Cover

JULIE KAGAWA

Unsterblich

TOR DER

EWIGKEIT

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Charlotte Lungstrass-Kapfer

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Das Buch

Seit ihrer Verwandlung zur Vampirin hat Allison Sekemoto darum gekämpft, sich ihre Menschlichkeit zu bewahren. Als ihr der grausame Vampirmeister Sarren jedoch ihre große Liebe Zeke nimmt, kennt Allies Wut keine Grenzen mehr: Sie wird alles daran setzten, Zeke zu rächen – auch wenn das bedeutet, dass sie ihre dunkle Seite, die sie so lange unterdrückt hat, akzeptieren muss. Gemeinsam mit ihrem Schöpfer Kanin und ihrem Blutsbruder Jackal macht Allie Jagd auf Sarren. Die Spur führt sie nach Eden, die letzte Vampir freie Zone, die es auf Erden noch gibt. Und plötzlich steht für Allie und ihre Freunde viel mehr auf dem Spiel, als nur die Erfüllung ihrer Rachepläne …

Julie Kagawas Unsterblich -Reihe im Heyne-Verlag:

Tor der Dämmerung

Tor der Nacht

Tor der Ewigkeit

Die Autorin

Julie Kagawa wurde in Sacramento, Kalifornien, geboren, bevor sie im Alter von neun Jahren mit ihrer Familie nach Hawaii umzog. Schon in ihrer Kindheit war das Schreiben ihre große Leidenschaft. Langweilige Schulstunden vertrieb sie sich damit, all die Geschichten festzuhalten und zu illustrieren, die ihr im Kopf herumspukten. Nach Stationen als Buchhändlerin und Hundetrainerin wurde sie schließlich Autorin und feierte mit ihrer Plötzlich Fee-Reihe ihren internationalen Durchbruch. Von Julie Kagawa sind außerdem die Plötzlich Prinz- und die Unsterblich-Reihe sowie Talon – Drachenzeit im Heyne Verlag erschienen.

 

 

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Titel der amerikanischen Originalausgabe

The Forever Song – Blood of Eden 3

Deutsche Erstausgabe 02/2017

Redaktion: Sabine Thiele

Copyright © 2014 by Julie Kagawa

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock/Lovelybird

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-17181-0
V003

www.heyne.de

 

Für Nick –

deine Ideen sind unvorstellbar wertvoll für mich.

Und für meine Leser –

eure Tränen nähren meine Muse.

 

 

»Ich erwarte nicht, dass du das verstehst,

kleines Vögelchen. Ich erwarte nur, dass du singst.

Sing für mich, sing für Kanin,

schenke uns ein wundervolles Lied.«

Sarren

 

 

ERSTER TEIL

DÄMON

 

 

1

Das Tor des Außenpostens hing lose in den Angeln und schwang quietschend hin und her. Immer wieder prallte es gegen die Mauer, ein rhythmisches Klopfen, das die drückende Stille durchdrang. Der kalte Wind fegte durch die Öffnung und trug den Geruch von Blut heran, der wie eine dicke Decke alles andere erstickte.

»Er war hier«, sagte Kanin leise. Der Meistervampir hob sich wie eine dunkle Statue von dem weißen Schnee ab. Reglos stand er neben mir, vollkommen gelassen, aber in seinen Augen stand Besorgnis. Ich hingegen musterte den Zaun teilnahmslos, während der Wind an meinem Mantel und meinen langen schwarzen Haaren zerrte.

»Ist es überhaupt sinnvoll hineinzugehen?«

»Sarren weiß, dass wir ihn verfolgen«, antwortete er gedämpft. »Er will, dass wir das sehen. Wir sollen wissen, dass er es weiß. Wenn wir durch dieses Tor treten, wartet dahinter wahrscheinlich etwas ganz Spezielles auf uns.«

Mit knirschenden Schritten tauchte Jackal hinter uns auf, auch sein schwarzer Mantel bauschte sich hinter ihm. Seine gelben Augen funkelten grausam, als er das Tor eingehend studierte. »Na dann«, sagte er und präsentierte grinsend seine Reißzähne. »Wenn er sich schon die Mühe gemacht hat, etwas zu inszenieren, sollten wir den Psycho nicht warten lassen, oder?«

Strotzend vor Selbstbewusstsein marschierte er durch das Tor und betrat die winzige Siedlung dahinter. Nach kurzem Zögern folgten wir ihm.

Hinter der Mauer wurde der Blutgeruch schlagartig stärker, doch auf dem schmalen Pfad zwischen den Häusern rührte sich nichts. Die schäbigen Hütten aus Holz und Wellblech lagen still in der Dunkelheit, und selbst weiter hinten kamen wir nur an schneebedeckten Vorgärten und leeren Gartenstühlen vorbei. Alles schien intakt und unversehrt zu sein. Keine Leichen. Wir betraten nur wenige Häuser, aber auch hier gab es keine verstümmelten Körper in den Betten oder blutverschmierte Wände. Wir fanden nicht einmal tote Tiere auf der kleinen, zertrampelten Weide am Ende der Hauptstraße – nur Schnee und Leere.

Und trotzdem war hier alles von Blutgeruch durchdrungen, er hing schwer in der Luft und ließ den Hunger in mir brüllend erwachen. Ich kämpfte ihn nieder und biss die Zähne zusammen, um nicht frustriert zu knurren. Es war schon zu lange her, ich brauchte Nahrung. Der Geruch machte mich fast wahnsinnig, und die Tatsache, dass hier keine Menschen mehr waren, half auch nicht gerade. Wo steckten die alle? Ein ganzer Außenposten konnte ja nicht so mir nichts, dir nichts verschwinden.

Doch dann umrundeten wir die Weide und gingen zu der Scheune hinauf, die auf dem Hügel dahinter stand. Dort fanden wir die Dorfbewohner.

Neben dem Gebäude stand ein riesiger, toter Baum. Seine knorrigen Äste ragten wie krumme Finger in den Himmel hinauf und bogen sich unter dem Gewicht Dutzender Körper, die kopfüber an ihnen befestigt waren. Dicke Seile hielten die Gliedmaßen der Männer und Frauen an den Zweigen. Sogar einige Kinder schaukelten im Wind, ihre steifen, weißen Arme pendelten schlaff hin und her. Man hatte ihnen die Kehle aufgeschlitzt, sodass das vergeudete Blut den Schnee am Fuß des Baumes dunkel färbte. Trotzdem hätte mich der Geruch fast umgehauen, und ich ballte krampfhaft die Fäuste, als der Hunger mein Innerstes mit glühenden Klauen bearbeitete.

»Tja.« Mit verschränkten Armen musterte Jackal den Baum. »Irgendwie festlich, oder?« Seine Stimme klang angespannt, offenbar hatte auch er die Grenzen seiner Selbstbeherrschung erreicht. »Das dürfte wohl der Grund dafür sein, dass wir zwischen hier und New Covington keinen einzigen Blutsack gefunden haben.« Knurrend schüttelte er den Kopf und bleckte die Zähne. »Langsam geht mir dieser Kerl so richtig auf die Eier.«

Ich unterdrückte den Hunger und versuchte, mich zu konzentrieren. »Aber James, du wirst doch wohl kein Mitleid mit den wandelnden Blutkonserven haben, oder?«, spottete ich. Manchmal waren die Wortgefechte mit Jackal das Einzige, was mich ablenken konnte. Er verdrehte prompt die Augen.

»Nein, Schwesterlein, ich bin nur empört darüber, dass sie die Dreistigkeit besitzen, tot zu sein, sodass ich sie nicht mehr aussaugen kann«, erwiderte er zähnefletschend. Solche Wutausbrüche waren bei ihm eine Seltenheit. Hungrig starrte er die Toten an. »Verdammter Sarren«, sagte er. »Wenn ich diesen Psychopathen nicht unbedingt tot sehen wollte, würde ich sagen, wir geben die Sache auf. Wenn es so weitergeht, müssen wir sowieso bald von der Spur abweichen, damit wir einen Blutsack aufstöbern können, dessen Kehle noch ganz ist. Womit wir dem Dreckskerl wahrscheinlich genau in die Hände spielen.« Mit einem tiefen Seufzer drehte er sich zu mir um. »Das wäre alles viel einfacher, wenn du den Jeep nicht geschrottet hättest.«

»Zum letzten Mal«, knurrte ich, »ich habe dich lediglich auf die Straße hingewiesen, die nicht blockiert war. Ich habe nicht die Nägel ausgestreut, damit du drüberfährst.«

»Allison.«

Kanins leise Stimme machte unserem Streit ein Ende, und wir drehten uns zu ihm um. Unser Schöpfer stand mit grimmiger Miene an der Ecke der Scheune und winkte uns zu sich heran. Nachdem ich mir den Baum mit seinem gruseligen Behang noch einmal angesehen hatte, ging ich zu ihm. Wieder spürte ich den beißenden Hunger. Die Scheune roch sogar noch durchdringender nach Blut als die Äste des Baumes. Eine Seite war fast vollständig damit bedeckt: In dicken, vertikalen Linien klebte es am Holz, bereits eingetrocknet und schwarz.

»Gehen wir weiter«, bestimmte Kanin, als Jackal und ich neben ihn getreten waren. Seine Stimme war ruhig, aber ich wusste, dass er genauso hungrig war wie wir alle. Vielleicht war es bei ihm sogar schlimmer, da er sich noch immer von seinem Beinahe-Tod in New Covington erholte. »Hier gibt es keine Überlebenden«, fuhr er mit einem finsteren Blick auf den Baum fort, »und uns läuft die Zeit davon. Sarren erwartet uns bereits.«

»Wie kommst du darauf, alter Mann?«, wollte Jackal wissen. »Okay, das hier war sicher das Werk dieses Psychos, aber das könnte er doch auch einfach so zum Spaß getan haben. Bist du sicher, dass er mit uns rechnet?«

Stumm zeigte Kanin auf die blutverschmierte Wand vor uns. Genau wie Jackal sah ich sie mir noch einmal an, konnte aber nichts erkennen. Na ja, abgesehen von einer Wand voller Blut eben.

Jackal hingegen lachte leise. »Oh, du verdammter Mistkerl.« Grinsend schüttelte er den Kopf und ließ den Blick an der Scheunenwand hinaufwandern. »Wie niedlich. Mal sehen, ob du auch noch so witzig bist, wenn ich dich mit deinem eigenen Arm zu Tode prügele.«

»Was denn?« Offenbar entging mir hier etwas. Wieder starrte ich auf die Bretter und fragte mich, was die beiden anderen Vampire dort entdeckt hatten. »Was ist so lustig? Ich sehe gar nichts.«

Seufzend stellte sich Jackal hinter mich und zog mich am Kragen rückwärts. »Hey!« Ich wehrte mich heftig. »Lass los! Was soll der Scheiß?«

Ohne mich zu beachten, ging er weiter und schleifte mich mit. Nach ungefähr zwölf Schritten blieb er stehen, und ich konnte mich endlich losreißen. »Spinnst du?«, fragte ich ihn zähnefletschend. Jackal zeigte nur wortlos auf die Scheune.

Als ich mich zu der Wand umdrehte, blieb ich wie erstarrt stehen. Aus dieser Entfernung konnte ich sehen, was Kanin und Jackal gemeint hatten.

Sarren, du kranker Dreckskerl, dachte ich und spürte, wie sich der bereits vertraute Hass in mir ausbreitete. Das wird mich nicht aufhalten, und es wird dich nicht retten. Wenn ich dich finde, wirst du den Tag verfluchen, an dem du das erste Mal meinen Namen gehört hast.

In ungefähr drei Meter hohen Buchstaben hatte er mit Blut eine Frage an die Scheune geschrieben. Und diese Frage war der unwiderlegbare Beweis dafür, dass Sarren sehr wohl wusste, dass wir hinter ihm her waren. Und dass wir ihm wahrscheinlich direkt ins Netz gehen würden.

SCHON HUNGRIG?

Wir hatten New Covington vor zwei Wochen verlassen.

Zwei Wochen lang waren wir über die endlosen, schneebedeckten Straßen gewandert. Zwei Wochen durch kalte Wildnis oder tote, verlassene Siedlungen. Leere, von Efeu umrankte Häuser in einsamen Straßen, wo es nichts gab außer rostigen Autowracks am Bordstein. Keine Regung, nur hin und wieder kleinere oder größere Tiere, die sich die Gebiete zurückeroberten, wo früher die Menschen geherrscht hatten. Der Jeep hatte – wie Jackal es so wortgewandt dargestellt hatte – den Geist aufgegeben, weshalb wir zu Fuß weitermussten, immer hinter einem Irren her, der genau wusste, dass wir ihm folgten. Und der uns immer einen Schritt voraus war.

Was hatte Kanin gesagt? Uns lief die Zeit davon. In gewisser Weise stimmte das wahrscheinlich sogar. Denn Sarren hatte etwas bei sich, was für viele von uns das Ende bedeuten konnte. Vielleicht sogar für die ganze Welt. Sarren war im Besitz einer mutierten Form der Roten Schwindsucht, also des Virus, das vor sechzig Jahren die Welt zerstört hatte. Allerdings hatte diese Mutation noch einen hässlichen Nebeneffekt: Sie tötete auch Vampire. Wir drei – Jackal, Kanin und ich – waren diesem Virus in New Covington ausgesetzt worden und hatten das Grauen dieser Seuche hautnah miterlebt. Menschen hatten sich in hirnlose Irre verwandelt, die sich kreischend und lachend das Fleisch von den Gesichtern kratzten und alles attackierten, was ihnen über den Weg lief. Bei Vampiren waren die Auswirkungen sogar noch entsetzlicher: Das Virus zehrte ihr totes Fleisch auf, sodass sie von innen heraus verfaulten. Bei unserer letzten Konfrontation mit Sarren hatten wir erfahren, dass der geisteskranke Vampir New Covington nur als eine Art Testgelände benutzt hatte und dass seine wahren Absichten noch viel teuflischer waren.

Er wollte alles auslöschen: alle Menschen, alle Vampire. Reinen Tisch machen, so hatte er es genannt, und dafür sorgen, dass die Welt sich endlich selbst heilen konnte. Und wenn er dieses Virus noch einmal freisetzte, wäre es wirklich unaufhaltsam.

Allerdings gab es eine kleine Schwachstelle in seinem Plan.

Wir hatten ein Gegenmittel. Oder zumindest hatten wir eines gehabt. Jetzt befand es sich in Eden, dem letzten Ort der Hoffnung auf dieser Welt. Und genau darauf hatte Sarren es abgesehen: Er wollte das Gegenmittel, entweder um es zu vernichten oder um es gegen uns zu verwenden. Er glaubte, wir würden ihm nach Eden folgen, um ihn zu stoppen, um ihn davon abzuhalten, unseren letzten Ausweg zu zerstören oder das Virus freizusetzen. Er dachte, wir wollten die Welt retten.

Einen Scheißdreck wusste er. Mir war Eden vollkommen gleichgültig. Genauso wie das Virus, das Gegenmittel oder der Rest der Welt. Für mich machte es keinen Unterschied, ob die Menschen ein Mittel gegen das Verseuchtenvirus fanden oder ob sie Sarrens neue Seuche eindämmen konnten. Menschen bedeuteten mir nichts, nicht mehr. Sie waren das Futter, ich war der Vampir. Die Zeiten, in denen ich vorgegeben hatte, etwas anderes zu sein als ein Monster, waren vorbei.

Aber Sarren würde ich umbringen.

Er würde sterben für das, was er getan, für das, was er zerstört hatte. Ich würde ihn in Stücke reißen, würde ihn leiden lassen. In jener Nacht in New Covington, als wir dem Wahnsinnigen das letzte Mal gegenübergestanden hatten, waren wir zu viert gewesen. Als ich ihm den Arm abgetrennt hatte und er in die Finsternis geflohen war, nur um später zurückzukehren und das Schlimmste seiner Verbrechen zu verüben. Wir vier: ich, Jackal, Kanin und … noch einer. Aber an ihn durfte ich jetzt nicht denken. Er war fort. Und ich war noch immer ein Monster.

»Hey.«

Plötzlich ließ sich Jackal zu mir zurückfallen. Ein paar Schritte vor uns marschierte Kanin stetig die Straße entlang, die sich über die gefrorenen Felder zog. Der Außenposten mit seinen abgeschlachteten Bewohnern lag bereits einige Kilometer hinter uns, und endlich hatte der Wind auch den Blutgeruch fortgetragen. Den Hunger besänftigte das allerdings nicht; sogar in diesem Moment spürte ich ihn, ein dumpfes Ziehen, das bei der leisesten Provokation sofort zu brennendem, nacktem Verlangen anwachsen konnte. Er richtete sich sogar gegen Jackal, voller Wut darüber, dass er kein Mensch war, dass ich nicht einfach herumwirbeln und ihm die Fangzähne in den Hals schlagen konnte. Jackal schien davon glücklicherweise nichts zu merken.

Ich ignorierte ihn und starrte stur geradeaus. Momentan war ich weder in der Stimmung, mich mit ihm zu streiten, noch wollte ich mir seine verdrehten, nervigen Sprüche anhören. Was meinen Bruder im Blute natürlich nicht aufhalten konnte.

»Also, Schwesterlein«, begann er, »ich habe mir ein paar Gedanken gemacht. Wenn wir Sarren endlich eingeholt haben, wie sollen wir den alten Scheißkerl dann eigentlich töten? Ich fände ja Verstümmelung und Folter am besten, so lange wir es eben aushalten.« Er schnippte mit den Fingern. »Hey, vielleicht können wir ihn auch draußen anbinden, halb in der Sonne, halb im Schatten, das ist immer spannend. Das habe ich vor einigen Jahren mal mit einem Untoten gemacht, der mir tierisch auf die Nerven gegangen ist. Das Licht erreichte zuerst seine Füße und ist dann hochgekrochen bis zu seinem Gesicht. Es hat echt lange gedauert, bis er endlich den Löffel abgegeben hat. Am Schluss hat er mich angefleht, ihm den Kopf abzuhacken.« Er kicherte fröhlich. »Wie gerne würde ich Sarren so sterben sehen. Aber natürlich nur, wenn dein empfindsames Gemüt sich dadurch nicht gestört fühlt.«

Er grinste breit, und seine goldenen Augen schienen sich durch meine Schläfe brennen zu wollen. »Wollte dich nur ein wenig aufheitern, kleine Schwester, falls du wieder mal einen auf blutendes Herz machen willst. Aber wenn du irgendwelche Ideen hast, wie wir den alten Psycho um die Ecke bringen sollen, würde ich sie gerne hören.«

»Mir egal«, antwortete ich ausdruckslos. »Mach was du willst. Solange mir der letzte Schlag zusteht, ist mir der Rest total egal.«

Jackal war empört. »Na, das klingt aber nicht nach Spaß.«

Ohne ihm zu antworten, beschleunigte ich meine Schritte, um von ihm wegzukommen. Prompt legte er einen Zahn zu und schloss wieder zu mir auf.

»Komm schon, Schwesterlein, wo ist der nervtötende Moralapostel geblieben, der mir alle zehn Sekunden ins Gesicht gesprungen ist? So macht es ja gar keinen Spaß mehr, dich zu verarschen.«

»Warum redest du dann überhaupt noch mit mir?«, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen. Jackal seufzte übertrieben schwer.

»Weil mir langweilig ist. Und der alte Mann ist ja auch nicht gerade eine Stimmungskanone.« Mit dem Kopf deutete er auf Kanin, der weiter Abstand zu uns hielt. Meiner Meinung nach hörte Kanin jedes Wort, trotzdem drehte er sich nicht um und wirkte auch sonst nicht so, als würde er lauschen. Jackal war das wahrscheinlich sowieso egal. »Außerdem interessiert mich deine Meinung über unseren brillanten, aber geisteskranken Serienmörder.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung umfasste Jackal die weiten Felder ringsum. »Es ist ein langer Weg bis nach Eden, und mein Gefühl sagt mir, dass wir vor der Futterinsel wohl keine Blutsäcke mehr finden werden – zumindest keine lebenden. Die Vorstellung, dem Irren gegenüberzutreten, während Kanin und du halb wahnsinnig sind vor Hunger, gefällt mir ganz und gar nicht.«

Stirnrunzelnd musterte ich ihn. »Was ist denn mit dir?«

»Oh, meinetwegen musst du dir keine Sorgen machen, Schwesterlein.« Jackal grinste breit. »Ich bin nicht so leicht kleinzukriegen. Damit wollte ich eigentlich nur sagen, dass diese nervige Politik der verbrannten Erde, die Sarren hier anwendet, es dir sehr schwer machen wird. Noch ein paar Tage wie heute, dann wird der nächste Mensch, der uns über den Weg läuft, in Stücke gerissen werden – und zwar von dir.«

Ich zuckte mit den Schultern. Jackals Erkenntnis war nicht sonderlich überraschend, und mir war klar geworden, dass es mich wirklich nicht mehr kümmerte. Wo auch immer Sarren hinging, und sei es die hinterletzte Ecke des Landes, ich würde ihm folgen. Was er auch tat, egal wie weit er flüchtete und wie schnell er rannte, ich würde ihn einholen, und dann würde er für seine Taten bezahlen. »Na und?«, fragte ich und konzentrierte mich wieder auf die Straße. »Ich bin ein Vampir. Wen interessiert’s?«

»Oh, bitte.« Ich hörte Mitleid in seiner Stimme und Ekel. »Langsam ist es mal gut mit diesem ›Ist mir alles egal‹-Mist. Du weißt ganz genau, dass du dich irgendwann damit auseinandersetzen musst.«

Eine kalte Faust schloss sich um meine Eingeweide. Jackal sprach nicht mehr vom Hunger, das war klar. Erinnerungen stiegen in mir auf – Erinnerungen an ihn –, aber dann erschien das Monster und verschluckte sie, bevor ich etwas fühlen konnte. »Ich habe mich damit auseinandergesetzt«, erwiderte ich ruhig.

»Nein, hast du nicht.« Plötzlich klang die Stimme meines Bruders knallhart. »Du hast es nur begraben. Und wenn du das nicht bald in den Griff bekommst, wird es zum blödesten Zeitpunkt plötzlich wieder auftauchen. Wahrscheinlich genau dann, wenn wir Sarren gegenüberstehen. Denn so arbeitet der Verstand dieses Psychopathen: Er weiß genau, wann er was sagen muss, um uns aus der Bahn zu werfen und sich so einen Vorteil zu verschaffen. Und dann wird entweder er dich töten, wenn du am Boden bist – was mich wirklich nerven würde –, oder ich muss es selbst tun.«

»Vorsicht, Jackal.« Kalt und leer klang das, weil ich einfach nichts spürte, nicht einmal jetzt. »Man könnte sonst meinen, dass ich dir am Herzen liege.«

»Gott bewahre, Schwesterlein.« Mit einem abfälligen Grinsen trat Jackal einen Schritt zurück. »Dann halte ich eben meinen Mund. Aber wenn wir Sarren einholen und er etwas sagt, das dich fertigmacht, erwarte ja nicht, dass ich dir das Händchen halte.«

Da musst du dir keine Sorgen machen, dachte ich, während Jackal kopfschüttelnd davonging. Wieder flackerte eine verschwommene Erinnerung auf, und mein innerer Dämon verscheuchte sie. Es gibt nichts mehr, was mich fertigmachen könnte. Nichts, was Sarren sagt, berührt mich noch.

Wir marschierten noch einige Kilometer durch die leere, unter Eis und Schnee verborgene Landschaft, bis die Sterne verblassten und ein feiner rosa Schimmer im Osten erschien. Als bei mir gerade ein gewisses Unwohlsein einsetzte, verließ Kanin die Straße und hielt auf eine graue, halb eingestürzte Scheune zu, die am Rand eines zugewucherten Feldes stand. Daneben ragte ein verrostetes Silo auf. Drinnen war es muffig, und überall lagen zersplitterte Holzbalken und schimmelige Strohbündel herum. Aber es war dunkel und abgelegen, und das Dach hatte keine Löcher, durch die das Sonnenlicht eindringen konnte. Ohne auf Jackals Gejammer über verdreckte, rattenverseuchte Schlafplätze zu achten, schob ich die Tür einer halb verrotteten Pferdebox auf und entdeckte hinter einem modernden Heuhaufen eine abgeschiedene Ecke. Ich setzte mich hin, lehnte mich an die Wand und schloss die Augen.

Im ersten Moment kamen die Erinnerungen wieder hoch, wie die Bruchstücke eines anderen Lebens stiegen sie aus der Dunkelheit empor. Ich sah eine andere Scheune vor mir, ganz ähnlich wie diese hier, aber warm und feucht, erfüllt von leisen Tiergeräuschen und murmelnden Stimmen. Heu, Laternen und Zufriedenheit. Ein geflecktes Zicklein auf meinem Schoß, zwei Menschenkinder rechts und links, die mir dabei zusahen, wie ich das Tier fütterte.

Das Monster erhob sich. Damals war ich ebenfalls hungrig gewesen, und ich hatte zugesehen, wie die beiden Kinder eingeschlafen waren. Völlig ahnungslos hatten sie ihre Hälse dem Vampir dargeboten, an den sie sich unwissentlich gekuschelt hatten. In meiner Erinnerung beugte ich mich vor, näherte mich der Kehle des einen Kindes, meine Reißzähne glitten aus dem Kiefer und … voller Entsetzen hatte ich mich zusammengerissen. Ich war aus der Scheune geflohen, bevor ich endgültig die Kontrolle verlor und zwei unschuldige, schlafende Kinder abschlachtete.

In meinem Inneren grinste das Monster abfällig. Das schien verdammt lange her zu sein. Ein ganzes Leben. Jetzt brannte der Hunger wieder in mir und vernebelte mir das Hirn, sodass ich sehnsüchtig an diese schlafenden Kinder zurückdachte. So verwundbar hatten sie neben mir gelegen. Dann stellte ich mir vor, wie ich mich auch noch das letzte Stückchen runterbeugte und es zu Ende brachte.

Die nächste Nacht war wie die vergangene. Noch mehr leere Felder und Wildnis, hin und wieder ein Waldstück. Noch mehr unberührter, knirschender Schnee unter den Stiefeln und die endlose Straße, die uns nach Nordosten führte. Noch mehr nagender Hunger in meinem Inneren, der mich dünnhäutig und unberechenbar machte. Ich konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und versuchte den dumpfen Schmerz zu ignorieren, der einfach nicht verschwinden wollte. Dabei spürte ich das Monster, es verharrte gefährlich dicht unter der Oberfläche. Ein kaltes, finsteres Ding, immer auf der Suche, rastlos knurrend. Es hörte das Trippeln kleiner Pfoten in der Dunkelheit, die Waschbären, Opossums und anderen nachtaktiven Wesen, die ungesehen herumstöberten. Es spürte die vorbeifliegenden Fledermäuse und roch den tiefen, langsamen Atem der schlafenden Rehe, die sich im Unterholz aneinanderkuschelten. Es wollte angreifen, sich auf jedes dieser Lebewesen stürzen und sie zerfetzen, bis ihr heißes Blut in den Schnee spritzte und durch unsere Kehlen floss. Doch es wusste ebenso gut wie ich, dass es reine Energieverschwendung wäre, Tiere zu jagen. Das würde den Hunger nicht besänftigen. Nur eine ganz bestimmte Beute konnte die innere Leere füllen, und die war nirgendwo zu finden.

Also gingen wir weiter: Kanin vorweg, Jackal und ich hinterher. Drei Vampire, die keine Ruhepausen brauchten, denen Kälte, Müdigkeit oder Anstrengung nichts anhaben konnten, marschierten durch eine zerstörte Welt, die für die meisten Menschen den Tod bedeutete. Was sich ehrlich gesagt bei fast allen bereits bewahrheitet hatte.

Und Sarren war gerade dabei, auch noch den Rest zu erledigen.

Plötzlich blieb Kanin mitten auf der Straße stehen und drehte sich mit wachsamer Miene zu uns um. Überrascht und ein wenig alarmiert hielt ich inne. Seit unserem Aufbruch in New Covington hatten wir uns kaum unterhalten. Der Meistervampir war schweigend und unnahbar gewandert, ohne sich nach seinen beiden Nachkommen umzusehen. Mir war das nur recht. Ich hatte ihm auch nicht viel zu sagen. Zwischen uns ragte jetzt eine hohe Mauer auf. Natürlich spürte ich seine Enttäuschung, registrierte seine Blicke, wenn Jackal seine grausamen, menschenverachtenden Sprüche losließ … und ich nicht reagierte. Nicht einmal Kanins stillschweigende Missbilligung würde etwas daran ändern, dass ich ein Monster war.

»Da kommt jemand«, stellte Kanin fest und suchte die Straße hinter uns ab. Ich drehte mich ebenfalls um und schaltete alle Sinne auf höchste Stufe, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Motorengeräusche hallten durch die Dunkelheit, und sie kamen näher.

Sofort flammte der Hunger auf, und das Monster, das ja sowieso in Lauerstellung lag, regte sich voller Vorfreude. Fahrzeuge waren gleichzusetzen mit Menschen, also mit Nahrung. Ich stellte mir vor, wie ich mich in seinen Hals verbiss, das warme Blut in meinem Mund. Allein beim Gedanken daran wuchsen meine Reißzähne, und ich knurrte gierig.

»Haltet euch zurück«, befahl Kanin und ging an mir vorbei. Trotzig fletschte ich die Zähne, aber er hatte mir bereits den Rücken zugedreht und bemerkte es nicht. »Runter von der Straße, alle beide«, fuhr er fort. Das Motorengeräusch wurde lauter, und zwischen den Bäumen blitzten Scheinwerfer auf. »Kaum jemand geht das Risiko ein anzuhalten, wenn nachts auf einer einsamen Straße drei Fremde auftauchen. Es ist besser, wenn sie einen einzelnen, unbewaffneten Wanderer sehen und keine Gruppe.« Schärfer wiederholte er: »Runter von der Straße, Allison.«

Jackal hatte sich bereits zurückgezogen und verschmolz mit den Schatten am Straßenrand. Kanin sah mich nicht einmal an, sondern behielt die heranrasenden Lichter im Blick. Knurrend verließ ich den Betonstreifen und schob mich hinter einen großen, knorrigen Baum. Während ich wartete, tobte der Hunger in meinem Bauch, und der Dämon beobachtete mit kaum zu zügelnder Wut das Geschehen.

Die Lichter wurden heller, dann bog ein ehemals weißer Van um die Ecke, der jetzt nur noch von Rostflecken zusammengehalten wurde. Kanin trat vor und winkte mit weit ausgestreckten Armen. Das Fahrzeug raste auf ihn zu, sodass er voll im Licht der Scheinwerfer stand.

Es wurde nicht langsamer. Stattdessen steuerte es direkt auf Kanin zu und beschleunigte noch weiter, dann streckte ein brutal aussehender Mann den Kopf aus dem Beifahrerfenster. Grinsend hob er eine schwarze Pistole und zielte damit auf den Fremden auf der Straße.

Kanin sprang zurück, gleichzeitig knallten mehrere Schüsse, und es blitzte grell. Mit quietschenden Reifen und laut hupend schoss der Van vorbei. Als ich das raue Lachen hörte, ging das Monster in mir brüllend zum Angriff über. Kurz bevor der Wagen mit mir auf einer Höhe war, sprang ich auf die Straße und zog mein Schwert. Während der Van an mir vorbeiraste, hieb ich knurrend auf den Vorderreifen ein, durchtrennte dabei die Gummischicht und prallte so heftig mit der Klinge gegen das Metall der Felge, dass Funken aufstoben. Mit einem unkontrollierten Ruck brach das Fahrzeug aus, schlitterte über die Straße und landete frontal an einem Baum. Ich sprang hinterher, getrieben von dem brennenden Hunger und dem wild brüllenden Monster in mir. Fahrer und Beifahrer lagen reglos und blutend an der zersplitterten Frontscheibe, aber dann öffnete sich knirschend die Seitentür, und zwei weitere Männer kletterten aus dem Wrack. Beide hatten Pistolen in der Hand, und zwar nicht gerade kleine. Der Erste hob taumelnd seine Waffe, als ich auf ihn zustürmte. Mein Schwert blitzte auf, dann brüllte er wild, als die Pistole zusammen mit seinen beiden Armen auf der Straße landete. Sein Freund stieß einen unverständlichen Fluch aus und wollte fliehen. Er schaffte es immerhin bis zum Straßenrand, bevor ich ihn von hinten ansprang und ihm die Reißzähne ins Genick schlug.

Blut strömte in meinen Mund, warm und berauschend. Ich knurrte genüsslich und überließ mich ganz diesem Gefühl, spürte, wie der Mensch in meinen Armen schlaff wurde. Warum war ich nur je davor zurückgescheut? Es wollte mir einfach nicht mehr einfallen.

»Na großartig: Wir hatten vier Menschen, jetzt sind zwei tot, und einer blutet aus wie eine geplatzte Benzinleitung.« Die gereizte Stimme drang durch mein Hochgefühl. Ich hob den Kopf, bis mir das warme Blut übers Kinn lief, und entdeckte Kanin und Jackal neben dem zerstörten Van. Kanin beobachtete, wie der armlose Mann stöhnend und schluchzend über den Boden kroch; offenbar war er schon halb im Delirium. Jackal hingegen starrte mich an. Halb belustigt, halb angewidert fuhr er fort: »Oh, mach dir meinetwegen keine Umstände. Genieß du deinen Blutsack, ich bin sowieso nicht besonders hungrig.«

Ich schluckte, ließ meine Reißzähne zurück in den Kiefer gleiten und fühlte mich plötzlich schuldig. Kanin und Jackal hatten ebenfalls mit dem Hunger zu kämpfen, und ich behielt die einzige verfügbare Futterquelle ganz für mich. Vampire nährten sich nicht von Toten, nicht einmal von ganz frisch Verstorbenen. Trank man von einem Leichnam, hatte das denselben Effekt wie bei einem Tier: Man konnte den Hunger nicht stillen. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Vampire es ekelhaft fanden. Unsere Beute musste menschlich und lebendig sein, so lautete eine der uralten, unergründlichen Regeln, nach denen wir lebten. Eine der Regeln, die man einfach nicht infrage stellte.

Ich schleppte meine Beute ein Stück weit zu Jackal hinüber, der am Straßenrand stand und mich belustigt, aber gleichzeitig gereizt musterte. »Hier.« Ich schob den Mann in seine Richtung. Wie eine Gummipuppe fiel er auf den Asphalt. »Er atmet noch, glaube ich. Ich bin mit ihm fertig.«

Jackal verzog den Mund. »Ich will deine Brosamen nicht, Schwester«, erklärte er abfällig. Ich grinste nur.

»Gut. Kann ich dann den Rest haben?«

Er warf mir einen mörderischen Blick zu, ging zu dem Mann und zog ihn hoch. Der Kopf fiel schlaff nach hinten und gab den blutverschmierten Hals frei. Jackal versenkte seine Zähne in dem noch unberührten Teil seiner Kehle.

Ich drehte mich wieder zu dem Van um, wo Kanin gerade den Armlosen sanft zu Boden gleiten ließ, wo er leblos in sich zusammensackte. Seine Armstümpfe bluteten nicht mehr, und seine Haut war kalkweiß. Wie viel Blut Kanin wohl noch aus ihm herausbekommen hatte, bevor er gestorben war? Wahrscheinlich nicht viel, aber selbst ein bisschen war besser als gar nichts. Ich hätte ihm nur einen Arm abschneiden sollen. Oder vielleicht einen Fuß. Dann hätte er auch nicht mehr weglaufen können.

Irgendwo tief in meinem Inneren wandte sich ein Teil von mir entsetzt von diesen Gedanken ab. Das war die alte Allison, die noch ein bisschen menschlich gewesen war und mich nun anbrüllte, dass das falsch war, dass ich nicht so sein müsse. Aber ihre Stimme war ganz leise, kaum zu verstehen. Ich begann zu zittern, aber schon kam das Monster und begrub sie unter kalter Gleichgültigkeit. Es ist zu spät, dachte ich, während sich wieder schützende Taubheit in mir breitmachte. Ich wusste, was ich war. Mitgefühl, Gnade, Reue – das alles hatte im Leben eines Vampirs keinen Platz. Die alte Allison war stur, es würde eine Weile dauern, bis sie endgültig starb, aber inzwischen hörte ich ihre Stimme immer seltener. Irgendwann würde sie ganz verschwinden.

Sobald mein vampirischer Gleichmut wieder fest im Sattel saß, konzentrierte ich mich auf meinen Schöpfer. Kanin hatte den Toten liegen lassen und spähte gerade in das Innere des Vans. Für einen Moment huschte Schmerz über sein Gesicht, bevor es wieder ausdruckslos wurde. Neugierig ging ich zu ihm und schaute in den Wagen.

Dort lag noch eine Leiche, eine junge Frau, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, in einem verdreckten weißen Hemdkleid. Ihre Hände waren vor dem Körper gefesselt, und sie lag zusammengekrümmt an der Wand des Fahrzeugs, den Kopf in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Blonde Locken fielen ihr ins Gesicht, und ihre glasigen blauen Augen starrten ins Nichts.

Oh nein. Sie war eine Gefangene, eine Unschuldige. Das ist meine Schuld. Einen Augenblick lang wurde mir übel. Die toten Augen des Mädchens schienen mich zu durchbohren, stumm erhoben sie Anklage: Ich hatte sie getötet. Vielleicht hatte ich ihr nicht die Kehle herausgerissen oder ihr den Kopf abgeschlagen, aber tot war sie trotzdem, und es war meine Schuld.

Ich spürte Kanins Blick im Rücken und hörte, wie Jackals Stiefel knirschend die dünne Schneeschicht zermalmten, als er hinter uns auftauchte und mir über die Schulter schaute. »Hm.« Bei ihm klang das so, als hätte er gerade auf dem Bürgersteig einen toten Vogel entdeckt. »Tja, jetzt wissen wir wenigstens, warum die Arschlöcher es so eilig hatten. Nur dumm, dass sie es nicht geschafft hat – ich könnte schon noch einen Snack vertragen.« Vorwurfsvoll rümpfte er die Nase und fuhr fort: »Der Mensch, den du mir großzügigerweise überlassen hast, war kaum mehr als eine Vorspeise.«

»Ich wusste doch nicht, dass sie da drin war«, murmelte ich, ohne mich umzudrehen. Keine Ahnung, ob ich mich damit vor Kanin, vor Jackal oder nur vor mir selbst rechtfertigte. »Ich wusste es nicht …«

Aber das war keine Entschuldigung. Mir war das genauso bewusst wie Kanin. Stumm wandte er sich ab und ging davon, doch wie immer sagte sein Schweigen mehr als tausend Worte.

»Na ja.« Jackal zuckte mit den Schultern. »Kann man jetzt nichts mehr machen. Sieh es als Erinnerung daran, wie verdammt anfällig diese Blutsäcke sind. Die brechen sich doch schon das Genick, wenn man sie nur schief ansieht.« Nachdem er mich kurz gemustert hatte, fuhr er grinsend fort: »Mach dir nicht zu viele Vorwürfe, Schwesterlein. Was hatte sie denn schon zu erwarten? Nicht gerade das tollste Leben, bei den Aussichten. Du hast dem Blutsack einen Gefallen getan, glaub mir.«

Wieder wanderte mein Blick zu dem toten Mädchen, und ich spürte, wie das Monster sich an mich heranschlich, kalt und pragmatisch, um die Schuldgefühle zu ersticken. Was interessiert es dich?, flüsterte es mir ein. Dann hast du eben noch einen Menschen mehr getötet. Sie war nicht die Erste, und sie wird nicht die Letzte gewesen sein. Sie sind die Beute, du bist der Vampir. Wir töten, das gehört zu unserem Wesen.

»Ja.« Seufzend wandte ich mich ab, weg von dem Van, der Frau und ihrem starren, anklagenden Blick. Jackal hatte recht, jetzt konnte ich sowieso nichts mehr tun. Das Mädchen war bedeutungslos, eine Tote mehr auf der endlosen, ewigen Liste. Kanin war bereits weitergegangen, und wir mussten uns beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. So ließen wir den Wagen, seine abgeschlachteten Insassen und einen weiteren, kleinen Teil meiner Menschlichkeit hinter uns zurück.