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Sie stand an der Haltestelle und trat von einem Fuß auf den anderen. Mittlerweile wartete sie schon seit zwölf Minuten, und es war immer noch kein Bus aufgetaucht. Dabei sollte man doch eigentlich meinen, dass man am Freitagabend an der Kensington High Street einen Bus erwischen würde. Das war so ätzend.
Ganz zu schweigen von dem unheimlichen Typen mit dem Kapuzensweatshirt und den Ohrhörern. Er glaubte wohl, sie würde nicht bemerken, wie er zu ihr herüberschaute. In ihrem dünnen weißen Kleid fühlte sie sich seinen Blicken vollkommen ausgeliefert, und sie hatte nicht einmal eine Strickjacke dabei, die sie sich über die Schultern legen konnte. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Warum hatte sie dieses verdammte Teil nur angezogen? Aber natürlich wusste sie, warum sie es getan hatte. Zum einen war es ein wunderschöner Abend, ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, und außerdem hatte sie geglaubt, er würde sich anders entwickeln.
Demonstrativ kehrte sie dem Kapuzentypen den Rücken zu und checkte ihr Handy. Keine Nachrichten. Und auch keine verpassten Anrufe. Anscheinend hatte sie sich geirrt.
Und immer noch kein Bus in Sicht. Der Kapuzentyp rückte ihr noch ein bisschen dichter auf die Pelle.
Das gab den Ausschlag. Sie beschloss, zur Kensington Church Street hinüberzugehen und dort den 52er zu nehmen – womit sie sich auch das Umsteigen am Notting Hill Gate sparen würde. Allerdings musste sie dann noch mal an der Pianobar vorbei, und sie wollte die anderen nicht mehr sehen.
Sie marschierte rasch los und blickte kurz über die Schulter, um sich davon zu überzeugen, dass ihr der Kapuzentyp nicht folgte. Als sie am Club vorüberkam, wummerte Musik aus den offenen Fenstern im ersten Stock. Und sie senkte den Kopf, als ob sie so unsichtbar würde. Als sie vorhin hinausgestürmt war, hatte sie halb gehofft, irgendwer käme ihr nachgelaufen, aber mittlerweile wollte sie keinen von ihnen mehr sehen. Auf gar keinen Fall heute Nacht. Vielleicht nie wieder.
Und mit Hugo war sie wirklich ein für alle Mal fertig. Beim Gedanken an die letzte Nacht errötete sie vor Scham. Sie hatte Schluss machen wollen und sich deswegen schuldig gefühlt. Und nur aus diesem Grund hatte sie noch mal mit ihm geschlafen. Aber heute Abend hatte sie herausgefunden, was er für einer war. O Gott. Dieser Arsch.
Als sie über den Vorplatz der St. Mary Abbots Church abkürzte, klatschten ihre Sandalen auf die Pflastersteine. Jetzt im Dunkeln und da der Blumenstand geschlossen war, wirkte es hier sehr verlassen, und sie war heilfroh, als sie endlich um die Ecke biegen und zur 52er-Haltestelle hinauflaufen konnte.
Erleichtert sah sie, dass der Bus heranrollte. Nachdem er quietschend und seufzend zum Stillstand gekommen war, stieg sie ein. Mit ihrem weit ausgestellten Kleid wollte sie auf keinen Fall die Wendeltreppe hochsteigen und suchte sich einen Platz im Unterdeck. Als sie saß, wandte sie sich von ihrem Spiegelbild im Fenster ab. Zuvor erhaschte sie jedoch noch einen Blick auf die dunklen Locken, die ihr über die Wange fielen, und den unbedeckten Hals. Sie zitterte.
Sie hatte von dem grässlichen Drink, den der Barkeeper ihr vorhin im Club gemacht hatte, nur einen winzigen Schluck genippt und das Glas dann bei irgendwelchen Leuten auf den Tisch gestellt. Jetzt wünschte sie, sie hätte sich die Nase zugehalten und ihn ausgetrunken. Zumindest hätte er ihr vielleicht beim Einschlafen geholfen.
Als der Bus holpernd an der Haltestelle Elgin Crescent anhielt, stieg sie aus und ging den Rest der Strecke zu Fuß. Die Gärten waren dunkel, und auf den Straßen herrschte Stille. Als sie beim Haus ankam, war es ebenfalls unbeleuchtet. Abgesehen vom schwachen Licht in der Souterrainküche.
Sie fischte ihren Schlüssel aus der Handtasche und blieb noch einen Moment auf dem Treppenabsatz stehen. Plötzlich hatte sie es gar nicht mehr eilig hineinzugehen. Wie gerne hätte sie jemanden zum Reden gehabt! Vielleicht ihre Mum. Von ihr würde sie einen guten Ratschlag bekommen. Aber die war meilenweit entfernt, und sie konnte sie nicht um Hilfe bitten. Sie hatte versprochen, niemandem zu erzählen, was sie erfahren hatte. Und dieses Versprechen würde sie auch halten.
Ihr war klar, dass sie sich mit Hugo zum Trottel gemacht hatte. Aber sie wusste auch, dass das auf lange Sicht keine Rolle spielte. Hugo war nie mehr als eine Ablenkung gewesen, und ihr Leben würde ohne ihn genauso weitergehen.
Es war diese andere Sache, die Folgen haben würde, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Und die ihr Leben, ganz gleich was passierte, auf die eine oder andere Weise verändern würde.
Jean Armitage stellte sich niemals einen Wecker. Ihr gesamtes Erwachsenenleben war sie, komme, was wolle, jeden Morgen pünktlich um fünf Uhr aufgewacht. Darauf war sie sehr stolz. Ihrer Meinung nach mangelte es Leuten, die den Tag nicht früh begannen, an innerer Stärke.
Als ihr Ehemann Harold noch gelebt hatte, war sie, um ihn nicht zu stören, immer leise aus dem Bett geschlüpft und zum Anziehen auf Zehenspitzen ins Bad geschlichen. Er war Banker gewesen und hatte es für unzivilisiert gehalten, vor sechs aufzustehen.
Inzwischen genoss sie die Freiheit, die Nachttischlampe einschalten zu können, sich anzuziehen, wie es ihr gefiel, und das Bett mit der Genauigkeit einer Internatsschülerin zu machen, ehe sie ins Erdgeschoss hinunterging. An diesem Samstagmorgen im Mai schüttelte sie die Kissen auf und gab dem blumengemusterten Bettbezug einen letzten zufriedenen Klaps. Dann ging sie zum Fenster, zog die Vorhänge auf und blickte einen Moment lang auf den Gemeinschaftsgarten hinaus. Der wolkenlose Himmel schimmerte zartrosa, und gerade in diesem Augenblick vergoldeten die ersten Sonnenstrahlen die Baumwipfel.
Ihre Freude über den Ausblick wurde jedoch von dem halbfertigen Anbau getrübt, der von der Rückseite ihres Nachbarhauses bis in den Garten hineinragte. Jean runzelte die Stirn und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Nur weil diese Leute einen Verlust erlitten hatten, gab ihnen das noch lange nicht das Recht, sich auf dem Gemeinschaftseigentum auszubreiten. Sie hatte sich bei der Eigentümerversammlung darüber beschwert, genau wie ein paar andere Gartenanwohner. Bislang war dagegen zwar noch nichts unternommen worden. Aber sei’s drum. Sie war keine Person, die in einem Konflikt klein beigab.
Ein paar Minuten später öffnete sie mit einer Tasse in der Hand das Eisentor, das ihre kleine Privatterrasse vom Gemeinschaftsgarten trennte. Bei schönem Wetter genoss sie es, den Pfad entlangzuspazieren, der um die Gartenanlage herumführte, und alles genau zu inspizieren, während sie an ihrem Kaffee nippte. Der perfekt geharkte Kiesweg knirschte unter ihren Schritten, während ihr gleichzeitig der betörende Duft der Climbing-Cécile-Brunner-Rosen in die Nase stieg. Clive Glenn, der Gärtner, hatte sich dieses Jahr selbst übertroffen. Die Hecken waren makellos geschnitten, die Bäume zierten dichte Laubkronen, und die Spätfrühlingsblumen blühten in voller Pracht. Cornwall Gardens hatte nie prächtiger ausgesehen und war zweifellos der schönste Garten in Notting Hill.
Jean zog sich die Strickjacke enger um die Schultern. Es war noch etwas kühl, aber der Tag versprach sonnig und warm zu werden. Vielleicht würde sie bei dem milden Wetter Gelegenheit haben, bei den anderen Anwohnern um Unterstützung zu werben.
Sie hatte gerade begonnen, sich einen Plan zurechtzulegen, als ihr Blick an etwas hängen blieb. Stirnrunzelnd blieb sie stehen und betrachtete den leuchtend grünen Rasenstreifen, der sich durch die Mitte des Gartens schlängelte. Der Ausblick wurde von etwas Weißem verschandelt, das unter einer Platane lag – in dem dicht mit Bäumen bewachsenen Bereich, den sie insgeheim das Wäldchen nannte. Die verdammten Bauarbeiter von diesem Anbau, schimpfte sie in Gedanken vor sich hin, ließen ihren Müll so rumliegen, dass er durch die Gegend geweht wurde.
Oder hatte es vielleicht einen Einbruch gegeben? Bei diesem Gedanken beschleunigte sich ihr Puls ein wenig. Was immer das für ein Gegenstand war, er lag nicht weit weg vom Gartenschuppen. Und in letzter Zeit hatte es in einer ganzen Reihe von Londoner Gemeinschaftsgärten Einbrüche in solche Schuppen gegeben.
Aber wenn es Einbrecher gewesen waren, hatten sie inzwischen bestimmt schon längst das Weite gesucht, mahnte sie sich selbst zur Ruhe, während sie den Pfad verließ und mit wiedergewonnener Entschlossenheit über das taufeuchte Gras marschierte. Doch als sie näher kam, verlangsamte sie ihre Schritte. Was aus der Ferne wie ein Haufen weißes Plastik oder Papier ausgesehen hatte, erinnerte allmählich verstörend an eine menschliche Gestalt. Bestürzt erkannte Jean, dass es eine Frau war. Eine junge Frau in einem weißen Kleid, ausgestreckt auf der Wiese unter den dicken Ästen einer Platane.
Sie lag auf dem Rücken und hatte das Gesicht ein wenig abgewandt, doch schon als Jean nur noch wenige Schritte entfernt war, erkannte sie bereits am Profil und den schulterlangen dunklen Haaren, um wen es sich handelte. Es war das Kindermädchen, das auf der anderen Seite des Gartens arbeitete.
Erbost stürmte Jean Armitage auf sie zu und holte tief Luft für eine ordentliche Gardinenpredigt. Was für ein dummer Streich! Die jungen Leute von heute schreckten doch wirklich vor gar nichts zurück. Anscheinend hatte sie sich nach einer Nacht in der Stadt zum Schlafen in den Garten gelegt. So ein Verhalten konnte in Cornwall Gardens nicht geduldet werden, nicht unter zivilisierten Menschen. Sobald sie die junge Rumtreiberin erst aufgescheucht hatte, würde sie als Nächstes mit der Arbeitgeberin des Mädchens ein ernstes Wort reden müssen.
In diesem Moment stieg die Sonne über die Baumwipfel und besprenkelte das grüne Gras und das weiße Kleid mit tanzenden Lichttupfen.
Jean blieb stehen, wobei ihre Schuhsohlen auf den nassen Grashalmen quietschten. Der intensive Geruch der Rosen war ihr plötzlich widerwärtig, und sie legte sich unwillkürlich eine Hand auf die Brust. Die Haltung der jungen Frau erschien ihr irgendwie unnatürlich. Und sie lag so regungslos. Ein Spatz flatterte über sie hinweg und streifte dabei fast ihre dunklen Haare, aber sie rührte sich trotzdem nicht.
Sämtliche Vorwürfe erstarben auf Jeans Lippen. Sie trat einen Schritt näher, dann, ganz langsam, noch einen weiteren … und erkannte, dass die Frau gar nicht schlief.
»Für einen Samstagmorgen bist du ganz schön früh auf«, sagte Gemma, als sie barfuß und noch im Nachthemd in die Küche tappte. »Wusst ich’s doch, dass ich dich gehört habe.«
Kincaid wandte sich von der Kaffeemaschine ab und sah sie an. Er hatte sich rasch geduscht, eine Jeans angezogen und das leicht verknitterte Hemd vom Vortag übergestreift. »Ich wollte dich nicht wecken.« Die Maschine zischte, als der erste Kaffee in die Kanne tropfte.
Seine Frau ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken und unterdrückte ein Gähnen, während sie ihr zerzaustes kupferrotes Haar zurückstrich und mit einem Haargummi fixierte. Dann atmete sie tief das Kaffeearoma ein. »Das duftet himmlisch.«
»Möchtest du auch einen?« Kincaid nahm vom Regal neben dem Herd ihre Lieblingstasse. Sie war mit grellpinken Rosen verziert, die zum Teil über den abgeplatzten Trinkrand ragten. Aber im Müll würde sie nie landen. Toby hatte diese Tasse von seinem Taschengeld auf dem Markt für sie erstanden.
»Gern.« Sie beobachtete, wie er einen Schuss Milch in ihren Kaffee gab. »Aber ich dachte eigentlich, wir schlafen heute aus. Es ist Samstag.«
»Stimmt.« Er reichte Gemma ihren Kaffee und rang sich ein Lächeln ab. Dann schenkte er sich seinen eigenen ein. Da er zu unruhig war, um sich hinzusetzen, lehnte er sich an den Herd. »Aber ich konnte nicht schlafen. Von diesem verdammten Fall bekomme ich Albträume.«
»Ist der nicht abgeschlossen und zu den Akten gelegt?« Unsicher sah sie ihn an.
Er zuckte mit den Schultern und versuchte, sich gelassen zu geben. »Ich möchte nur noch mal alles überprüfen, bevor die Staatsanwaltschaft übernimmt. Was, wenn ich irgendetwas übersehen habe?« Es waren keine besonders komplizierten Ermittlungen gewesen. Ein Kokaindealer in Camden, den man erschossen in seiner Wohnung aufgefunden hatte.
»Du hast versprochen, mit den Kindern und dem Hund im Park spazieren zu gehen«, sagte Gemma mit wenig Begeisterung. Als ob er ihre Worte unterstreichen wollte, kam in dem Moment Geordie herein und ließ sich schwanzwedelnd vor Gemma auf den Boden fallen.
»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich mach auch nicht lange.« Kincaid sah Gemmas ungläubigen Blick. »An einem Samstagmorgen und ohne laufende Ermittlungen wird niemand da sein. Ich brauche nur …« Er verstummte.
Er konnte ihr nicht sagen, was er brauchte. Wie sollte er ihr auch erklären, dass er sich dazu zwingen wollte, die Fotos vom Tatort anzuschauen … oder dass er hoffte, so seine Träume von einem anderen Tatort loszuwerden … und die von dem Mann, der ihm ein Freund geworden war, tot, mit einer Pistole in der Hand?
Als er sich umdrehte und die Tasse in die Spüle stellte, schwappte ihm Kaffee über die Finger. Er wischte sich die Hand an dem frischen Geschirrtuch ab und ging zu Gemma, um sie auf die Wange zu küssen.
Aber sie hielt den Kopf gesenkt. »Was denkst du dir bloß dabei?«, fragte sie spitz. »Was soll ich denn den Kindern sagen?«
Kincaid spürte, wie ihm in jäher Wut die Hände zitterten. »Was du für richtig hältst. Seit wann muss ich mich denn dafür entschuldigen, dass ich meinen Job mache?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er hinaus. Und als er das Haus verließ, fiel die Tür hinter ihm mit einem Knall ins Schloss, der wie ein Pistolenschuss klang.
»Pass auf, dass die Kätzchen nicht entwischen.« Gemma sah auf, als die gläserne Terrassentür aufging, und wischte sich mit dem schmutzigen Gartenhandschuh über die Stirn. Sie hatte entweder mit Toby oder Charlotte gerechnet, die mit sieben beziehungsweise drei Jahren (oder genauer dreieinhalb, wie Charlotte ihr regelmäßig ins Gedächtnis rief) für die winzigen samtpfötigen Entfesselungskünstler keine ernsthaften Gegner waren. Aber stattdessen sah sie Kit, auf dessen Schulter ihr schwarz-weißes Kätzchen Captain Jack lag.
»Äh, brauchst du vielleicht Hilfe?« Sein Blick fiel auf den halb ausgeschütteten Sack Blumenerde und die leeren Plastikbehälter, die überall auf der kleinen Steinterrasse verstreut lagen. Dahinter erstreckte sich ihr Gemeinschaftsgarten in Notting Hill, der mit wunderbaren Schattenplätzen lockte. Wie gut hätte man es sich dort in einem Liegestuhl bequem machen und eine Limonade genießen können. Nach den schönen Vormittagsstunden war es um die Mittagszeit herum heiß geworden, und obwohl ihre Nase mit Erde verschmiert war, spürte sie dort allmählich einen Sonnenbrand.
»Du hast heute schon mehr als genug getan.« Seufzend setzte sie sich zurück und fragte sich, ob das knackende Geräusch eben aus ihrem Knie gekommen war. Die Gartenarbeit war nicht halb so vergnüglich, wie sie es sich ausgemalt hatte. Die Begonie, die sie gerade behutsam eingetopft hatte, war am Stamm zerbrochen und sah auch sonst reichlich zerzaust aus. Außerdem tat ihr der Rücken weh.
Kit zuckte mit den Schultern und hielt das Kätzchen am Nackenfell fest. Er hatte auf die jüngeren Kinder aufgepasst, während sie alle im Rassells, dem Gartencenter an der Earl’s Court Road, gewesen waren. Gott sei Dank, weil Toby ansonsten bestimmt die Rosen und Rhododendren verwüstet hätte.
Gemmas Begeisterung für ihr Gartenprojekt hatte deutlich nachgelassen. Als jemand, der über einer Bäckerei an einer Hauptstraße in North London aufgewachsen war, hatte sie die Gartenarbeit auch nicht gerade mit der Muttermilch aufgesogen.
»Hat Dad angerufen?«, fragt Kit betont beiläufig. Ob er sich wohl darüber ärgerte, dass Kincaid nicht wie versprochen mit ihnen in den Hyde Park gegangen war?
»Nein«, sagte sie und unterdrückte einen Seufzer. »Noch nicht.« Sie hatte ihren Ärger auf ihn bereits bereut, als Kincaid die Haustür hinter sich zugeschlagen hatte. Danach hatte sie dagestanden und stirnrunzelnd zugesehen, wie er in seinen alten grünen Astra gestiegen und davongefahren war.
Sie hatten einander nie die vielen Überstunden vorgeworfen, die sie im Dienst machten. Dass sie beide bei der Polizei arbeiteten, war einer der Gründe, warum ihre Beziehung funktionierte. Aber das … Bei dieser Sache ging es nicht um den Job, sondern um irgendwas anderes. Und das machte ihr Sorgen. Seit damals im März, als sie von Ryan Marshs Tod erfahren hatten, war er nicht mehr der Gleiche.
Gemma hatte versucht, mit Kincaid darüber zu reden, aber er hatte sie bloß mit ausdrucksloser Miene angesehen und das Thema gewechselt. Sie hatten immer miteinander sprechen können, erst als Dienstpartner, dann als Liebespaar und schließlich als Eheleute. Sie wusste nicht, wie sie mit der Mauer umgehen sollte, die er in letzter Zeit zwischen ihnen hochgezogen hatte.
Kit legte sich das herumwuselnde Kätzchen auf die andere Schulter und sah auf die Uhr. »Es ist bloß so, dass ich für einen Geschichtstest lernen muss und ein paar Freunden versprochen habe, dass wir uns heute Nachmittag im Starbucks treffen.« Jack ließ ein protestierendes Miauen hören, als Kit die spitzen kleinen Krallen von seinem Hemd löste. »Ach«, sagte Kit noch, als er zum Haus zurückging, »denkst du dran, dass Toby in einer halben Stunde Ballettunterricht hat und Charlotte zu MacKenzie soll?«
Gemma sah auf ihre schmutzigen Hände, die Jeans und das verschwitzte T-Shirt hinunter. »Mist.«
Kincaid blickte durch die gläserne Wand seines Büros im Polizeirevier Holborn in den CID-Raum hinaus, der während der ruhigen Mittagszeit vorübergehend leer war. Im Laufe des Vormittags waren immer wieder mal Beamte aufgetaucht, doch Kincaids eigenes Team befand sich, solange nicht irgendwelche neuen Fälle hereinkamen, im Wochenende. Und bislang schien es im Stadtbezirk Camden für einen Samstag relativ ruhig zuzugehen.
Ein halbes Dutzend Mal hatte er seinen Bericht zur Schießerei in Camden bereits überarbeitet, hier ein Wort verändert, da eines ergänzt, und ihm war klar, dass er nur Zeit schindete. Die Abzüge der Tatortfotos lagen nach wie vor unberührt ganz unten im Ordner. Was für eine Sorte Polizist war er eigentlich, dass er sich keine Schusswunde anschauen konnte?
Sein Handy lag auf seinem viel zu ordentlich aufgeräumten Schreibtisch. Er streckte die Finger danach aus und veränderte dessen Ausrichtung an der Kante der Schreibtischunterlage um einen Millimeter, ehe er die Hand wieder zurückzog. Er wusste, dass er Gemma anrufen sollte, aber je länger er das Telefonat hinauszögerte, desto schwerer fiel es ihm. Was könnte er ihr auch sagen?
Vielleicht würde er ihr auf dem Heimweg einfach Blumen besorgen. Das war zwar nicht besonders einfallsreich, aber vielleicht würden ein Strauß und eine Entschuldigung ja genügen.
Und was war mit den Kindern? Er verzog das Gesicht. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, wie enttäuscht Charlotte sein musste. Angewidert von sich selbst stand er auf und ließ das Handy in die Hosentasche gleiten. Es war höchste Zeit, dass er sich wie ein richtiger Vater benahm. Und wie ein guter Ehemann. Vielleicht konnte er sein Versprechen an die Kinder ja doch noch wahrmachen.
Er hatte gerade seine Jacke vom Haken genommen und die Bürotür hinter sich geschlossen, als sein Vorgesetzter Detective Chief Superintendent Thomas Faith das CID-Büro betrat. Groß und schlank, wie er war, mit seinen allmählich ergrauenden blonden Haaren und dem gestutzten Schnauzbart sah Faith sogar in seiner Freizeitkleidung so aus, als steckte er in einer Uniform.
»Duncan«, sagte er, »ich bin froh, dass ich Sie noch erwische. Der Sergeant am Empfang sagte, Sie seien hier.«
»Ich bin gerade auf dem Sprung.« Hätte er sich doch bloß schon einen Moment früher auf den Weg gemacht, dachte Kincaid.
Doch wie es schien, war Faith nicht in wichtiger Mission unterwegs. »Gute Ermittlungsarbeit«, sagte er. »Der DAC wird erfreut sein.«
Der Deputy Assistant Commissioner Crime hatte vor Kurzem die Parole ausgegeben, dass alle Mordermittlungsteams ihre Aufklärungsraten zu erhöhen hatten. Kincaid verstand durchaus, welches politische Kalkül dahintersteckte, aber er wusste auch, dass überhöhter Ergebnisdruck zu schlampiger Polizeiarbeit führte. Und nach allem, was zuletzt passiert war …
Faith unterbrach seinen Gedankengang. »Richten Sie Ihrem Team aus, dass sie gute Arbeit geleistet haben. Und das werde ich auch gegenüber Ihrem ehemaligen Vorgesetzten erwähnen, wenn ich ihn sehe.«
»Sir?« Kincaid war verwirrt. Sein früherer Chef, Detective Chief Superintendent Denis Childs, hatte im Februar aus persönlichen Gründen eine Auszeit von seinem Job bei Scotland Yard genommen – kurz nachdem er noch Kincaids Versetzung zum Mordermittlungsteam im Polizeirevier Holborn veranlasst hatte. Childs hatte ihm seine Entscheidung damals nicht erklärt und danach auch auf keinen von Kincaids Versuchen reagiert, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
»Ach, ich dachte, das wüssten Sie bereits.« Faith sah ebenso überrascht aus, wie Kincaid sich fühlte. »Chief Superintendent Childs ist wieder im Dienst.«
Gemma hatte es geschafft, eine cremefarbene Sommerbluse anzuziehen, sich ansonsten allerdings nur noch den Dreck von den Knien ihrer Jeans klopfen und kaltes Wasser ins Gesicht spritzen können.
Hätte sie genug Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre sie mit den beiden Kindern zu Fuß losgegangen, aber in ihrer Eile hatte sie die zwei stattdessen in ihren kleinen Ford Escort bugsiert. Der Wagen hatte die ganze Zeit in der prallen Sonne gestanden, und die Sitzpolster waren so aufgeheizt, dass sie sich beim Hinsetzen die Rückseiten ihrer Oberschenkel versengte.
Ihre Freundin MacKenzie Williams wohnte nur ein Stück die Straße hinunter, in einem Haus, das eine dunkelblaue Vordertür hatte und hinter einer hohen Gartenmauer verborgen lag. Es war von blühenden Rosen umgeben und sah eher wie ein Märchenhaus als wie eine typische viktorianische Villa in Notting Hill aus. Während Gemma einparkte, kamen MacKenzie und Oliver ans Tor, um sie zu begrüßen.
»Bleib im Auto«, ermahnte Gemma Toby, während sie Charlotte aus ihrem Kindersitz losschnallte.
»Aber ich möchte Bouncer sehen«, protestierte er. Bouncer war das grau gefleckte Kätzchen, das sie an die Familie Williams abgegeben hatten, eines der vier, die Kit und Toby im März aus dem Schuppen in ihrem Gemeinschaftsgarten gerettet hatten.
»Toby, möchtest du gar nicht tanzen?«, fragte Gemma, während Charlotte von ihrem Sitz herunterkletterte, aus dem Auto sprang und mit laut klatschenden Sohlen auf dem Gehsteig landete.
»Dooooch«, erwiderte Toby nach kurzem Schweigen und ließ sich in seinen Sitz zurücksinken.
Charlotte zog an Gemmas Hand. »Mummy, kann ich gehen?«
»Na klar, Süße. Aber du hörst auf MacKenzie, ja?« Gemma küsste ihre Tochter und wollte ihr zur Verabschiedung noch einen leichten Klaps auf den Po geben, aber Charlotte rannte bereits zu Oliver ans Tor.
MacKenzie zerzauste Charlottes dichten karamellfarbenen Haarschopf. Dann sagte sie leise, mit einem Nicken in Richtung Auto: »Ist das da drinnen wirklich dein Kind? Wo ist der Junge mit den tausend Widerworten geblieben?«
Gemma grinste und verdrehte die Augen. »Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder. Dank dir.«
Tobys neu entdecktes Interesse am Ballett war MacKenzies Verdienst. Ihr Sohn Oliver war Charlottes bester Freund an der Vorschule, und MacKenzie hatte sie und Toby zu Olivers Bambini-Ballettkurs mitgenommen. Charlotte hatte sich nicht sonderlich beeindruckt gezeigt, obwohl sie gerne ein Tutu gehabt hätte. Bei Toby war es dagegen Liebe auf den ersten Blick gewesen. Und seit einem weiteren Ausflug mit MacKenzie zum Royal Ballet war Toby noch entschlossener, das zu lernen, was er dort auf der Bühne gesehen hatte.
Doch die anschließende Suche nach einer geeigneten Ballettschule erwies sich als deutlich schwieriger, als Gemma gedacht hatte. Denn zum einen gab es in der Nähe keine reinen Kurse für Jungs, und die gemischtgeschlechtlichen Kurse, die angeboten wurden, waren alle sehr teuer.
Als Gemma ihrer Freundin MacKenzie von der Misere erzählt hatte, riet die ihr, Toby im Tabernacle anzumelden.
»Das Tabernacle bietet Ballett an?«, hatte Gemma überrascht gefragt. Das runde Ziegelgebäude am Powis Square hatte eine lange Tradition in Notting Hill, anfangs als Kirche, später als ein Mekka der Gegenkultur und mittlerweile als Gemeindezentrum und Hauptquartier des Notting Hill Carnival. Dort gab es einen Garten, ein Café, eine Kunstgalerie und – offensichtlich – auch Tanzkurse.
»Während der Woche übt dort eine Ballettschule«, hatte MacKenzie ihr erklärt. »Samstags gibt es dann immer erstklassige Kurse von Portobello Dance, in denen übrigens auch viele Jungs sind. Und die Preise halten sich absolut im Rahmen.«
MacKenzie hatte wie immer recht behalten. In Tobys Kurs waren noch zwei weitere Jungs, und er wurde von einem Mann geleitet, einem gefeierten Profitänzer und Choreografen.
Während Gemma nun am Powis Square nach einem Parkplatz Ausschau hielt, wurde Toby ganz hibbelig. »Ich möchte nicht zu spät kommen. Mr Charles wird sonst bestimmt was sagen.«
Toby, den eine kleine Standpauke bisher noch nie sonderlich beeindruckt hatte, nahm sich die Ermahnungen seines freundlichen Trainers sehr zu Herzen.
»Okay«, sagte Gemma und hielt vor dem schmiedeeisernen Tor des Tabernacle an. »Dann geh du schon mal rein. Aber vergiss deine Tasche nicht.« Sie sah Toby hinterher, bis er im Gebäude verschwunden war, und machte sich dann wieder auf die Jagd nach einem Parkplatz.
Als sie endlich einen gefunden hatte, ging sie zurück zum Powis und in den gut gefüllten Vorgarten des Tabernacle, wo Leute an den Tischen saßen und etwas aßen oder einfach nur die Sonne genossen. In der Sicherheit des umzäunten Geländes tollten Kinder herum, während ein paar an die Tische geleinte Hunde ihrem ausgelassenen Treiben interessiert zusahen.
Der runde Mittelbau des Gebäudes erinnerte sie an die Trockenhäuser, die sie in Kent gesehen hatte. Obwohl die beiden Türme, die das Tabernacle links und rechts einfassten, höher waren als bei Trockenhäusern und außerdem einen quadratischen Grundriss hatten. Eigentlich sah das Tabernacle plump und ungemütlich aus, aber dennoch strahlte es einen gewissen Charme aus. Die orangeroten Ziegel leuchteten in der Sonne und bildeten einen gefälligen Kontrast zu den laubgrünen Bäumen im Garten.
Gemma hätte sich gerne sofort einen Platz in der Sonne gesucht, aber erst musste sie etwas gegen ihren Durst tun. Sobald sich ihre Augen an das Schummerlicht im Gebäudeinneren gewöhnt hatten, ging sie zur Theke im hinteren Bereich und kaufte sich eine frisch gepresste Limonade. Während sie langsam die Stufen auf der rechten Seite des Raumes hochstieg und wohlig seufzend an ihrem Getränk nippte, betrachtete sie die Fotos der Prominenten von Notting Hill, die die Wände des Treppenhauses zierten.
Das Ballettstudio befand sich hinter dem Theater, im rückwärtigen Teil des ersten Stocks. Eltern durften während der Stunden nicht hinein, aber vielleicht konnte sie ja durch die Glasfenster in den Türen spähen, die vom Vorraum in das Studio führten. Sie hatte sich noch immer nicht an Toby in seinem weißen T-Shirt und den schwarzen Leggings gewöhnt oder an den Anblick seines kleinen hochkonzentrierten Gesichts. Und immer wenn sie ihn so sah, spürte sie ein eigenartiges Ziehen in ihrem Herzen. Wieso wirkte ihr ungestümes Kind auf einmal so ernsthaft und zielstrebig? Nicht dass sie sich darüber beschweren wollte, dachte sie lächelnd und stieß die Tür zum Vorraum auf.
Wenn sie bisher zu den Kursen mitgekommen war, hatten hier immer auch ein paar andere Eltern gewartet, aber heute war der Raum verwaist, bis auf einen einzelnen Jungen, den sie auf neun oder zehn Jahre schätzte. Er trug den üblichen Aufzug aus weißem T-Shirt und schwarzen Leggings, aber seine Waden steckten in schäbigen, halb aufgedröselten Stulpen, und seine weißen Ballettschuhe sahen schmutzig und abgewetzt aus. Seine aschblonden Haare berührten den T-Shirt-Kragen, und er hatte eine leichte Stupsnase mit Sommersprossen.
In der Stille, die auf das Klicken der schließenden Tür folgte, hörte Gemma, wie er leise zählte. Er übte verschiedene Positionen, und da es hier keine Ballettstange gab, stützte er sich stattdessen mit ausgestreckten Fingerspitzen an der Lehne eines Holzstuhls ab. Sie erkannte ein paar der Grundpositionen, die Toby gerade lernte, aber die Eleganz und Präzision, mit der dieser Junge sie ausführte, zeugten von jahrelangem Training.
Während er vom Stuhl zurücktrat, murmelte er: »Eins, zwei, drei, Drehung.« Dann stieß er sich mit einem Fuß vom Boden hoch, und Gemma verfolgte staunend, wie er eine Reihe von Pirouetten vollführte. Einen Moment hielt er inne und wandte Gemma das Gesicht zu, allerdings ohne sie zur Kenntnis zu nehmen, und setzte gleich darauf zu einer weiteren Serie von Drehungen an.
Er schaffte zehn, bevor er schließlich das Gleichgewicht verlor und den erhobenen Fuß mit einem deutlich vernehmbaren »Scheiße« auf den Boden setzte. Danach sah er sie an, mit einem argwöhnischen Blick.
»Ach, wie schade«, sagte Gemma, ohne auf seinen Fluch einzugehen. »Ich hab dich wahrscheinlich abgelenkt. Versuch’s doch noch mal.«
Nach kurzem Zögern nickte er und erhob sich zu einer neuen Abfolge von Pirouetten. Diesmal gelangen ihm zwölf. Gemma fiel auf, dass er dabei ganz ruhig und entspannt atmete.
»Wird dir nicht schwindlig?«, fragte sie, als er sich ohne erkennbare Mühe dehnte.
Er schüttelte den Kopf und strich sich die blondbraunen Haare aus der Stirn. »Nicht mehr, seit ich klein war. Man muss den Blick nur fest auf etwas richten. Gerade habe ich den Aufkleber an der Tür im Auge behalten.«
Gemma sah kurz über die Schulter zu dem ovalen blauen Notausgangszeichen, dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu. »Du tanzt also schon lange.«
»Seit ich drei bin.«
Toby war also ein Spätzünder, dachte sie. Aus dem Studio erklangen die gedämpften Töne des Klaviers, und durch das Glasfenster in der Tür erhaschte sie einen Blick auf Tobys hüpfenden Blondschopf. »Mein Sohn hat gerade erst angefangen. Er ist sieben.«
»Er kann es vielleicht trotzdem noch lernen«, entgegnete er mit der gleichgültigen Herablassung, die er als Profi für einen Amateur übrighatte.
»Wartest du auf einen Kurs?«, fragte Gemma.
Er nickte. »Nicht auf den nächsten, sondern den danach – für Fortgeschrittene. Unter der Woche nehme ich Stunden in Finsbury Park.«
»Du tanzt so häufig?« Mit leichtem Grausen überlegte Gemma, was es wohl für ihre Familie bedeuten würde, falls Toby diese Angelegenheit jemals so ernsthaft betreiben wollte. »Würdest du den Samstag nicht lieber mit deinen Freunden verbringen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Mr Charles ist ein großartiger Choreograf, und ich kann allein hierherkommen.«
»Nach Finsbury Park fährst du nicht allein?«
Sein freundlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Meine Mum meint, dafür sei ich nicht alt genug.«
»Ja, manchmal sind Mums so«, gab Gemma vorsichtig zu. »Wie alt bist du denn? Elf?« Sie schätzte bewusst am oberen Ende der Skala.
»Fast.« Seine Miene entspannte sich wieder. »Meine Mum möchte, dass ich mit elf beim Royal Ballet vortanze. Deswegen muss ich so viel üben.« Als wäre es ihm bei seinen eigenen Worten gerade erst wieder eingefallen, ging er zum Stuhl zurück und hielt sich mit einer Hand an der Lehne im Gleichgewicht. Gleichzeitig hob er ein Bein in einer Position ans Ohr, die Gemma eigentlich für anatomisch unmöglich gehalten hätte.
Aus dem Studio hörte sie deutlich Mr Charles’ Stimme: »Gut, gut. Dasselbe noch mal.« Und auch das Klavierspiel klang gleich ein wenig beherzter.
»Dann lasse ich dich mal in Ruhe weitermachen.« Gemma vermutete, dass sie die Gesprächsbereitschaft des Jungen bereits erschöpft hatte. Allerdings gab es in dem Raum nicht genug Platz, um sich gegenseitig zu ignorieren. »Ich gehe einfach runter. Viel Glück beim Vortanzen. Ich bin sicher, dass du das ganz toll machen wirst.«
Über sein sommersprossiges Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. »Danke.«
Zum Abschied winkte sie ihm kurz zu und ging dann wieder hinaus. Vielleicht würde sie sich ja doch noch in den Garten setzen und dort ihre Limonade austrinken, bis Tobys Kurs vorbei war.
Gemma öffnete die Tür und wollte gerade in den Garten hinaustreten, als sie mit jemandem zusammenstieß, der in die Gegenrichtung lief. Noch während sie eine erschrockene Entschuldigung stammelte, wurde ihr klar, dass sie gerade mit MacKenzie Williams kollidiert war. »Alles in Ordnung, MacKenzie?«, fragte sie, während sie ihrer Freundin sacht den Arm tätschelte. Dann wurde sie plötzlich unruhig. »Was machst du denn hier? Wo ist Charlotte? Geht es ihr gut?«
MacKenzie sah sie an und runzelte die Stirn. »Ich habe ganz vergessen, dass du auch hier bist, Gemma. Nein, nein, den Kindern geht’s gut. Ich habe sie bei Bill gelassen. Aber …« Sie verstummte und schüttelte den Kopf.
»Was ist denn los?« Gemma legte MacKenzie einen Arm um die Schultern und zog sie sanft aus dem Strom der Leute im Eingangsbereich. Ihre Freundin zitterte. »Setz dich hierhin«, sagte sie und führte MacKenzie zu einem leeren Tisch in einer dunklen Nische. Als ihr auffiel, dass sie immer noch den halb ausgetrunkenen Becher Limonade in der Hand hielt, reichte sie ihn MacKenzie. »Trink das.« Gemma wartete, bis MacKenzie gehorsam ein paar Schlucke genommen hatte, und setzte sich dann neben sie. »Und jetzt erzähl mir, was passiert ist.«
»Es … Es ist furchtbar. Es geht um Reagan«, begann MacKenzie stockend. Unter ihrer schwarzen Lockenmähne wirkte ihr Gesicht so weiß wie Papier. »Ich glaube, du kennst sie nicht. Sie arbeitet als Model für uns und passt manchmal auf Oliver auf.« MacKenzie und ihrem Mann Bill gehörte eine sehr erfolgreiche Bekleidungsmarke namens Ollie, die sie online und mit einem Katalog vertrieben. »Aber sie …« MacKenzie holte tief Luft. »Reagan lebt bei einer Familie in Cornwall Gardens. Sie ist das Kindermädchen ihres Sohnes.«
»Verstehe.« Gemma nickte, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen.
MacKenzie umklammerte den Becher mit beiden Händen. »Sie ist tot. Reagan ist tot. Sie haben sie heute Morgen unter einem Baum in Cornwall Gardens entdeckt. Aber Jess – der Junge, um den sie sich kümmert – weiß es noch nicht. Seine Mum hat mich gebeten, nach ihm zu suchen.«
»Verstehe«, wiederholte Gemma. »Das ist wirklich schrecklich. Aber warum bist du hier?«
»Ach.« MacKenzie schien überrascht, dass Gemma noch nicht selbst darauf gekommen war. »Weil er tanzt. Jess ist ein Tänzer. Wegen ihm wusste ich, dass das Tabernacle eine gute Ballettschule für Jungs hat. Jess nimmt hier jeden Samstag Unterricht.«