Das Buch

In der legendären Bruderschaft der BLACK DAGGER ist nichts wie es einmal war. Um den Krieg gegen die Schatten zu verhindern, mussten alte Allianzen verschoben und neue geschlossen werden. Doch nun ist auch die Gesellschaft der Lesser zurückgekehrt, und sie ist gefährlicher denn je. Während sich die BLACK DAGGER rund um den blinden Vampirkönig Wrath zum Gegenschlag rüsten, ahnen sie nicht, dass ein Krieger aus ihrer Mitte mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat: Eigentlich hat Rhage alles, was sich ein Mann nur wünschen kann. Er ist nicht nur von strahlender Schönheit und unbesiegbarer Kraft, sondern auch einer der gefährlichsten Kämpfer der Bruderschaft. Er wird von seinen Brüdern ebenso wertgeschätzt und geliebt wie von seiner bezaubernden Shellan Mary – und doch fühlt Rhage eine seltsame Leere in sich. Eine Leere, die sein ganzes Leben zu überschatten droht. Und plötzlich ist seine leidenschaftliche und scheinbar so unerschütterliche Liebe zu Mary in Gefahr ...

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie unter:

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J. R. Ward


Ein BLACK DAGGER-Roman

Titel der Originalausgabe:
THE BEAST (Part 1)
Aus dem Amerikanischen
von Corinna Vierkant
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Deutsche Erstausgabe 11/2016
Redaktion: Bettina Spangler
Copyright © 2016 by Love Conquers All, Inc.
Copyright © 2016 der deutschen Ausgabe
und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Autorenfoto © by John Rott
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18769-9
V003
www.heyne.de

Gewidmet:

Euch allen dreien.

Das sagt alles.

Danksagung

Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger!

Vielen Dank für all die Unterstützung und die Ratschläge an: Steven Axelrod, Kara Welsh und Leslie Gelbman. Danke auch an alle Mitarbeiter von NAL – diese Bücher sind echte Teamarbeit!

Alles Liebe an das Team Waud – ihr wisst, wer gemeint ist. Ohne euch käme die Sache gar nicht zustande.

Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, die mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.

Ach ja, und meinem WriterAssistant Naamah. Gratulation zu deiner Beförderung!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig bis gar keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie alleinstehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.

Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

Dhunhd – Hölle.

Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

Lewlhen – Geschenk.

Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

Lhenihan – ein mystisches Biest bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

Novizin – Eine Jungfrau.

Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

Rahlman – Retter.

Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Brownswick-Schule für Mädchen, Caldwell, New York

Es kribbelte wie tausend Ameisen.

Rhage trat von einem Bein aufs andere. Es fühlte sich an, als finge sein Blut schön langsam an zu sieden, und die aufsteigenden Bläschen kitzelten überall unter der Haut. Und damit nicht genug. Ständig zogen sich unkontrolliert irgendwelche Muskeln zusammen, sodass seine Finger zuckten, die Knie einknickten oder sich die Schultern spannten, als wollte er einen Tennisschläger schwingen.

Zum millionsten Mal ließ er den Blick über das verwucherte Brachland schweifen, in dem er Position bezogen hatte. Zu Zeiten, da das Mädcheninternat noch in Betrieb war, war diese Anlage sicher von einem gepflegten Rasen überzogen gewesen, sorgfältig gemäht von Frühling bis Sommer, von Laub befreit im Herbst und eine verschneite Bilderbuchlandschaft im Winter. Jetzt glich sie einem Rugbyfeld aus der Hölle, überwuchert von knorrigem Gestrüpp, das einem Kerl mehr als ästhetische Schäden in niederen Körperregionen bescheren konnte. Hier und da sprossen karge Bäumchen wie missratene Stiefkinder von Ahorn und Eiche empor, und das lange Gras hatte sich im späten Oktober braun verfärbt und würde einen zu Fall bringen, sollte man versuchen, einen Sprint hinzulegen.

Genauso heruntergekommen waren die Backsteingebäude, die einst die Schlaf- und Unterrichtsräume für privilegierte Töchter der Oberschicht beherbergt hatten, seit man sich nicht mehr um sie kümmerte: Die Fensterscheiben waren zerbrochen, die Türen eingefallen, Fensterläden hingen schief in den Angeln und öffneten und schlossen sich im kalten Wind, als könnten sich die Geister nicht entscheiden, ob sie gesehen oder nur gehört werden wollten.

Es erinnerte an die Kulisse von »Der Club der toten Dichter« – vorausgesetzt, das Team hätte nach der letzten Klappe 1988 zusammengepackt und niemand mehr einen Finger gerührt.

Doch die Gebäude standen nicht leer.

Rhage atmete ein und musste den Würgereflex unterdrücken, der Klimmzüge an seinem Gaumenzäpfchen vollführte. In den ehemaligen Schlaf- und Unterrichtsräumen versteckten sich so viele Lesser, dass man unmöglich einzelne Noten aus dem infernalischen Gestank herausfiltern konnte. Scheiße, es war, als würde man den Kopf über einen Eimer voller Fischabfälle halten und einatmen, als wäre mit einer Sauerstoffknappheit zu rechnen.

Nur dass irgendjemand Talkum über die Fischköpfe und den Glibber gekippt hatte.

Zur süßen Abrundung.

Wieder regte es sich unter seiner Haut, und er mahnte seinen Dämon, sich noch etwas zu gedulden. Ja, verdammt, er würde ihn bald von der Kette lassen. Er würde keine Sekunde versuchen, ihn zurückzuhalten – nicht dass ihm das je gelungen wäre. Es war nicht immer weise, der Bestie freien Lauf zu lassen, doch heute Nacht kam sie ihrem Angriffsplan gelegen. Immerhin standen der Bruderschaft der Black Dagger fünfzig oder hundert oder hundertfünfzig Lesser gegenüber, also selbst für ihre Verhältnisse eine ganze Menge, da konnten sie seine zweifelhafte göttliche Gabe ganz gut gebrauchen.

Seine Bestie war der Überraschungsgast auf dieser Party. Vor über hundert Jahren hatte ihm die Jungfrau der Schrift einen Hemmschuh verpasst, eine verhaltensregulierende Maßnahme, die so lästig, so fies, so drastisch war, dass sie ihn tatsächlich davor bewahrt hatte, zu einem kompletten Arschloch zu mutieren. Denn wenn Rhage es versäumte, überschüssige Energien abzubauen und seine aufbrausenden Gefühle in Zaum zu halten, brach die Hölle los.

Buchstäblich.

Aber immerhin war es ihm in den letzten hundert Jahren gelungen, keinen seiner engsten Freunde zu verspeisen oder sie unter der Schlagzeile »Jurassic Park – Alles ist wahr!« in die Nachrichten zu bringen.

Doch angesichts der feindlichen Übermacht auf diesem abgelegenen Terrain wäre es ein Glück, wenn sein lila Schuppenmonster mit den messerscharfen Zähnen und dem unersättlichen Appetit so richtig in Fahrt geriet. Wobei es natürlich galt, ausschließlich Lesser zu verspeisen.

Nein, keine Brüder als Vorspeise in Form von Frühlingsrollen, keine Menschen als Tapas oder zum Dessert, wenn es irgendwie ging.

Letztere nicht aus Zuneigung, sondern um die Diskretion zu wahren. Schließlich wusste jeder, dass diese schwanzlosen Ratten nie allein unterwegs waren. Sie hatten immer mindestens ein halbes Dutzend ihrer nachtblinden, evolutionär unterlegenen Buddies dabei, und jeder von ihnen besaß ein gottverdammtes Handy. YouTube war ein Albtraum, wenn man versuchte, einen verborgenen Krieg gegen die Untoten zu führen. Fast zweitausend Jahre lang hatte niemand außer den Beteiligten etwas von dem Kampf zwischen den Vampiren und Omegas Gesellschaft der Lesser mitbekommen. Dass sich die Menschen nicht auf ihre Kernkompetenzen Umweltzerstörung und gegenseitige Bevormundung beschränken wollten, war nur einer der Gründe, warum er sie so hasste.

Verdammtes Internet.

Um sich etwas abzulenken und nicht vorzeitig zu explodieren, zoomte Rhage auf einen Vampir, der sich zehn Meter von ihm entfernt versteckt hielt. Assail, Sohn von Scheißegal, trug Bestattungsunternehmer-Schwarz, das dunkle Dracula-Haar bedurfte keiner Tarnung, sein Gesicht war sündhaft schön und tief gezeichnet von Mordlust. Man musste ihn einfach respektieren. Der Drogenhändler hatte eine Hundertachtzig-Grad-Wende hingelegt und unterstützte sie heute. Er hatte sein Versprechen eingelöst und seine Geschäfte mit der Gesellschaft der Lesser aufgekündigt, indem er Wrath den Kopf des Haupt-Lessers zu Füßen gelegt hatte. In einem Pappkarton.

Außerdem hatte er ihnen verraten, wo sich das Hauptquartier der Lesser befand.

Und hier standen sie also hodentief im Gestrüpp und beobachteten den Countdown auf ihren Uhren, die V synchronisiert hatte.

Denn das hier war keine kopflose Hau-Ruck-Aktion gegen den Feind. Nach einer Reihe von Nächten – und Tagen, dank Nervensäge Lassiter, der bei Tageslicht auskundschaften konnte – stand nun ein generalstabsmäßig geplanter Angriff bevor, ausgetüftelt bis ins Detail und bereit zur Durchführung. Alle waren in Position: Z und Phury, Butch und V, Tohr und John Matthew, Qhuinn und Blay sowie Assail und seine zwei Cousins Beiß und Reiß.

Denn wen kümmerten ihre Namen, solange sie bewaffnet auf dem Schlachtfeld erschienen und ordentlich Munition dabei hatten.

Die medizinischen Fachkräfte der Bruderschaft standen ebenfalls bereit, Manny in seiner mobilen Krankenstation, ungefähr eine Meile entfernt, und Jane und Ehlena in einem Lieferwagen irgendwo im Umkreis von zwei Meilen.

Rhage sah auf die Uhr. Sechs Minuten und ein paar Zerquetschte bis 00:00.

Wieder fing sein linkes Auge an zu zucken. Er fluchte. Wie zum Donner sollte er das so lange aushalten?

Er bleckte die Fänge und atmete durch die Nase aus, sodass sich zwei Dampfstöße aus kondensierter Atemluft bildeten wie bei einem wütenden Stier.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so aufgeladen gewesen war. Doch über die Gründe wollte er lieber nicht nachdenken. Insgesamt mied er Gedanken über die Ursachen jetzt schon ziemlich lang.

Seit sich etwas zwischen ihn und Mary geschoben hatte und er das Gefühl hatte …

»Rhage.«

Das Flüstern war so leise, dass er sich mit einem hektischen Schulterblick vergewisserte, ob sein Unterbewusstsein das Wort an ihn gerichtet hatte. Irrtum. Es war Vishous. Doch bei seinem Blick hätte Rhage die Persönlichkeitsspaltung beinahe vorgezogen. Die Diamantaugen seines Bruders blitzten grässlich unheilvoll, und die Tattoos um seine Schläfe verstärkten den finsteren Eindruck.

Das Ziegenbärtchen war neutral – solange man es keiner Stilkritik unterzog, denn es war ein Schlag ins Gesicht für jeden Ästheten.

Rhage schüttelte den Kopf. »Solltest du nicht langsam auf Position …«

»Ich habe diese Nacht gesehen.«

Scheiße, nein, dachte Rhage. Das kannst du mir nicht antun, Bruder.

Er wandte sich ab. »Erspar mir die Vincent-Price-Nummer, okay? Oder möchtest du dich als Off-Stimme für Kino-Trailer bewerben …«

»Rhage.«

»Da hättest du nämlich eine große Zukunft. ›In einer Welt … in der wir alle lernen müssen … den Mund zu halten und unsere Arbeit zu tun …‹«

»Rhage.«

Rhage wollte seinem Blick ausweichen, doch V stellte sich vor ihn und durchbohrte ihn mit Augen, in denen Atompilze aufstiegen. »Du musst nach Hause. Jetzt

Rhage öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Öffnete ihn erneut … und musste sich ermahnen, nicht zu laut zu werden. »Hör zu, jetzt ist nicht der Moment für deinen Hokuspokus …«

Vishous packte ihn beim Arm und drückte zu. »Geh heim. Jetzt. Das ist kein Spaß.«

Ein eiskalter Schauder überzog Rhage und senkte seine Körpertemperatur – doch er schüttelte den Kopf. »Verpiss dich, Vishous. Wirklich

Er hatte überhaupt keine Lust auf weitere Zaubertricks der Jungfrau der Schrift. Er …

»Du wirst heute Nacht sterben, kapierst du das nicht?«

Rhages Herz hörte auf zu schlagen. Er sah in das vertraute Gesicht seines Bruders, die Tätowierungen, die zusammengepressten Lippen, die markanten schwarzen Brauen, all das überstrahlt von einer Intelligenz, die er normalerweise mit rasiermesserscharfem Sarkasmus servierte.

»Deine Mutter hat mir ihr Wort gegeben«, sagte Rhage. Moment, diskutierte er hier allen Ernstes darüber, den Löffel abzugeben? »Sie hat versprochen, dass Mary zu mir in den Schleier kommen kann, wenn ich sterbe. Deine Mutter sagte …«

»Scheiß auf meine Mutter. Geh heim.«

Rhage musste den Blick abwenden, andernfalls wäre sein Kopf explodiert. »Ich lasse meine Brüder nicht im Stich. Kommt nicht infrage. Schließlich könntest du dich irren.«

Ja, genau wie neulich, Achtzehnhundertirgendwas. Oder war es Siebzehnhundert gewesen?

Noch nie?

Trotzdem fuhr er V über den Mund. »Außerdem laufe ich nicht vor dem Schleier weg. Wenn ich anfange, so zu denken, bin ich als Kämpfer geliefert.« Er hielt Vishous den Mund zu, damit er ihn nicht wieder unterbrach. »Und der dritte Grund: Wenn ich heute Nacht nicht kämpfe, überstehe ich den Tag nicht, eingesperrt im Haus. Dann erscheint mein lila Freund zu sämtlichen Tagesmahlzeiten, wie fändest du das?«

Tja, und dann gab es noch einen vierten Grund. Doch der war so übel, so unerträglich, dass er ihn sofort wieder verbannte, als er aufblitzte.

»Rhage …«

»Mir kann nichts passieren. Ich hab’s unter Kontrolle …«

»Nein, hast du nicht!«, zischte V.

»Okay, in Ordnung«, presste Rhage hervor und beugte sich auf Vishous zu. »Selbst wenn ich sterbe: Deine Mutter hat Mary den ultimativen Segen zugesprochen. Wenn ich in den Schleier eintrete, treffen wir uns einfach dort. Ich muss nicht fürchten, je von ihr getrennt zu werden. Alles wird gut. Wen interessiert es also, wenn ich abkratze?«

Jetzt beugte sich auch V vor. »Und was ist mit deinen Brüdern, du Arschloch? Meinst du, uns wäre das egal? Na, herzlichen Dank.«

Rhage sah auf die Uhr. Noch zwei Minuten.

Sie erschienen ihm wie zweitausend Jahre.

»Du vertraust meiner Mutter«, höhnte V. »In einer so entscheidenden Angelegenheit? Ich hätte dich nicht für so leichtgläubig gehalten.«

»Sie hat mir einen verdammten T-Rex aufgehalst! War das vielleicht keine glaubwürdige Aktion?«

Plötzlich erklang aus allen Richtungen Vogelgezwitscher. Hätten sie es nicht besser gewusst, hätten sie es für ein paar Käuzchen gehalten, die ihre A-cappella-Nummer einübten.

Verdammt, sie waren viel zu laut.

»Lass mich in Frieden, V«, zischte Rhage. »Wenn du so schlau bist, solltest du dich um dein eigenes Leben kümmern.«

Und bevor er innerlich auf Kampfmodus schaltete und nichts mehr zählte außer Aggression, galt sein letzter bewusster Gedanke Mary.

Er dachte an das letzte Mal, als sie allein gewesen waren, wie es sein Ritual vor jedem Kampf war, sein geistiger Glücksbringer, und an diesem Abend sah er sie im Schlafzimmer stehen, vor dem Spiegel über der großen Kommode, auf die sie ihre Uhren, Schlüssel und Handys legten, ihren Schmuck und seine Lollis.

Sie stand auf Zehenspitzen, beugte den Oberkörper nach vorne und versuchte, einen Perlenstecker in ihr Ohr zu stecken, verfehlte aber das Loch. Da sie den Kopf geneigt hielt, fiel ihr dunkelbraunes Haar auf ihre Schulter. Am liebsten hätte er das Gesicht in den frisch shampoonierten Wellen vergraben. Und das war nicht alles, was ihn gefesselt hatte. Das Licht der Kristall-Wandleuchte fiel auf ihr ebenmäßiges Kinn, ihre cremefarbene Seidenbluse umschmeichelte ihre Brüste und steckte in einem engen Bund, ihre Hose fiel auf flache Schuhe. Sie trug weder Make-up noch Parfüm.

Aber wer wäre auf die Idee gekommen, eine Mona Lisa zu schminken oder einen Rosenbusch mit Raumerfrischer einzusprühen?

Man konnte die körperlichen Vorzüge seiner Gefährtin auf tausendfache Art aufzählen, doch keine Worte, nicht einmal ein ganzes Buch konnten ihr gerecht werden.

Sie war die Uhr an seinem Arm, das Roastbeef gegen seinen Hunger, die Limo gegen seinen Durst. Sie war sein Anker und sein Fels, ein Gebirgszug, wenn ihn die Wanderlust packte, die Bibliothek für seinen Wissensdurst und jeder Sonnenauf- und -untergang auf dieser Welt. Mit einem einzigen Blick oder einem einzelnen Wort konnte sie seine Stimmung ändern, ihn fliegen lassen, auch wenn seine Füße auf dem Boden blieben. Mit einer einzigen Berührung konnte sie seinen Drachen in Ketten legen, ihn kommen lassen, bevor er hart war. Sie war alle Macht des Universums in eine lebende Form gegossen, das Wunder, das ihm zuteil geworden war, obwohl er nichts anderes verdiente als seinen Fluch.

Mary Madonna Luce war die Jungfrau, die Vishous ihm prophezeit hatte – und sie war mehr als genug, um einen gottesfürchtigen Vampir aus ihm zu machen.

Und deshalb …

Rhage lief los, ohne auf das vereinbarte Zeichen zu warten. Die Pistolen vor sich gestreckt sprintete er auf die Gebäude zu und spürte, wie pure hochoktanige Energie in seine Beine strömte. Nein, er brauchte den genauen Wortlaut der Flüche seiner Brüder nicht zu hören, als er die gesamte Tarnung durch seinen Frühstart auffliegen ließ.

Er war es gewohnt, dass die Jungs sauer auf ihn waren.

Ihren Frust zu ertragen war lange nicht so schlimm, wie sich mit seinen eigenen Dämonen herumzuschlagen.

Refugium,
Marys Büro

Mary Madonna Luce legte auf und ließ die Hand auf dem glatten Hörer ruhen. Wie vieles von der Ausstattung und von den Möbeln hier im Refugium war auch das Telefon zehn Jahre alt, ein gebrauchter Apparat von irgendeiner Versicherungsgesellschaft oder einem Immobilienmakler. Dasselbe galt für den Schreibtisch, ihren Stuhl, selbst den Teppich unter ihren Füßen. Es handelte sich um das einzige Frauenhaus für Vampirinnen, hier wurde jeder Penny aus der Schatzkasse des Königs in die Hilfe, Behandlung und Rehabilitation der Bewohnerinnen und ihrer Kinder gesteckt.

Opfer konnten kostenfrei in diesem geräumigen Haus wohnen und so lange bleiben, wie es nötig war.

Der größte Posten war natürlich die Belegschaft, und bei Nachrichten wie jener, die sie gerade über das alte Telefon erreicht hatte, war Mary heilfroh darüber, wie Marissa ihre Prioritäten setzte.

»Fick dich, Tod«, flüsterte sie. »Fick dich, fick dich, fick dich.« Sie lehnte sich zurück und zuckte zusammen, als ihr Stuhl quietschte, obwohl sie derartige Protestlaute eigentlich gewöhnt war.

Dann blickte sie zur Decke und spürte den überwältigenden Drang, etwas zu unternehmen. Doch die erste Regel für Therapeuten war, die eigenen Gefühle zu zügeln. Mit blindem Aktionismus war keinem Patienten geholfen, und eine belastende Situation zu verschärfen, indem man sein eigenes Trauma mit ins Spiel brachte, war absolut indiskutabel.

Hätte sie Zeit gehabt, wäre sie zu einer Kollegin gegangen und hätte sich fachlich instruieren, geistig zentrieren und emotional stabilisieren lassen. Doch in der gegenwärtigen Situation blieb nicht mehr als eine Minute, um Rhages patentierte Atemübung anzuwenden.

Nicht die der sexuellen Art, sondern die Yoga-Übung, bei der er die Lunge in drei Zügen füllte, die Luft anhielt und dann in einem Schub ausstieß, zusammen mit der Spannung in den Muskeln.

Oder es zumindest versuchte.

Okay, das brachte sie nicht weiter.

Mary stand auf und beschränkte sich auf zwei Minimal-Maßnahmen, um so was wie Fassung auszustrahlen: Zum einen stopfte sie ihre Seidenbluse zurück in den Bund und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das sie gerade wachsen ließ. Zum zweiten setzte sie ein maskenartiges Gesicht auf, das einfühlsam und besorgt, aber nicht nach der eigenen, wieder aufgerissenen Wunde aussah.

Dann trat sie in den Gang vor ihrem Büro im ersten Stock und wurde vom Duft nach geschmolzener Schokolade, Zucker, Butter und Mehl empfangen. Heute war großes Plätzchenbacken, und einen verrückten Moment lang hätte sie am liebsten ein paar Fenster aufgerissen, um den Wohlgeruch von der kalten Oktoberluft vertreiben zu lassen.

Der harsche Kontrast zwischen der heimeligen Atmosphäre im Haus und der Hiobsbotschaft, die sie überbringen musste, war einfach grausam und würde am Ende noch zum Bestandteil einer traumatischen Erfahrung werden.

Das Refugium befand sich in einem dreigeschossigen Haus, das um Neunzehnhundert erbaut worden war, einem einfachen Kasten ohne viel Charme. Doch es gab Schlafzimmer und Bäder in Hülle und Fülle und eine funktionsfähige Küche. Außerdem war es so unauffällig, dass die Vampire ungestört inmitten der Menschen leben konnten. Später war der Ausbau gekommen. Nach dem Tod von Wellsie hatte Tohr dem Frauenhaus eine großzügige Spende im Namen seiner Shellan vermacht, und mit diesen Mitteln hatten sie den Wellesandra-Trakt finanziert, den Vampirhandwerker hinten angebaut hatten. Jetzt gab es einen Gemeinschaftsraum, eine zweite große Küche, in der alle gemeinsam essen konnten, und vier weitere Suiten für Vampirinnen und ihre Kinder.

Marissa leitete die Einrichtung mit einem mitfühlenden Herz und großem Sachverstand für Logistik. Mit Mary waren es sieben Beraterinnen, und gemeinsam leisteten sie wichtige, sinnvolle Arbeit.

Die einem bisweilen das Herz brach.

Die Tür zum Dachgeschoss öffnete sich lautlos, weil Mary sie erst kürzlich eigenhändig geölt hatte, doch die alten Holzstufen knarzten, obwohl sie mit ihren flachen Schuhen nur leicht auftrat.

Es war unmöglich, sich nicht wie der finstere Sensenmann vorzukommen.

Der enge, lange Gang mit seiner hundert Jahre alten Holzvertäfelung und dem grob geflochtenen Läufer leuchtete rötlich im gelben Schein der alten Messinglampen. Am Ende des Korridors drang oranges Licht von einer Außenlampe durch ein ovales Fenster und wurde von den Sprossen in vier Abschnitte unterteilt.

Fünf der sechs Türen standen offen.

Mary ging auf die sechste zu und klopfte. Als ein leises »Ja?« ertönte, schob sie die Tür einen Spaltbreit auf und beugte sich hinein.

Das kleine Mädchen, das auf einem der beiden Betten saß, entwirrte das Haar einer Puppe mit einer Bürste, an der ein paar Borsten fehlten. Sie hatte ihr langes, braunes Haar zu einem Pferdeschanz gebunden und trug ein selbstgenähtes Hängerkleid aus blauem Stoff, abgenutzt, aber noch intakt. Auch ihre Schuhe waren abgestoßen, aber sorgfältig geschnürt.

Sie wirkte sehr klein in dem Zimmer, das selbst nicht sonderlich groß war.

Verlassen.

»Bitty?«, sagte Mary.

Es dauerte einen Moment, bevor das Mädchen die hellbraunen Augen hob. »Es geht ihr nicht gut, oder?«

Mary schluckte. »Nein, meine Liebe. Deiner Mahmen geht es nicht gut.«

»Ist es Zeit, mich von ihr zu verabschieden?«

Nach einem Moment flüsterte Mary: »Ich fürchte ja.«