Das Buch
Kaum hat Penryn ihre kleine Schwester Paige aus dem Hauptquartier der Engel in San Francisco gerettet, wird diese erneut entführt – dieses Mal von einer Gruppe fanatischer Rebellen. Der Versuch, sie zu befreien, misslingt: Es gibt Tote, Penryns labile Mutter ist verzweifelt und Paige selbst bleibt spurlos verschwunden. Und so muss sich Penryn in den rauchenden Trümmern der Stadt erneut auf die Suche nach ihrer kleinen Schwester machen. Dabei findet sie heraus, welch finstere Pläne die Engel auf der Erde wirklich verfolgen. Penryns letzte Hoffnung ist der gefallene Engel Raffe, der jedoch vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens steht: Soll er versuchen, seine Flügel zurückzubekommen, und seinen rechtmäßigen Platz in den Reihen der Erzengel einnehmen, oder soll er Penryn – dem Mädchen, das sein Herz berührt hat – helfen, die Pläne der Engel zu vereiteln und die kleine Paige zu retten?
Die Autorin
Susan Ee war zunächst Anwältin, bevor sie beschloss, ihre Leidenschaft für die Literatur zu ihrem Beruf zu machen. Sie studierte Kreatives Schreiben in Stanford, nahm an zahlreichen Workshops teil und arbeitet nun als Autorin und Filmemacherin. Sie lebt in San Francisco, Kalifornien. Von Susan Ee ist im Wilhelm Heyne Verlag bereits erschienen: Angelfall – Nacht ohne Morgen.
Mehr über die Autorin und ihre Romane erfahren Sie auf:
www.susanee.com
SUSAN EE
ANGELFALL
TAGE DER DUNKELHEIT
ROMAN
AUS DEM AMERIKANISCHEN VON
SONJA REBERNIK-HEIDEGGER
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe
ANGELFALL – WORLD AFTER
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Deutsche Erstausgabe 02/2017
Redaktion: Diana Mantel
Copyright © 2013 by Feral Dream LLC
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von solarseven/shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-15292-5
V002
www.heyne.de
Dieses Buch ist meinen Leserinnen und Lesern gewidmet.
Danke, dass ihr Gefallen an meinen Geschichten findet.
1
Alle glauben, ich sei tot.
Ich liege mit dem Kopf im Schoß meiner Mutter auf der offenen Ladefläche eines großen Lastwagens. Das Morgenlicht fällt auf die Sorgenfalten in ihrem Gesicht, und das Rumpeln des Motors lässt meinen regungslosen Körper vibrieren. Wir sind ein Teil der Widerstandskarawane. Ein halbes Dutzend Lastwagen, Vans und SUVs schlängelt sich durch die liegen gebliebenen Autos und hinaus aus San Francisco. Am Horizont hinter uns steht der Engelshorst nach dem Angriff der Widerstandsbewegung noch immer in Flammen.
Die Schaufenster der Läden entlang der Straße sind mit Zeitungspapier zugepflastert, die Schlagzeilen berichten vom großen Angriff der Engel. Ich muss sie nicht einmal lesen, um genau zu wissen, was dort steht. In der ersten Zeit nach den Angriffen, als die Journalisten noch über jede Einzelheit berichtet haben, haben alle diese Schlagzeilen regelrecht verschlungen:
PARIS IN FLAMMEN, NEW YORK ÜBERFLUTET, MOSKAU IN TRÜMMERN
WER ERSCHOSS GABRIEL, DEN BOTEN GOTTES?
ENGEL ZU SCHNELL FÜR RAKETENANGRIFFE
REGIERUNGSCHEFS VERWIRRT UND VERLOREN
DAS ENDE DER WELT
Wir fahren an drei glatzköpfigen Menschen vorbei, die sich in graue Laken gehüllt haben. Sie kleben fleckige, zerknüllte Flyer eines Weltuntergangskults an die Scheiben. Ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis sich alle Überlebenden entweder einer Straßengang, einem Kult oder der Widerstandsbewegung angeschlossen haben. Selbst das Ende der Welt hält uns scheinbar nicht von dem Wunsch ab, irgendwo dazuzugehören.
Die Mitglieder des Kults bleiben auf dem Bürgersteig stehen, um uns zu beobachten, während wir in unserem überfüllten Lastwagen an ihnen vorbeifahren.
Für sie sind wir vermutlich bloß eine gewöhnliche kleine Familie – eine verängstigte Mutter, ein dunkelhaariger Teenager und ein siebenjähriges Mädchen, die alle auf einer Feldliege auf der Ladefläche eines Lastwagens voller bewaffneter Männer sitzen. Zu jeder anderen Zeit hätten wir wohl wie drei verlorene Schafe in einem Wolfsrudel gewirkt, doch jetzt umgibt uns etwas, das die Menschen vermutlich als »Aura« bezeichnen würden.
Manche der Männer auf unserem Lastwagen tragen Tarnkleidung und Schusswaffen. Einige halten ihre Maschinengewehre noch immer in den Himmel gerichtet. Viele kommen frisch von der Straße und haben selbst gemachte Tattoos, wobei jede der absichtlich zugefügten Verbrennungen für einen Mord steht, den sie verübt haben.
Und trotzdem drängen sich diese Männer so weit wie möglich zusammen, um einen Sicherheitsabstand zu uns einzuhalten. Zu uns!
Seit wir vor einer Stunde aus dem explodierenden Engelshorst geflohen sind, schaukelt meine Mutter sanft vor und zurück und spricht in ihrer ganz eigenen, einem Singsang gleichenden Sprache mit sich selbst. Ihre Stimme hebt und senkt sich, als würde sie gerade eine erbitterte Diskussion mit Gott führen. Oder vielleicht auch mit dem Teufel, wer weiß das noch.
Eine Träne tropft von ihrem Kinn und fällt auf meine Stirn, und ich weiß, dass ihr gerade das Herz bricht. Und schuld daran bin ich, ihre siebzehnjährige Tochter, deren Aufgabe es war, sich um die Familie zu kümmern.
Ihrer Meinung nach bin ich bloß noch ein lebloser Körper, der ihr vom Teufel persönlich übergeben wurde. Sie wird den Anblick meines schlaffen Körpers in Raffes Armen und seine Dämonenschwingen vor dem Hintergrund des lodernden Feuers vermutlich nie mehr vergessen.
Ich frage mich, was sie wohl dazu sagen würde, wenn sie wüsste, dass Raffe eigentlich ein Engel ist, dem man durch eine Hinterlist Dämonenflügel angenäht hat. Wäre das so viel seltsamer als die Tatsache, dass ich eigentlich gar nicht tot bin, sondern nur gelähmt, nachdem ich von einem monströsen Skorpionengel gestochen wurde? Mom würde vermutlich denken, dass jemand, der solche Behauptungen aufstellt, genauso verrückt ist wie sie selbst.
Meine kleine Schwester sitzt wie erstarrt vor meinen Füßen. Ihre Augen blicken ins Leere, und sie hält den Rücken vollkommen gerade, obwohl der Lastwagen hin und her schaukelt. Es wirkt, als hätte Paige sich selbst abgeschaltet.
Die harten Männer auf unserem Truck werfen ihr immer wieder verstohlene Blicke zu wie kleine Jungen, die unter der Bettdecke hervorspähen. Paige sieht jetzt aus wie eine aufgeschnittene und wieder zusammengenähte Puppe aus einem Albtraum. Ich hasse den Gedanken an das, was ihr zugestoßen sein muss. Ein Teil von mir wünscht sich, er wüsste mehr darüber, während ein anderer froh ist, das nicht zu tun.
Ich atme tief ein. Früher oder später muss ich aufstehen. Was habe ich schon für eine andere Wahl, als mich irgendwann der Welt zu stellen. Mittlerweile bin ich vollkommen aufgetaut, und selbst wenn ich bezweifle, dass ich schon kämpfen oder überhaupt etwas tun könnte, sollte ich mich aber zumindest wieder bewegen können.
So vorsichtig es geht setze ich mich auf.
Ich nehme an, wenn ich mir die Sache vorher gründlicher überlegt hätte, hätte mich das darauffolgende Geschrei wohl nicht überraschen dürfen.
Die lautesten Schreie kommen von meiner Mutter. Ihre Muskeln spannen sich vor Schreck an, und sie reißt die Augen unglaublich weit auf.
»Ist schon okay«, sage ich. »Alles okay.« Ich lalle ein wenig, stelle aber dankbar fest, dass ich zumindest nicht wie ein Zombie klinge.
Die Situation wäre wohl lustig, würde sich nicht gerade ein durchaus ernster Gedanke in meinem Kopf breitmachen: In der Welt, in der wir jetzt leben, werden Freaks wie ich einfach getötet.
Beruhigend hebe ich die Hände. Ich rede einfach weiter, damit sich alle wieder einkriegen, doch meine Worte gehen in dem Geschrei unter. Offensichtlich greift Panik in einem so begrenzten Raum wie der Ladefläche eines Lastwagens besonders schnell um sich.
Die anderen Überlebenden drängen sich rempelnd ans hintere Ende. Einige sehen so aus, als würden sie jeden Moment von dem fahrenden Wagen springen.
Ein Soldat mit fettigen Pickeln im ganzen Gesicht richtet sein Gewehr auf mich und hält es dabei so fest umklammert, als hätte er furchtbare Angst davor, bald seinen ersten Mord zu begehen.
Ich habe die tiefgreifende Furcht, die uns alle gefangen hält, vollkommen unterschätzt. Diese Menschen haben alles verloren: ihre Familien, ihr Leben in Sicherheit, den Glauben an Gott.
Und jetzt streckt auch noch eine wiederauferstandene Leiche die Hände nach ihnen aus.
»Es geht mir gut«, erkläre ich so langsam und deutlich wie möglich. Ich sehe dem Soldaten in die Augen und versuche, ihn davon zu überzeugen, dass hier nichts Übernatürliches vor sich geht. »Ich bin am Leben.«
Einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, ob sich die Lage tatsächlich entspannen wird, oder ob sie mich, begleitet von einem Kugelhagel, einfach vom Lastwagen werfen werden. Ich trage noch immer Raffes Schwert am Rücken, versteckt unter meiner Jacke. Es gibt mir ein wenig Sicherheit, auch wenn es natürlich keine Gewehrkugeln abwehren kann.
»Kommt schon.« Ich bemühe mich, freundlich zu klingen und mich nur langsam zu bewegen. »Leute, ich war bloß bewusstlos. Das ist alles.«
»Du warst tot«, sagt der blasse Soldat, der aussieht, als sei er keinen Tag älter als ich.
Plötzlich schlägt jemand auf das Dach des Lastwagens.
Wir zucken alle zusammen, und ich habe Glück, dass der Soldat nicht versehentlich den Abzug drückt.
Das hintere Fenster gleitet auf, und Dei steckt seinen Kopf hindurch.
Er wirkt streng, doch mit seinen roten Haaren und den Kleine-Jungen-Sommersprossen kann man ihn einfach nicht allzu ernst nehmen. »Hey! Hände weg von dem toten Mädchen. Sie gehört dem Widerstand.«
»Genau«, dringt die Stimme seines Zwillingsbruders Dum aus dem Inneren der Fahrerkabine. »Wir müssen eine Autopsie und solche Sachen machen. Glaubst du, Mädchen, die von einem Dämonenprinzen getötet wurden, sind leicht zu finden?« Wie üblich kann ich die Zwillinge nicht auseinanderhalten, deshalb bezeichne ich einfach wahllos einen von ihnen als Dei und den anderen als Dum.
»Niemand bringt das tote Mädchen um«, erklärt Dei. »Ich rede mit dir, Soldat.« Er deutet auf den Kerl mit dem Gewehr und starrt ihn böse an. Man könnte meinen, dass Zwillinge, die wie zugedröhnte Versionen von Ronald McDonald aussehen und unter den Spitznamen Dideldum und Dideldei bekannt sind, nicht sehr autoritär wirken sollten. Aber irgendwie scheinen die beiden ein Talent dafür zu haben, von einem Moment auf den anderen von witzig auf absolut tödlich umzuschalten.
Zumindest hoffe ich, dass die Sache mit der Autopsie bloß ein Scherz war.
Der Lastwagen hält jetzt auf einem Parkplatz. Das lenkt die Aufmerksamkeit von mir ab, und wir sehen uns alle um.
Ich kenne das Lehmsteingebäude vor uns. Es ist zwar nicht meine frühere Schule, aber es ist eine Schule, die ich schon viele Male gesehen habe. Die Highschool von Palo Alto, liebevoll Paly High genannt.
Ein halbes Dutzend Lastwagen und SUVs hält auf dem Parkplatz davor. Der Soldat lässt mich nach wie vor nicht aus den Augen, doch er senkt zumindest sein Gewehr in einen 45-Grad-Winkel.
Viele Leute starren uns entgeistert an, als der Rest der kleinen Karawane auf dem Parkplatz zum Stehen kommt. Sie haben mich alle in den Armen des angeblichen Dämons gesehen, der eigentlich Raffe gewesen ist, und sie dachten alle, ich sei tot. Verlegen setze ich mich neben meine Schwester.
Einer der Männer streckt die Hand aus, um meinen Arm zu berühren. Vielleicht will er bloß nachsehen, ob ich warm bin wie ein lebendiger Mensch oder kalt wie eine Leiche.
Das ausdruckslose Gesicht meiner Schwester verändert sich von einem Moment auf den anderen, und sie verwandelt sich in ein knurrendes Tier, das nach dem Mann schnappt. Sie fletscht ihre rasiermesserscharfen Zähne und wirkt gleich noch bedrohlicher.
Sobald sich der Mann zurückzieht, erstarrt ihr Gesicht wieder und gleicht erneut dem einer Puppe.
Der Mann starrt uns an, und sein Blick wandert zwischen uns hin und her, während er Antworten auf Fragen sucht, die auch ich ihm nicht geben kann. Alle auf dem Parkplatz haben gesehen, was gerade passiert ist, und starren jetzt ebenfalls in unsere Richtung.
Willkommen in der Freak-Show.
2
Paige und ich sind es gewöhnt, angestarrt zu werden. Ich habe es früher so gut es ging ignoriert, während Paige die Gaffer immer von ihrem Rollstuhl aus anlächelte. Und diese lächelten fast immer zurück. Es war schwer, Paiges Charme zu widerstehen.
Früher einmal.
Unsere Mutter brabbelt schon wieder in ihrer eigenen Sprache vor sich hin. Dieses Mal sieht sie mich an, als würde sie mich anbeten, während sie ihren Singsang veranstaltet. Die kehligen Laute, die beinahe wie Worte klingen und tief aus ihrem Hals dringen, hallen über die gedämpften Geräusche der Menge. Mom schafft es hervorragend, selbst diesen dunklen Tag noch eine ordentliche Portion gruseliger zu machen.
»Okay, rücken wir aus«, erklärt Obi mit fester Stimme. Er ist mindestens einen Meter achtzig groß und hat breite Schultern und einen muskulösen Körper, doch es ist seine autoritäre Ausstrahlung, die ihn als Anführer der Widerstandsbewegung auszeichnet. Alle sehen und hören ihm zu, während er an den Lastwagen und SUVs vorbeischreitet wie ein echter Militäroffizier in einem Kriegsgebiet. »Räumt die Lastwagen und lauft ins Gebäude. Haltet euch so gut wie möglich vom offenen Himmel fern.«
Das verlagert die Aufmerksamkeit auf andere Dinge, und die Leute beginnen, von den Lastwagen zu springen. Sie schubsen und drängen einander zur Seite, so eilig haben sie es, von uns fortzukommen.
»Fahrer«, ruft Obi. »Sobald die Lastwagen leer sind, verteilt ihr die Fahrzeuge und parkt sie in Reichweite. Versteckt sie zwischen den liegen gebliebenen Autos oder irgendwo, wo sie von oben nicht gleich zu entdecken sind.« Er wandert durch den Strom an Überlebenden und Soldaten und gibt den Menschen, die ohne ihn verloren wären, Halt und Sinn.
»Ich will nicht, dass es irgendwelche Hinweise darauf gibt, dass dieses Gebiet hier bewohnt ist. Innerhalb eines Umkreises von zwei Kilometern darf nichts entsorgt oder entladen werden.« Obi hält inne, als er Dei und Dum sieht, die nebeneinander stehen und uns anstarren.
»Meine Herren«, meint Obi, und Dei und Dum lösen sich aus ihrer Starre und sehen zu ihm hinüber. »Zeigt den neuen Rekruten, wo sie hinmüssen und was sie zu tun haben.«
»Jawohl«, erwidert Dei und salutiert vor Obi wie ein grinsender kleiner Junge.
»Neulinge!«, ruft Dum. »Alle, die nicht wissen, was sie tun sollen, folgen uns bitte!«
»Kommt mit, Leute«, sagt Dei.
Ich vermute, damit sind wohl auch wir gemeint. Steif erhebe ich mich und greife automatisch nach meiner Schwester, doch dann halte ich inne, als wäre ein Teil von mir plötzlich der Meinung, sie sei ein gefährliches Tier. »Komm, Paige.«
Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich tun soll, falls sie sich nicht bewegt. Aber sie steht auf und folgt mir. Keine Ahnung, ob ich mich jemals an den Anblick gewöhnen werde, dass sie jetzt auf ihren eigenen zwei Beinen stehen kann.
Mom folgt uns ebenfalls, doch sie hört nicht auf mit ihrem Sprechgesang. Im Gegenteil, er wirkt sogar noch lauter und eindringlicher als jemals zuvor.
Wir reihen uns in den Strom der Neuankömmlinge ein und folgen den Zwillingen.
Dum geht verkehrt herum, um mit uns zu reden. »Wir begeben uns nun zurück in unsere Highschool-Zeit, wo unsere Überlebensinstinkte am ausgeprägtesten waren.«
»Wenn ihr das Bedürfnis verspürt, Graffiti an die Wände zu sprühen oder euren alten Mathelehrer zu verprügeln«, meint Dei, »dann macht es dort, wo euch die Vögel nicht sehen können.«
Wir gehen am Hauptgebäude aus Lehmstein vorbei. Von der Straße aus wirkt die Schule trügerisch klein, doch hinter dem vordersten Gebäude befindet sich ein ganzer Campus aus modernen Bauten, die durch überdachte Fußwege miteinander verbunden sind.
»Falls ihr verletzt seid, nehmt bitte in diesem Klassenzimmer Platz.« Dei öffnet die nächstgelegene Tür und wirft einen Blick in den Raum dahinter. Es ist ein Klassenzimmer mit einem Skelett, das von einem Ständer baumelt. »Der Knochenmann hier leistet euch Gesellschaft, während ihr auf den Arzt wartet.«
»Und falls ihr ein Arzt seid«, ergänzt Dum, »dann warten hier eure Patienten auf euch.«
»Gibt es außer uns noch andere, oder sind wir alles, was übrig ist?«, frage ich. »Sind wir die einzigen Überlebenden?«
Dei wirft einen Blick auf Dum. »Dürfen Zombie-Mädchen Fragen stellen?«
»Nur wenn sie süß sind und bereit, mit anderen Zombie-Mädchen Schlammcatchen zu veranstalten.«
»Vollkommen richtig.«
»Das ist doch abartig.« Ich werfe ihnen einen Seitenblick zu, bin aber insgeheim froh, dass sie nicht in Panik geraten sind, nachdem ich von den Toten auferstanden bin.
»Die verfaulten Zombies haben wir nicht eingesammelt, Penryn. Bloß solche wie dich, die noch frisch sind.«
»Bloß die mit zerrissenen Klamotten und so …«
»Und hungrig nach Brüüüüsten …«
»Er meint nach Gehirnen …«
»Ja, genau das habe ich gemeint.«
»Könntet ihr bitte ihre Frage beantworten?«, fragt ein junger Kerl mit einer Brille, die nicht einmal einen Sprung hat. Er sieht nicht aus, als wäre er zum Scherzen aufgelegt.
»Klar«, erwidert Dei und wird plötzlich ernst. »Das hier ist unser Treffpunkt. Die anderen werden bald zu uns stoßen.«
Wir gehen im inzwischen schwachen Sonnenlicht weiter, und der Kerl mit der Brille landet schließlich am Ende der Truppe.
Dum lehnt sich zu Dei hinüber und flüstert ihm so laut zu, dass sogar ich es noch hören kann: »Wie viel wettest du, dass der Typ der Erste ist, der bei unserem Zombie-Mädchen-Wettkampf seine Wette platziert?«
Sie grinsen sich gegenseitig an und ziehen abwechselnd die Augenbrauen hoch.
Der kühle Oktoberwind dringt durch meine Bluse, und ich kann nicht anders, als hinauf in den Himmel zu blicken, auf der Suche nach einem ganz besonderen Engel mit Fledermausflügeln und einem abgeschmackten Sinn für Humor. Dabei komme ich fast vom Weg ab, streife mit dem Fuß durch das wuchernde Gras außerhalb des Weges und zwinge mich, den Blick abzuwenden.
Einer der Schaukästen in diesem Gang ist voll mit Postern und Aushängen zu bestimmten Collegezugangsbestimmungen. In einem anderen befinden sich Regale mit selbst gemachten Kunstwerken der früheren Schüler. Ton-, Holz- und Pappmachéfiguren in allen Farben und Formen nehmen jeden Zentimeter des Regals ein. Einige von ihnen sehen so gut aus, dass mich der Gedanke, dass diese Kinder lange, lange Zeit keine Kunst mehr anfertigen werden, irgendwie traurig macht.
Während wir durch die Schule wandern, achten die Zwillinge stets darauf, hinter mir und meiner Familie zu bleiben. Und ich lasse mich etwas zurückfallen, weil ich denke, es wäre vielleicht keine schlechte Idee, Paige vor mir zu haben, um sie im Auge zu behalten. Sie geht ganz steif, als wäre sie es noch nicht gewöhnt, ihre Beine zu benutzen. Ich bin es weiterhin noch nicht gewohnt, sie so zu sehen, und ich kann nicht aufhören, die primitiven Operationsnähte, die sich über ihren ganzen Körper ziehen, anzustarren, denn durch diese sieht sie aus wie eine Voodoo-Puppe.
»Das ist also deine Schwester?«, fragt mich Dei leise.
»Ja.«
»Die, für die du dein Leben riskiert hast?«
»Ja.«
Die Zwillinge nicken höflich, wie Menschen, die nichts Beleidigendes sagen wollen.
»Ist eure Familie denn um so viel besser?«, frage ich.
Dei und Dum werfen einander einen abschätzenden Blick zu.
»Neee …«, antwortet Dei.
»Nicht wirklich«, meint Dum zugleich.
Unser neues Zuhause ist ein Klassenraum, der früher für den Geschichtsunterricht gedacht war. Die Wände sind bedeckt mit Zeittafeln und Postern zur Geschichte der Menschheit. Man sieht darauf Mesopotamien, die großen Pyramiden von Gizeh, das osmanische Reich, die Ming-Dynastie. Und eine Tafel handelt vom Schwarzen Tod.
Mein Geschichtslehrer hatte uns erzählt, dass die Pest damals dreißig bis sechzig Prozent der europäischen Bevölkerung ausgelöscht hat. Er bat uns, uns vorzustellen, wie es wäre, wenn sechzig Prozent unserer Mitmenschen nicht mehr existieren würden. Damals konnte ich mir das einfach nicht vorstellen. Es kam mir so surreal vor.
Einen seltsamen Gegensatz zu all den altertümlichen Geschichtspostern bietet das Bild eines Astronauten auf dem Mond, hinter dem die blaue Erde emporsteigt. Eigentlich musste ich früher jedes Mal, wenn ich unseren blau-weißen Planeten im All auf einem Foto gesehen habe, daran denken, dass er die schönste Welt im ganzen Universum sein muss.
Doch auch das erscheint mir mittlerweile surreal.
Draußen biegen gerade noch mehr Lastwagen rumpelnd auf den Parkplatz ein. Ich gehe zum Fenster hinüber, während Mom schon mal Tische und Stühle auf die eine Seite des Raumes schiebt. Als ich einen Blick aus dem Fenster werfe, sehe ich wieder einen der Zwillinge, der die benommenen Neuankömmlinge gerade wie der Rattenfänger von Hameln in die Schule führt.
Hinter mir sagt meine kleine Schwester plötzlich: »Hunger.«
Ich erstarre und schließe meine vielen schrecklichen Erinnerungen schnell in dem Tresor in meinem Kopf ein.
Im Fenster kann ich Paiges Spiegelbild sehen. Sie blickt zu Mom hoch wie ein ganz normales Kind, das nach seinem Abendessen verlangt. Doch in dem etwas krummen Glas wirkt ihr Kopf fast verzerrt, ihre Stiche treten deutlich hervor und ihre rasiermesserscharfen Zähne erscheinen noch viel länger.
Mom beugt sich nach unten und streicht ihrem Baby übers Haar. Dann beginnt sie, ein schauriges Lied zu summen, das sie immer anstimmt, wenn sie sich für etwas entschuldigen will.
3
Ich mache es mir auf einer Pritsche in der Ecke bequem. Dort liege ich mit dem Rücken zur Wand, sodass ich den ganzen Raum im Mondlicht sehen kann.
Meine kleine Schwester liegt auf einer Pritsche an der gegenüberliegenden Wand. Paige sieht unter der Decke und den überlebensgroßen historischen Figuren über ihr einfach winzig aus. Konfuzius, Florence Nightingale, Gandhi, Helen Keller, der Dalai Lama.
Wäre sie eine von ihnen geworden, wenn wir uns nicht im Krieg befänden?
Meine Mutter sitzt mit überkreuzten Beinen neben Paiges Pritsche und summt ihr Lied. Wir haben versucht, meiner Schwester die einzigen beiden essbaren Dinge zu geben, die ich in dem unorganisierten Chaos der ehemaligen Cafeteria auftreiben konnte, die sich bis morgen früh in eine Küche für alle verwandelt haben soll. Doch Paige konnte weder die Dosensuppe noch den Proteinriegel bei sich behalten.
Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht auf der Baumwollpritsche und versuche, eine Liegeposition zu finden, bei der sich der Griff meines Schwertes nicht in meine Rippen bohrt. Ich trage das Schwert immer bei mir, weil es die einfachste Möglichkeit ist zu verhindern, dass jemand es findet und bemerkt, dass ich die Einzige bin, die es hochheben kann. Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist, jemandem auch noch erklären zu müssen, wie ich an ein Engelsschwert gekommen bin.
Die Tatsache, dass ich mit einer Waffe schlafe, hat übrigens nichts damit zu tun, dass sich meine Schwester im selben Zimmer befindet. Absolut nichts.
Und es hat auch nichts mit Raffe zu tun. Es ist ja nicht so, dass dieses Schwert meine einzige Erinnerung an die Zeit mit ihm ist. Ich habe ja genug Schnitte und Blutergüsse, die mich an die Tage erinnern, die ich mit meinem Feind, dem Engel, verbracht habe.
Den ich vermutlich nie mehr wiedersehen werde.
Bis jetzt hat noch niemand nach ihm gefragt. Ich glaube, heutzutage ist es wohl normal, Weggefährten aus den Augen zu verlieren.
Schnell verdränge ich die Gedanken an ihn und schließe die Augen.
Das Stöhnen meiner Schwester übertönt erneut Moms Summen.
»Schlaf jetzt, Paige«, sage ich. Und zu meiner Überraschung wird ihr Atem ruhiger, und sie entspannt sich. Ich atme ebenfalls tief durch und schließe erneut die Augen.
Das Summen meiner Mutter verklingt langsam.
Ich träume, dass ich mich erneut in dem Wald befinde, in dem das Massaker an den Soldaten stattgefunden hat. Dort stehe ich direkt vor dem alten Widerstandscamp, wo die Soldaten im Kampf gegen die niedrigen Dämonen gestorben sind.
Blut tropft von den Ästen und fällt wie Regentropfen auf die toten Blätter. In meinem Traum sind sämtliche Leichen verschwunden, und auch die wenigen überlebenden Soldaten, die sich verängstigt, Rücken an Rücken und mit ihren Gewehren nach außen aneinandergedrückt hatten, fehlen.
Ich sehe bloß eine blutgetränkte Lichtung.
Und in der Mitte steht Paige.
Sie trägt ein altmodisches, geblümtes Kleid, wie die Mädchen, die damals tot an dem Baum hingen, kurz nach dem Massaker. Paiges Haare und auch ihr Kleid triefen vor Blut. Ich bin mir nicht sicher, welcher Anblick schwerer zu ertragen ist. Das Blut oder die entzündeten Operationsnähte, die ihr Gesicht im Zickzack überziehen.
Sie streckt mir die Arme entgegen, als würde sie von mir erwarten, dass ich sie hochhebe, obwohl sie mittlerweile sieben Jahre alt ist.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Schwester nicht an dem Massaker beteiligt war, aber jetzt steht sie dennoch mittendrin. Irgendwo im Wald höre ich meine Mutter: »Sieh ihr in die Augen. Sie sind wie früher.«
Aber ich kann nicht. Ich kann sie überhaupt nicht ansehen. Ihre Augen sind nicht dieselben. Das ist unmöglich.
Schnell wende ich mich ab und laufe vor ihr davon.
Tränen strömen über meine Wangen, während ich vor dem so fremden Mädchen weglaufe und in den Wald hineinbrülle: »Paige!« Meine Stimme bricht. »Ich komme! Halte durch! Ich bin gleich bei dir.«
Doch die einzige Spur von meiner Schwester ist das Rascheln der verwelkten Blätter, als mir die neue Paige wie ein Schatten durch den Wald folgt.
4
Ich wache auf, als ich höre, wie meine Mutter etwas aus der Tasche ihres Pullovers kratzt. Sie legt es auf das Fensterbrett, auf das bereits das Morgenlicht fällt. Es sind mehrere zerbrochene Eierschalen voll gelblich-braunem Glibber. Mom geht sehr sorgfältig vor und versucht, jeden einzelnen ekligen stinkenden Tropfen auf dem Fensterbrett zu verteilen.
Paige atmet ruhig, und es klingt, als würde sie noch einige Zeit schlafen. Ich versuche, den letzten Rest meines Traumes abzuschütteln, doch ein kleiner Hauch bleibt zurück.
Jemand klopft an die Tür.
Sie öffnet sich, und einer der beiden sommersprossigen Zwillinge späht in unser Klassenzimmer. Ich weiß nicht, welcher es ist, also nenne ich ihn einfach Dei-Dum. Er rümpft angewidert die Nase, als er die faulen Eier riecht.
»Obi will dich sehen. Er hat ein paar Fragen an dich.«
»Super«, erwidere ich verschlafen.
»Komm schon. Das wird lustig.« Er wirft mir ein übermäßig breites Lächeln zu.
»Was, wenn ich nicht mitkommen will?«
»Ich mag dich, Kind«, sagt er. »Du bist eine echte Rebellin.« Er lehnt sich gegen den Türrahmen und nickt anerkennend. »Aber um ehrlich zu sein, ist hier niemand verpflichtet, dir etwas zum Essen und ein Dach über dem Kopf zu geben, dich zu beschützen und nett zu dir zu sein. Dich wie ein menschliches Wesen zu behandeln …«
»Okay, okay. Ich hab’s verstanden.«
Ich stemme mich aus dem Bett hoch und bin froh, dass ich in meinem T-Shirt und den Shorts geschlafen habe. Dann fällt mein Schwert allerdings mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. Ich hatte vergessen, dass ich es mit unter die Decke genommen hatte.
»Psst! Du weckst Paige auf!«, flüstert meine Mutter.
Paige öffnet tatsächlich von einem Moment auf den anderen die Augen. Sie liegt da wie eine Leiche und starrt zur Decke.
»Nettes Schwert«, meint Dei-Dum etwas zu lässig.
In meinem Kopf beginnen die Alarmglocken zu schrillen. »Fast so gut wie ein Viehtreiber.« Ich erwarte beinahe, dass Mom gleich mit dieser Art von Elektroschocker auf Dei-Dum zielt, doch ihr Viehtreiber hängt weiterhin unschuldig an ihrem Bettgestell.
Noch mehr schlechtes Gewissen überkommt mich, als mir klar wird, dass ich froh bin, dass Mom den Viehtreiber hat, falls sie sich verteidigen muss. Gegen … andere Menschen.
Mehr als die Hälfte der Leute hier trägt irgendeine Art behelfsmäßiger Waffe. Das Schwert gehört sicher zu den besseren, und ich bin froh, dass ich nicht erklären muss, warum ich es bei mir trage. Aber etwas an ihm scheint mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als mir lieb ist. Ich hebe es hoch und stecke es in meinen Schulterholster, um Dei-Dum nicht auf die Idee zu bringen, damit herumzuspielen.
»Hat es einen Namen?«, fragt Dei-Dum.
»Wer?«
»Dein Schwert«, erwidert er, als wollte er sagen: Was denn sonst?
»Oh, bitte. Nicht du auch noch.« Ich durchsuche den Haufen zufällig zusammengewürfelter Klamotten, die meine Mom gestern Abend noch zusammengesucht hat. Sie hat auch eine ganze Ladung leere Limo-Flaschen und anderen Müll von weiß Gott woher mitgebracht, aber ich würdige diesen Haufen keines Blickes.
»Ich kannte einmal einen Kerl mit einem Katana.«
»Mit einem was?«
»Einem japanischen Samurai-Schwert. Wunderschön.« Er legt sich eine Hand auf die Brust, als wäre er verliebt. »Er nannte es sein Lichtschwert. Ich hätte meine Großmutter dafür verkauft.«
Ich nicke, als wäre das nur allzu verständlich.
»Darf ich deinem Schwert einen Namen geben?«
»Nein.« Ich ziehe eine Jeans heraus, die mir vielleicht passen könnte, und finde eine Socke dazu.
»Warum nicht?«
»Weil es schon einen Namen hat.« Ich durchwühle den Klamottenhaufen auf der Suche nach der zweiten Socke.
»Und der wäre?«
»Pooky.«
Sein freundliches Gesicht wird plötzlich ernst. »Du nennst dieses Sammlerstück, dieses geile Schwert, das dazu gemacht wurde, zu verstümmeln und zu töten und deine riesenhaften Feinde vor dir auf die Knie sinken zu lassen, während ihre Frauen wehklagend danebenstehen, ausgerechnet … Pooky? Wie Garfields Teddybär?«
»Ja. Gefällt dir der Name?«
»Selbst Witze darüber zu machen ist schon ein Verbrechen. Das weißt du doch, oder? Ich versuche echt, hier nie negative Kommentare über euch Mädchen fallen zu lassen, aber du machst es mir nicht gerade leicht.«
»Ja, du hast recht.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich sollte es vielleicht Toto oder Fossy taufen. Was meinst du?«
Er wirft mir einen Blick zu, als wäre ich noch verrückter als meine Mom. »Ist das dein Ernst? Hast du vielleicht auch noch einen Schoßhund in deinem Schwertschaft?«
»Nein, aber ich frage mich gerade ernsthaft, ob ich mir vielleicht einen pinkfarbenen Schaft für Pooky zulegen soll. Vielleicht mit kleinen Glitzersteinchen? Was? Wäre das zu übertrieben?«
Dei-Dum verlässt kopfschüttelnd das Zimmer.
Er ist viel zu leicht aus der Fassung zu bringen. Ich lasse mir Zeit beim Anziehen und Fertigmachen, bevor ich Dei-Dum folge.
Der Flur ist voller Menschen.
Zwei Männer mittleren Alters tauschen dort eine Feder gegen eine Packung verschreibungspflichtiger Medikamente. Drogenhandel in der Neuen Welt eben. Ein anderer Mann zeigt etwas herum, das wie ein kleiner Finger aussieht, zieht ihn aber sofort zurück, als ein Kerl ihn anfassen möchte. Sie beginnen flüsternd zu diskutieren.
Zwei Frauen gehen mit ein paar Dosen Suppe an mir vorbei, die sie so ehrfürchtig tragen, als enthielten sie pures Gold. Sie werfen den anderen nervöse Blicke zu, während sie sich durch den Flur drängen. Neben dem Haupteingang stehen einige Kerle mit frisch rasierten Köpfen und kleben Flyer eines Weltuntergangskults an die Wände.
Draußen weht der Wind den herumliegenden Müll auf irgendwie gespenstische Weise durch das hohe Gras. Jeder, der vom Himmel auf das Gebäude herunterblicken würde, würde annehmen, dass es genauso verlassen ist wie alle anderen.
Dei-Dum erzählt mir, dass bereits Witze darüber gemacht werden, dass die Führungsetage des Widerstands ausgerechnet das Lehrerzimmer und Obi das Büro des Rektors in Beschlag genommen hat. Wir gehen um den Innenhof herum zu Obis Lehmgebäude im Kolonialstil und bleiben dabei immer auf dem überdachten Weg, auch wenn das bedeutet, dass wir einen Umweg machen müssen.
Im Foyer und in den Fluren des Hauptgebäudes geht es sogar noch hektischer zu als bei uns, doch die Leute hier wirken, als hätten sie ein Ziel vor Augen. Ein Kerl eilt den Flur hinunter und zieht dabei ein Bündel Kabel hinter sich her. Mehrere Leute tragen Tische und Stühle von einem Raum in den anderen.
Ein Teenager schiebt einen Wagen voller Sandwiches und Wasserkrüge herum. Die Menschen, an denen er vorbeifährt, greifen nach dem Essen und den Getränken, als hätten sie das Recht dazu, sobald sie in diesem Gebäude arbeiten.
Dei-Dum schnappt sich zwei Sandwiches und reicht mir eines davon. Und von einem Moment auf den anderen gehöre ich damit auch zum inneren Kreis.
Ich schlinge mein Frühstück hinunter, ehe noch jemand einwenden kann, dass ich hier eigentlich nichts verloren habe. Doch dann verschlucke ich mich beinahe an einem Bissen, denn mir wird plötzlich etwas bewusst.
Die Läufe der Pistolen in diesem Gebäude sind ungewöhnlich lang. Sie sehen aus wie die Schalldämpfer, die Auftragsmörder in Filmen immer auf ihre Waffen schrauben.
Falls uns die Engel angreifen, spielt Lärm keine Rolle mehr, denn sie wissen dann ohnehin bereits, wo wir uns aufhalten. Falls wir hingegen einander erschießen wollten …
Das Essen in meinem Mund schmeckt plötzlich wie kaltes, schleimiges Dosenfleisch, und das Brot wirkt steinhart. Es ist nicht mehr der köstliche Leckerbissen, der es noch vor einem Moment war.
Dei-Dum drückt eine Tür auf.
»… Scheiße gebaut«, erklingt eine männliche Stimme aus dem Inneren des Raumes.
Ich sehe mehrere Tischreihen, hinter denen Menschen vor ihren Computern sitzen und vollkommen auf die Bildschirme fixiert sind. Seit den Angriffen habe ich so etwas nicht mehr gesehen. Einige von ihnen geben mit ihren Brillen und den Teufelshörner-Tattoos der Gangs ein ziemlich schräges Bild ab.
Noch mehr Menschen bauen gerade weitere Computer in den hinteren Reihen auf und rollen große TV-Bildschirme vor die Tafel. Es sieht aus, als hätte der Widerstand eine zuverlässige Stromquelle gefunden, zumindest für diesen einen Raum.
Im Zentrum des Geschehens sehe ich Obi. Mehrere Leute haben sich ihm an die Fersen geheftet und erwarten scheinbar seine Zustimmung zu ihren Anliegen. Überhaupt scheinen viele der Menschen im Raum ihn ständig im Auge zu behalten, während sie sich nebenbei auf ihre Arbeit konzentrieren.
Neben Obi steht Boden. Seine Nase ist nach unserer kleinen Schulhof-Schlägerei vor ein paar Tagen noch immer geschwollen und blutig. Vielleicht redet er jetzt das nächste Mal mit anderen, als wären sie tatsächlich menschliche Wesen, anstatt sie niederzumachen, selbst wenn es sich um zierliche Mädchen wie mich handelt, die scheinbar einfache Ziele abgeben.
»Wir haben unsere Pläne angepasst und keine Scheiße gebaut«, erklärt Boden. »Und auf keinen Fall war es ein verdammtes ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹! Wie oft muss ich dir das noch erklären?«
Verblüffenderweise steht neben der Tür sogar ein Korb mit Schokoriegeln. Dei-Dum nimmt zwei heraus und gibt mir einen. Als ich den Snickers-Riegel in meiner Hand spüre, weiß ich, dass ich mich nun im Allerheiligsten befinde.
»Einfach einen Frühstart hinzulegen, ist keine Anpassung der vorgegebenen Pläne, Boden«, sagt Obi, während er einen Blick auf ein Dokument wirft, das ihm ein mürrisch wirkender Soldat hinhält. »Wir können keine Militäraktion durchführen, bei der ein einfacher Fußsoldat mal eben beschließt, den Zeitplan über den Haufen zu werfen, bloß weil er seinen Mund nicht halten konnte und sämtliche Details ausgeplaudert hat. Jeder Flüchtling auf der Straße und jede Hotel-Nutte wusste Bescheid.«
»Aber es war nicht …«
»… deine Schuld«, ergänzt Obi. »Das weiß ich. Das hast du bereits bis zum Gehtnichtmehr wiederholt.« Obi wirft einen Blick in meine Richtung, während er mit dem Nächsten in der Reihe spricht.
Nachdem ich einmal abgebissen und den Geschmack des Schokoriegels einen Moment lang genossen habe, lasse ich den Rest davon in meine Tasche gleiten. Vielleicht kann ich später Paige dazu bringen, davon zu essen.
»Du kannst gehen, Boden.« Obi bedeutet mir, zu ihm zu kommen.
Boden knurrt mich an, als er an mir vorbeigeht.
Obi grinst. Die Frau, die als Nächstes an der Reihe gewesen wäre, mustert mich mit mehr als bloß mit professionellem Interesse.
»Schön, dass du noch am Leben bist, Penryn«, sagt Obi.
»Schön, noch am Leben zu sein«, erwidere ich. »Ist heute Kinoabend?«
»Wir installieren gerade ein ferngesteuertes Überwachungssystem in der Bay Area«, erklärt Obi. »Es zahlt sich aus, so viele Genies hierzuhaben, die das Unmögliche wieder möglich machen.«
Jemand in der letzten Reihe ruft: »Kamera fünfundzwanzig ist online.« Die anderen Programmierer tippen weiter in ihre Computer, aber ich kann ihre Aufregung spüren.
»Wonach sucht ihr?«, frage ich.
»Nach allem, was von Interesse ist«, erwidert Obi.
»Ich hab’ etwas!«, schreit ein Programmierer von hinten. »Engel im Sunnyvale auf dem Lawrence Expressway.«
»Zeig es auf dem großen Schirm«, befiehlt Obi.
Und einer der großen Fernsehbildschirme vorne im Klassenzimmer erwacht zum Leben.
5
Der Bildschirm geht an.
Ein Engel mit blauen Flügeln stolziert durch die Trümmer einer verlassenen Straße. Ein gewaltiger, gezackter Riss verläuft in der Mitte der Straße, sodass eine Seite höher ist als die andere.
Ein weiterer Engel landet hinter dem ersten, dann zwei weitere. Sie sehen sich um und gehen dann aus dem Bild.
»Kannst du die nächste Kamera anmachen?«
»Diese nicht, tut mir leid.«
»Ich hab noch eine«, ruft ein Programmierer zu meiner Rechten. »Das ist die vom Flughafen.«
»Zeig sie auch auf einem großen Bildschirm«, befiehlt Obi.
Ein weiterer Bildschirm vor der Tafel erwacht zum Leben.
Ein Engel eilt halb humpelnd, halb laufend die Straße entlang. Einer seiner weißen Flügel hängt seltsam hinunter und schleift hinter ihm her.
»Oh, ein verletztes Vögelchen«, ruft jemand hinter mir mit aufgeregter Stimme.
»Wovor läuft er davon?«, sagt Obi beinahe wie zu sich selbst.
Die Kamera hat Probleme mit dem Bild. Es ist entweder zu hell oder zu dunkel. Schließlich stellt sich die Belichtung auf den hellen Hintergrund richtig ein, sodass der Engel nur noch ein dunkler Umriss ist und kaum Details zu erkennen sind.
Als er jedoch näher kommt und sich umdreht, um einen Blick auf seinen Verfolger zu werfen, erhalten wir einen guten Blick auf sein Gesicht.
Es ist Beliel, der Dämon, der Raffes Flügel gestohlen hat. Und er ist in keiner guten Verfassung. Ich frage mich, was wohl passiert ist?
Nur noch einer der gestohlenen Flügel scheint zu funktionieren. Er öffnet und schließt sich immer wieder, als würde er reflexartig versuchen zu fliegen, während der andere durch den Staub schleift. Ich hasse die Vorstellung, dass Raffes Flügel derart schlecht behandelt werden, während ich gleichzeitig versuche, nicht daran zu denken, was ich selbst mit ihnen angestellt habe.
Irgendetwas stimmt nicht mit Beliels Knie. Er humpelt und zieht das Knie nach, selbst wenn er zu laufen versucht. Zwar bewegt er sich immer noch schneller als ein verletzter Mensch, aber ich nehme an, dass er kaum auf die Hälfte seiner üblichen Geschwindigkeit kommt.
Selbst aus einiger Entfernung sehe ich einen leuchtend roten Streifen, der sich etwas oberhalb seiner Stiefel auf seiner weißen Hose ausbreitet. Es ist seltsam, dass der Dämon sich scheinbar dazu entschlossen hat, ausgerechnet Weiß zu tragen, aber vermutlich hat das etwas mit seinen neuen Flügeln zu tun.
Er nähert sich der Kamera und dreht sich erneut um, um hinter sich zu blicken. Ich höre sein vertrautes, höhnisches Lachen. Arrogant und wütend, aber dieses Mal außerdem eine Spur verängstigt.
»Wovor fürchtet er sich?«, stellt Obi die Frage, die ich mir auch schon die ganze Zeit stelle.
Beliel humpelt aus dem Bild, und wir sehen nur noch die verlassene Straße.
»Können wir uns ansehen, wer hinter ihm her ist?«, fragt Obi.
»Weiter lässt sich die Kamera nicht drehen.«
Einige Sekunden vergehen, und es scheint, als würde der ganze Raum den Atem anhalten.
Dann taucht Beliels Verfolger in seiner ganzen Pracht auf dem Bildschirm auf.
Dämonische Schwingen breiten sich über seinem Kopf aus. Licht fällt auf die glänzenden Widerhaken, die die Ränder seiner Flügel säumen, während er sein Opfer verfolgt.
»Jesus Christus«, stöhnt jemand hinter mir.
Der Verfolger scheint keine Eile zu haben, es wirkt fast so, als würde er jeden Augenblick genießen. Er hält den Kopf gesenkt, und seine Flügel werfen einen Schatten auf sein Gesicht, sodass er sogar noch schwerer zu erkennen ist als Beliel. Und im Gegensatz zu Beliel sieht er nicht nach hinten, damit wir ihn uns besser ansehen können.
Trotzdem erkenne ich ihn wieder. Selbst mit seinen neuen Dämonenschwingen.
Es ist Raffe.
Alles an ihm – sein Gang, seine aufgestellten Flügel, sein im Schatten liegendes Gesicht – entspricht dem perfekten Bild eines Teufels, der hinter seinem Opfer her ist.
Obwohl ich weiß, dass es sich um Raffe handelt, zieht sich mein Herz vor Angst zusammen, als ich ihn sehe.
Er wirkt so anders als der Raffe, den ich kennengelernt habe.
Erkennt Obi in ihm den Mann wieder, der bei mir war, als wir zum ersten Mal einen Fuß in das Widerstandslager gesetzt haben?
Vermutlich nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich Raffe wiedererkannt hätte, wenn ich seine neuen Flügel nicht schon einmal gesehen hätte, obwohl sich jedes Detail seines Gesichts und seines Körpers in mein Gedächtnis eingebrannt hat.
Obi wendet sich an seine Männer. »Scheint, als hätten wir den Jackpot geknackt. Ein humpelnder Engel und ein Dämon. Ich will, dass in zwei Minuten ein Jagdkommando in Richtung Flughafen aufbricht!«
Die Zwillinge sind auf den Beinen, bevor er seinen Befehl noch fertig ausgesprochen hat. »Das erledigen wir«, erklären sie einstimmig und laufen bereits auf die Tür zu.
»Los! Los! Los!« Ich habe Obi noch nie so aufgeregt erlebt.
Obi bleibt an der Tür stehen. »Penryn, komm mit uns. Du bist die Einzige, die schon einmal einen Dämon aus der Nähe gesehen hat.«
Sie glauben noch immer alle, dass mich ein Dämon zu meiner Familie zurückgetragen hat, als ich allem Anschein nach tot war.
Ich klappe den Mund zu, ehe ich ihnen noch gestehe, dass ich keine Ahnung von alldem habe.
Dann sprinte ich los, um die Truppe einzuholen, die eilig den Flur hinunterläuft.