Buch
Florence Foster Jenkins und die Kunst der schiefen Töne. Die wohlhabende und beispiellos talentfreie Diva – umwerfend gespielt von Meryl Streep – beginnt mit Mitte vierzig begeistert Gesangsstunden zu nehmen, sie leistet sich einen eigenen Pianisten und finanziert schließlich öffentliche Bühnenauftritte unterstützt von ihrem Manager St. Clair Bayfield (Hugh Grant). Musik ist ihr Leben, doch eine gute Sängerin konnte allein die Leidenschaft nicht aus ihr machen. Sie trifft kaum einen Ton und wenn zufällig doch, kann sie ihn nicht halten, vom Rhythmus ganz zu schweigen. Die unvergleichliche Karriere der Frau, die mit sagenhaft schrägen Darbietungen ihr Publikum förmlich zum Toben bringt, gipfelt in einem musikalischen Großereignis: Als die mit 76 Jahren bereits betagte Florence in der bis zum letzten Platz ausverkauften New Yorker Carnegie Hall am 25. Oktober 1944 die Bühne betritt, gibt es im Saal kein Halten mehr. Eine wunderbare Vorlage für die Verfilmung von Kultregisseur Stephen Frears.
Autoren
Nicholas Martin war als Croupier, Hilfsarbeiter, Türsteher und Barmann tätig. Mit Anfang zwanzig fuhr er als Matrose zur See, später war er Kapitän einer Jacht, um schließlich als Journalist u. a. für The Sunday Times und den Guardian zu schreiben. Nach seinem Abschluss an der Filmhochschule 1992 schrieb er Drehbücher für Film und Fernsehen. Nicholas Martin lebt in London.
Jasper Rees ist Journalist und Autor. Er schreibt für Kunst-Magazine und Tageszeitungen, u. a. The Sunday Times, The Daily Telegraph und Intelligent Life. Japser Rees lebt in London.
NICHOLAS MARTIN
JASPER REES
Florence
Foster Jenkins
Die wahre Geschichte
der bekanntesten und zugleich
untalentiertesten Sängerin aller Zeiten
Aus dem Englischen von
Maria Zettner und Reinhard Tiffert
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Die englische Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel »Florence Foster Jenkins«
bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2016
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Nicholas Martin and Jasper Rees
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
in Anlehnung an die Gestaltung der englischen Originalausgabe
Umschlagfoto: Copyright: © 2016 Pathé Productions Limited. All Rights Reserved.
Lektorat: Werner Wahls
KF · Herstellung: Str.
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-20355-9
V001
www.goldmann-verlag.de
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Inhalt
Prolog
Florence Foster Jenkins – Der Film
Wilkes-Barre, Pennsylvania
Mrs Dr. Jenkins
Philadelphia
Musikalische Leiterin
Mrs St. Clair Bayfield
Erbin
Die Klubfrau
Die singende Präsidentin
Lady Florence
Königin der Nacht
Die Primadonna der Carnegie Hall
Wie der Vater, so die Tochter
Florence Foster Jenkins – Historische Fotografien
Epilog
Dank und Bibliografie
Prolog
Am Abend des 25. Oktober 1944, einem Mittwoch, spielte sich vor der New Yorker Carnegie Hall eine außergewöhnliche Szene ab. Etwa zweitausend Menschen war der Zugang versperrt. Zusammengedrängt standen sie auf dem Gehsteig. Einige trieb der verzweifelte Versuch, sich Einlass zu verschaffen, dazu, mit 20-Dollar-Scheinen zu wedeln, obwohl die – längst ausverkauften – Tickets offiziell nur drei Dollar kosteten. Sie konnten nur zusehen, wie Cole Porter den erlauchtesten unter allen Konzertsälen Amerikas betrat, wo sich Größen wie die allseits beliebte Sopranistin Lily Pons und die Königin der Burleske, Gypsy Rose Lee, zu ihm gesellten. Auch Schauspielerin Tallulah Bankhead wurde von einigen in der Menge gesichtet. Obendrein wimmelte es in der altehrwürdigen Halle nur so von Journalisten, die alle unbedingt Zeuge eines Phänomens werden wollten.
Am Abend zuvor war auf derselben Bühne Frank Sinatra bei einer Wahlkampfkundgebung zugunsten von Präsident Franklin D. Roosevelt aufgetreten. Für den folgenden Abend war ein Konzert des New York Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Artur Rodziński angekündigt. Doch am 25. Oktober gehörte die Bühne Florence Foster Jenkins, einer stattlichen Frau von Mitte siebzig, die unlängst eine Reihe von Tonaufnahmen veröffentlicht hatte, darunter ihre Interpretationen von Mozarts Arie der Königin der Nacht und Delibes’ »Glöckchenarie«. Diese waren denn auch für den ungeheuren Andrang verantwortlich.
Es ist nicht wirklich angebracht, dem Abend angesichts dieses geschichtsträchtigen Datums allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Der 25. Oktober 1944 ist in der Weltgeschichte ein so zentraler Tag, dass sogar einmal jemand ein ganzes Buch darüber geschrieben hat, nämlich John Ellis, One Day in a Very Long War: Bei der See- und Luftschlacht im Golf von Leyte auf dem Gebiet der Philippinen setzte die Kaiserlich Japanische Marine zum ersten Mal Kamikazeflieger gegen US-Kriegsschiffe ein. In Europa befreiten rumänische und russische Truppen die letzte rumänische Stadt von der deutschen Besatzung. Sie verdrängten außerdem die Wehrmacht von ihrem norwegischen Stützpunkt in Kirkenes, während das Bomber Command der Royal Airforce und die US-Luftwaffe Tagesangriffe auf Essen und Hamburg flogen.
Wenden wir uns wieder New York zu. Dort zeigte das Deckblatt des Konzertprogramms die Fotografie einer imposanten Dame mit einem Diadem auf dem kurzen, dauergewellten braunen Haar. Eine schwere Halskette fiel über ihren tiefen Ausschnitt bis fast hinunter auf die zaghaft gefalteten Hände. Am linken Daumen steckte ein Ring. Mit ihren glänzenden Augen blickte sie entschlossen drein. Vor einem mittelblauen Hintergrund und unter schwarzen Großbuchstaben, die ihren Namen in die Welt hinausposaunten, stand geschrieben: »Koloratursopran«.
Auf den Innenseiten kündeten seriöse Stimmen von vorausgegangenen Triumphen. Madame Jenkins, wie sie sich am liebsten nennen ließ, »besitzt eine auffallende Individualität in der Ausdrucksweise und eine gewisse Würze in der künstlerischen Wiedergabe«. So berichtete das New York Journal-American. Ein Dr. B. B. James bestätigte (in einer nicht ausgewiesenen Publikation), dass sich in jüngster Zeit in einem Publikum in der Bundeshauptstadt Washington »Personen aus dem politischen, kulturellen und geistigen gesellschaftlichen Leben« zusammengefunden hätten, bei denen es sich durchweg um »kritisch veranlagte Zuhörer« gehandelt habe. Der New York Daily Mirror feierte eine »souveräne Persönlichkeit mit unbeschreiblichem Charme«, deren alljährliche Liederabende »unbändige Freude bereiten«.
Diese Zitate decken sich mit so ziemlich allem, was bis dahin über »Lady Florence« (eine weitere von ihr bevorzugte Anredeform) geschrieben worden war. Schon seit den 1910er Jahren hatte sie vor ausgesuchtem Publikum gesungen, vorwiegend innerhalb der behüteten Welt der Frauenklubs, die es in New York seit der Jahrhundertwende in Hülle und Fülle gab. 1917 gründete sie ihren eigenen Zirkel. Sie nannte ihn den Verdi Club. Vor seinen Mitgliedern hielt sie dann später im Ballsaal des Ritz-Carlton ihre jährlichen Liederabende ab. Die Presse war nicht unbedingt erwünscht, mit Ausnahme des Musical Courier, einem Fachblatt, dessen wohlwollendem Urteil man sich gewiss sein, ihm sogar mit einer diskreten Geldzuwendung nachhelfen konnte. Die Liederabende erlangten Kultstatus, und jahrelang ließ niemand öffentlich ein Wort darüber verlauten, was ganz eindeutig auf der Hand lag: dass Florence Foster Jenkins eine auffallend talentlose Sängerin war. Stattdessen spendeten, abgesehen von vereinzelten übermütigen Zwischenrufern, alle schallend Beifall und unterdrückten ihr Gelächter, indem sie sich Taschentücher in den Mund stopften.
Im Jahr 1941 machten die genannten Aufnahmen ihre schwache Stimme und gewagte Tonhöhe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, und die Mundpropaganda tat ein Übriges. Dann kam die Carnegie Hall. Begleitet von einem Pianisten, einem Flötisten und einem Streichquartett machte sie sich in einer Vielzahl von ausgefallenen Kostümen daran, eine Vielzahl von Liedern in Grund und Boden zu singen. Die dreitausend, die die Carnegie Hall bis zum Bersten füllten, wie man es dort noch nie zuvor erlebt hatte, verursachten einen solchen Tumult, dass ihr Klavierbegleiter Cosmé McMoon den Abend als »das bemerkenswerteste Ereignis, das jemals hier stattgefunden hat« bewertete. Ihr tätlicher Angriff auf die berühmte Arie aus der Zauberflöte, bei dem sie kein einziges Mal den richtigen Ton traf, hatte alle Zutaten eines mustergültigen komödiantischen Parforceritts. Allerdings war die Komik hier ebenso wenig beabsichtigt wie bei ihrer Interpretation von »Clavelitos«, einem kurzen, koketten Lied in spanischer Mundart, mit dem sie die Zuhörer zu neuerlichen hysterischen Höhenflügen trieb. Als Florence dann auch noch Rosenblüten aus einem Korb an ihrem Arm ins Publikum warf, musste eine nicht mehr zu bändigende Schauspielerin aus ihrer Loge entfernt werden. Es scheint schwer vorstellbar, dass jemand in einer solchen überhitzten Atmosphäre überhaupt so viel Aufmerksamkeit erregen konnte, um einen Rauswurf zu rechtfertigen, aber offensichtlich hat es sich so abgespielt. Der sofortige Ruf nach einer Zugabe hatte zur Folge, dass der arme McMoon sich runter ins Parkett begeben musste, um die Blumen zurückzuholen. Die Freude – und der Schmerz – war beim zweiten Durchgang noch nachhaltiger. Und den gesamten Abend über deutete Madame Jenkins die Lachsalven und den stürmischen Applaus als aufrichtige Würdigungen ihrer Kunst. Im Anschluss gesellten sich ihre Gäste zu ihr auf die Bühne. »Finden Sie nicht, dass es sehr mutig von mir war, noch einmal die Königin der Nacht zu singen«, sagte sie zu einem von ihnen, »nach der wunderbaren Aufnahme, die ich davon im Studio gemacht habe?«
Am folgenden Morgen erfuhr man in weiten Teilen der Vereinigten Staaten von dem Ereignis. »Mme Jenkins, falls Sie noch nichts von ihr gehört haben, was sehr wahrscheinlich ist, ist eine Dame, die Liederabende abhält, weil es dagegen kein Gesetz gibt.« So stand es im Milwaukee Journal. »Sie nimmt die Lieder, die in Lily Pons das Beste zum Vorschein bringen, und bringt damit in sich selbst das Schlimmste zum Vorschein. Und das Schlimmste in Mme Jenkins, seien Sie dessen gewiss, ist wirklich grausig.« Earl Wilson von der New York Post wusste zu berichten, dass Florence Foster Jenkins »alles trifft, nur nicht den richtigen Ton.« »He, ihr Musikfreunde!«, lautete die Titelzeile seines Artikels, »Ich habe Madame Jenkins gehört«. Nachdem er ihren Vortrag als »einen der bizarrsten Massenspäße, die New York je erlebt hat« bezeichnet hatte, reflektierte Wilson in seiner Kolumne – er war kein Musikjournalist – über die Diskrepanz zwischen dem ernsthaften Gebaren der Künstlerin und der unbändigen Ausgelassenheit des Publikums. Auf dem Weg nach draußen stieß Wilson auf einen Mann, den er als persönlichen Assistenten der Sängerin bezeichnete und dessen Namen er »Sinclair Bayfield« buchstabierte.
»Warum?«, fragte Wilson.
»Sie liebt Musik«, antwortete St. Clair Bayfield, ein Engländer Ende sechzig, der viele Jahre lang Nebendarsteller am Broadway gewesen war. Darauf wusste Wilson nur eine Frage:
»Wenn sie Musik liebt, warum macht sie dann so etwas?«
»Die Leute mögen ja sagen, ich konnte nicht singen, aber niemand kann behaupten, dass ich es nicht getan habe.« Diese Worte sind von Florence Foster Jenkins gegen Ende ihres Lebens überliefert. Auf jeden Fall passen sie zu ihr. Sie lebte für die Musik und trat leidenschaftlich gern öffentlich auf. Aus tiefster Seele – und mit Erfolg – weigerte sie sich, sich näher mit ihren Unzulänglichkeiten als Sängerin auseinanderzusetzen oder sich von denen einschüchtern zu lassen, die sich über sie lustig machten. Es könnte sogar sein, so schmerzlich das auch berühren mag, dass sie diese Unzulänglichkeiten schlicht und einfach nicht wahrnehmen konnte. Auf jeden Fall fand ihr Publikum Gefallen an ihrer offenen Art und an der Freude, die es ihr bereitete, sie zu unterhalten. Allein durch Charisma triumphierte sie bei ihren Auftritten über das bloße fachliche Geschick. Ihr Beispiel ist so inspirierend, dass sogar die größten Sänger eine Schwäche für sie haben. 1968 wurde die junge Barbra Streisand vom New York Magazine gefragt, welche anderen Sänger sie gern wäre. »Ray Charles und Florence Foster Jenkins«, gab sie zur Antwort. David Bowie nannte 2003 für die Vanity Fair The Glory (????) of the Human Voice das Album mit Aufnahmen von Florence, das RCA 1962 herausbrachte, als eine der fünfundzwanzig LPs, die er für seine größten Entdeckungen hielt. (Der einzige andere Sopran unter all der aufgeführten Blues-, Jazz- und Rockmusik war Gundula Janowitz mit Strauss’ Vier letzte Lieder.)
Heutzutage steht Florence nicht mehr alleine da. Ihre außergewöhnliche Geschichte findet, lange nachdem die großen Primadonnen, mit denen sie sich absurderweise auf eine Stufe stellte, vergessen sind, auch deshalb immer noch einen Widerhall, weil wir von lauter Florences umgeben sind – wenig talentierten Sängern, die dennoch danach schmachten, gehört zu werden. Neuzeitliche Inkarnationen von Florence singen bei The X Factor oder America’s Got Talent vor und wundern sich, wie sie, über das Spottgeheul der Menschen. Florence ist ihre Schutzpatronin. Denn, wie Cosmé McMoon es erklärte, »sie glaubte, sie sei großartig«.
Andererseits ist Florence auch absolut einzigartig. Es bleibt fast immer unbeachtet, dass sie eine leidenschaftliche, ernsthafte und ungemein sachkundige Musikliebhaberin war und als Künstleragentin fünfunddreißig Jahre lang in New York junge Talente förderte. Einige der aufstrebenden Opernstars waren dankbar für ihre Freundschaft. Falls ihr Streben nach Anerkennung durch ein Publikum ein unbewusstes Bedürfnis offenbart, irgendeine seelische Wunde zu heilen – und es sieht ganz danach aus –, so liegt die Ursache dafür tief in ihrer Vergangenheit. Earl Wilson berichtete von einer überlieferten Geschichte, nach der Florence’ musikalische Ambitionen zuerst von ihren Eltern und dann von ihrem Ehemann abgeblockt wurden, um nach deren Tod umso stärker hervorzutreten. Es ist eine hübsche Legende. Aber ist sie auch wahr?
Grob gesagt ist ihre Geschichte typisch für ihre Zeit. Sie handelt vom Streben einer amerikanischen Frau nach Bildung, von einem darwinistischen Drang, die gesellschaftliche Leiter zu erklimmen, vom Makel einer Scheidung im 19. Jahrhundert, vom Erstarken der Frauen, symbolisiert im Aufstieg der Frauenklubs, und vom Wert der Kultur. Ihr Vorankommen in einer florierenden, vom Geld beherrschten Gesellschaft ist archetypisch, aber es ist auch zutiefst individuell. Kurz nach dem Bürgerkrieg kam sie zur Welt, leistete ihren Beitrag zu einem Weltkrieg und erlebte noch einen zweiten. In jungen Jahren fand sie durch ihre Ehe Zugang zum inneren Zirkel des militärischen Establishments der USA. Dort gaben ihr die prinzipientreuen weiblichen Mitglieder der angeheirateten Verwandtschaft viel Anlass zur Bewunderung, während die Männer eine eher düstere Ansammlung aus Tunichtguten, Psychotikern und Charakterschwächlingen darstellten. Die Defizite ihres Mannes, so machte sie nicht zu Unrecht geltend, hinterließen bei ihr nicht nur körperlich bleibende Wunden. Und dann war da noch das Gezänk in ihrer eigenen Familie, das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal das Einschreiten der Justiz erforderlich machte, die reinste Soap-Opera.
Aus Florence’ frühen Jahren, wenn die Psyche noch eine formbare Modelliermasse ist, gibt es kaum verlässliche Quellen. Es ist nicht einmal sicher, ob sie in Pennsylvania geboren wurde oder in New Jersey. Wie schwer sie zu fassen ist, zeigt sich auch an den vielen Varianten ihres Namens in den Zeitungen, die später von ihren Unternehmungen berichteten: Miss Florence Foster, Mrs Dr. Jenkins, Mrs F. F. Jenkins, Madame Foster Jenkins, Mrs Florence Foster Jenkins, Mme Jenkins, Lady Florence – und dazu noch jede Menge Druckfehler: Mrs F. E. Jenkins, Mrs Florence Foster Jekins, Florence Foster Jones sowie der Name, der ihr am allerbesten gefallen hätte, Florence Verdi Jenkins. Es mutet kaum wie ein Zufall an, dass einer älteren Dame, die dafür berühmt war, dass sie keine Stimme hatte, in der ersten Hälfte ihres Lebens keine zugestanden wurde. Nichts, was sie selber gesagt hat, wurde für die Nachwelt festgehalten, bis sie schon jenseits der vierzig war. Da ihr jegliche Selbsterforschung zuwider war, hinterließ sie auch kein Tagebuch und gab nur zwei Interviews. Die Arbeit des Biografen wird dadurch noch weiter erschwert, dass von den fünfhundert Briefen, die sich Florence und St. Clair Bayfield in den mehr als dreißig Jahren ihrer Ehe ohne Trauschein schrieben, nur noch vier übrig sind.
Dies ist, wenn auch nur in zweiter Linie, auch seine Geschichte. Bis St. Clair als junger Mann nach New York kam, hatte er bereits eine ganze Reihe eigener Abenteuer erlebt. Im Laufe seiner Karriere hatte er weit mehr Stunden auf der Bühne verbracht als Florence, doch ihre zwei Stunden in der Carnegie Hall stellte sie alle in den Schatten. Es schien ihm nichts auszumachen, da er ihr ganz und gar ergeben war. Dafür ist er im Nachhinein zur primären Fundgrube für ihre Lebensgeschichte geworden. Eine der Hauptquellen ist eine Biografie, mit der er nach ihrem Tod begann und die nach dem seinen von seiner Witwe Kathleen weitergeschrieben wurde. Sie wurde nie veröffentlicht, und das meiste ist verschollen, doch 1971 las Mrs Bayfield in einem gemeinsamen Interview mit zwei Verdi-Klubmitgliedern, die Florence noch persönlich gekannt hatten, umfangreiche Teile daraus vor. Aber selbst hier ist Vorsicht geboten. Man muss von dem, was Florence St. Clair und was St. Clair Kathleen erzählt hat und was Kathleen dann aufgeschrieben hat, einiges Beiwerk abstreichen, denn jeder Chronist hatte so seine eigenen Hintergedanken. Florence war auf jeden Fall eine unzuverlässige Erzählerin, die sich ihre Erinnerungen nach Gutdünken zurechtbog. Sie zog es vor, ein gefälliges Bild von sich zu zeichnen. Den Höhepunkt beim alljährlichen Ball des Verdi Club bildete immer ein Auftritt der Präsidentin im Gewand einer großen historischen oder mythologischen Frauenfigur. In einem Jahr verkleidete sie sich als Engel der Inspiration, Flügel inklusive. In einem anderen präsentierte sie sich stolz in der Rüstung der Brünnhilde, der Wagner’schen Walküre. Das Bild suggerierte betörende Stärke. Doch was verbarg sie hinter dem ehrfurchtgebietenden Brustharnisch?
Dass eine historische Figur grundsätzlich nur schwer zu fassen ist, öffnet Tür und Tor für Spekulationen. Überall da, wo es keinen letztendlichen Schlüssel zum Innenleben eines Mysteriums gibt, finden sich Schriftsteller, Filmemacher und Maler in Scharen zusammen wie durstige Herden an einer Wasserstelle. Zunehmend trifft das auch auf Florence zu. Es gibt mehrere Theaterstücke über sie, und jedes neue fand mehr Aufmerksamkeit als das davor. Das erste war Terry Sneeds Precious Few, das 1994 in Little Rock, Arkansas, uraufgeführt wurde. Charles Fouries Goddess of Song kam 1999 in Kapstadt auf die Bühne. Ihre Geschichte brachte es sogar bis zum Edinburgh Festival, wo 2001 das Stück Viva La Diva von Chris Ballance zu sehen war. 2005 schaffte es Florence an den Broadway in Stephen Temperleys Souvenir. Im gleichen Jahr feierte Glorious! von Peter Quilter seine Premiere im Londoner West End. Seither wurde es in mehr als vierzig Ländern aufgeführt und in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt.
Jetzt verschafft eine filmische Hommage dem Namen Florence Foster Jenkins eine größere Aufmerksamkeit, als ihm jemals zuvor zuteilwurde. Das Drehbuch von Nicholas Martin, das sich auf die krönenden letzten Jahre ihrer musikalischen Odyssee konzentriert, hat das Interesse einiger der größten Stars der Filmwelt geweckt. Meryl Streep, die schon mehr Oscar-Nominierungen auf sich vereinigt als jeder andere Schauspieler (neunzehn, Tendenz steigend, von denen sie drei auch gewonnen hat), verkörpert mit viel Charme eine unerschütterliche Frau, die unbekümmert über die vielen Hürden auf ihrem Weg hinwegsieht – und -hört. Ihre Florence verleiht der Welt ein freundlicheres Gesicht. Hugh Grant gibt die anrührendste Darstellung seiner bisherigen Karriere als der lässige-elegante und doch auch empfindsame St. Clair Bayfield. Der Film besticht zudem durch einen ungemein fesselnden Auftritt von Simon Helberg als Cosmé McMoon. Regie führt Stephen Frears, der mit Gefährliche Liebschaften, Die Queen und Philomena bereits faszinierende Frauenstudien auf die Leinwand gebracht hat. Madame Jenkins wäre begeistert von so viel Aufmerksamkeit.
Es ist ungewöhnlich – wenn nicht sogar beispiellos –, dass eine Biografie und ein Biopic im Doppelpack erscheinen. Florence Foster Jenkins scheint sich dafür hervorragend zu eignen, da sie mit einer grandiosen Begabung zur Selbstinszenierung ausgestattet war. Nach Art aller guten Filme macht Florence Foster Jenkins aus den Fakten einen unterhaltsamen Zeitvertreib, der sich an der komischen und arglosen Seite ihrer Persönlichkeit erfreut. Das Drehbuch spielt auf viele von Florence’ liebenswerten Verschrobenheiten an – beispielsweise ihre Sammlung von Esszimmerstühlen, auf denen angeblich berühmte Amerikaner gestorben waren, ihre krankhafte Angst vor spitzen Gegenständen oder den unbegrenzten Vorrat an Kartoffelsalat, den sie, wenn sie Gäste hatte, in ihrer Badewanne bereithielt. Im Verlauf der Handlung lässt Nicholas Martins Drehbuch auch viele der Nebendarsteller in ihrem Leben auftreten: Carlo Edwards, der ihr heimlich Gesangsunterricht erteilte, Kathleen, die Geliebte von St. Clair Bayfield, und Earl Wilson, der Verfasser jener Carnegie-Hall-Kritik am Morgen danach. Sogar der große Maestro Toscanini hat einen Gastauftritt, ebenso wie Tallulah Bankhead, die es, zumindest im Film, tatsächlich in die Carnegie Hall geschafft hat.
Während die Kinobesucher Florence auf der Leinwand entdecken, möchte diese Biografie zurückspulen an den Anfang und die Verwicklungen eines ungewöhnlichen Lebens entwirren, das sich den Augenblick der größten Dramatik bis zum Schluss aufgespart hat.
Florence Foster Jenkins – Der Film
Bildnachweis
Florence Foster Jenkins Filmfotos:
© Pathé Productions Limited, 2016