du rufst (2011) bescherte mir einen aufregenden Tag des Buches*, so voller Emotionen wie jener Moment vor vielen Jahren, als ich mein Bein verloren habe. Die wichtigste Figur darin ist auch die, mit der ich mich wohl am meisten identifiziere: Dani will so gern erwachsen werden und spürt fremde Kinder auf, als sein eigenes Kind verloren ist.

Im Jahr 2013 erschien Brúixoles que busquen somriures perduts (»Kompasse auf der Suche nach dem verlorenen Lächeln«), der Zwillingsbruder des Theaterstücks Els nostres tigres beuen llet (»Unsere Tiger trinken Milch«). Mit beiden Texten wollte ich meinem Freund Antonio Mercero meine Dankbarkeit ausdrücken: Sein Kampf erhellt mir jeden Tag den Weg wie ein Leuchtturm und erfüllt mich mit Respekt für eine der ehrlichsten Personen, die ich je getroffen habe.

Und jetzt kommt also der Club der blauen Welt. Dieses Buch zu schreiben war mir ein großes Anliegen, so ein dringendes Bedürfnis, dass es über jedes erklärbare Gefühl hinausgeht.

Es ist sowohl vom Inhalt als auch von Sprache und Emotionen her chaotisch. Beim Schreiben wollte ich mich voll und ganz auf diese Welt einlassen und habe an nichts anderes mehr gedacht. Jedes Kapitel soll dabei ein Gefühl ausdrücken, das mich an einem Punkt meines Daseins überkommen hat.

Alles fängt gelb oder auch rot an, verfärbt sich dann aber nach und nach zu Blau.

Der Club der blauen Welt erscheint zeitgleich mit dem Drehbuch zu »Pitahaya«, einem Kurzfilm, der mir viel Freude bereitet und dessen Motto »Liebe dein Chaos« jede seiner Szenen erhellt. Es ist mir wichtig, ihn zusammen mit Menschen zu drehen, die mein Chaos lieben, und dafür werde ich mein Leben lang voller Leidenschaft kämpfen.

Meine ersten drei Bücher wurden von der Farbe Gelb erleuchtet. Ich wünsche mir, dass die nächsten drei von Blau durchtränkt sind, der exakte Farbton ist mir dabei gleich. Egal, ob es sich um Kobaltblau, Kupferblau oder Lapislazuli handeln wird.

Eins weiß ich jedoch genau: Den Ursprung hat dieses Buch in echten Menschen, die ich als Teenager in jener Woche kennengelernt habe, als sich mein Leben dem Ende zuzuneigen schien. Damals gab man mir jene dreiprozentige Überlebenschance, die den Rest meiner Tage unwiderruflich prägen sollte.

Dieses Buch ist Fiktion und Nichtfiktion zugleich, es findet seinen Anfang in jenem Leo aus dem Club der roten Bänder, der seinen Weg finden musste. Man kann darin auch etwas von der Person entdecken, die mir dort die sieben Geheimnisse für ein glückliches Leben verraten hat. Vor allem erzählt es jedoch von ganz unglaublichen Menschen, deren Leben, Seele und Güte ich in meine Figuren einfließen lassen wollte.

Dass ihr dieses Buch lest, in welchem Land und welcher Sprache auch immer, schafft zwischen uns eine ewige Verbindung. Deshalb möchte ich euch gern meine E-Mail-Adresse geben. Sie lautet: albertespinosa91@yahoo.es. Lasst uns zusammen diese blaue Welt erschaffen …

Albert Espinosa

* Am 23. April wird in Katalonien traditionell der Tag der Verliebten und der Tag des Buches begangen.

1

Ein Problem ist bloß der Unterschied zwischen deinen Erwartungen und dem, was du in Wirklichkeit vom Leben und den Menschen bekommst

Mein Vater lauschte immer dem Meer, dem Geräusch der Wellen, die sich an den Felsen brachen.

Menschen hingegen hörte er nie zu. »Das Meer«, so sprach er oft, »versucht dich wenigstens nicht zu betrügen.« Er konnte Stunden damit verbringen, das Kliff hinunterzustarren und sich zu fragen, was ihm dieses Rauschen wohl sagen wollte.

»Die Natur spricht mit uns, wir sind nur viel zu beschäftigt, um sie zu verstehen«, flüsterte er mir abends manchmal in mein gutes Ohr.

Vaters Besuche oben am Steilufer waren ein Balanceakt. Er rauchte ganz nah am Rand, und der Unterschied zwischen dem sicheren Boden und dem freien Fall war so unbedeutend wie die rieselnde Asche seiner Zigarette.

Dann stürzte er sich dort in die Tiefe, als ich elf Jahre alt war. Ich kann nicht sagen, ob das Meer es ihm befohlen hatte oder ob er den Ozean einfach mehr liebte als seine Adoptivkinder.

Das hab ich niemals erfahren, ich entdeckte ihn nur eines Morgens von den Wellen gewiegt. Von oben konnte ich sein Lächeln erkennen. Das ist heute fast genau sieben Jahre her, und mir bleiben bloß ein paar Tage bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Ich weiß nicht, ob ich den noch erleben werde …

Als ich nämlich heute Morgen die Tür zum Sprechzimmer meines Arztes öffnete, wusste ich, dass ich tot war. Ich sah ihn auf dem Stuhl neben meinem und konnte es bereits erahnen.

Jener Mann im weißen Kittel erklärte mir, dass mir nur noch zwei oder drei Tage blieben. Das erläuterte er ganz ruhig und ungerührt, als würde es hier nicht um ein Leben gehen. In diesem Fall um meins.

Wir wussten ja alle, dass er kein Geschick darin besaß, schlechte Nachrichten zu überbringen. Er verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch nämlich nie, außer wenn es schlimme Neuigkeiten gab. Dann erhob er sich aus seinem bequemen Sessel, umrundete mit genau vier Schritten seinen Schreibtisch und nahm auf dem Stuhl neben dem Patienten Platz. Schließlich ließ er ohne jede Emotion die Bombe platzen.

Ich vermute mal, dass er den Trick mit dem Stuhl in irgendeinem Seminar für den einfühlsamen Umgang mit Patienten gelernt hatte. Allerdings war er wohl bei der Theorie stehengeblieben. Sicher hatte er auf seinem Block »aufstehen und sich dem Patienten nähern« notiert, das bezog sich aber nur auf den äußeren Handlungsablauf, und er ignorierte völlig die damit verbundenen Gefühle.

Ich erinnere mich noch an jenen rothaarigen Jungen, mit dem ich eine Zeitlang auf einem Zimmer lag. Der hatte einst geglaubt, sein letztes Stündlein habe geschlagen, weil der Arzt bei ihm aufgestanden war. In Wirklichkeit wollte der jedoch nur eine Tasse Kaffee, goss sie sich ein und setzte sich dann wieder hinter den Schreibtisch. Der Rothaarige atmete auf, so viel Glück hatte ich jetzt allerdings nicht.

»Wir können dir hier in der Klinik alle nötigen Mittel zur Verfügung stellen, um die Schmerzen zu lindern«, sagte der Arzt in seinem üblichen emotionslosen Tonfall.

Er verwendete das Wort »Schmerz«, meinte damit aber eigentlich den Tod. Mit den »Mitteln« waren Morphium und ähnlicher Mist gemeint, durch den ich die letzten zwei oder drei Tage vor mich hin gedämmert oder sogar bewusstlos gewesen wäre. Und ich wusste bereits lange, dass ich so wirklich nicht sterben wollte.

Versteht mich da jetzt nicht falsch, ich hatte schon Angst vor dem Tod. Eine Riesenangst, aber ich wollte den Moment bewusst miterleben. Ich hatte viel zu viel mitgemacht, um das Ende jetzt zu verpassen.

Ich will hier gar nicht darüber reden, was ich hatte, welche Krankheit mich zum Tod führen sollte und was ich alles durchmachen musste. Damit würde ich mich ja doch nur in meinem Elend suhlen. Schmerz ist immer ähnlich: Wenn du ihn spürst, ist er unerträglich. Wenn er dann vergeht, vergisst du ihn schnell wieder.

Mit emotionalem Schmerz ist es genau umgekehrt: Wenn er zum ersten Mal auftritt, kannst du nicht einmal erahnen, wie sehr er im Laufe der Zeit wehtun wird.

Ich konnte die Angst des Arztes davor spüren, das Wort »Tod« auszusprechen. Und dann machte ich, was ich mir schon so lange gewünscht hatte: Zum ersten Mal in meinem Leben versetzte ich jemandem einen Fausthieb. Ich hatte mich online informiert, um mir dabei keinen Finger zu brechen, aber das tat echt weh. Selbst wenn man zehn verschiedene Seiten anklickt, erzählt einem das Internet ja doch nie die ganze Wahrheit.

Dann verließ ich ohne einen Blick zurück das Sprechzimmer und das Krankenhaus. Ich wusste, wohin ich mich auf den Weg machen würde, hier wollte ich jedenfalls nicht sterben.

Auf dem Flur näherte sich eine junge Krankenschwester, zu der ich ein gutes Verhältnis hatte, und hielt mir eine Tüte mit Medikamenten hin. Ich hatte während der langen Kliniknächte manchmal mit ihr darüber gesprochen, was ich vorhatte. Das waren ganz besondere Momente gewesen. Ehrlich gesagt, hatte ich ja gehofft, dass zwischen uns vielleicht was laufen würde, aber sie empfand mir gegenüber vermutlich nur zärtliches Mitleid. Und was Abtörnenderes gibt es wohl kaum.

Den Beutel mit Medikamenten nahm ich nicht an. Ich wollte von dort nichts mitnehmen. Tatsächlich besaß ich im Leben so gar nichts, mit meinen siebzehn Jahren hatte ich weder Eltern noch Geschwister, kein Zuhause … Nur jenen Schlüssel um meinen Hals, der zum Haus auf der Klippe gehörte. Keine Ahnung, warum mein Vater mir das vermacht hatte, ich war nie wieder dorthin zurückgekehrt.

Im Aufzug zerfetzte ich meinen blauen Schlafanzug sowohl an den Ärmeln als auch an den Hosenbeinen. Ich wollte nicht wie ein Kranker aussehen. Über vier Stockwerke hinweg hatte ich genug Zeit, mein Äußeres zu verändern.

Als sich die Lifttüren öffneten, drohte mich der Geruch der Besucher zu überwältigen. Die rochen immer so neu. Sie trafen hier mit ihren frischgewaschenen Gesichtern und sauberen Klamotten ein, und dann kamen ihnen diejenigen entgegen, die die Nacht in der Klinik verbracht hatten und wie nach einer langen Flugreise rochen. Und im Aufzug fand dann die Wachablösung statt.

Über Besucher wusste ich allerdings recht wenig. Das Leben hatte mir so viel genommen, und mir blieb trotz meiner Jugend niemand mehr, der mich hätte besuchen können.