Buch
Eine Flughafenbar in London. Es ist Abend, und Ted Severson wartet auf seinen Rückflug nach Boston, als eine attraktive Frau sich neben ihn setzt. Kurz darauf vertraut er der geheimnisvollen Fremden an, dass seine Frau ihn betrogen hat. Mit ihrer Reaktion jedoch hat er nicht gerechnet: Sie bietet ihm Hilfe an – beim Mord an seiner Ehefrau. Ein Trick? Ein morbider Scherz? Oder ein finsteres Rachespiel, das nur ein böses Ende nehmen kann …
Autor
Peter Swanson studierte am Trinity College, der University of Massachusetts in Amherst und am Emerson College in Boston. Er lebt mit seiner Frau und einer Katze in Somerville, Massachusetts, wo er an seinem nächsten Buch schreibt.
Peter Swanson
Die Gerechte
Thriller
Deutsch von Fred Kinzel
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Kind Worth Killing bei William Morrow, an Imprint of HarperCollins Publishers, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2015 by Peter Swanson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: text in form, Gerhard Seidl
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
AF · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16748-6
V003
www.blanvalet.de
Für meine Mutter, Elizabeth Ellis Swanson
TEIL EINS
Die Gesetze von Flughafenbars
Kapitel 1
TED
»Ja hallo«, sagte sie.
Ich blickte auf die blasse, sommersprossige Hand an der Lehne des freien Barstuhls neben mir in der Business Lounge von Heathrow Airport. Dann sah ich zum Gesicht der hochgewachsenen, schlanken Fremden hinauf.
»Kenne ich Sie?«, fragte ich. Sie kam mir nicht sonderlich bekannt vor, aber ihr amerikanischer Akzent, die frische weiße Bluse und die Designerjeans, die in kniehohen Stiefeln steckten, ließen mich an eine der schrecklichen Freundinnen meiner Frau denken.
»Nein, tut mir leid, ich habe nur gerade Ihren Drink bewundert. Darf ich?« Sie ließ sich auf dem ledergepolsterten Drehsessel nieder und legte ihre Handtasche auf die Theke. »Ist das Gin?«, fragte sie mit Blick auf den Martini vor mir.
»Hendricks«, sagte ich.
Sie winkte dem Barkeeper, einem jungen Kerl mit Igelfrisur und einem glänzenden Kinn, und bat um einen Hendricks mit zwei Oliven. Als der Drink kam, hob sie das Glas in meine Richtung.
Ich hatte noch einen Schluck übrig und sagte: »Auf die Schutzimpfung gegen Fernreisen.«
»Darauf trinke ich.«
Ich leerte das Glas und orderte einen neuen Drink. Sie stellte sich vor, es war ein Name, den ich sofort wieder vergaß. Und ich sagte ihr meinen – nur Ted und nicht Ted Severson, jedenfalls nicht sofort. Wir saßen in der übertrieben gepolsterten und beleuchteten Lounge von Heathrow, tranken, wechselten ein paar Bemerkungen und stellten fest, dass wir beide auf denselben Direktflug nach Boston warteten. Sie zog einen schmalen Taschenbuchroman aus ihrer Handtasche und begann zu lesen. Es erlaubte mir, sie richtig anzusehen. Sie war sehr schön – langes rotes Haar, Augen von einem leuchtenden Grünblau wie ein tropisches Gewässer und eine Haut so blass, dass sie fast den bläulichen Ton von Magermilch hatte. Wenn sich in der Kneipe um die Ecke eine solche Frau neben dich setzt und dir Komplimente wegen der Wahl deines Drinks macht, bist du sicher, dass dein Leben gerade im Begriff ist, sich zu verändern. Doch in Flughafenbars gelten andere Regeln, denn hier zerstreuen sich deine Mittrinker bald darauf in alle Himmelsrichtungen. Und auch wenn diese Frau auf dem Weg nach Boston war, die Situation mit meiner Frau zu Hause erfüllte mich immer noch mit rasender Wut, und ich hatte während der ganzen Woche in England an nichts anderes denken können. Ich hatte kaum gegessen und kaum geschlafen.
Aus den Lautsprechern kam eine Durchsage, von der nur zwei Worte verständlich waren: Boston und verspätet. Ich sah auf die Anzeigetafel über den beleuchteten Regalen voller Spirituosen und beobachtete, wie unsere Abflugzeit um eine Stunde nach hinten verschoben wurde.
»Zeit für noch einen«, sagte ich. »Der geht auf mich.«
»Warum nicht?«, sagte sie, klappte ihr Buch zu und legte es mit der Titelseite nach oben neben ihre Handtasche auf die Theke. Die zwei Gesichter des Januars von Patricia Highsmith.
»Wie ist das Buch?«
»Nicht ihr bestes.«
»Es gibt nichts Schlimmeres als ein schlechtes Buch und eine lange Flugverspätung.«
»Was lesen Sie?«, fragte sie.
»Die Zeitung. Ich mag eigentlich keine Bücher.«
»Und was tun Sie dann auf Flügen?«
»Gin trinken. Morde planen.«
»Interessant.« Sie lächelte mich an, zum ersten Mal. Es war ein breites Lächeln, das eine Falte zwischen Oberlippe und Nase grub und den Blick auf makellose Zähne sowie einen Streifen rosa Zahnfleisch freigab. Als sie sich vorhin neben mich gesetzt hatte, hätte ich sie auf Mitte dreißig geschätzt, näher meinem eigenen Alter, aber jetzt ließen das Lächeln und die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken sie jünger wirken. Achtundzwanzig vielleicht. So alt wie meine Frau.
»Und ich arbeite natürlich, wenn ich fliege«, fügte ich hinzu.
»Was tun Sie beruflich?«
Ich erzählte ihr die Kurzfassung: dass ich Internet-Start-ups finanzierte und beriet. Was ich nicht erläuterte, war, wie ich den größten Teil meines Geldes machte – indem ich diese Firmen nämlich abstieß, sobald sie vielversprechend aussahen. Und ich verriet ihr auch nicht, dass ich es eigentlich nicht nötig hatte, in diesem Leben noch weiter zu arbeiten, da es mir als einem der wenigen Internetunternehmer der späten 1990er-Jahre gelungen war, auszusteigen und meine Aktien zu Geld zu machen, ehe die Blase platzte. Ich behielt das alles nur für mich, weil ich keine Lust hatte, darüber zu reden, nicht weil ich glaubte, meine neue Gefährtin könnte Anstoß daran nehmen oder das Interesse an mir verlieren. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, mich für das Geld, das ich verdiente, entschuldigen zu müssen.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte ich. »Was machen Sie?«
»Ich arbeite am Winslow College. Ich bin Archivarin.«
Winslow war ein Frauencollege in einer grünen Vorstadt gut dreißig Kilometer westlich von Boston. Ich fragte sie, was eine Archivarin tat, und sie erzählte mir vermutlich ihre eigene Kurzversion von ihrer Tätigkeit, nämlich dass sie Dokumente über das College sammelte und konservierte.
»Und Sie leben in Winslow?«, fragte ich.
»Ja.«
»Verheiratet?«
»Nein. Sie?«
Noch ehe sie es ausgesprochen hatte, sah ich, wie ihr Blick kurz zu meiner linken Hand huschte, um zu überprüfen, ob ich einen Ring trug. »Ja, leider«, sagte ich. Dann hielt ich die Hand in die Höhe, damit sie meinen leeren Ringfinger sah. »Und nein, es ist keine Gewohnheit von mir, meinen Ehering in Flughafenbars abzuziehen für den Fall, dass sich eine Frau wie Sie neben mich setzt. Ich hatte nie einen Ring. Ich kann das Gefühl am Finger nicht ausstehen.«
»Wieso leider?«, sagte sie.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Und unser Flug hat Verspätung.«
»Sie wollen wirklich etwas über mein verkommenes Leben erfahren?«
»Wie könnte ich dazu Nein sagen?«
»Wenn ich es Ihnen erzählen soll, brauche ich noch einen davon.« Ich hielt mein leeres Glas in die Höhe. »Sie?«
»Nein danke. Zwei sind mein Limit.« Sie streifte eine Olive mit den Zähnen vom Zahnstocher und biss darauf.
Ich erhaschte einen kurzen Blick auf ihre rosa Zungenspitze. »Ich sage immer, zwei Martinis sind zu viel, und drei sind nicht genug.«
»Das ist witzig. Hat nicht James Thurber dasselbe gesagt?«
»Von dem habe ich noch nie gehört«, sagte ich und grinste durchtrieben, wenngleich es mir ein wenig peinlich war, dass ich versucht hatte, ein berühmtes Zitat als mein eigenes auszugeben. Der Barkeeper stand plötzlich vor mir, und ich bestellte noch einen Drink. Die Haut um meinen Mund herum hatte das angenehm taube Gefühl angenommen, das man von Gin bekommt, und ich wusste, dass ich Gefahr lief, zu betrunken zu werden und zu viel zu erzählen, aber schließlich galten die Flughafenregeln, und auch wenn meine Mitreisende nur dreißig Kilometer von mir entfernt wohnte, hatte ich ihren Namen bereits vergessen, und es war wenig wahrscheinlich, dass ich ihr in meinem Leben noch einmal begegnen würde. Außerdem tat es gut, mit einer Fremden zu reden und zu trinken. Allein dadurch, dass ich es laut aussprach, löste sich etwas von der Wut in mir.
Also erzählte ich ihr meine Geschichte. Ich erzählte ihr, meine Frau und ich seien seit drei Jahren verheiratet und lebten in Boston. Ich erzählte ihr von der Woche im September im Kennewick Inn an der Südküste von Maine, wie wir uns in die Gegend verliebt und ein absurd überteuertes Grundstück am Meer gekauft hatten. Ich erzählte ihr, dass meine Frau einen Masterabschluss in etwas besaß, das sich Kunst und Soziale Arbeit nannte, und sich deshalb für qualifiziert gehalten habe, das Haus zusammen mit einem Architekturbüro zu entwerfen, und dass sie zuletzt den größten Teil ihrer Zeit in Kennewick verbracht habe, wo sie mit einem Bauunternehmer namens Brad Daggett zusammenarbeitete.
»Und Ihre Frau und Brad …?«, fragte meine neue Bekanntschaft, nachdem sie sich die zweite Olive in den Mund gesteckt hatte.
»Mhm.«
»Sind Sie sicher?«
Also erzählte ich weitere Einzelheiten. Wie unser Leben in Boston Miranda zu langweilen begonnen hatte. Im ersten Jahr unserer Ehe hatte sie sich in die Renovierung unseres Backsteinhauses im South End gestürzt. Danach hatte sie einen Teilzeitjob in der Galerie einer Freundin im SoWa-Bezirk angenommen, aber schon damals merkte ich, dass alles ein wenig schal wurde. Oft ging uns mitten im Abendessen der Gesprächsstoff aus, und wir hatten angefangen, zu verschiedenen Zeiten ins Bett zu gehen. Wichtiger noch, wir hatten unsere jeweiligen Identitäten verloren, die uns am Anfang unserer Beziehung definiert hatten. Ich war der reiche Geschäftsmann, der sie mit teuren Weinen und Wohltätigkeitsgalas bekannt machte, und sie war die unkonventionelle Künstlerin, die Reisen an thailändische Strände buchte und gern in Absturzkneipen herumhing. Ich wusste, wir waren unser eigenes Klischee, aber es funktionierte für uns. Wir verstanden uns auf jeder Ebene. Und obwohl ich mich auf eine allgemeine Art durchaus für gut aussehend halte, genoss ich sogar die Tatsache, dass mich kein Mensch ansah, wenn sie dabei war. Sie hatte lange Beine und große Brüste, ein herzförmiges Gesicht und volle Lippen. Ihr Haar war dunkelbraun, aber sie färbte es immer schwarz. Es war absichtlich so gestylt, dass es zerzaust aussah, als käme sie gerade aus dem Bett. Ihre Haut war makellos, und sie brauchte kein Make-up, wenngleich sie das Haus nie verließ, ohne schwarzen Eyeliner aufzutragen. Ich hatte Männer beobachtet, die sie in Bars und Restaurants anstarrten. Vielleicht deutete ich etwas hinein, aber ihre Blicke waren hungrig und triebhaft. Ich war dann immer froh, dass ich nicht in einer Zeit oder an einem Ort lebte, wo Männer gewohnheitsmäßig Waffen trugen.
Unser Ausflug nach Kennewick, Maine, war eine spontane Angelegenheit gewesen, eine Reaktion auf eine Beschwerde von Miranda, wir hätten seit mehr als einem Jahr keine Zeit mehr allein zusammen verbracht. Wir fuhren in der dritten Septemberwoche. Die ersten Tage waren wolkenlos und warm gewesen, aber am Mittwoch fegte ein Unwetter von Kanada herunter und hielt uns in unserer Suite gefangen. Wir verließen sie nur, um in der Gaststätte im Untergeschoss des Hotels regional gebrautes Bier zu trinken und Hummer zu essen. Nachdem der Sturm abgezogen war, wurden die Tage kühler und trockener, das Licht grauer, die Dämmerung länger. Wir kauften Pullover und erkundeten den Klippenwanderweg, der unmittelbar nördlich des Hotels begann und sich zwischen dem wogenden Atlantik und seinem zerklüfteten Rand dahinschlängelte. Die Luft, bis vor Kurzem noch gesättigt mit Feuchtigkeit und dem Geruch nach Sonnenmilch, war jetzt frisch und salzig. Wir verliebten uns beide in Kennewick, und als wir am Ende des Wanderwegs ein zum Verkauf stehendes, von Hagebutten überwuchertes Stück Land auf einer hohen Klippe entdeckten, rief ich die Nummer auf dem Schild an und gab ein Angebot ab.
Ein Jahr später waren die Hagebuttensträucher gerodet, ein Fundament ausgehoben und der Rohbau des Hauses fast abgeschlossen. Wir hatten Brad Daggett als Bauunternehmer angeheuert, einen rauen, geschiedenen Mann mit dichtem schwarzem Haar, einem Ziegenbärtchen und einer krummen Nase. Während mein Leben sich in Boston abspielte – wo ich eine Gruppe frischer Absolventen des MIT beriet, die einen neuen Algorithmus für eine auf Blogs basierende Suchmaschine kreiert hatte –, verbrachte Miranda mehr und mehr Zeit in Kennewick, nahm sich ein Zimmer im Inn und überwachte akribisch den Fortgang der Arbeit am Haus.
Anfang September beschloss ich, sie mit einem Besuch zu überraschen. Ich hinterließ eine Nachricht auf ihrem Handy, als ich nördlich von Boston auf die I-95 fuhr. Kurz vor Mittag traf ich in Kennewick ein und suchte sie im Inn. Man sagte mir, sie sei seit dem Morgen unterwegs.
Ich fuhr zur Baustelle und parkte hinter Brads Pick-up, einem F-150, in der gekiesten Einfahrt. Mirandas mittelblauer Mini Cooper stand ebenfalls da. Ich war seit einigen Wochen nicht auf der Baustelle gewesen und stellte erfreut fest, dass es vorangegangen war. Alle Fenster waren eingesetzt, und das Blausteinpflaster, das ich für den Senkgarten ausgewählt hatte, war eingetroffen. Ich ging auf die Rückseite, wo alle Schlafzimmer im Obergeschoss ihren eigenen Balkon hatten und wo eine verglaste Veranda im Erdgeschoss zu einer riesigen Steinterrasse führte. Vor der Terrasse war eine rechtwinklige Grube für den Swimmingpool ausgehoben. Als ich die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, entdeckte ich Brad und Miranda durch die hohen, aufs Meer hinausgehenden Küchenfenster. Ich wollte eben an das Fenster klopfen, um sie wissen zu lassen, dass ich da war, als mich etwas innehalten ließ. Sie lehnten beide an der neu eingebauten Arbeitsplatte aus Quarzstein und sahen aus dem Fenster mit seiner Aussicht zum Kennewick Cove. Brad rauchte eine Zigarette, und ich sah, wie er Asche in die Kaffeetasse schnippte, die er in der anderen Hand hielt.
Doch es war Miranda gewesen, die mich innehalten ließ. Etwas an ihrer Haltung, an der Art, wie sie sich zu Brads breiter Schulter an der Küchentheke neigte. Sie sah vollkommen entspannt aus. Ich sah, wie sie beiläufig eine Hand hob und wie Brad die brennende Zigarette zwischen ihre Finger gleiten ließ. Sie nahm einen langen Zug und gab ihm die Zigarette dann zurück. Keiner der beiden hatte den anderen dabei angesehen, und ich wusste in diesem Moment, dass sie nicht nur miteinander schliefen, sondern wahrscheinlich auch ineinander verliebt waren.
Meine unmittelbare Empfindung war nicht Zorn oder Schmerz, sondern Panik, sie könnten mich auf der Terrasse entdecken, wie ich heimlich ihren intimen Moment beobachtete. Ich ging zurück zum Haupteingang, schwang die Glastür auf und rief in das hohl tönende Haus: »Hallo!«
»Hier hinten!«, rief Miranda zurück, und ich spazierte zur Küche.
Sie waren ein wenig auseinandergerutscht, aber nicht viel.
Brad drückte seine Zigarette in der Kaffeetasse aus.
»Teddy, was für eine Überraschung«, sagte Miranda. Sie war der einzige Mensch, der mich so nannte, ein Kosename, der als Witz begonnen hatte, da er kein bisschen zu mir passte.
»Hallo, Ted«, sagte Brad. »Wie finden Sie es bis jetzt?«
Miranda kam um die Theke herum und gab mir einen Kuss, der auf meinem Mundwinkel landete. Sie roch nach ihrem teuren Shampoo und nach Marlboros.
»Es sieht gut aus. Meine Pflastersteine sind gekommen.«
Miranda lachte. »Da lassen wir ihn eine Sache aussuchen, und das ist alles, was ihn interessiert.«
Brad kam ebenfalls um die Theke herum und schüttelte mir die Hand. Seine war groß und knochig, die Handfläche warm und trocken. »Soll ich eine Führung für Sie machen?«
Während die beiden mich durch das Haus führten, wobei Brad über Baustoffe sprach und Miranda erklärte, welche Möbel wo hinkommen würden, begann ich zu zweifeln. Sie schienen nicht übermäßig nervös wegen meiner Anwesenheit zu sein. Vielleicht waren sie einfach nur gute Freunde geworden, Freunde von der Art, die Schulter an Schulter stehen und sich eine Zigarette teilen. Miranda konnte sehr körperbetont sein, sich bei ihren Freundinnen unterhaken oder unsere männlichen Freunde zur Begrüßung und zum Abschied auf den Mund küssen. Ich überlegte, ob ich vielleicht nur paranoid war.
Nach der Hausbesichtigung fuhren Miranda und ich zum Kennewick Inn und aßen in der Livery Tavern zu Mittag. Wir nahmen beide das Sandwich mit geräuchertem Schellfisch, und ich trank zwei Scotch mit Soda.
»Hat Brad dich verführt, wieder zu rauchen?«, fragte ich, da ich sie bei einer Lüge ertappen und sehen wollte, wie sie reagierte.
»Was?«, fragte sie und legte die Stirn in Falten.
»Du hast ein bisschen nach Rauch gerochen. Vorhin im Haus.«
»Kann sein, dass ich ab und an einen Zug von einer seiner Zigaretten genommen habe. Ich rauche nicht wieder, Teddy.«
»Ist mir eigentlich auch egal. Ich hab mich nur gewundert.«
»Findest du es nicht auch unglaublich, dass das Haus schon fast fertig ist?«, fragte sie und tunkte eine ihrer Pommes frites in meinen Ketchuptümpel.
Wir sprachen noch eine Weile über das Haus, und ich begann immer mehr, an dem zu zweifeln, was ich gesehen hatte. Sie benahm sich nicht schuldbewusst.
»Bleibst du übers Wochenende?«, fragte sie.
»Nein, ich wollte nur mal Hallo sagen. Ich habe heute Abend ein Essen mit Mark LaFrance.«
»Sag es ab und bleib hier. Morgen soll das Wetter schön werden.«
»Mark ist eigens wegen dieses Treffens nach Boston geflogen. Und ich muss noch ein paar Zahlen vorbereiten.«
Ich hatte ursprünglich geplant, den ganzen Nachmittag in Maine zu bleiben, und gehofft, Miranda würde einem ausgedehnten Mittagsschlaf in ihrem Hotelzimmer zustimmen. Doch nachdem ich sie und Brad in der sehr teuren Küche, die ich bezahlte, miteinander hatte turteln sehen, überlegte ich es mir anders. Ich hatte einen neuen Plan. Nach dem Essen fuhr ich Miranda zum Haus zurück, damit sie ihren Wagen holen konnte. Anschließend fuhr ich nicht direkt zur Interstate 95, sondern auf der Route 1 in südlicher Richtung nach Kittery mit seinen zahlreichen Outlet-Stores. Ich hielt vor dem Kittery Trading Post, einem Outdoor-Ausrüster, an dem ich schon öfter vorbeigefahren war, den ich aber noch nie besucht hatte. Binnen fünfzehn Minuten gab ich fast fünfhundert Dollar für eine wasserdichte Camouflage-Hose, einen grauen Regenmantel mit Kapuze, eine übergroße Fliegerbrille und ein hochwertiges Fernglas aus. In einer öffentlichen Toilette gegenüber dem Crate and Barrel Outlet zog ich mich um. Mit Kapuze und Brille glaubte ich, zumindest aus der Ferne nicht erkennbar zu sein. Dann fuhr ich wieder nach Norden und quetschte meinen Quattro auf dem öffentlichen Parkplatz beim Kennewick Cove zwischen zwei Pick-ups. Es gab zwar keinen Grund, warum Miranda oder Brad ausgerechnet zu diesem Parkplatz kommen sollten, aber es gab auch keinen, mein Auto so abzustellen, dass es leicht zu entdecken war.
Der Wind hatte sich gelegt, aber der Himmel war von einem eintönigen Grau, und ein warmer Sprühregen hatte eingesetzt. Ich ging über den nassen Sand des Strands, dann kletterte ich über die losen Felsen und den Schiefer, die zum Anfang des Klippenwanderwegs führten. Ich war vorsichtig und hielt den Blick auf den gepflasterten Weg gerichtet, der rutschig vom Regen und stellenweise von Wurzeln aufgeworfen war, statt auf den dramatischen Bogen des Atlantiks rechts von mir zu sehen. Von den befestigten Abschnitten des Wanderwegs waren manche vollständig erodiert, und ein verblasstes Schild warnte vor der Gefahr. Aus diesem Grund war der Weg nicht sehr stark frequentiert, und ich sah an diesem Nachmittag nur eine weitere Person – ein Mädchen im Teenageralter, das roch, als hätte es gerade einen Joint geraucht. Wir gingen grußlos und ohne uns anzusehen aneinander vorbei.
Gegen Ende des Wegs lief ich auf einer bröckelnden Betonmauer entlang, die ein Anwesen mit einem steinernen Cottage darauf nach hinten hin begrenzte, das letzte Haus vor einem Stück Brachland, das mit unserem Grundstück endete. Danach führte der Weg hinab bis auf Meeresniveau, kreuzte einen kurzen steinigen Strand, der von salzwasserzerfressenen Bojen und Seegras übersät war, und stieg zwischen krummen Fichten wieder steil bergauf. Der Regen war stärker geworden, und ich nahm meine nasse Sonnenbrille ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass Miranda oder Brad sich außerhalb des Hauses aufhalten würden, war nicht sehr groß, und ich hatte vor, mich am Rand des gerodeten Lands in einem kleinen Gehölz mit niedrigen Nadelbäumen im tiefer gelegenen Abschnitt der Klippe zu postieren. Falls mich einer der beiden mit meinem Fernglas dort sah, würden sie mich für einen Vogelbeobachter halten. Sollte sich mir jemand nähern, könnte ich mich rasch auf den Wanderweg zurückziehen.
Als ich das Haus über dem zerklüfteten Land aufragen sah, wurde mir – nicht zum ersten Mal – bewusst, wie sehr die dem Meer zugewandte Rückseite stilistisch das Gegenteil der Seite war, die auf die Straße hinausging. Die Vorderseite des Hauses hatte eine Steinwand, es gab eine Reihe kleinerer Fenster und ein hoch aufragendes dunkles Holzportal mit übertriebenen Bogen. Die Rückseite des Hauses war mit beige gestrichenem Holz verkleidet, und all die identischen Fenster und Balkone ließen es wie ein mittelgroßes Hotel aussehen. »Ich habe viele Freunde«, hatte Miranda auf meine Frage geantwortet, warum das Haus sieben Gästezimmer brauche. Dann hatte sie mir einen Blick zugeworfen, als hätte ich gefragt, warum sie fließendes Wasser im Haus für notwendig hielt.
Ich fand eine gute Stelle unter einer verkümmerten Fichte, die verdreht und gebeugt war wie ein Bonsai. Ich legte mich bäuchlings auf die nasse Erde und fummelte an dem Fernglas herum, bis ich das Haus scharf gestellt hatte. Obwohl ich etwa fünfzig Meter entfernt war, konnte ich mühelos durch die Fenster sehen. Ich machte einen Schwenk über das Erdgeschoss, ohne eine Bewegung wahrzunehmen, dann arbeitete ich mich das Obergeschoss entlang. Nichts. Ich legte eine Pause ein, beobachtete das Haus mit bloßem Auge und wünschte, ich könnte die Zufahrt auf der Vorderseite einsehen. Denn es war gut möglich, dass überhaupt niemand mehr im Haus war, auch wenn Daggetts Pick-up noch dort stand, als ich Miranda vorhin abgesetzt hatte.
Ein paar Jahre zuvor war ich einmal mit einem Kollegen fischen gewesen, er war ebenfalls Dotcom-Spekulant und der beste Hochseeangler, den ich kannte. Er brauchte nur auf den Ozean hinauszublicken und wusste genau, wo die Fische waren. Er verriet mir, der Trick bestünde darin, nicht konzentriert zu schauen, sondern alles gleichzeitig im peripheren Sehbereich wahrzunehmen und dadurch jede kleinste Bewegung und Unregelmäßigkeit im Wasser auszumachen. Ich hatte es damals versucht, aber außer einem dumpfen Kopfschmerz brachte es mir nichts ein. Nach einem neuerlichen Schwenk mit dem Fernglas, bei dem ich nichts sah, beschloss ich deshalb, die gleiche Methode bei meinem Haus anzuwenden. Ich ließ alles gewissermaßen vor meinen Augen verschwimmen und wartete darauf, dass eine Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, und nachdem ich rund eine Minute lang so auf den Bau geblickt hatte, nahm ich etwas hinter dem großen Fenster des künftigen Wohnzimmers am nördlichen Ende des Hauses wahr. Ich setzte das Fernglas an die Augen und stellte es scharf. Brad und Miranda waren gerade hereingekommen. Ich konnte sie ziemlich deutlich sehen. Die sinkende Nachmittagssonne traf in einem günstigen Winkel auf das Fenster und erhellte das Innere, ohne einen blendenden Reflex zu erzeugen. Ich sah, wie Brad zu einem behelfsmäßigen Tisch ging, den die Zimmerleute aufgestellt hatten. Er nahm ein Stück Holz zur Hand, das wie ein Stück von einer Deckenleiste aussah, und hielt es so, dass meine Frau es sehen konnte. Er fuhr mit dem Zeigefinger in einer Rille in dem Holz entlang, und sie tat dasselbe. Seine Lippen bewegten sich, und Miranda nickte zu dem, was er sagte.
Für einen kurzen Moment kam ich mir lächerlich vor, ein paranoider Ehemann, der in Tarnkleidung seiner Frau und seinem Bauunternehmer hinterherspionierte, aber nachdem Brad die Zierleiste beiseitegelegt hatte, sah ich, wie Miranda in seine Arme schlüpfte, den Kopf in den Nacken legte und ihn auf den Mund küsste. Mit einer seiner großen Hände langte er nach unten und drückte ihre Hüfte an seinen Körper, und mit der anderen fuhr er ihr in das zerwühlte Haar. Ich sagte mir, ich sollte nicht weiter zuschauen, aber ich konnte aus irgendeinem Grund nicht aufhören. Ich beobachtete sie mindestens zehn Minuten lang, sah, wie Brad meine Frau über den Tisch beugte, den dunkelblauen Rock anhob und ihr ein winziges weißes Höschen auszog, um dann von hinten in sie einzudringen. Ich sah, wie Miranda sich strategisch auf dem Tisch in Stellung brachte, mit einer Hand hielt sie sich am Rand fest, die andere hatte sie zwischen den eigenen Beinen, um ihn in sich einzuführen. Sie taten es erkennbar nicht zum ersten Mal.
Ich rutschte rückwärts und setzte mich auf. Als ich wieder auf dem Wanderweg war, streifte ich meine Kapuze ab und erbrach mein Mittagessen in eine dunkle, vom Wind gekräuselte Pfütze.
»Wie lange ist das her?«, fragte meine Mitreisende, nachdem ich ihr die Geschichte erzählt hatte.
»Etwas über eine Woche.«
Sie blinzelte und biss sich auf die Unterlippe. Ihre Augenlider waren bleich wie Papiertücher.
»Und was wollen Sie jetzt unternehmen?«, fragte sie.
Es war die Frage, die ich mir die ganze Woche selbst gestellt hatte. »Was ich wirklich gern tun würde, wäre, sie umzubringen«, sagte ich. Ich lächelte mit meinem vom Gin tauben Mund und versuchte zu blinzeln, nur um ihr die Möglichkeit zu bieten, mir nicht zu glauben, aber ihr Gesicht blieb ernst. Sie zog ihre rötlichen Augenbrauen in die Höhe.
»Ich denke, das sollten Sie tun«, sagte sie. Ich wartete auf einen Hinweis darauf, dass sie nur scherzte, doch es kam keiner. Ihr Blick war fest. Als ich ihn erwiderte, erkannte ich, dass sie sehr viel schöner war, als ich es ursprünglich wahrgenommen hatte. Es war eine ätherische, zeitlose Schönheit, als wäre sie der Gegenstand eines Renaissancegemäldes. So ganz anders als meine Frau, die aussah, als gehörte sie auf das Cover eines Groschenromans aus den Fünfzigern. Als ich endlich etwas erwidern wollte, legte sie den Kopf schief, um auf eine gedämpfte Lautsprecherdurchsage zu lauschen. Unser Flug war bereit zum Einsteigen.
Kapitel 2
LILY
In dem Sommer, in dem ich vierzehn wurde, lud meine Mutter einen Maler namens Chet dazu ein, eine Weile bei uns zu wohnen. Ich erinnere mich nicht an seinen Nachnamen, tatsächlich weiß ich nicht, ob ich ihn je kannte. Er kam und wohnte in dem kleinen Appartement über dem Atelier meiner Mutter. Er hatte eine Brille mit dicken Gläsern und einem dunklen Rahmen, einen struppigen Bart, in dem immer Farbspritzer hingen, und er roch wie überreifes Obst. Ich erinnere mich, wie sein Blick über meine Brust huschte, als wir einander vorgestellt wurden. Der Sommer war bereits heiß, und ich trug abgeschnittene Jeans und ein ärmelloses Top. Meine Brüste waren nicht größer als Mückenstiche, aber er sah trotzdem hin.
»Hallo, Lily«, sagte er. »Nenn mich Onkel Chet.«
»Wieso? Bist du mein Onkel?«
Er ließ meine Hand los und lachte, es war ein Spucken, das wie ein absterbender Motor klang. »Hey, so wie deine Eltern mich behandeln, habe ich fast schon das Gefühl, zur Familie zu gehören. Ein ganzer Sommer nur zum Malen, Mann. Unglaublich.«
Ich entfernte mich, ohne etwas zu sagen.
Er war nicht der einzige Gast in diesem Sommer. Tatsächlich gab es nie nur einen Gast in Monk’s House, vor allem nicht im Sommer, wenn die Lehrtätigkeit meiner Eltern zum Erliegen kam und sie sich auf das konzentrieren konnten, was sie wirklich liebten – Trinken und Ehebruch. Ich sage das nicht, um meine Kindheit als eine Art Tragödie hinzustellen. Ich sage es, weil es die Wahrheit ist. Und in jenem Sommer, in Chets Sommer, gab es ein beständiges Kommen und Gehen von Mitläufern, Abschlussstudenten, Exliebhabern und aktuellen Liebhabern, alle angezogen wie Motten von einem Verandalicht. Und das waren nur die Hausgäste. Wie immer veranstalteten meine Eltern endlose Partys – ich lauschte dem Dröhnen und Wogen dieser Feste durch die Wände meines Schlafzimmers, wenn ich im Bett lag. Es waren vertraute Symphonien, beginnend mit Lachsalven, dissonantem Jazz und dem Schlagen von Fliegengittertüren, und sie endeten am frühen Morgen mit Schreien, manchmal Weinen und immer mit dem Knallen von Schlafzimmertüren.
Chet unterschied sich geringfügig von den übrigen Hausgästen. Meine Mutter bezeichnete ihn als künstlerischen Außenseiter, womit sie vermutlich meinte, dass er nichts mit ihrem College zu tun hatte, weder Student noch Gastkünstler dort war. Ich erinnere mich, dass mein Vater ihn den »degenerierten Obdachlosen, den deine Mutter für den Sommer untergebracht hat« nannte. »Geh ihm aus dem Weg, Lily«, sagte er. »Ich glaube, er hat Lepra. Und weiß der Himmel, was alles in seinem Bart hängt.« Ich glaube nicht, dass es ein ernst gemeinter Rat meines Vaters war – meine Mutter war in Hörweite, und seine Worte richteten sich eigentlich an sie –, aber er erwies sich als prophetisch.
Ich hatte mein ganzes Leben in Monk’s House verbracht. So hatte mein Vater das wild wuchernde und verfallende, hundert Jahre alte viktorianische Herrenhaus getauft, das eine Autostunde von New York entfernt in den Wäldern von Connecticut lag. David Kintner, mein Vater, war ein englischer Romanautor, der den größten Teil seines Geldes mit der Verfilmung seines ersten und erfolgreichsten Buchs verdient hatte, eine in einem Internat spielende Sexfarce, die Ende der 1960er-Jahre kurz für Aufsehen gesorgt hatte. Er war als Gastautor der Shepaug University nach Amerika gekommen und als Lehrbeauftragter geblieben, als er Sharon Henderson, meine Mutter, kennenlernte, eine abstrakte Expressionistin mit einer Festanstellung als Kunstdozentin. Zusammen kauften sie Monk’s House. Als sie es erwarben – in dem Jahr, in dem ich empfangen wurde –, hatte es keinen Namen, aber meinem Vater, der die sechs Schlafzimmer mit Plänen rechtfertigte, sie mit kreativen und intelligenten – sowie jungen und weiblichen – Hausgästen zu füllen, gefiel es, seinen Besitz nach dem Haus zu benennen, das Virginia und Leonard Woolf bewohnten. Es war gleichzeitig eine Hommage an Thelonious Monk, den Lieblingsjazzmusiker meines Vaters.
Es gab viele Besonderheiten in Monk’s, darunter einige unbenutzte Solarpaneele, die von Efeu erstickt wurden, einen Vorführraum mit einem alten Filmprojektor, einen Weinkeller mit Lehmboden und einen kleinen nierenförmigen Swimmingpool im Garten, der selten sauber gemacht wurde. Im Lauf der Jahre hatte er sich zu einem schlammigen Teich zurückentwickelt, dessen Boden und Seiten von Algen bedeckt waren, auf dem ständig eine Schicht faulender Blätter schwamm und dessen nie eingeschalteten Filter die aufgedunsenen Kadaver von Mäusen und Eichhörnchen verstopften. Ich hatte einen Versuch unternommen, den halb vollen Pool zu reinigen, nachdem ich die von Schimmel schwarze Abdeckplane heruntergezogen hatte. Ich hatte mit einem Schmetterlingsnetz die Blätter abgeschöpft und den Pool dann im Lauf eines lauwarmen Junitags mit Wasser aus dem Schlauch gefüllt. Ich hatte meine Eltern einzeln gebeten, mir Chemikalien für den Pool mitzubringen, wenn sie das nächste Mal zum Einkaufen fuhren. Die Antwort meiner Mutter: »Ich will nicht, dass meine liebe Tochter den ganzen Sommer in einem Haufen Chemie herumschwimmt.« Mein Vater hatte versprochen, für mich in den Laden zu fahren, aber ich sah die Erinnerung an sein Versprechen bereits schwinden, ehe unsere Unterhaltung zu Ende war.
Ich schwamm in der ersten Hälfte des Sommers trotzdem in dem Pool und sagte mir, dass ich ihn wenigstens für mich allein hatte. Das Wasser wurde grün, und die Wände waren glitschig von dunklen Algen. Ich tat, als sei der Pool in Wirklichkeit ein Teich tief im Wald, an einem besonderen Ort, den nur ich kannte, und meine Freunde seien die Schildkröten, Fische und Libellen. Ich schwamm in der Abenddämmerung, wenn das Zirpen der Grillen so laut war, dass es fast die Geräusche der Partys übertönte, die auf der windgeschützten Veranda vor dem Haus anfingen. Es war bei einem dieser Bäder in der Dämmerung, als ich Chet zum ersten Mal bemerkte, der mich mit einer Bierflasche in der Hand vom Waldrand beobachtete.
»Wie ist das Wasser?«, fragte er, als ihm bewusst wurde, dass ich ihn entdeckt hatte.
»Ganz gut«, sagte ich.
»Ich wusste nicht einmal, dass es da hinten einen Pool gibt.« Er trat aus dem Gehölz ins verbliebene Tageslicht. Er trug einen weißen Overall, der mit Farbe bespritzt war. Als er von seinem Bier nippte, blieb Schaum in seinem Bart hängen.
»Außer mir benutzt ihn niemand. Meine Eltern schwimmen nicht gern.« Ich strampelte ans tiefe Ende, froh, dass das Wasser grün und trüb war, sodass er mich nicht in meinem Badeanzug sehen konnte.
»Vielleicht gehe ich irgendwann einmal schwimmen. Wäre das in Ordnung für dich?«
»Ist mir egal. Sie können tun, was Sie wollen.«
Er trank sein Bier in einem langen Zug aus, es schnalzte, als er die Flasche absetzte. »Mann, was ich wirklich gern tun würde, ist, diesen Pool zu malen. Und vielleicht dürfte ich dich darin malen. Würdest du mir das erlauben?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Was meinen Sie genau?«
Er lachte. »Einfach so, dich in dem Pool, bei diesem Licht. Ich würde gern ein Gemälde erschaffen. Ich male ja hauptsächlich abstrakt, aber dafür …« Er sprach nicht zu Ende und kratzte sich an der Innenseite des Oberschenkels. Nach einer Weile fragte er: »Weißt du, wie verdammt schön du bist?«
»Nein.«
»Das bist du. Du bist ein wunderschönes Mädchen. Ich sollte das nicht sagen, weil du noch so jung bist, aber ich bin Maler, deshalb geht es in Ordnung. Ich kenne mich aus mit Schönheit, oder wenigstens tue ich so.« Er lachte. »Du überlegst es dir, ja?«
»Ich weiß nicht, ob ich noch viel schwimmen werde. Das Wasser ist ein bisschen dreckig.«
»Okay.« Er sah in den Wald hinter mir und nickte bedächtig. »Ich brauche noch ein Bier. Kann ich dir etwas bringen?« Er hielt die leere Flasche jetzt umgedreht, Biertropfen fielen in das nicht gemähte Gras. »Ich bringe dir ein Bier mit, wenn du eins willst.«
»Ich trinke kein Bier. Ich bin erst dreizehn.«
»Okay«, sagte er, stand eine Weile da und schaute, ob ich vielleicht aus dem Wasser steigen würde. Sein Mund war leicht geöffnet, und er kratzte sich wieder an der Innenseite seines Oberschenkels. Ich blieb, wo ich war, trat Wasser und drehte mich von ihm weg.
»Ophelia«, sagte er, fast zu sich selbst. Dann: »Also gut. Noch ein Bier.«
Als er gegangen war, stieg ich aus dem Pool und wusste, das war’s für diesen Sommer mit Schwimmen. Ich hasste Chet dafür, dass er mir meinen geheimen Teich ruiniert hatte. Ich wickelte mich in das große Badetuch, das ich zum Pool mitgebracht hatte, und lief im Haus zu dem Badezimmer, das meinem Zimmer im Obergeschoss am nächsten lag. Meine Brust schmerzte, als wäre die Wut in mir ein Ballon, der sich langsam immer weiter aufblies, aber nie platzen würde. Ich stellte die ratternde Lüftung an, ließ die Dusche laufen und schrie wiederholt die gemeinsten Worte, die kannte. Ich schrie, weil ich wütend war, aber auch, um zu verhindern, dass ich weinte. Es funktionierte nicht. Ich saß auf dem Fliesenboden und weinte, bis mir die Kehle wehtat. Ich dachte an Chet, an die unheimliche Art, wie er mich angesehen hatte, aber ich dachte auch an meine Eltern. Warum füllten sie unser Zuhause mit Fremden? Warum kannten sie nur Leute, die nichts als Sex im Kopf hatten? Nachdem ich geduscht hatte, ging ich in mein Zimmer und betrachtete mich nackt in dem mannshohen Spiegel auf der Innenseite meiner Schranktür. Über Sex hatte ich fast mein ganzes Leben lang Bescheid gewusst. Eine meiner frühesten Erinnerungen war, wie meine Eltern es auf einem großen Handtuch in den Dünen bei irgendeinem Strandurlaub trieben. Ich buddelte einen Meter daneben mit meiner Plastikschaufel im Sand herum. Ich weiß noch, dass mein Babyfläschchen mit warmem Apfelsaft gefüllt war.
Ich drehte mich und betrachtete meinen Körper von allen Seiten; das Büschel rotes Haar, das zwischen meinen Beinen zu sprießen begann, ekelte mich an. Wenigstens waren meine Brüste kaum wahrnehmbar, anders als bei meiner Freundin Gina, die ein Stück weiter vorn in der Straße wohnte. Ich zog die Schultern zurück, und meine Brust war vollkommen flach. Wenn ich eine Hand zwischen meine Beine hielt, sah ich nicht anders aus, als ich mit zehn Jahren ausgesehen hatte. Dürr. Rothaarig und mit Sommersprossen, die meine Arme und den Halsansatz sprenkelten.
Obwohl es noch brütend heiß war, zog ich Jeans und ein Sweatshirt an und ging nach unten, um mir ein Erdnussbutter-Sandwich zu machen.
Ich hörte auf, im Pool zu schwimmen. Ich weiß nicht, ob Chet weiter dort nach mir Ausschau hielt. Manchmal sah ich ihn auf dem Absatz der Treppe sitzen, die zu der Wohnung über dem Atelier meiner Mutter führte, eine Zigarette rauchen und zum Haus hinüberschauen. Und gelegentlich war er in unserer Küche und sprach mit meiner Mutter, meist über Kunst. Sein Blick fand mich immer, wanderte weg und dann wieder zu mir her.
Mein Vater machte sich in diesem Sommer für drei Wochen aus dem Staub. Es geschah unmittelbar nach einem Besuch von mehreren seiner englischen Freunde, darunter eine junge Dichterin namens Rose. Er stellte uns mit den Worten vor: »Rose, das ist Lily, Lily, das ist Rose. Kein Wettstreit, bitte. Ihr seid beide wunderschöne Blumen.« Rose war dünn und hatte große Brüste, sie roch nach Nelkenzigaretten, und als sie mir die Hand schüttelte, blickte sie auf meinen Scheitel. Ich befürchtete, nach dem Verschwinden meines Vaters könnte Chet häufiger im Haus auftauchen, aber stattdessen tauchte ein anderer Mann mit einem russischen Namen auf. Ich mochte ihn, aber nur, weil er einen wunderbaren kurzhaarigen Köter namens Gorky besaß. Wir hatten keine Haustiere mehr, seit Bess, meine Katze, drei Monate zuvor gestorben war. Nachdem der Russe da war, verschwand Chet für eine Weile von der Bildfläche, und ich begann, mich sicher zu fühlen. Dann kam er eines Samstagnachts in mein Zimmer.
Ich wusste, dass es Samstag war, weil es der Abend der wichtigen Party war, eine von der meine Mutter seit mehr als einer Woche gesprochen hatte. »Lily, Schatz, nimm am Samstag ein Bad, wegen der Party.« »Lily, du hilfst doch deiner Mutter, die Spanakopita für unsere Party zu machen, nicht wahr? Du darfst sie verteilen, wie du willst.« Es war sonderbar, dass sie wegen dieser speziellen Nacht so besorgt war. Sie veranstaltete die ganze Zeit Partys, aber meist mit Lehrern und Studenten vom College. Für diese Party kamen Leute aus New York, um den Russen kennenzulernen. Mein Vater war immer noch fort, und meine Mutter war nervös, ihr kurzes Haar stand nach hinten ab, weil sie so oft mit den Fingern durchgefahren war. Ich hielt mich den größten Teil des Samstags vom Haus fern und spazierte durch den Kiefernhain zu meinem Lieblingsplatz, einer von Steinmauern gesäumten Wiese, die an eine vor langer Zeit aufgegebene Farm grenzte. Ich warf Steine auf Bäume, bis mir der Arm wehzutun begann, dann legte ich mich eine Weile auf den weichen Grashügel nahe der Weide. Ich tagträumte von meiner anderen Familie, der imaginären mit den langweiligen Eltern und sieben Geschwistern, vier Jungen und drei Mädchen. Es war ein heißer Tag. Ich schmeckte salzigen Schweiß auf meiner Oberlippe und beobachtete, wie sich dunkle Wolken am Himmel ballten. Als ich das erste leise Donnergrollen hörte, stand ich auf, strich mir das Gras von den Beinen und kehrte zum Haus zurück.
Das Gewitter tobte eine dunkle Stunde lang über Monk’s House. Meine Mutter trank Gin, zog alles Mögliche aus dem Ofen und erklärte dem Russen, wie perfekt das Gewitter war, sie könne sich keine bessere Untermalung für ihre Party wünschen, aber ich sah ihr an, dass sie fix und fertig war. Als die ersten Gäste eintrafen, war der Himmel bereits wieder blau, und der einzige Hinweis auf den Sturm waren die reine Luft und das ständige Tropfen der verstopften Regenrinnen. Ich verteilte Häppchen an Leute, die ich noch nie gesehen hatte, und verdrückte mich dann mit zwei kalten Pop Tarts als Abendessen auf mein Zimmer.
Ich aß dort und versuchte zu lesen. Ich hatte mir ein Taschenbuch vom Bücherstapel neben dem Bett meiner Mutter genommen. Es hieß Verhängnis von Josephine Hart, und ich hatte Mutter darüber reden hören, sie sagte, es gefalle ihr nicht, sei nur literarisch verkleideter Schund. Das ließ mich den Wunsch verspüren, es zu lesen, aber eigentlich gefiel es mir auch nicht. Es ging um einen Engländer wie meinen Vater, der mit der Freundin seines Sohnes schläft. Ich hasste alle Personen darin. Ich gab es auf und zog einen Band Nancy Drew aus meinem Regal. Nummer zehn. The Password to Lankspur Lane. Ich wusste, ich war zu alt für Nancy Drew, aber es waren mit Abstand meine Lieblingsbücher. Ich schlief darüber ein.
Ich erwachte von dem Geräusch, wie meine Zimmertür geöffnet wurde. Licht fiel vom Flur herein, und von unten hörte ich laute Rockmusik. Ich lag mit angezogenen Knien auf der Seite mit dem Gesicht zur Tür und hatte ein einziges Laken bis zur Taille gezogen. Ich öffnete die Augen einen Spalt und sah, dass Chet im Eingang stand. Er wurde von hinten beleuchtet, aber er war wegen seines Barts leicht zu erkennen und wegen seiner Brille, die mit einer Ecke das Licht vom Flur reflektierte. Er schwankte ein wenig, wie ein Baum bei starkem Wind. Ich bewegte mich nicht in der Hoffnung, er würde wieder gehen. Vielleicht suchte er ja gar nicht nach mir, wenngleich ich es natürlich besser wusste. Ich überlegte, zu schreien oder aus dem Zimmer zu rennen, aber durch das ganze Haus hämmerten unablässig Bässe und Trommeln, und ich glaubte nicht, dass mich jemand hören würde. Und dann würde Chet mich mit Sicherheit töten. Deshalb schloss ich die Augen und hoffte, er würde weggehen, und mit geschlossenen Augen hörte ich, wie er ins Zimmer kam und leise die Tür hinter sich zumachte.
Ich entschied, die Augen geschlossen zu halten, so zu tun, als würde ich schlafen. Mein Herz hämmerte wie wild, aber ich atmete regelmäßig, durch die Nase ein und durch den Mund aus.
Ich lauschte, als Chet einige Schritte nach vorn machte. Ich wusste, er stand jetzt direkt vor mir. Ich konnte seinen Atem hören, ein nasses Keuchen, und ich konnte ihn riechen. Der faulige Obstgeruch, vermischt mit dem Gestank von Zigaretten und Alkohol.
»Lily«, raunte er.
Ich rührte mich nicht.
Er beugte sich näher zu mir herunter. Sagte meinen Namen noch einmal, etwas leiser diesmal.
Ich tat, als würde ich tief schlafen und nicht das Geringste hören. Ich zog die Knie ein wenig fester an und bewegte mich dabei so, wie es meiner Meinung nach eine schlafende Person tun würde. Ich wusste, weshalb er in mein Zimmer gekommen war, was er im Sinn hatte. Er wollte Sex mit mir. Aber soweit ich wusste, konnte er den nur haben, wenn ich wach war, deshalb beabsichtigte ich, mich weiter schlafend zu stellen, egal was er tat.
Ich hörte seine Knie knacksen und seine Jeans rascheln, dann roch ich seinen sauren Bieratem. Er hatte sich vor mein Bett gekauert. Das Musikstück unten, der stampfende Bass, ging zu Ende, und ein neues begann, das genauso klang. Ich hörte, wie ein Reißverschluss langsam geöffnet wurde, ein kleiner Metallzahn nach dem andern, dann ein rhythmisches Geräusch, als würde eine Hand schnell über einen Pullover reiben. Er machte es sich selbst statt mir. Mein Plan war aufgegangen. Das Geräusch wurde schneller und lauter, und er flüsterte noch ein paarmal heiser meinen Namen. Ich dachte, er würde mich nicht berühren, aber dann spürte ich, wie ein Finger über den Pyjamastoff strich, der meine Brüste bedeckte. Es war warm im Zimmer, aber ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Ich zwang mich, die Augen geschlossen zu halten. Chet drückte seine Finger an meine Brust, seine scharfen Nägel zwickten, dann gab er ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Grunzen und Luftholen lag und zog seine Hand von meiner Brustwarze fort. Ich hörte, wie er seinen Reißverschluss wieder zuzog und rasch das Zimmer verließ. Auf dem Weg nach draußen rumpelte er gegen den Türstock, dann zog er die Tür hinter sich zu, ohne auch nur zu versuchen, leise zu sein.
Ich blieb noch eine Minute zusammengerollt liegen, dann stieg ich aus dem Bett, nahm meinen Schreibtischstuhl und versuchte, ihn unter die Türklinke zu spreizen. Es war etwas, was Nancy Drew tun würde. Der Stuhl passte nicht ganz, er war ein wenig zu kurz, aber es war besser als nichts. Wenn Chet zurückkam, würde er es zumindest schwerer haben, die Tür zu öffnen, und der Stuhl würde umkippen und Lärm machen.
Ich glaubte nicht, dass ich in dieser Nacht schlafen würde, aber ich schlief tatsächlich ein, und als es Morgen wurde, lag ich im Bett und überlegte, was ich tun sollte.
Meine schlimmste Angst war, dass ich meiner Mutter erzählte, was passiert war, und sie würde sagen, ich solle mit Chet schlafen. Oder aber sie würde wütend sein, weil ich ihn in mein Zimmer gelassen oder zugelassen hatte, dass er mich im Pool beobachtete. Ich wusste, es war ein Problem, mit dem ich allein fertigwerden musste.
Und ich wusste auch schon, wie.