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Zum Buch

Gazâ ist neun Jahre alt, als er vom Beruf seines Vaters erfährt: Ahad ist Schleuser und Menschenhändler. Und Gazâ wird ihm ein eifriger Schüler. Gemeinsam nehmen sie die »Ware« entgegen, lagern sie im »Depot« im Garten zwischen und transportieren sie dann weiter zur Ägäisküste. Je älter Gazâ wird, umso professioneller geht er vor. Er führt Statistiken, dokumentiert akribisch das Verhalten der Flüchtlinge und stellt anthropologische Studien an. Gazâs Schicksal scheint sich erst zu wenden, als es zu einem Unfall kommt, bei dem sein Vater stirbt. Tagelang begraben unter einem Berg von Leichen, überlebt Gazâ und flieht nach Istanbul. Er will Anthropologie studieren. Doch auf einmal bricht das Trauma auf. Gazâ ist außerstande, Menschen zu berühren. Nur allein oder in der Masse fühlt er sich noch sicher. Gelingt ein Leben ohne die Begegnung von Mensch zu Mensch?

Zum Autor

HAKAN GÜNDAY, geboren 1976, studierte Französisch in der Türkei und in Brüssel, anschließend Politikwissenschaften in Ankara. Diplomatensohn, Bestsellerautor, Drehbuchautor, Provokateur, Enfant terrible der jungen türkischen Literatur. Seine Romane sind gleichermaßen Bestseller wie Kultbücher. Seine vielen Fans feiern ihn für seine politischen Kolumnen, seine öffentlichen Debatten und dafür, dass alles, was er tut, aus dem Rahmen fällt. Für »Flucht« wurde er in Frankreich mit dem renommierten Prix Médicis étranger ausgezeichnet, wie vor ihm u. a. Orhan Pamuk, Philip Roth und Paul Auster.

Hakan Günday

Flucht

Roman

Aus dem Türkischen
von Sabine Adatepe

für all die in der Geschichte namens Menschheit

auf den Wegen, auf die sie sich machten,

mit staatlicher Zeremonie

bei lebendigem Leibe begrabenen Leben

Das einzig Unerträgliche ist,
dass nichts unerträglich ist.

Arthur Rimbaud

SFUMATO

Eine der vier Hauptmaltechniken der Renaissance. Sie drückt eine neblige Schattierung aus, bei der Farben und Farbtöne ineinander verschwimmen, wodurch Konturen schwinden. Sie kommt hauptsächlich bei Übergängen vom Hellen ins Dunkle zum Einsatz.

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte ich nie das Licht der Welt erblickt.

»Zwei Jahre vor deiner Geburt … Da war ein Boot, das vergess ich nie, es hieß Swing Köpo … Der Kahn eines Schuftes namens Rahim … Na, wir luden die Ware ein … Mindestens vierzig Stück. Einer krank. Wie der hustete, das hättest du sehen sollen! Der war am Ende! Wer weiß, wie alt er war, vielleicht siebzig, vielleicht achtzig …«

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, wäre auch aus mir keiner geworden.

»Was hast du nur davon, Mann, hab ich ihn gefragt … flüchten, auswandern? Was hast du davon, dort anzukommen, wohin du unterwegs bist? Nimmst du die Strapazen auf dich, um zu krepieren? Wie auch immer … Da sagte Rahim, komm mit, auf der Rückfahrt plaudern wir. Ich hatte nichts Besseres vor, den Lkw hatte ich noch nicht …«

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, wäre meine Mutter nicht bei meiner Geburt gestorben.

»Damals half ich bei den Händlern aus. Ich machte erste Erfahrungen in dem Job und verdiente ein paar Groschen … Okay, Mann, sagte ich. Wir stiegen ein und fuhren aufs Meer hinaus. Kurz vor der Insel Sakız kam Sturm auf! Die Swing Köpo hielt sich sowieso nur mit Mühe über Wasser. Bevor wir noch recht begriffen, was geschah, sanken wir schon …«

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, wäre ich nie neun Jahre alt geworden und hätte nie mit ihm am Tisch gesessen.

»Plötzlich herrschte wildes Durcheinander, alles schrie und brüllte … Die Leute kamen aus der Wüste, woher sollten die schwimmen können! Eben noch zu sehen, waren sie im Nu weg! Sie gingen unter wie Steine, allesamt! Ersoffen … Einmal sah ich Rahim, Blut an der Stirn … Er war mit dem Kopf ans Boot geschlagen … Was für Brecher, wie Mauern! Die stürzten auf uns ein! Dann verschwand auch Rahim …«

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte weder er mir diese Geschichte erzählt noch ich ihm gelauscht.

»Ich wollte schwimmen, doch in welche Richtung … Stockdunkle Nacht! Ich strampelte mich ab … Vergebens, selbst den Kopf über Wasser zu halten, fiel mir schwer … Rauf und runter, immer wieder … Das war’s, Ahad, Junge, aus ist es mit dem Leben, gleich bist du hinüber, sagte ich mir … Plötzlich, zwischen zwei Wellen, erblickte ich etwas Weißes … Darauf ein Schemen …«

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte ich nie erfahren, dass er ein Mörder war.

»Da war wahrhaftig dieser sieche Kerl … Der schon vorher so gut wie hin war … Einen Rettungsring hatte er zu fassen bekommen, daran klammerte er sich … Keine Ahnung, wie ich zu ihm gelangte … Irgendwann war ich bei ihm … Schnappte mir den Ring, entriss ihn seinen Händen … Er starrte mich an … Er langte nach mir … Ich stieß ihn zurück … Packte ihn an der Kehle … Da trug ihn eine Woge fort …«

Doch mein Vater war ein Mörder, und all das geschah.

In jener Nacht erzählte mein Vater seine Geschichte so schleppend, dass seine Worte unter uns versickerten wie die Pausen, die ihm über die Lippen krochen. Eben darum aber nagelten sie sich meinem Gedächtnis nicht ein, sie schraubten sich hinein. Mit immer neuen Windungen drangen sie mir in den Verstand. Oder in das, was von meinem Verstand übrig war. Heute denke ich, wenn mein Vater kein Mörder gewesen wäre, wäre er auch nicht mein Vater gewesen. Denn nur ein Mörder konnte mir Vater sein. Wie die Zeit erweisen sollte …

Nie wieder sprach er von seinem Verbrechen. Das war auch nicht nötig. Wie oft beichtet man ein und dieselbe Sünde ein und demselben Menschen? Einmal hören reicht. Damit sie dir noch lebendig vor Augen steht, wenn du langsam aufstehst vom Tisch, hinausgehst und dich schlafen legst.

Warum jetzt?, fragte ich mich in jener Nacht. Warum erzählt er jetzt davon? Hat er es mehr mir oder sich selbst erzählt? Möglicherweise war das die einzige Lebensweisheit, die er seinem neunjährigen Sohn mitzugeben hatte. Das einzige Lebenswissen, das er besaß. Die einzig wahre Lebenslehre: Überlebe! Ich erinnere mich auch an die Lehre, die ich daraus zog: Erzähl aber niemandem, wie du überlebt hast … Ich weinte und flehte, niemand solle erzählen, woher er kam. Niemand solle erzählen, wem er die Atemzüge, die er tat, geraubt hatte. Ich war neun. Ich konnte nicht wissen, dass man überlebte, um zu erzählen, wie man überlebt hatte … Ich weiß noch, dass ich mir vorstellte, wie mein Vater jenen Alten an der Kehle packte und von sich stieß. Dass ich mir ausmalte, auch jener Mann hätte einen Adamsapfel wie mein Vater … Dass ich mich still fragte, ob Vaters Hand diese Knolle berührt hatte … Hatte der Adamsapfel des Alten eine Spur in Vaters Hand hinterlassen? Färbte das ab, wenn er mir die Wange tätschelte? Ich erinnere mich daran, dass ich dann einschlief. Und wieder erwachte. An das Frühstück, das er mir hinstellte, an die Ohrfeige, an den Befehl.

Eine Scheibe Brot …

»Was hast du von dem verstanden, das ich dir gestern erzählt habe?«

»Entweder wärst du umgekommen oder der Mann …«

Zwei Scheiben Käse …

»Gut. Nun sag einmal … Was hättest du an meiner Stelle getan?«

»Vielleicht hätte der Rettungsring für euch beide gereicht.«

Eine Ohrfeige …

»Iss! Starr mich nicht so an! Wisch dir die Augen ab.«

»Ja, Papa.«

Ein Ei …

»Wenn ich nicht wäre, dann wärst auch du nicht, kapiert?«

»Ja, Papa.«

Drei Oliven …

»Gut. Vergiss das nicht! Nun sag, was hättest du an meiner Stelle getan?«

»Ich hätte genauso gehandelt wie du, Papa.«

Etwas Butter …

»Alles, was ich in meinem Leben getan habe, habe ich für dich getan.«

»Danke, Papa.«

Ein Befehl …

»Du hast nun erfahren, was für ein Überlebenskampf dieser Job ist. Also kommst du heute mit mir!«

»In Ordnung, Papa.«

Vater hatte einen Lehrling gesucht. Einen Lehrling, der mit Haut und Haaren und Knochenmark ihm gehörte. Um sein Einkommen nicht mit Fremden zu teilen, machte er seinen Sohn zum Komplizen.

»Du kommst mit!«, sagte er, und ich ging mit. Kaum hielt ich in jenem Sommer mein Schulzeugnis in der Hand, wurde ich zum Menschenhändler. Mit neun Jahren. Es war eigentlich nicht so anders, als der Sohn eines Menschenhändlers zu sein …

Heute denke ich, vielleicht war er betrunken, während er die Geschichte erzählte. Nachdem er sich dann nüchtern geredet hatte, wurde ihm klar, dass es zu spät war. Vielleicht war mein Vater auch nur ein Gewissenslahmer, bei dem das Böse überwog. Womöglich war er durch seinen eigenen Vater so geworden. Und der wieder durch seinen Vater. Und der durch seinen Vater. Und auch der durch seinen Vater. Waren wir nicht letztlich alle Kinder von Überlebenden? Kinder der Überlebenden von Kriegen, Erdbeben, Dürrezeiten, Massakern, Epidemien, Besatzungen, Konflikten und Katastrophen … Kinder von Betrügern, Dieben, Mördern, Lügnern, Denunzianten, Verrätern, von jenen, die als Erste die sinkenden Schiffe verließen und sich obendrein die Rettungsringe anderer unter den Nagel rissen … Die es verstanden hatten zu überleben. Die alles, wirklich alles riskiert hatten, um zu überleben. Schuldeten wir nicht dem ein oder anderen in unserer Ahnenreihe, der »Er oder ich!« gesagt hatte, dass wir heute am Leben waren? Möglicherweise hatte das gar nichts damit zu tun, dass sich das Böse durchsetzte. Es war das Natürliche. Nur uns kam es hässlich vor. In der Natur aber gab es gar keinen Begriff von Hässlichkeit. Auch von Schönheit nicht. Der Regenbogen war einfach bloß der Regenbogen, und in keinem Naturkundebuch fand sich ein Wort darüber, dass man unter ihm hindurchgehen konnte.

Schlussendlich waren es zwei Leichen, die auch mich ins Leben trugen: zum einen der Wunsch zu leben, zum anderen der Wunsch, Leben zu geben. Das eine wollte mein Vater, das andere meine Mutter … Also lebte ich … Hatte ich eine andere Wahl? Sicher … Doch wer weiß, vielleicht funktionierte so die Biophysik, und irgendwo stand geschrieben:

Einführung in die Biophysik:

Jede Geburt ist gleich zwei Tode. Einer abhängig von dem Wunsch zu leben, der andere von dem, Leben zu geben; zwei Tode.

Der so ins Leben Tretende aber darf, um zu überleben, nicht wissen, dass er aufgrund dieser Tode atmet.

Sonst wäre die betreffende Person von Schlachtgetümmel erfüllt und produzierte tagtäglich Tote.

Ja, mein Name mag Gazâ sein, Glaubenskrieg …

Nie aber dachte ich daran, den Selbstmord zu wählen.

Nur ein Mal. Da spürte ich ihn.

Ich werde mir jetzt eine Geschichte erzählen und nur an sie noch glauben. Denn sobald ich mich zur Vergangenheit umwende, finde ich sie verändert. Entweder fehlt ein Ort oder ein Datum ist hinzugekommen. Nichts bleibt in diesem Leben an seinem Platz. Niemand ist mit seinem Platz zufrieden. Vielleicht hat nichts wirklich einen Platz. Darum passt es nicht in die Löcher, in die du es setzt. Dabei hast du exakt gemessen und passgenau gegraben. Doch völlig unnütz. Alle warten nur darauf, dass du blinzelst. Um sich aus dem Staub zu machen. Oder um Plätze zu tauschen und dich in den Wahnsinn zu treiben. Vor allem deine Vergangenheit …

Nun aber ist die Zeit gekommen, alles, woran ich mich erinnere, auf einmal zu erzählen und zu versiegeln. Denn nun ist Schluss! Nie wieder werde ich mich umdrehen und in die Vergangenheit zurückblicken. Nicht einmal im Spiegel werde ich ihr ins Gesicht sehen. Vertilgen werde ich sie, indem ich erzähle. Anschließend kratze ich sie mir mit einem Zahnstocher von den Zähnen und zermalme sie unter meinen Sohlen. Das ist die einzige Möglichkeit, nur mehr aus »Jetzt« zu bestehen. Sonst tut dieser Körper, in dem ich stecke, alles, um die Zeit aufzuhalten! Denn er weiß alles: dass er sterben wird, dass er verrotten wird … Wer auch immer ihm das erzählt hat, welcher Hurensohn, dieser Leib weiß, dass er verrecken und vergehen muss! Allein aus diesem Grund, nur um seinen Kiefer im Leben zu verankern gleich einem tollwütigen Hund, zwingt er mich, wieder und wieder dieselben Fehler zu begehen. Immer wieder! Um mich für einen Augenblick mit den Déjà-vus in die Vergangenheit zu schicken und Zeit zu gewinnen … Damit ist jetzt Schluss!

Sobald ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe, werde ich ausschließlich neue Fehler machen! Fehler so fremd, dass die Zeit zu galoppieren beginnt! Fehler so unbekannt, dass sie Wanduhren in an Magneten gehaltene Kompasse verwandeln. Nie zuvor begangene Fehler mit nie gehörten Namen! Fehler, so unbeschreibbar und prachtvoll wie die Entdeckung eines verschollenen Kontinents oder außerirdischen Lebens! Fehler, so außergewöhnlich wie Menschen, die Maschinen bauen, die Menschen machen, die Maschinen bauen, die Maschinen machen! Fehler so groß wie die Erfindung Gottes! Fehler so unvorhersehbar wie der Charakter, die größte Erfindung nach der Gottes! Fehler machen, bezaubernd wie der erste Fehler eines Neugeborenen, tödlich wie der, geboren zu werden! Das ist mein einziger Wunsch … Und vielleicht ein wenig Morphinsulfat.

Der Unterschied zwischen Ost und West ist die Türkei. Ich weiß nicht, welches man von welchem subtrahiert, so dass die Türkei dabei herauskommt, aber der Abstand zwischen beiden beträgt so viel wie die Türkei, da bin ich mir sicher. Und dort lebten wir. In einem Land, in dem Tag für Tag Politiker im Fernsehen auftraten und von seiner geopolitischen Bedeutung sprachen. Lange war mir unklar, was damit gemeint war. Nun, geopolitische Bedeutung meinte die Kalküle in Bezug auf Kataster- und Parzellennummer eines verfallenen Gebäudes, an dem Reisebusse, innen stockdunkel, die Scheinwerfer weit aufgerissen, mitten in der Nacht pausierten, nur weil es eben am Weg lag. Sie war eine gigantische Brücke über die Meereskehle namens Bosporus von 1565 Kilometern Länge. Eine gewaltige Brücke, die die schmale Kehle der in diesem Land lebenden Menschen durchschnitt. Eine alte Brücke, deren bloßer Fuß im Osten und deren beschuhter Fuß im Westen stand und über die alles von einer auf die andere Seite gelangte, was irgend illegal war. Alles das glitt uns durch den Kropf. Vor allem auch als Illegale bezeichnete Menschen … Wir taten, was wir konnten … Damit sie uns nicht in der Kehle stecken blieben. Wir schluckten und schickten sie weiter. Wohin auch immer sie unterwegs waren … Handel über Grenzen … Über Mauern … Der Rest der Welt stand nicht zurück und bot ihnen, damit sie sich möglichst bald vom Ort ihrer Geburt zum Ort ihres Todes auf den Weg machten, jedwede Verzweiflung. Verzweiflung jeder Größe, jeder Länge, jeden Gewichts und jeden Alters. Wir führten nur aus, was uns nach Längen- und Breitengraden dieser Region zukam. Die aus der Hölle flüchteten, transportierten wir ins Paradies. Ich glaubte weder an das eine noch an das andere. Jene Menschen aber glaubten an alles. Und zwar nahezu von Geburt an! Sie dachten: Wenn es auf dieser Welt eine Hölle gibt, in der man hungers stirbt, selbst wenn man Schlachtengetümmel überlebt hat, dann muss es auch ein Paradies geben. Doch sie irrten. Man hatte sie alle an der Nase herumgeführt. Die Existenz der Hölle ist noch lange kein Beweis für die des Paradieses! Doch ich konnte sie verstehen. Sie hatten es eben so gelernt. Nicht nur sie, alle! Es gab da ein prunkvolles, goldgerahmtes Gemälde, das der gesamten Weltbevölkerung eingepaukt worden war. Darauf kämpfte Gut gegen Böse und Paradies gegen Hölle. Dabei gab es einen solchen Kampf nicht und hatte ihn nie gegeben. Der Überlebenskampf des Guten gegen das Böse, der angeblich bis zur Apokalypse fortdauerte, war der größte Betrug an der Menschheit. Ein Betrug, der angeblich nötig war, um auf kürzestem Weg Ordnung in der Gesellschaft herzustellen und zu gewährleisten, dass die Autorität auf ewig Bestand habe. Denn wenn die Tatsache Anerkennung fände, dass jeder Mensch gut und böse zugleich war, würden alle, denen Menschen aus Bewunderung folgten und für sie in den Tod zu gehen bereit waren, also sämtliche Führer aus Vergangenheit und Gegenwart, befleckt dastehen. Die Köpfe würden wirr, Gedanken kollidierten, und niemand würde je wieder für einen anderen sein Leben opfern. Doch so war es ja nicht, und der Kampf des absolut Guten gegen das absolut Böse war zum simpelsten Mittel geworden, Menschen gegeneinander aufzuwiegeln. Wer sagte: »Ihr seid die Guten!«, meinte: »Geht hin und sterbt für mich!« Wer sagte: »Ihr kommt in den Himmel!«, meinte eigentlich: »Die ihr umbringt, fahren zur Hölle!« So spalteten also Himmel und Hölle, Gut und Böse das Wesen namens Mensch mitten entzwei, sorgten dafür, dass die eine Partei in ihm die andere bis aufs Blut bekämpfte, und verwandelten ihn in einen Idioten. Dadurch gelang es den großartigen Händlern der Vergangenheit, freien Menschen garantiert lebenslangen Gehorsam zu verkaufen, verpackt in die Theorie heiliger Gegensätze. Es ging darum, gehorsame Hunde gegen gehorsame Hunde aufzustacheln! Weder war das Dunkel dem Licht feind noch umgekehrt. Auch gab es nur einen einzigen echten Gegensatz, und der galt lediglich in der Biologie: tot oder lebendig …

Beim illegalen Menschenhandel war ebenfalls nur dieser Punkt zu beachten: Die Anzahl der lebend angelieferten Menschen musste mit der der abgelieferten übereinstimmen. Ansonsten war es unwichtig, wer da glaubte, der Hölle entronnen und auf dem Weg ins Paradies zu sein. Wir transportierten Fleisch. Nichts als Fleisch. Die Summe, die wir dafür kassierten, schloss Wünsche, Träume, Gedanken oder Gefühle nicht ein. Vielleicht hätten wir uns darum kümmern können, auch sie unbeschadet zu transportieren, wenn die Leute genug dafür bezahlt hätten. Ja, ich höchstpersönlich hätte diese Aufgabe übernehmen und dafür sorgen können, dass die Träume, die sie daheim – oder in welchem Loch auch immer sie geboren worden waren – gehegt hatten, unterwegs nicht zerbrachen. Es hätte gereicht, ein paar Hollywoodfilme vorzuführen. Um ihren Glauben an das Paradies aufrechtzuerhalten. Oder die klassische Methode, die sich im Laufe der Geschichte mehrfach bewährt hatte: ein Heiliges Buch zu überreichen. Allerdings, wiederum nach Vorgabe der Geschichte, nur einem von ihnen. Damit er den anderen davon erzählte. Ganz wie er es für richtig hielt … All das hätte ich sogar ohne Entlohnung tun können, doch weder mein Alter noch meine Zeit reichten dafür aus. Denn ständig gab es etwas zu tun.

»Gazâ!«

»Ja, Papa?«

»Hol die Ketten aus dem Depot!«

»Mach ich, Papa.«

»Bring auch die Schlösser mit!«

»Geht klar, Papa.«

»Vergiss die Schlüssel nicht!«

»Die hab ich in der Tasche, Vater.«

Das war gelogen. Ich hatte sie verloren. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es herauskäme. Ich handelte mir sogar zwei Ohrfeigen und einen Fußtritt dafür ein. Wie hätte ich ahnen können, dass Vater die Leute nötigenfalls in Ketten legte?

»Gazâ!«

»Ja, Papa?«

»Hol Wasser und teil es aus!«

»In Ordnung, Papa.«

»Nicht eine Flasche pro Kopf wie beim letzten Mal! Zwei Personen kriegen eine, verstanden?«

»Aber, Papa, sie sagen immer, ähm …«

»Was?«

»Mehr!«

Ich log. Ja, sie sagten stets: »Mehr!«, denn sie kannten nur dieses eine Wort auf Türkisch: »Daha!« Es ging dabei aber nicht darum, dass zu wenig Wasser da war, sondern darum, dass sich mein Gewinn minderte. Ich hatte begonnen, das Wasser, das wir normalerweise gratis austeilten, zu verkaufen. Selbstverständlich ohne Vaters Wissen. Immerhin war ich mittlerweile zehn Jahre alt.

»Gazâ!«

»Ja, Papa?«

»Hast du das gehört? Hat da jemand geschrien?«

»Nein, Papa.«

»Ist mir wohl nur so vorgekommen …«

»Vermutlich …«

Auch das war gelogen. Natürlich hatte auch ich den Schrei gehört. Es war aber noch keine zwei Tage her, dass ich erfahren hatte, ein Fleischstück zu besitzen, das zu mehr nütze war als nur zum Pinkeln. Deshalb war mein einziger Wunsch, den Job so schnell wie möglich zu erledigen, um mich dann hinter die verschlossene Tür meines Zimmers zurückzuziehen. Im Kasten unseres fahrenden Lastwagens befanden sich zweiundzwanzig Erwachsene und ein Baby. Woher hätte ich wissen sollen, dass der erstickte Schrei von einer Mutter kam, deren Mund in Todesangst von den anderen zugehalten wurde, als sie bemerkte, dass der Säugling auf ihrem Schoß gestorben war? Hätte es etwas geändert, wenn ich es gewusst hätte? Ich glaube kaum, denn ich war mittlerweile elf Jahre alt.

Wann genau der Menschenhandel seinen Ausgang nahm, ist nicht zu ermitteln. Denkt man aber daran, dass ein solcher Handel schon mit drei Personen abgeschlossen werden kann, darf man wohl weit in die Geschichte der Erdbewohner zurückgehen. In einem unnützen Buch, das ich vor Jahren las, lautete der einzig nützliche Satz: Das erste Werkzeug, das der Mensch benutzte, war ein anderer Mensch. Also glaube ich nicht, dass man lange damit wartete, diesem ersten Werkzeug einen Preis beizumessen und es zu vermarkten. Dementsprechend lässt sich der Anfang des Menschenhandels auf Erden folgendermaßen datieren: bei der ersten Gelegenheit! Da er auch die Zuhälterei umfasst, ist er das zweitälteste Gewerbe der Welt. Damals war ich mir nicht bewusst, dass wir die Tradition einer derart altehrwürdigen Branche pflegten. Ich schwitzte nur ständig und bemühte mich nach Kräften, Vaters Anordnungen auszuführen. Transport war tatsächlich das Rückgrat des Menschenhandels. Ohne Transport funktionierte gar nichts. Zudem war dies die riskanteste und aufreibendste Phase des Prozesses. Die Illegalen anschließend in ein Loch zu stecken, sie achtzehn Stunden am Tag Taschen herstellen zu lassen, ihnen Schlafplätze auf dem Fußboden zuzuweisen und obendrein diejenigen zu vögeln, die einem gefielen, war ein Kinderspiel im Vergleich zu unserem Job. Wir waren die echten Werktätigen, die unter den härtesten Bedingungen des Menschenhandelssektors schufteten! Vor allem standen wir permanent unter Druck. Lieferanten, Kunden, Vermittler, alle waren hinter uns her. Für die kleinste Verzögerung wurden stets wir verantwortlich gemacht. Die Zeit arbeitete beständig gegen uns, und alles, was schiefgehen konnte, täuschte lange eine schöne Reibungslosigkeit vor, bis es dann mit einem Mal siebenfach schiefging. Eigentlich war der Ablauf nicht so kompliziert, doch da keiner keinem vertraute, wie bei allen illegalen Tätigkeiten, wurde jeder Schritt wie auf einem Glasfeld tausendfach bedacht, bevor man ihn setzte.

Dreimal monatlich kam Ware über die iranische Grenze herein. Gab es Aufstockungen aus Irak oder Syrien, wurden sie dort zusammengeführt und zu uns auf den Weg gebracht. Meist wurden sie im Brummi angeliefert. Selbstverständlich immer in einem anderen. Selten teilte man die Ware auf verschiedene Fahrzeuge wie Lkw, Kleintransporter oder Minibus auf. Die Einfuhr über die iranische Grenze und die dortige Abfertigung der Ware organisierte ein Mann namens Aruz. Vermutlich war er so etwas wie der Vorsitzende des Durchführungsausschusses des Koordinierungsrates zur Umsetzung der länderübergreifenden Freizügigkeit des Individuums gegen gewisses Entgelt gemäß dem Katalog der revolutionären Volksbewegungen im Rahmen der Erhöhung der demokratischen Kampfeinnahmen und zur Begleichung der Ausgaben für ein freies Leben der dem ewigen Fortbestand der Führung und der unteilbaren Einheit Kurdistans verschriebenen leitenden Kaderkapazitäten der PKK. Das für die Freizügigkeit erhobene gewisse Entgelt war, was man von Herzen gab. Inklusive des Herzens. Oder einer Niere. Extrakosten halt … Fragte man Aruz selbst, lautete seine Antwort, er sei einer der für illegalen Handel zuständigen Minister der PKK. Er war aber nur für Menschenhandel zuständig. Mit Drogen oder Treibstoff oder Zigaretten oder Waffen befassten sich andere Ministerien. So sollte es sein: Dienstleistungsbranchen, die sich in der Zielsetzung unterschieden, gehörten administrativ voneinander getrennt. Andernfalls geriete alles durcheinander und vergiftete sich gegenseitig. Mit dem Beispiel des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus vor Augen, das klang wie Ministerium für Krieg und Frieden, wollte natürlich niemand einen solchen Fehler wiederholen. Waren zwei einander vollkommen gegensätzliche Komplexe, der eine rein am Profit orientiert, der andere an bedingungsloser Unterstützung und Bewahrung, in einem einzigen Ministerium vereint, blieb Kultur auf einen Musterkugelschreiber mit eingetrockneter Tinte beschränkt, und Tourismus auf das halb abgeriebene Logo eines Fünf-Sterne-Hotels auf demselben Kuli. Wen kümmerte das schon? Aruz zweifellos nicht! Aruz, Spezialist für Gewalt ebenso wie für Handel, hatte von Tourismus eine völlig andere Vorstellung. Zum einen leitete er sein Reich einer Agentur für illegale Reisen per Telefon. Indem er das Telefon verschlang. So musste es sein, denn da seine Stimme wie die eines ertrinkenden Nilpferds klang, verstand ich nie, was er sagte, und wiederholte nur immer: »Ich küsse deine Hände, Onkel Aruz!« Vielleicht mochte ich auch einmal, wenn ich schlecht gelaunt war, um ihn zu ärgern, fragen: »Wie geht es Felat?« Fiel der Name seines Sohnes, der so gar nicht dem Sohn seiner Träume entsprach, begann er zu grummeln wie ein gestrandeter Walfisch, ließ dann aber doch ein mammutartiges Getöse los, das einem Lachen ähnelte, und verlangte meinen Vater. Das verstand ich, denn er schwieg. Zwischen Vater und ihm herrschte eine Hassliebe. Sie waren fähig, stundenlang miteinander zu telefonieren. Wohl auch ein wenig aus Notwendigkeit. Zumindest konnten sie, solange sie telefonierten, einander nicht hintergehen. Gegenstand des Betrugs war natürlich unvollständige Lieferung oder unvollständige Deklaration der Ware. Ich wusste, dass Vater einige der Illegalen nicht ins Ausland transferierte, sondern nach Istanbul schickte. Sie wurden verkauft, um als Sklaven in allerlei Textilproduktionen oder in Konsumptionen wie der Prostitution eingesetzt zu werden. Dann verwandelte Vater seine Stimme vom Weltrichter zum Angeklagten der ganzen Welt und beschwerte sich bei Aruz bitter darüber, welche Katastrophe uns heimgesucht habe und wie es zur Dezimierung der Ware gekommen sei. Da alles, wirklich alles zum Stückpreis berechnet wurde, brüllte Aruz mindestens eine halbe Stunde nashornmäßig herum, presste sich dann eine halbe Drohung ab, weil er wusste, dass er keinen besseren Fuhrunternehmer als Vater finden würde, und legte schließlich einfach auf.

Irgendwann begann er sogar als vorbeugende Maßnahme, den Flüchtlingen eine Nummer auf die rechte Ferse tätowieren zu lassen und ein Foto-Archiv anzulegen. Fehlte einer, sagte er gleich: »Nenn mir die Nummer, welcher ist es?« Diese Tätowierungsgeschichte machte ihm so viel Spaß, dass er eines Tages Vater anrief und sagte: »Hol die Nummer 12! Guck auf seinem rechten Arm nach!« Als nach der Ferse auch der Arm freilag, war der Schriftzug Washamwareingeklotzt! zu lesen, und Aruz lachte wie ein frisch geborener Elefant. Was haben wir reingeklotzt hieß natürlich Aruz’ Fußballverein und Was haben wir eingesteckt Vaters. Die Person, die Aruz für die Botschaft als Papyrus benutzt hatte, war ein Usbeke Mitte zwanzig. Ich weiß nicht, warum, doch er stimmte in das Gelächter ein. Möglicherweise war er verrückt. Meines Erachtens waren sie eigentlich alle verrückt. All die Usbeken, Afghanen, Turkmenen, Malier, Kirgisen, Indonesier, Burmesen, Pakistaner, Iraner, Malaysier, Syrer, Armenier, Aserbaidschaner, Kurden, Kasachen, Türken, alle, wie sie da waren … Denn nur Verrückte konnten all das ertragen. Mit all das meine ich in gewisser Hinsicht uns: Aruz, Vater, die Brüder Harmin und Dordor, die Kapitäne der Boote, die die Flüchtlinge nach Griechenland übersetzten, die Bewaffneten, deren Verbrechensquote mit den Gezeiten stieg und fiel, und all die Psychopathen, deren Namen ich nicht kannte, die aufgereiht standen an einem zehntausende Kilometer langen Weg und die Menschen der Welt von Hand zu Hand an die Welt weiterreichten … Vor allem die Brüder Harmin und Dordor. Niemals würde ich wunderlichere Männer zu sehen bekommen, und ich mochte sie wirklich. Denn bei ihnen schien das Leben gar nicht zu existieren. Wenn es keine Regeln gab, löste sich auch das Leben allmählich in Luft auf. Nicht Zeit noch Moral, nicht Vater noch Angst blieben. Sie waren brutal genug, um die Minimalzivilisation dort, wo sie sich gerade befanden, umgehend in öde Wüste zu verwandeln, den Sand dieser Wüste zu einem gewaltigen Spiegel zu machen und darauf mit Blut in Lippenrouge Abschiedsbotschaften zu malen. Viele Male hatten sie mich bei der Hand gefasst und mitgenommen zu dem Punkt, an dem die Menschlichkeit endete. Auf der letzten Reise an die Grenze der Humanität aber konnten sie mich leider nicht begleiten.

Ja, Vater war ein gnadenloser Mann, und natürlich war die emotionale Welt von Aruz als Orang-Utan nicht mehr als ein Globus aus Plastik. Die Brüder Harmin und Dordor aber waren anders. Arthur Cravan im Doppelpack! Gemeinsam maßen sie vier Meter und wogen zweihundertfünfzig Kilo. Trotz der Fleischmasse waren ihre Stimmen winzig. Sie flüsterten ständig, und ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um mitzukriegen, was sie sagten. Dauernd tätowierten sie einander, und ich bemühte mich zu entziffern, was sie stachen. Nach einer Weile begriff ich natürlich, dass sie stets denselben Satz schrieben:

Born to be wild
Raised to be civilized
Dead to be free

Überall stand das, auf ihren Beinen, Armen, Nacken, Füßen, Händen … »Was heißt das?«, fragte ich. »Das sind Namen von Frauen«, sagte Harmin. Dordor sah, dass ich nicht überzeugt war, und erklärte lachend: »Das ist altes Türkisch, Junge, das ist Osmanisch!« Drei Jahre mussten vergehen, bis ich erfuhr, was die Worte bedeuteten. Am Morgen der Nacht, in der vier von Aruz’ Männern Dordor mit sechsundsechzig Messerstichen umgebracht hatten, erklärte Harmin es mir. Wieder flüsterte er.

»Wir waren ungefähr so alt wie du jetzt … Da sind wir los und haben auf einem Schiff angeheuert. Wir wollten auf Weltreise. Wie auch immer … Eines Tages rasselte der Anker runter, da waren wir in Australien. Gehen wir an Land, sagten wir. Doch nein! Wir konnten es einfach nicht. Hey, sagten wir, was ist denn los? Es war, als wären wir krank, ein Schwindel, eine Übelkeit! Kaum hieß es, an Land gehen, wurden wir kreidebleich … Es gibt doch diese Meeresangst. Man wird seekrank … Uns hatte die Landangst erwischt … Gibt es eine solche Krankheit, fragten wir. Nein, sagten sie. Bei denen gab es die vielleicht nicht, aber bei uns schon, verflucht! Also sind wir auf See geblieben … So vergingen die Jahre. Eine Weltreise ist das nicht geworden, wie du dir denken kannst. Aber eine Meeresreise! … Na, du hast doch gefragt: Was bedeuten diese Tattoos? Jetzt weißt du’s … Die ganze Geschichte, auf Türkisch. Irgendwann, irgendwo lernst du’s dann auch noch mal auf Englisch.«

»Wo hast du denn Englisch gelernt?«, hakte ich nach.

»In Belconnen Remand«, sagte er. Er sah, dass ich nicht verstand, und ergänzte: »Im Knast … in Australien.«

»Ich dachte, ihr seid nie an Land gegangen?«, rutschte es mir heraus.

»Sind wir auch nicht«, warf er mir hin. »Wir blieben darunter.«

Ich verstand kein Wort. Glaubte, er nehme mich wieder einmal auf den Arm. Damals merkte ich es noch nicht. Was auch immer diese Krankheit sein mochte, er steckte mich damit an. Dort auf den Stufen vor der Tür zum Leichenschauhaus, in dem Dordor lag … Dann ging er natürlich los, um Aruz zu erschießen. Vergebens. Er war es, der dabei umkam … Und ich lernte Englisch. Ich wusste nun, dass beide frei gewesen waren. Nicht auf der Welt, auf der sie nicht hatten an Land gehen können, vielleicht aber darunter …

Ich war zwölf und dank der Nah-Mittel-Fernasiaten, die regelmäßig in mein Leben traten, hatte sich mein geographisches Wissen erweitert wie bei einem Zigeuner. In der Schule stellte der Lehrer mich als Vorbild hin und sagte: »So soll es sein! Seht euch euren Mitschüler Gazâ an, in seiner Freizeit studiert er die Weltkarte. Es wäre gar nicht schlecht, wenn auch ihr ein Fünkchen Interesse dafür aufbringen könntet. Die Welt besteht nicht aus dem Flecken, auf dem ihr lebt, Kinder!« Alle außer Ender, der neben mir saß, starrten mich an, als würden sie mich am liebsten auffressen, und der Wutgeruch, den sie ausströmten, erfüllte den Klassenraum so drückend, dass man das Fenster aufreißen musste. Sie hassten mich wirklich. Da war ich mir sicher. Sie hätten mich gern verprügelt. Aber sie waren sich nicht sicher, ob sie das geschafft hätten. Denn ihnen waren ein paar unappetitliche Einzelheiten zu Ohren gekommen. Über mich und mein Leben und meine nähere und weitere Umgebung. Diese auf und ab schwingenden brutalen Neigungen von ihnen, in deren Zielpunkt ich im Schneidersitz hockte, währten nicht lange. Denn eines Tages holten Harmin und Dordor mich von der Schule ab und spielten sich vier Meter hoch auf. So knickte der mich umgebende Kinderhass ein und verwandelte sich in absolutes Schweigen. Nur Ender redete weiter. Nur er erzählte mir etwas und stellte mir Fragen, auf die er keine Antwort erhalten würde, und lachte vor sich hin. Sein Vater war bei der Gendarmerie. Feldwebel. Ich kannte ihn. Onkel Yadigâr. Kam er nach Schulschluss vorbei, zog er Schokolade aus der Tasche, reichte sie Ender und forderte ihn auf: »Du sollst teilen, mein Sohn, gib Gazâ etwas davon ab!« Hatte ich mir mein Stück in den Mund geschoben und kaute, fuhr er fort: »Komm doch mit zu uns, hör mal, Tante Salime hat Köfte gemacht.« Ich schüttelte ein-, zweimal den Kopf und machte mich aus dem Staub. Natürlich wusste er, dass ich Ahads Sohn war, doch er hatte keinen Schimmer, was für ein Scheißkerl Ahad war. Vielleicht lud er mich deshalb ständig nach Hause ein. Um mir als Gegenleistung für die Köfte Informationen aus dem Mund zu ziehen. Ich aber hatte keine Mutter, und Köfte konnte ich selber machen. Schon seit zwei Jahren …

Feldwebel Onkel Yadigâr, der Held! Das war er tatsächlich. Bei dem Waldbrand vor zwei Sommern hatte er drei vom Feuer eingeschlossene Kinder auf seinen Armen gerettet, die rechte Wange war ihm dabei verbrannt, anschließend hatte er eine Auszeichnung erhalten. Einmal hatte Ender sich den Orden angesteckt und war damit zur Schule gekommen, und die anderen Kinder, deren Väter Ölbauern, Krämer, Schneider, Gastwirte, Metzger, Wachmänner, Gefängniswärter, Essig-, Möbel-, Schreibwarenhändler oder tot waren, nagten so lange an dem Neid auf ihren Lippen, bis er abging, sammelten ihn an der Zungenspitze und spien ihn auf den Boden. Ender, den sie mieden, weil er mit mir sprach, schlossen sie noch weiter aus, was bedeutete, er war sogar aus dem Draußen raus; in der Klasse von siebenundvierzig Kindern ließen sie den Sohn des Menschenhändlers und den Sohn des Gendarmen außen vor. Enders Wachstum hatte sich derart verlangsamt, dass er sich der Vorgänge gar nicht bewusst wurde und weiter vor sich hin lachte. Ich dagegen war mir sicher, dass nicht mein Gesicht pickelig wurde, sondern mein Gemüt. Denn die Illegalen drehten mir, wenn auch nur ganz allmählich, den Magen um.

Sie fielen beim kleinsten Geräusch unbekannter Herkunft einander in die Arme und stießen winzige Schreie aus, bloß ihre Pupillen vibrierten, als litten sie unter einer mysteriösen Spielart der Parkinson-Krankheit, sie zuckten ununterbrochen, um mit ihren gebrochenen Nasen, die wirkten wie in Wasser getauchte Stifte, den nächsten Augenblick zu erschnuppern, sie redeten unablässig, wussten aber nichts anderes, als »Mehr!« zu sagen, sie steckten in sieben Lagen Stoff, die zunächst von Schweiß gelb wurden und anschließend schwarz vom Ruß, und aus diesen Textilgruften reckten sie die Köpfe nur hervor, um etwas zu fordern. Je länger ich diese Menschen sah, desto häufiger schrie ich: »Verpisst euch endlich!« Und zwar ihnen ins Gesicht. Sie verstanden es ohnehin nicht. Wer doch etwas verstand, saß da und schlug das Kinn auf die Brust nieder.

Als Ender fragte: »Was machst du am Wochenende?«, konnte ich ja schlecht antworten: »Ich schleuse Leute, verdammt!« Sagte ich aber: »Ich helfe meinem Vater«, zählte er alles auf, wohin auch ich gern gegangen wäre: das Kino in der Stadt, die Kirmes im Nachbarstädtchen, den Spielsalon im Einkaufszentrum in der City, eines der beiden Internetcafés bei uns in der Kleinstadt … und fügte hinzu: »Wär schön, wenn du mitkommst!« Ender hatte ja nichts zu tun! Sein einziger Job bestand darin, Hausaufgaben zu machen, die Köfte seiner Mutter zu verspeisen und vielleicht noch zum Korankurs zu gehen. Ich dagegen schuftete wie ein Hund! Ich sammelte die Tüten, in die die Illegalen kackten, und vergrub Scheiße hinter dem Lager; da ein Großeinkauf Aufmerksamkeit erregt hätte, besorgte ich in den verschiedenen Läden im Städtchen jeweils zwei Flaschen Wasser und drei Laib Brot, ich leerte die Kanister aus, in die sie pissten, ich hastete von Apotheke zu Apotheke, weil sie ständig krank wurden, und stand keinen Moment still. Nur weil ein paar Leute Lust hatten, von einem Land ins andere zu wandern, rackerte ich mich zu Tode! Selbst Robinson Crusoe gab ich Ender ungelesen zurück, weil ich keine Zeit dafür gefunden hatte. Es hatte mich eigentlich nur interessiert, weil er kurz darüber gesagt hatte: »Da ist so ein Sklavenhändler, den verschlägt’s auf eine einsame Insel …« Als ich das hörte, wäre ich am liebsten sofort selber auf eine einsame Insel verschlagen worden. Auch ich war ja eine Art Sklavenhändler, und beides hing mir zum Halse heraus: die Sklaven und der Handel mit ihnen! Mein einziger Wunsch war, von meinem Vater wie ein normaler Junge wegen schlechter Noten im Zeugnis getadelt zu werden und nicht, weil ich vergessen hatte, die Lüftung einzuschalten, die wir gerade erst im Lkw hatten einbauen lassen. Das war etwas anderes, als das Licht brennen zu lassen, wenn man aus dem Haus ging. Weil ich die Lüftung nicht eingeschaltet hatte, erstickte ein Afghane. Er war sechsundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte mir einen Frosch aus Papier gebastelt. Einen Frosch, der hüpfte, wenn ich ihn mit dem Finger antippte. Er hieß Cuma: Freitag. Nicht der Frosch, der Afghane. Jahre später erfuhr ich, dass auch dieser Robinson einen Freitag an seiner Seite hatte. Da er aber ein Romanheld war, galt er nicht als Cuma. Denn weder konnte er im Kasten eines Lkw tot aufgefunden werden noch einem Jungen, der ihn wie eine Schlange behandelte, einen Papierfrosch schenken! Hätten Robinson und Freitag tatsächlich gelebt, wäre ihnen unser Leben wie ein Roman vorgekommen. Genau da lag das Problem. Jedem kam das Leben anderer wie ein Roman vor. Dabei war auch das nur Leben. Beim Erzählen wurde kein Roman daraus. Bestenfalls ein Obduktionsbericht, mit einem Thema … Die Bibliotheken strotzten vor ihnen: vor Obduktionsberichten mit Thema. Ob mit oder ohne Einband, sie alle erzählten die Geschichten verblassender Haut. Der Mensch bestand ja ohnehin nur aus Haut und Knochen. Am Ende würde er faltig werden oder unterwegs zerbrechen. Oder wie Rodins denkender Stein würde er zum Sterben ein Afghane namens Cuma sein. Ein Freitag, der an einem Sonntag starb …

Ich fühlte mich so entsetzlich, dass ich endlich doch zu Ender Köfte essen ging. Es nützte aber nichts. Ich fühlte mich nur noch grässlicher, als ich da am Tisch saß und die Familie beäugte. Dabei schmeckten die Köfte lecker. Hätte ich eine Mutter gehabt, wäre sie sicher genau wie Tante Salime. Hätte »magst du noch mehr?« gefragt und »noch ein bisschen mehr!« gesagt. Möglicherweise hätte ich »mehr« dann nicht so gehasst. Als ich, wohl aus Gewohnheit, aufstand, um die Köfte in der Pfanne zu wenden, hätte meine Salime-gleiche Mutter auch gesagt: »Lass mal, das ist keine Arbeit für Kinder.« Und ich wäre wie ein Kind sitzen geblieben und hätte abgewartet, das spritzende Öl hätte mir nicht die Hände verbrannt, zwischen meinen Fingern hätten sich später keine Blasen gebildet. Wie jedes Mal …

»Es gibt noch Eis«, sagten sie, doch ich blieb nicht länger. Ich ging. Yadigâr hatte keine Fragen gestellt. Nicht nach der Gesundheit meines Vaters und nicht nach seinem Job. Als wüsste er alles, sagte er nur: »Iss! Du hast es nötig.« Eigentlich hatte er recht. Wir steckten alle in der Wachstumsphase. Ganz egal, wie alt wir waren, alle. Die ganze Welt. Wir wanden uns durch die Wachstumsphase hindurch. Mit Schwindel im Kopf … Darum aßen wir und mussten essen. Uns gegenseitig und alles andere. Wir hatten es nötig. Um möglichst schnell zu wachsen. Zu wachsen und zu verrecken und anderen Platz zu machen. Damit ein neues Zeitalter begänne. Das möglichst wenig mit dem jetzigen zu tun hätte … Denn uns war klar geworden, dass aus uns nichts werden würde. So blöd waren wir nun auch nicht. So blöd nicht.