Cover

DAS BUCH

Als der Vorstoß der Unionsarmee ins Stocken gerät und das Heer der Ghurkisen heranstürmt, schlägt die große Stunde von Oberst Sand dan Glokta. Denn der scheinbar unbezwingbare Turnierfechter und Herzensbrecher schreckt vor keiner Herausforderung zurück – und dies wird schließlich nur ein weiteres Scharmützel auf seinem erfolggepflasterten Weg sein, nicht wahr? In Styrien unterdessen steht Schevedieh, die beste Diebin des ganzen Landes, vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens. Der Sohn des Unterweltfürsten Horald will ihr gerade an den Kragen, da platzt eine riesige, rothaarige und äußerst gewalttätige Frau herein und rettet Schevedieh das Leben und nimmt sie kurzerhand mit auf eine abenteuerliche Reise. Weit oben im Norden versucht Bethod vergeblich, die Clans zu einen, Frieden zu schaffen und ganz nebenbei seine Macht auszubauen. Der einzige, der daran noch etwas ändern könnte, ist seine eigene, gefährlichste Waffe – ein Mann namens Blutiger Neuner …

Diese insgesamt dreizehn, teils brandneuen und teils bereits preisgekrönten Erzählungen aus der Welt der Klingen-Romane machen Schattenklingen zu einem absoluten Muss für jeden Joe-Abercrombie-Fan.

JOE ABERCROMBIE BEI HEYNE:

Kriegsklingen

Racheklingen

Königsschwur

Feuerklingen

Heldenklingen

Königsjäger

Königsklingen

Blutklingen

Königskrone

Schattenklingen

DER AUTOR

Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen Klingen-Romanen um den Barbaren, den Inquisitor und den Magier hat er sich auf Anhieb in die Herzen aller Fans von packender, düsterer Fantasy geschrieben und schaffte es bereits mehrmals auf die Times-Bestsellerliste. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.

Mehr zum Autor und seinen Romanen auf: www.joeabercrombie.com

JOE ABERCROMBIE

Schattenklingen

Roman

Aus dem Englischen von
Kirsten Borchardt

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Titel der englischen Originalausgabe:

SHARP ENDS


Deutsche Erstausgabe 02/2017

Redaktion: Werner Bauer

Copyright © 2016 by Joe Abercrombie

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstraße 28, 81673 München

Karte: Dave Senior

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Coverillustration: Melanie Korte

Umsetzung Ebook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN: 978-3-641-19773-5
V002


www.heyne.de

FÜR MUM UND DAD.
OHNE EUER GENETISCHES MATERIAL
WÄRE MIR DAS NIE GEGLÜCKT.

EIN BEWUNDERNSWERTER
DRECKSACK

Kadir, Frühjahr 566

»Jaa!«, kreischte Salem Rews, seines Zeichens Quartiermeister des Ersten Regiments Seiner Erhabenen Majestät. »Machen Sie ihnen die Hölle heiß!«

Das war tatsächlich etwas, worauf sich Oberst Glokta verstand: seinen Gegnern die Hölle heißzumachen – im Fechtkreis, auf dem Schlachtfeld, aber auch in bedeutend weniger zivilisierter Umgebung, beispielsweise auf dem gesellschaftlichen Parkett.

Seine drei armseligen Kontrahenten gaben sich zwar alle Mühe, ihn zu erwischen, stolperten dabei aber ebenso hilflos hinter ihm her wie die betrogenen Ehemänner, die ignorierten Gläubiger und die übersehenen ehemaligen Kameraden, die ansonsten in seinem Kielwasser zurückblieben. Mit einem wissenden Lächeln tänzelte Glokta um seine Gegner herum und wurde dabei einmal mehr seinem doppelten Ruf gerecht, sowohl der gefeierteste Degenfechter der Union als auch der größte Angeber zu sein. Er schlich und stolzierte, täuschte und trippelte, flink wie eine Eintagsfliege, unberechenbar wie ein Schmetterling und, wenn er es darauf anlegte, so rachsüchtig wie eine aufgestachelte Wespe.

»Nun geben Sie sich mal ein wenig Mühe!«, rief er und brachte sich mit einer schnellen Drehung aus der Reichweite eines ungelenken Schlages, um danach dem Urheber einen festen Streich auf die Hinterbacken zu verpassen, der beim Publikum einen Ausbruch spöttischen Gelächters auslöste.

»Eine großartige Vorstellung!«, rief Lord Marschall Varuz, der begeistert auf seinem Klappstuhl hin und her wippte.

»Eine verdammt großartige Vorstellung!«, echote Oberst Kroy prompt, der rechts neben ihm saß.

»Hervorragende Arbeit!«, tönte Oberst Poulder links von ihm; wie immer waren beide stets bemüht, sich gegenseitig darin zu übertreffen, ihrem Befehlshaber recht zu geben. Als ob es kein edleres Unterfangen hätte geben können, als drei Rekruten zu blamieren, die zuvor kaum jemals einen Degen in der Hand gehabt hatten.

Salem Rews, äußerlich begeistert und innerlich beschämt, erging sich in ebenso lauten Beifallsrufen wie alle anderen. Dennoch konnte er seine Augen nicht daran hindern, gelegentlich von dem gleichermaßen faszinierenden wie ekelerregenden Spektakel abzuschweifen. Hinüber zum Tal, wo sich ein peinliches Beispiel für miserable Truppenorganisation bot.

Während sich die Befehlshaber hier oben auf dem Berggrat sonnten – Wein soffen, Gloktas selbstgefällige Fechtkämpfe beklatschten und den unbezahlbaren Luxus einer frischen Brise genossen –, kämpfte sich der größte Teil des Unionsheers in dem Glutofen unter ihnen weiter voran, versengt von der brennenden Sonne und teils verdeckt von einer erstickenden Staubwolke.

Es hatte den ganzen Tag gekostet, die Soldaten, Pferde und die allmählich auseinanderfallenden Planwagen des Nachschubzugs über die schmale Brücke zu bringen, die sich über das verführerische Rinnsal eines Bachbetts spannte, das sich tief in den Boden gegraben hatte. Die Männer schleppten sich in verlotterten Lumpen und zerfetzten Kleidern dahin und wirkten dabei eher wie Schlafwandler denn wie marschierende Soldaten. Jede Spur einer Straße war längst zu Staub zertrampelt worden, jede Spur von Ordnung, Disziplin oder Moral schon lange vergessen – die roten Jacken, die polierten Brustpanzer, die schlaff herabhängenden goldenen Standarten, alles hatte das allgegenwärtige Hellbraun des sonnenverbrannten, gurkhisischen Staubs angenommen.

Rews schob sich einen Finger unter den Kragen und versuchte, etwas kühle Luft an seinen verschwitzten Hals gelangen zu lassen. Wieder fragte er sich, ob nicht jemand versuchen sollte, etwas mehr Ordnung in das Durcheinander dort unten zu bringen. Es würde doch ohne Zweifel richtig übel für sie ausgehen, wenn jetzt die Gurkhisen kämen? Und die Gurkhisen hatten die Angewohnheit, in den unpassendsten Augenblicken aufzutauchen.

Aber Rews war schließlich nur Quartiermeister. Im Kader des Ersten Regiments stand er ganz unten auf der Leiter, und niemand machte sich die Mühe, diesen Umstand schönzureden, nicht einmal er selbst. Er zuckte die juckenden Schultern und kam still für sich wie so oft zu dem Schluss, dass die Lage auf der Brücke nicht sein Problem war. Dann glitt sein Blick, wie von einem Magneten angezogen, zurück zur unvergleichlichen athletischen Kampfkunst Oberst Gloktas.

Zweifelsohne hätte auch ein Leinwandporträt vermitteln können, dass dieser Mann geradezu unverschämt gut aussah, aber es war die Art, wie er stand, grinste, verächtlich den Mund verzog, die Augenbraue hob, ja, die Art, wie er sich überhaupt bewegte, die ihn erst recht attraktiv erscheinen ließ. Er hatte die Körperspannung eines Tänzers, die Haltung eines Helden, die Kraft eines Ringers, die Schnelligkeit einer Schlange.

Zwei Sommer zuvor hatte Rews in Adua miterlebt – unter deutlich zivilisierteren Umständen –, wie Glokta das Turnier gewonnen hatte, ohne selbst auch nur einen einzigen Streich einzustecken. Natürlich von den billigen Plätzen aus, so weit oben über dem Kampfplatz, dass die Fechter weit entfernt waren und winzig klein erschienen, aber dennoch hatte er mit wild schlagendem Herzen mitgefiebert, so sehr, dass er jede Bewegung mit einem Zucken seiner Hände begleitet hatte. Dass er sein Idol inzwischen aus größter Nähe hatte erleben können, das hatte seine Bewunderung nur gesteigert. Wenn man der Wahrheit die Ehre geben wollte, dann sogar in einem Maße, dass ein vernünftiger Betrachter von Liebe hätte sprechen mögen. Gleichzeitig jedoch hatte sich diese Bewunderung mit bitterem, gehässigem und sorgsam verborgenem Hass gemischt.

Glokta hatte alles, und was er nicht hatte, das nahm er sich, ohne dass ihn jemand aufhalten konnte. Frauen bewunderten ihn, Männer beneideten ihn. Oder anders herum: Frauen beneideten ihn, Männer bewunderten ihn, auch das traf durchaus zu. Bei dem Glück, mit dem das Schicksal ihn bedacht hatte, hätte der Oberst doch eigentlich der angenehmste Mensch auf der Welt sein müssen.

Aber Glokta war durch und durch ein Drecksack. Ein gutaussehender, gehässiger, fähiger, schrecklicher Drecksack, gleichzeitig der beste Mann und der größte Scheißkerl in der Union. Ein Bollwerk selbstzentrierter Selbstbesessenheit. Eine unüberwindliche Festung der Arroganz. Nur eines übertraf noch seine beträchtlichen Fähigkeiten: sein eigener Glaube an ebendiese. Andere Menschen waren Spielfiguren, die hin und her geschoben wurden, mit denen Siegpunkte zu erreichen waren, Requisiten für das herrliche lebende Bild, das er um sich als Mittelpunkt herum inszenierte. In der Disziplin Drecksacksein war Glokta ein echter Tornado, der eine Schneise zerstörter Freundschaften, zerstörter Karrieren und zerstörter Reputationen hinter sich zurückließ.

Sein Selbstbewusstsein war so überwältigend, dass es wie ein seltsames Licht aus ihm hervorschien und dabei die Persönlichkeiten aller anderen um ihn herum so verzerrte, bis sie mindestens zur Hälfte ebenso drecksäckig wirkten wie er. Vorgesetzte wurden willfährige Komplizen, Fachleute beugten sich seiner Unwissenheit. Anständige Männer verwandelten sich in rückgratlose Speichellecker. Frauen mit guter Menschenkenntnis schrumpften zu kichernden Nullen.

Rews hatte einmal gehört, von den besonders ergebenen Anhängern des gurkhisischen Glaubens werde erwartet, dass sie eine Pilgerfahrt nach Sarkant unternahmen. Und mit Glokta war es so, dass seine Person wie von selbst zu einem Pilgerziel aller besonders überzeugter Drecksäcke wurde. Drecksäcke wimmelten um ihn herum wie Ameisen um eine angebissene Pastete. Er war stets von einer ständig wechselnden Drecksack-Entourage umgeben, einem hinterhältigen Klüngel selbstherrlicher Anhänger. Drecksäcke folgten ihm wie der Schweif einem Kometen.

Und Rews wusste: Er selbst war keinen Deut besser. Wenn Glokta über andere spottete, lachte er mit und setzte alles daran, dass seine katzbuckelnde Zustimmung auch wahrgenommen wurde. Wenn er dann selbst zum Ziel von Gloktas gnadenloser Zunge wurde, was unvermeidlich immer wieder geschah, dann lachte er sogar noch lauter, vor Freude darüber, dass er so viel Aufmerksamkeit erhielt.

»Erteilen Sie denen eine Lehre!«, kreischte er, als Glokta einem seiner Gegner die kurze Klinge gegen den Bauch stieß, sodass der zusammenknickte. Noch während er das rief, fragte sich Rews jedoch, was das wohl für eine Lehre sein konnte, die diese Männer aus diesem Kampf ziehen sollten. Vielleicht, dass das Leben grausam, schrecklich und ungerecht war.

Glokta fing den Degen eines anderen Fechters mit seinem langen Eisen ab, schob noch im gleichen Augenblick die kurze Klinge in die Scheide und versetzte dem Mann links und rechts eine schallende Ohrfeige; dann schubste er den überrascht Aufschreienden mit einem verächtlichen Schnauben aus dem Weg. Die Zivilisten, die eigentlich angereist waren, um den Fortgang des Krieges zu beobachten, stießen bewundernde Rufe aus, während die Damen in ihrer Begleitung gurrende Laute von sich gaben und sich unter der flatternden Leinwand eines Pavillons Kühlung zufächelten. Rews stand da, wie gelähmt vor Schuldgefühlen und Begeisterung, und wünschte sich, die Ohrfeigen selbst erhalten zu haben.

»Rews.« Leutnant West drängte sich neben ihn und stemmte einen staubigen Stiefel auf den Zaun, an dem sie standen.

West zählte zu den wenigen Männern unter Gloktas Befehl, der gegen die um sich greifende Verdrecksackung immun zu sein schien und die schlimmsten Exzesse seines Vorgesetzten immer wieder mit ehrlicher Betroffenheit kommentierte, auch wenn das eine eher unpopuläre Haltung war. Paradoxerweise zählte er gleichzeitig zu den wenigen, die Glokta aufrichtig zu respektieren schien, obwohl West von niederer Geburt war. Rews bemerkte das sehr wohl und verstand auch die Gründe dafür, aber dennoch sah er sich nicht in der Lage, Wests Beispiel zu folgen. Vielleicht deshalb, weil er so dick war. Oder vielleicht auch, weil ihm schlicht der Mut für Moral und Anstand fehlte. Jede andere Art von Mut ging ihm schließlich auch ab.

»West«, raunte Rews aus dem Mundwinkel, den Kopf stur geradeaus gerichtet; er wollte schließlich nichts von diesem Spektakel verpassen.

»Ich war auf der anderen Seite der Brücke.«

»Ach?«

»Die Nachhut ist in einem erbärmlichen Zustand. Wenn man denn überhaupt von einer Nachhut sprechen kann. Hauptmann Lasky hat es schlimm erwischt mit seinem Fuß. Es heißt, dass er ihn vielleicht verlieren wird.«

»Wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?« Rews lachte über seinen eigenen Witz und beglückwünschte sich dazu, dass es wahrscheinlich genau die Art von Kommentar war, die Glokta selbst gemacht haben würde.

»Ohne ihn ist seine Kompanie völlig kopflos.«

»Nun, das ist wohl ihr Problem, würde ich sagen – zustechen! Zustechen! Oooooh!« Glokta war geschickt ausgewichen und trat einem Gegner die Beine weg, sodass sich der nun am Boden wälzte.

»Das könnte verdammt schnell unser aller Problem werden«, knurrte West. »Die Männer sind erschöpft, kommen nur langsam voran. Und der Zug mit den Nachschubwagen ist ein einziges Durcheinander …«

»Das ist der Nachschubzug doch immer, das gehört bei dieser Truppe praktisch mit dazu … oh!« Wie alle anderen zog auch Rews hart die Luft ein, als Glokta einem Hieb mit großer Schnelligkeit auswich und dem Mann, der ihn geschlagen hatte – oder vielmehr dem Jungen, wie man korrekterweise sagen musste –, einen Tritt in den Schritt versetzte, dass der mit hervorquellenden Augen zusammenknickte.

»Aber wenn jetzt die Gurkhisen kommen …«, fuhr West fort und blickte weiter mit gerunzelter Stirn über die verdorrte Landschaft auf der anderen Seite des Flusses.

»Die Gurkhisen sind noch meilenweit entfernt. Jetzt mal ehrlich, West, Sie machen sich doch immer Sorgen um irgendetwas.«

»Irgendjemand muss das ja tun …«

»Dann beschweren Sie sich doch beim Lord Marschall!« Rews nickte zu Varuz hinüber, der von dem faszinierenden Schauspiel aus Fechten und Herumschubsen so gefesselt war, dass er beinahe von seinem Klappstuhl kippte. »Was glauben Sie denn, was ich daran ändern kann? Vielleicht mehr Futter für die Pferde anfordern?«

Ein hartes Ratschen war zu hören, als Glokta dem letzten Gegner die flache Seite seiner Klinge durchs Gesicht zog und ihn mit gequältem Aufschrei zurückstolpern ließ, die Hand an die Wange gepresst.

»Ist das wirklich das Beste, was Sie zu bieten haben?« Glokta trat vor und versetzte einem, der gerade wieder aufzustehen versuchte, einen mächtigen Tritt in den Hintern, sodass er unter allgemeinem Gelächter wieder mit dem Gesicht voran in den Staub fiel. Dabei saugte der Oberst den Beifall auf wie eine parasitäre Dschungelpflanze, die vom Saft ihres Wirts lebt; er verbeugte sich, strahlte, warf Kusshände, und Rews presste die Handflächen gegeneinander, bis sie schmerzten.

Was für ein Drecksack dieser Oberst Glokta war. Was für ein bewundernswerter Drecksack.

Seine drei Gegner humpelten geschlagen vom Kampfplatz. Die körperlichen Wunden würden schon bald heilen; die erfahrene Erniedrigung hingegen würde sie bis ins Grab begleiten. Glokta lehnte sich dekorativ an den Zaun, hinter dem sich die Damen versammelt hatten. Besondere Aufmerksamkeit erwies er dabei Lady Wetterlant – jung, reich, schön, wenn auch deutlich zu stark gepudert und trotz der Hitze ganz und gar nach der neusten Mode gekleidet. Zwar hatte sie kürzlich erst geheiratet, aber ihr wesentlich älterer Ehemann war aufgrund der Regierungsgeschäfte des Offenen Rats gezwungen gewesen, in Adua zu bleiben. Die Gerüchteküche wollte wissen, dass er seine Gattin zwar finanziell gut versorgte, aber generell nicht besonders an Frauen interessiert war.

Gloktas Interesse an Frauen wiederum war legendär.

»Dürfte ich wohl Ihr Taschentuch ausleihen?«, erkundigte er sich.

Rews hatte beobachtet, dass Glokta eine besondere Art hatte, wenn er mit einer Frau sprach, die ihm aufgefallen war. Seine Stimme wurde dann ein wenig rauer. Er kam einen kleinen Hauch näher, als tatsächlich schicklich gewesen wäre. Und er entwickelte eine Art Tunnelblick, als seien seine Augen mit Klebstoff an ihr befestigt. Wenn er erst einmal bekommen hatte, was er wollte, dann hätte er sie selbstredend nicht einmal mehr dann mit einem solchen Blick bedacht, wenn sie sich angezündet hätte.

Und dennoch übertrafen sich die neuen Objekte seiner Begierde darin, sich von den Flammen des Skandals verzehren zu lassen und flatterten umher wie Motten um eine Kerze – allesamt von dem Wunsch besessen, sich als die Eine, die Besondere zu erweisen, bei der es anders sein würde als bei allen anderen.

Lady Wetterlant hob eine sorgfältig gezupfte Augenbraue. »Weshalb wohl nicht, Herr Oberst?« Damit hob sie die Hand, um das Tüchlein aus ihrem Mieder zu ziehen. »Ich …«

Sie und ihre Begleiterinnen zogen laut hörbar die Luft ein, als Gloktas langes Eisen nach vorn zuckte und er das kleine Tuch ruckartig mit der stumpfen Turnierspitze aus ihrem Kleid herausbeförderte. Der dünne Stoff schwebte sanft in der Luft und fiel dann so zielgenau wie bei einem einstudierten Zaubertrick in Gloktas wartende Hand.

Eine der Damen hustete heiser, eine andere flatterte mit den Augenlidern. Lady Wetterlant stand ganz ruhig da, die Augen geweitet, die Lippen leicht geöffnet, die Hand noch immer halb zur Brust erhoben. Vielleicht fragten sie sich gerade alle, ob der Oberst die Haken und Ösen ihrer Korsage ebenso schnell hätte öffnen können, wenn er das gewollt hätte.

Rews zweifelte nicht im Geringsten daran.

»Ich danke Ihnen«, sagte Glokta und betupfte seine Stirn.

»Bitte behalten Sie es«, hauchte Lady Wetterlant mit leicht rauer Stimme. »Betrachten Sie es als Geschenk.«

Glokta lächelte, als er das Tuch unter sein Hemd steckte, sodass noch ein Zipfelchen lilafarbenen Stoffes hervorsah. »Ich werde es an meinem Herzen tragen.« Rews schnaubte. Als ob der Kerl überhaupt eins hätte. Glokta senkte die Stimme, achtete aber darauf, dass sie dennoch für alle Umstehenden hörbar blieb. »Vielleicht kann ich es Ihnen später zurückbringen?«

»Wann immer es Ihnen beliebt«, flüsterte sie, und Rews fragte sich wieder einmal, weshalb einem Menschen gerade jene Dinge, die offensichtlich ganz, ganz schlecht für ihn sind, stets so schrecklich verlockend erscheinen.

Glokta hatte sich wieder seinem Publikum zugewandt und breitete nun die Arme so weit aus, als wollte er die Zuschauer allesamt in eine erdrückende, beherrschende, lieblose Umarmung ziehen. »Gibt es unter all diesen ungeschickten Hunden denn niemanden, der unseren Besuchern einen besseren Kampf bieten kann?« Rews spürte, wie sein Herz einen atemlosen Sprung machte, als Gloktas Blick auf ihn fiel. »Rews, was ist mit Ihnen?«

Kurzes Gelächter brandete auf, und Rews selbst lachte am lautesten. »Oh, unmöglich!«, stieß er quäkend hervor. »Ich wäre Ihnen zweifellos nur peinlich!«

Sofort erkannte er, dass er zu weit gegangen war. Gloktas linkes Auge zuckte kaum wahrnehmbar. »Mir sind Sie schon peinlich, wenn ich mit Ihnen im selben Raum bin. Sie wollen doch Soldat sein, oder nicht? Wie zur Hölle kann es sein, dass Sie immer noch so fett sind, ich meine, bei dem verdammt grässlichen Fraß hier?«

Noch mehr Gelächter, und Rews schluckte, hielt starr das Lächeln auf sein Gesicht geklebt und spürte, wie der Schweiß unter seiner Uniform über sein Rückgrat rann. »Nun, Herr Oberst, ich war wohl schon immer dick. Schon als Kind.« Seine Worte stürzten durch die plötzliche Stille mit der schrecklichen Endgültigkeit von Leichen, die in ein Massengrab geworfen werden. »Sehr … dick. Enorm dick. Ich bin ein sehr dicker Mann.« Er räusperte sich und hoffte, der Boden würde sich unter ihm auftun.

Gloktas Blick glitt weiter und suchte nach einem würdigeren Gegner. Sein Gesicht hellte sich auf. »Leutnant West!«, rief er und vollführte eine schwungvolle Bewegung mit seinem Übungseisen. »Wie wäre es mit Ihnen?«

West verzog das Gesicht. »Ich?«

»Kommen Sie schon, Sie sind wahrscheinlich der beste Fechter im ganzen verdammten Regiment.« Glokta lächelte noch breiter. »Nach mir, natürlich.«

West sah blinzelnd über die Gesichter, die ihm nun erwartungsvoll zugewandt waren; es mochten wohl mehrere Hundert sein. »Aber … ich habe gar keine stumpfen Übungswaffen dabei …«

»Dann nehmen Sie doch gerne Ihre Kampfklingen.«

Leutnant West sah auf den Griff seines Degens hinab. »Das könnte ziemlich gefährlich werden.«

Oberst Gloktas Lächeln hatte einen scharfen Zug bekommen, der richtiggehend grimmig wirkte. »Nur dann, wenn es Ihnen gelingt, mich damit zu berühren.« Noch mehr Gelächter, mehr Applaus, beifällige Rufe seitens der anderen Offiziere, hörbares Einatmen seitens der Damen. Oberst Glokta war anerkanntermaßen Spezialist darin, die Damen hörbar einatmen zu lassen.

»West!«, rief jemand. »West!« Es dauerte nicht lange, dann skandierten die Offiziere: »West! West! West!« Die Damen fielen lachend ein und klatschten mit.

»Na los! Na los!« Rews ließ sich vom Chor der Zuschauer erfassen, die offenbar allesamt von angriffslustiger Raserei gepackt worden waren. »Na los!«

Falls irgendjemand dieses Unterfangen für eine schlechte Idee hielt, dann behielt er oder sie es für sich. Es gibt Männer, mit denen man einfach nicht streitet. Und es gibt Männer, die man am liebsten von einem Degen durchbohrt sähe. Glokta gehörte zu beiden Gruppen.

West holte tief Luft, dann sprang er unter kurzem Beifall mit einem eleganten Satz über den Zaun, knöpfte sich die Uniformjacke auf und hängte sie über die oberste Latte. Und dann, mit ganz leisem metallischem Klingen und einem ganz leicht bedrückten Gesichtsausdruck, zog West seine Kampfklinge. Es war keine dieser auffälligen, etwa mit juwelenverziertem Korb versehenen Waffen, wie sie viele junge Offiziere im Ersten Regiment Seiner Majestät so schätzten. Niemand hätte hier von einem schönen Degen sprechen können.

Aber dennoch lag eine gewisse Schönheit in der knappen Bewegung, mit der West ihn präsentierte. Seine Haltung verriet geübte Präzision, und eine elegante, beherrschte Drehung des Handgelenks brachte die Klinge in eine so gerade Linie wie die Oberfläche eines stillen Sees, während die Sonne auf einer Spitze glänzte, die zu tödlicher Schärfe geschliffen war.

Atemlose Stille senkte sich über die Zuschauer. Er mochte von niederer Geburt sein, aber selbst der ahnungsloseste Beobachter hätte jetzt erkannt, dass der junge Leutnant West kein Anfänger war, wenn es um die Handhabung eines Degens ging.

»Sie haben tüchtig exerziert«, stellte Glokta fest, der nun seinem Diener, Korporal Tunny, sein kurzes Eisen zuwarf und nur das lange behielt.

»Lord Marschall Varuz war so gütig, mir einige Hinweise zu geben«, erklärte West.

Glokta sah seinen alten Fechtmeister mit erhobener Augenbraue an. »Sie haben mir nie gesagt, dass Sie auch andere Männer unterweisen, Herr Marschall.«

Varuz lächelte. »Sie haben das Turnier schon einmal gewonnen, Glokta. Ein Fechtmeister ist leider in der unglücklichen Lage, dass er stets neue Schüler finden und zum Sieg führen muss.«

»Wie nett von Ihnen, dass Sie nach meiner Krone hangeln, West. Aber Sie werden möglicherweise feststellen, dass ich noch nicht zum Abdanken bereit bin.« Glokta sprang schnell wie der Blitz nach vorn und stieß zu, einmal, zweimal. West parierte, Stahl schrammte über Stahl und schimmerte in der Sonne. Er wich zurück, aber vorsichtig, aufmerksam, den Blick fest auf Glokta gerichtet. Und wieder griff der Oberst an, Schlag auf Schlag, Stoß auf Stoß, so schnell, dass Rews fast nicht folgen konnte. Aber West hielt ordentlich mit, wehrte die Hiebe geschickt ab und bewegte sich dabei vorsichtig rückwärts, während die Menge bei jedem Kreuzen der Klingen in lautes »Oooh« und »Aaah« ausbrach.

Glokta grinste. »Sie haben wirklich fein geübt. Aber wann begreifen Sie endlich, West, dass Übung nicht Talent ersetzt!« Damit setzte er zu einem noch schnelleren und noch härteren Angriff an, mit glockenhell klapperndem Stahl. Er drängte sich so nahe an seinen Gegner, dass er den jungen Leutnant mit einem harten Kniestoß gegen die Rippen ins Stolpern bringen konnte, aber West fand sein Gleichgewicht sofort wieder und parierte einmal, zweimal, vollführte eine Drehung zur Seite und stand dann schwer atmend wieder bereit.

Und Rews merkte, wie ein beinahe schmerzhaft intensiver Wunsch in ihm Gestalt annahm: dass West Glokta die Klinge in sein grässlich-schönes Gesicht rammen möge, damit den Damen endlich einmal aus anderen Gründen die Luft wegblieb.

»Ha!« Glokta sprang vor, stieß zu, und West wich dem ersten Hieb noch aus, fing den zweiten aber zur allgemeinen Überraschung ab, drückte die Klinge mit metallischem Kreischen beiseite, überwand Gloktas Deckung und versetzte dem Oberst einen heftigen Stoß mit der Schulter. Einen kurzen Augenblick verlor Glokta die Balance. West knurrte mit gebleckten Zähnen und ließ seine Klinge blitzend hervorschnellen.

»Gah!« Glokta fuhr zurück, und Rews erhaschte einen köstlichen, kurzen Blick auf sein entsetztes Gesicht. Die Übungsklinge rutschte ihm aus der Hand und fiel klappernd auf die Erde, und Rews merkte, dass er vor Freude beide Fäuste ballte, bis sie schmerzten.

West lief sofort auf seinen Gegner zu. »Ist alles in Ordnung, Herr Oberst?«

Glokta fasste mit der Hand nach seinem Hals und starrte dann völlig verblüfft auf seine blutigen Fingerspitzen. Als könne er es gar nicht glauben, dass er getroffen worden war. Als könne er nicht glauben, dass er nun, da er getroffen worden war, ebenso blutete wie alle anderen.

»Wer hätte das gedacht«, keuchte er.

»Es tut mir leid, Herr Oberst«, stammelte West, der seinen Degen senkte.

»Was denn?« Gloktas Grinsen wirkte, als ob es ihn alle Anstrengung kostete, die er aufzubringen vermochte. »Ein sehr guter Treffer. Sie sind wesentlich besser geworden, West.«

Nun begannen die Zuschauer zu klatschen, dann wurden die ersten Begeisterungsrufe laut. Rews konnte sehen, wie Gloktas Kiefermuskeln arbeiteten und sein linkes Auge zuckte, dann streckte er die Hand aus und schnippte laut mit den Fingern.

»Korporal Tunny, haben Sie meine Kampfklinge bei sich?«

Der junge Korporal, der erst am Tag zuvor in diesen Rang erhoben worden war, blinzelte. »Selbstverständlich, Herr Oberst.«

»Bringen Sie sie her!«

Schockierend schnell hatte sich die Stimmung verändert und war unversehens sehr hässlich geworden. Das war in Gloktas Nähe öfter der Fall. Rews sah unruhig zu Varuz hinüber und hoffte, der Marschall würde diesem gefährlichen Unsinn ein Ende machen, aber Varuz hatte seinen Platz verlassen und sah mit Poulder und Kroy ins Tal hinunter. Von denen war keine Hilfe zu erwarten.

Mit gesenktem Blick und gemessenen Bewegungen schob West seinen Degen zurück in die Scheide. »Ich glaube, wir haben für heute genug mit Messern gespielt, Herr Oberst.«

»Aber Sie müssen mir doch Gelegenheit geben, mich auf gleiche Weise revanchieren zu können. Das verlangt die Ehre, West, das ist tatsächlich so.« Als ob Glokta überhaupt irgendeine Ahnung davon hatte, was Ehre war – abgesehen davon, dass man sie als Werkzeug benutzen konnte, um Menschen zu verleiten, dumme, gefährliche Dinge zu tun. »Das verstehen Sie doch wohl, auch wenn Sie kein Edelmann sind?«

Wests Kiefermuskeln verhärteten sich. »Die eigenen Freunde mit scharfen Klingen anzugreifen, während es genug Feinde gibt, denen man sich entgegenstellen könnte, erscheint mir eher närrisch als ehrenhaft, Herr Oberst.«

»Nennen Sie mich einen Narren?«, zischte Glokta, der nun seine Kampfklinge, die ihm Tunny nervös hinhielt, mit einem zornigen Zischen aus der Scheide riss.

West verschränkte stur die Arme. »Nein, Herr Oberst.«

Die Zuschauer standen völlig still da, aber direkt hinter ihnen erscholl plötzlich Lärm. Rews hörte gedämpfte Rufe wie »dort drüben« und »die Brücke«, war aber zu gefesselt von dem Drama, das sich gerade vor ihm entfaltete, um weiter darauf zu achten.

»Ich rate Ihnen sehr, sich zu verteidigen, Leutnant West«, zischte Glokta, der die Absätze in den staubigen Boden bohrte, die Zähne bleckte und seine schimmernde Klinge waagerecht ausrichtete.

Und in diesem Augenblick erscholl ein ohrenzerreißender Schrei, der in einem abgehackten Stöhnen ausklang.

»Sie ist ohnmächtig geworden!«, schrie jemand.

»Verschafft ihr etwas frische Luft!«

»Wie das denn? Verdammt noch eins, in diesem ganzen verdammten Land gibt es nirgendwo frische Luft!« Wieherndes Gelächter.

Rews eilte zum abgetrennten Bereich, in dem sich die Zivilisten befanden, und versuchte den Eindruck zu erwecken, als wollte er nur helfen. Dabei wusste er darüber, wie man anderen half, noch weniger als über seine Arbeit als Quartiermeister, aber es bestand immerhin die Aussicht, einen Blick unter die Röcke einer Frau werfen zu können, während sie ohnmächtig war. Unter anderen Umständen bekam Rews leider nur sehr selten, wenn überhaupt, die Gelegenheit dazu.

Doch noch bevor er das Grüppchen besorgter Umstehender erreichte, erstarrte er. Es war der Anblick hinter ihnen, der in ihm das unangenehme Gefühl verursachte, dass ihm seine massigen Eingeweide direkt aus dem Hintern rutschen wollten. In dem weiten, gelbbraunen Land, das sich hinter der Brücke ausdehnte, sammelten sich in einiger Entfernung schwarze Punkte, ein Schwarm, über dem eine Staubwolke hing. Und auch, wenn er vielleicht insgesamt nicht viel taugte, so besaß Rews doch eines: ein sicheres Gespür für Gefahr.

Er hob bebend den Arm. »Die Gurkhisen!«, heulte er.

»Was?« Jemand lachte unsicher.

»Da, im Westen!«

»Das ist Osten, Sie Narr!«

»Moment mal, meinen Sie das ernst?«

»Wir werden in unseren Betten abgeschlachtet werden!«

»Wir sind doch gar nicht in unseren Betten!«

»Ruhe!«, brüllte Varuz. »Wir sind hier verdammt noch mal nicht auf einem Benimmkursus für höhere Töchter!« Das Lärm erstarb, und die Offiziere verstummten schuldbewusst. »Major Mitterick, begeben Sie sich sofort dort hinunter und treiben Sie die Männer an.«

»Jawohl, Herr Marschall.«

»Leutnant Vallimir, wären Sie so gut, die Damen und unsere zivilen Gäste in sichere Gefilde zu geleiten?«

»Natürlich, Herr Marschall.«

»Ein paar Männer würden reichen, um diesen Trupp an der Brücke aufzuhalten«, brummte Oberst Poulder, der an seinem üppigen Schnurrbart zupfte.

»Ein paar Helden«, ergänzte Varuz.

»Ein paar tote Helden«, raunte Oberst Kroy gedämpft.

»Haben Sie frische Leute?«, fragte Varuz.

Poulder zuckte die Achseln. »Meine sind erledigt.«

»Meine auch«, ergänzte Kroy. »Sogar noch mehr.« Als sei der ganze Krieg ein einziger Wettbewerb darum, wer seine Truppen am ehesten verschliss.

Oberst Glokta stieß seine Kampfklinge wieder in die Scheide zurück. »Meine Männer sind frisch«, erklärte er, und Rews spürte, wie die Angst aus seinem Bauch in seine Arme und Beine kroch. »Sie haben sich nach unserem letzten kleinen Scharmützel ausgeruht. Jetzt brennen sie darauf, sich auf den Feind zu stürzen. Ich würde sagen, das Erste Regiment Seiner Majestät wäre bereit, die Brücke zu halten, bis die übrigen Männer bereit sind, Lord Marschall.«

»Wir brennen darauf!«, wiederholte einer von Gloktas Stabsoffizieren wiehernd. Ganz offensichtlich war er zu betrunken, um überhaupt zu erkennen, wozu er sich da gerade freiwillig meldete.

Ein anderer, der vielleicht etwas weniger betrunken war, blinzelte nervös zum Tal hinunter. Rews fragte sich, auf wie viele Männer seines Regiments diese kühne Behauptung des Obersts zutreffen mochte. Der Quartiermeister jedenfalls hatte es nicht eilig, sein Leben für irgendeine noble Sache zu geben, das wusste er mit ziemlicher Sicherheit.

Aber Lord Marschall Varuz war nicht Befehlshaber der Unionstruppen geworden, indem er andere daran gehindert hätte, sich zu opfern, wenn er damit seine eigenen Fehlentscheidungen übertünchen konnte. Er klopfte Glokta herzlich auf den Oberarm. »Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann, mein Freund!«

»Selbstverständlich, Herr Marschall.«

Und Rews erkannte mit wachsendem Entsetzen, dass das der Wahrheit entsprach. Man konnte sich tatsächlich darauf verlassen, dass Glokta jede noch so verschwindend kleine Gelegenheit nutzte, um sich aufzuspielen, ganz gleich, wie schicksalhaft sich das für jene erweisen mochte, die sich mit ihm in die Klauen des Todes begaben.

Varuz und Glokta, Befehlshaber und Lieblingsoffizier, Fechtmeister und Meisterschüler – und zwei Drecksäcke, wie man keine größeren hätte finden können, wenn man jahrelang gesucht hätte – richteten sich kerzengerade auf und salutierten mit vorgetäuschter Ergriffenheit voreinander. Dann rauschte Varuz davon, um Poulder, Kroy und seinem eigenen Drecksackgefolge lautstark seine Befehle zu geben, demonstrativ bemüht, das Heer eilends in Sicherheit zu bringen, damit sich das Opfer des Ersten Regiments Seiner Majestät zumindest lohnte.

Denn das erkannte Rews mit einem weiteren Blick auf den Gurkhisensturm, der sich auf der anderen Seite der Brücke sammelte: Sie würden sich opfern. Mit großer Sicherheit.

»Das ist Selbstmord«, flüsterte er unterdrückt.

»Korporal Tunny?«, rief Glokta, der sich die Jacke zuknöpfte.

»Herr Oberst?« Der allereifrigste unter den jungen Soldaten salutierte auf die allerergebenste Weise.

»Bringen Sie mir meinen Brustpanzer.«

»Selbstverständlich, Herr Oberst.« Tunny stürmte davon. Überhaupt rannten jede Menge Leute jetzt herum, um irgendwas zu holen oder zu bringen. Männer holten Pferde. Zivilisten brachten sich in Sicherheit, wobei Lady Wetterlant noch einen letzten, feuchten Blick über ihre Schulter warf. Rews war doch der Quartiermeister des Regiments, oder nicht? Er hätte jetzt auch irgendetwas Dringendes zu tun haben sollen. Und dennoch stand er einfach nur da, die Augen weit aufgerissen und auch ein wenig feucht, wobei er den Mund und die Hände sinnlos immer wieder öffnete und schloss.

Währenddessen waren nun zwei verschiedene Arten von Mut zu beobachten. Leutnant West sah grimmig zur Brücke hinüber – das Gesicht blass, die Zähne fest zusammengebissen, aber trotz aller begründeten Angst fest entschlossen, seine Pflicht zu tun. Oberst Glokta hingegen lächelte dem Tod höhnisch entgegen, als sei er eine verschmähte Geliebte, die um Zuneigung bettelte; offensichtlich felsenfest davon überzeugt, dass Gefahr nur niedere Menschen einholte, war er völlig bar jeder Furcht.

Nein, es gab sogar drei verschiedene Arten von Mut, wie Rews erkannte, denn schließlich war er ja auch noch da, und er zeigte, wie es aussieht, wenn man überhaupt keinen hat.

Und dann erschien noch eine vierte in Gestalt von Korporal Tunny, auf dessen hell poliertem Koppel die Sonne funkelte, während er dienstbeflissen Gloktas Brustpanzer in den Händen hielt und in seinen Augen der Mut noch unerprobter Jugend schimmerte, die sich unbedingt beweisen will.

»Danke«, sagte Glokta, die leicht zusammengekniffenen Augen auf den wachsenden Trupp gurkhisischer Kavallerie gerichtet, während Tunny die Gurte der Rüstung festzog. Mit beängstigender Geschwindigkeit galoppierten immer mehr Pferde heran. »Und jetzt begeben Sie sich wieder zum Zelt und packen meine Sachen ordentlich zusammen.«

Tunnys Gesicht bot ein Bild fassungsloser Enttäuschung. »Ich hatte gehofft, mit Ihnen dort hinunterreiten zu können, Herr Oberst …«

»Natürlich, und mir wäre nichts lieber, als Sie an meiner Seite zu haben. Aber wenn wir beide dort unten sterben, wer würde dann meine Sachen zurück zu meiner Mutter bringen?«

Der junge Korporal blinzelte die Tränen weg. »Aber, Herr Oberst …«

»Nun kommen Sie schon.« Glokta klopfte ihm auf die Schulter. »Ich würde auch ungern eine so vielversprechende Karriere gefährden. Sie werden zweifelsohne eines Tages Lord Marschall werden.« Glokta ließ den verblüfften Korporal stehen und hatte ihn im gleichen Augenblick bereits vergessen. »Hauptmann Lackenhorm, gehen Sie zu den Soldaten und fragen Sie sie, wer sich freiwillig meldet.«

Der auffällig hervortretende Knubbel vorn an Lackenhorms sehnigem Hals zuckte unsicher auf und ab. »Freiwillig wofür, Herr Oberst?« Dabei war es offensichtlich, welcher Auftrag auf sie wartete, dafür sorgte der Anblick, der sich im Tal unter ihnen bot – ein breit angelegtes Melodram, das sich auf großer Bühne entfaltete.

»Nun, natürlich, um die Gurkhisen von der Brücke dort zu vertreiben, Sie dummer alter Ziegenbock. Beeilen Sie sich und sehen Sie zu, dass die Männer so schnell wie möglich bewaffnet und einsatzbereit sind.«

Lackenhorm lächelte nervös und eilte dann davon, wobei er beinahe über den eigenen Degen stolperte.

Mit einem Satz sprang Glokta nun auf den Zaun, einen Fuß auf der unteren Latte, den anderen auf der oberen. »Heute habe ich die Absicht, diesen Gurkhisen eine kleine Lektion zu verpassen, meine stolzen Mannen des Ersten Regiments Seiner Majestät!«

Die jungen Offiziere scharten sich eilig um ihn wie Enten, die sich von den Plattitüden, die Glokta von sich gab, anlocken ließen, als seien es Brotbrocken.

»Ich werde niemandem befehlen, mir zu folgen – das ist eine Gewissensentscheidung, die jeder für sich selbst fällen muss!« Er verzog die Lippen. »Was ist mit Ihnen, Rews? Wollen Sie hinter uns herwatscheln?«

Rews war überzeugt, dass sein Gewissen eine Menge aushielt. »Nichts wäre mir lieber, als beim Angriff dabei zu sein, Herr Oberst, aber mein Bein …«

Glokta schnaubte. »Ihre Massen herumzuschleppen, das ist natürlich eine Belastung für jedes Bein – das verstehe ich vollkommen. Eine solche Last hätte nicht einmal ein Pferd verdient.« Allgemeines Gelächter. »Manche Männer sind dazu geschaffen, Großes zu leisten. Andere machen eben das … was sie können. Natürlich sind Sie entschuldigt, Rews. Wie könnte es auch anders sein?«

Die vernichtende Erniedrigung ging ganz und gar in einer kribbelnden Welle von Erleichterung unter. Wer zuletzt lacht, lacht am längsten, heißt es schließlich, und Rews bezweifelte, dass viele derer, die sich gerade über ihn lustig machten, in einer Stunde auch noch lachen würden.

»Herr Oberst«, hörte er West sagen, während Glokta sich mit geradezu akrobatischem Geschick vom Zaun in den Sattel schwang. »Sind Sie sicher, dass wir das tun müssen?«

»Wer springt denn wohl sonst ein, was glauben Sie?«, gab Glokta zurück, der an den Zügeln zerrte und sein Pferd hart herumriss.

»Viele Männer werden dabei umkommen. Männer mit Familien.«

»Nun ja, davon gehe ich aus. Wir sind im Krieg, Herr Leutnant.« Vereinzelt wurde unter den Offizieren wieder katzbuckelnd gelacht. »Deswegen sind wir ja hier.«

»Natürlich, Herr Oberst.« West schluckte. »Korporal Tunny, satteln Sie bitte mein Pferd …«

»Nein, Leutnant West«, unterbrach ihn Glokta. »Ich brauche Sie hier.«

»Herr Oberst?«

»Wenn das alles hier vorbei ist, werde ich einen Offizier brauchen, der seinen Arsch von zwei Melonen unterscheiden kann.« Er warf Rews, der sich gerade die zerknitterten Hosen ein wenig hochzog, einen vernichtenden Blick zu. »Davon abgesehen gehe ich davon aus, dass Ihre Schwester zu einem ganz schönen Früchtchen heranwachsen wird. Die kann ich schließlich nicht Ihres festigenden Einflusses berauben, nicht wahr?«

»Aber Herr Oberst, ich sollte …«

»Ich will nichts davon hören, West. Sie bleiben hier, das ist ein Befehl.«

West öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn dann aber schnell, richtete sich auf und salutierte verkrampft. Korporal Tunny tat es ihm gleich, während in seinen Augenwinkeln Tränen schimmerten. Rews bemühte sich schuldbewusst, sich ihnen ebenfalls schnell anzuschließen, noch ganz durcheinander angesichts der entsetzlichen und entzückenden Vorstellung eines Glokta-freien Universums.

Der Oberst grinste sie an, und seine beiden vollständigen Reihen perfekter, brillant weißer Zähne strahlten im Sonnenlicht so hell, dass der Anblick beinahe schmerzte.

»Kommen Sie, meine Herren, keine langen Gesichter. Ich werde zurück sein, bevor Sie gemerkt haben, dass ich überhaupt weg war.«

Mit einem Ruck an den Zügeln ließ er sein Pferd vorn aufsteigen, und kurz hob er sich wie ein Reiterstandbild vor dem hellen Himmel ab, während Rews sich fragte, ob es je einen bewundernswerteren Drecksack gegeben hatte.

Dann spritzte ihm der Dreck ins Gesicht, als Glokta die Anhöhe hinuntergaloppierte.

Hinunter zur Brücke.