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Zum Buch

»Irgendetwas ist mit mir geschehen«, sagte Maude leise. »Draußen in der Wüste. Ich habe einen Teil von mir verloren. Vielleicht könnte ich ihn wiederfinden, wenn ich noch einmal dorthin ginge. Aber nein, ich kann nicht dorthin zurück, nicht jetzt. Nie wieder … Ob ich Sie vielleicht bitten dürfte, mir einen Gefallen zu tun, Joan? Aber es muss streng geheim bleiben, sie dürfen nicht einmal ihrem Verlobten davon erzählen.«

Das Geheimnis einer großen unerwiderten Liebe, die ein Verrat zerstörte. Mehr als ein halbes Jahrhundert vergeht, bis eine junge Frau das gebrochene Herz rächen soll.

Zur Autorin

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im ländlichen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Nach dem großen internationalen Bestseller Das geheime Vermächtnis folgten zahlreiche Romane, die in England und Italien spielen. Die Autorin wählt für Das Versprechen der Wüste erstmalig einen Schauplatz, der die Leser in den arabischen Oman entführt. Sie lebt in der Nähe von Bath, England.

KATHERINE

WEBB

Das Versprechen

der Wüste

ROMAN

Aus dem Englischen von

Babette Schröder und Katharina Volk

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Copyright © 2016 by Katherine Webb

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The English Girl bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd., London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Michel Piccaya/trevillion; Pakhnyushchy; Yongcharoen_kittiyaporn;
Philip Lange; Richard Yoshida; Iwanami Photos; MrLis;
Peter Turner Photography; Thai Chaba/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-20031-2
V003

www.diana-verlag.de

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BEDFORD, ENGLAND, OKTOBER 1939

Nach Onkel Godfreys Besuch kam Joans Vater ihr sechs Tage lang wie ein Flickwerk vor. Diese Bezeichnung hatte sich Joan ausgedacht, weil er sie dann immer an ihre Flickenpuppe erinnerte – es fehlte hier und da etwas Füllung, und die Augen waren gestickte Kreuze. Jetzt plapperte Daniel ihr das nach, obwohl er erst fünf war und das alles nicht so richtig verstand. Joan ehrlicherweise auch nicht ganz, und sie war schon sieben. Normalerweise war ihr Dad eine Art verschwommener Fleck: Er war ständig in Bewegung oder machte irgendwo Lärm, sang oder hielt laute Reden, jonglierte mit Äpfeln oder führte auf den gesprungenen braunen Küchenfliesen einen Stepptanz auf. Aber als Flickwerk war er ganz still – beinahe stumm – und bewegte sich, als hätte er vergessen, wohin er wollte. Seine Schultern hingen herab, sein Gesicht erschlaffte, er badete und rasierte sich nicht mehr und trug eine Woche lang denselben Pullover. Das geschah nicht oft, und Joan fand es schrecklich. Es fühlte sich an, als ginge die Welt unter.

Joans Vater David war ein kleiner, schmächtiger Mann. Er hatte ein langes, schmales Gesicht mit hellblauen Augen hinter dem Drahtgestell seiner Brille. Vom vielen Lächeln hatten sich tiefe Falten in seine Wangen gegraben, und er kämmte sich das mausbraune Haar immer mit Pomade zurück. Er roch nach Tabak, Rasierseife und dem Menthol für seine Brust. Godfrey, sein älterer Bruder, war groß und scharfkantig. Er fuhr im größten Wagen vor, den Joan je gesehen hatte, so grau und glänzend glatt wie nasse Pinguine im Zoo. In einem dunklen Anzug kam er herein, nahm den Hut nicht ab, musterte ihren engen Hausflur mit einem kurzen, empörten Blick und lächelte die Kinder auf eine Art an, die sie vor Schüchternheit verstummen ließ.

»Du bist selbst schuld daran, dass sie dich nicht sehen wollen, das weißt du doch«, hörte Joan Onkel Godfrey zu ihrem Vater sagen. Sie wusste, dass sie nicht lauschen durfte, aber in ihrem kleinen Haus mit den dünnen Wänden war das gar nicht so einfach. »Himmel, wenn sie wüssten, dass ich bei dir war … Du bist selbst schuld daran, dass sie nichts von dir wissen wollen, David.«

»Warum kommst du überhaupt, Godfrey?«, fragte David, und seine Stimme klang schon ein bisschen nach einem Flickwerk. Joan hatte einmal gehört, wie ihre Mutter Mrs. Banks von nebenan erzählt hatte, dass Davids Familie reicher sei als Krösus. Sie hatte keine Ahnung, wie reich das sein könnte.

Joans Eltern waren nicht reich – reiche Leute wohnten in Schlössern und besaßen Autos wie das von Onkel Godfrey, statt mit dem Bus zu fahren. Joan war nur ein kleines bisschen neugierig, wie das wohl wäre. Ihr Vater leitete das Kino namens Rex Theatre, mit muffigen Vorhängen und Samtkordeln vor der Leinwand. Oft durften sie und ihr Bruder sich dort Filme ansehen und saßen dabei in dem winzigen Projektionsraum auf seinen Knien. Hinterher erzählte er ihnen fantastische Geschichten über die Orte, die sie im Film gesehen hatten – über die vielen verschiedenen Länder und Städte und Völker der Welt. Joan fand das Rex Theatre viel wichtiger als irgendeinen Wagen oder ein Schloss. Alle ihre Mitschülerinnen beneideten sie darum.

»Du kannst sowieso nicht zum Militär gehen«, sagte Mum nach Godfreys Besuch zu Dad, ohne vom Kartoffelschälen aufzublicken. Die Wörter klangen abgehackt, und es folgte eine spannungsgeladene Pause. »Nicht mit deiner Lunge. Und deinen Augen«, fügte sie hinzu. David saß hinter ihr am Küchentisch, putzte mit dem Taschentuch seine Brille und sagte nichts.

Mums Lösung, wenn Dad zu einem Flickwerk wurde, bestand darin, ihn zu füttern. Ihre Mahlzeiten wurden so reichlich und aufwendig, sie brachte alles auf den Tisch, was sie im Laden bekommen konnte. Zum Tee gab es bunte, merkwürdige Kuchen – wie diesen komisch matschigen, der mit Mandarinenscheibchen aus einer gewaltigen Dose belegt war und aussah wie ein Riesengoldfisch-Filet. Doch das Essen bewirkte nicht viel, außer dass Dad einen dicken Bauch bekam. Als Joan und Daniel ihn am Abend um eine Gutenachtgeschichte baten, lächelte er nur schwach und schüttelte den Kopf.

»Geht und bittet eure Mutter, euch eine vorzulesen, meine Schätzchen. Euer Dad ist heute Abend ein bisschen müde.« Aber seine Geschichten waren meistens viel besser. Er erweckte sie zum Leben – er hatte hundert Stimmen, Gesichter und Gesten. Er konnte ein uraltes Weib sein, ein hinterlistiger Dieb oder eine winzige Fee. Joan fragte sich, ob es diesmal der Krieg war. Kurz vor Godfreys Besuch hatte England Deutschland den Krieg erklärt. Joan wusste, was Krieg war, theoretisch, aber sie hatte keine Ahnung, wie so ein Krieg aussah und was er bedeutete. Ein paar Tage lang machte sie sich große Sorgen, weil ihre Lehrerin Miss Keighley in Tränen ausgebrochen war, während sie die Anwesenheit kontrolliert hatte. Doch bald stellte sich heraus, dass »sich im Krieg befinden« offenbar nicht so viel anders sein würde als sonst.

»Das wird schon gut gehen, Daddy«, sagte sie zu ihm. Sie meinte damit den Krieg, aber sein Lächeln erlosch, und er antwortete nicht. Joan verstand überhaupt nichts mehr.

Am sechsten Tag fiel ihr endlich ein, was sie tun konnte. Tausendundeine Nacht. Das war ihr Glücksbringer, ihre Geheimwaffe, denn es war das Lieblingsbuch ihres Vaters, und ihres auch. Sie ging mit dem Buch zu ihm und bat ihn um eine Geschichte, fest entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. Sie kletterte auf seinen Schoß, sodass er nicht über sie hinwegschauen konnte. Als er sie ansah, schien sein Blick von ganz weit weg zu kommen. Sie drückte ihm das Buch in die Hand und spürte die Bedeutung dieses Augenblicks als körperliche Anspannung. Daniel kam ihr nachgetapst, seine Kuscheldecke unter einen Arm geklemmt und den Daumen im Mund.

»Bitte lies uns eine Geschichte vor. Bitte?« Sie starrte in das Gesicht ihres Dads, auf seine stoppeligen Wangen und die dunklen Ringe um seine Augen. »Bitte?«, wiederholte sie. Ihr Vater holte tief Luft, beugte sich dann vor und hob Daniel hoch auf sein anderes Knie.

»Na gut, ihr Rangen«, sagte er leise. Joan wurde ein bisschen schwindelig vor Erleichterung.

Daniel rollte sich unter Dads Arm zusammen. Seine Augen waren schon glasig vor Müdigkeit, und er lauschte eher der Stimme seines Vaters, als der Geschichte zu folgen. Joan jedoch hing an seinen Lippen. Es war nicht so wichtig, welche Geschichte er aussuchte, aber er nahm Ali Baba, und während er las, fragte Joan immer wieder nach den Orten, und wie es dort war, obwohl sie die Antworten schon kannte. Doch mit jeder Beschreibung wurde ihr Vater noch ein bisschen besser.

»Ach, weißt du das etwa nicht, Joanie? Arabien fließt nur so über vor Zauberei! Wie sonst könnte jemand in solch einer Wüste überleben? Arabien ist ein Meer aus Sand, das größte auf der ganzen Welt. Die Wüste erstreckt sich Hunderte von Meilen in alle Richtungen, kannst du dir das vorstellen? Hügel und Täler aus knochentrockenem, goldenem Sand.«

»Und da gibt es gar nichts außer Sand?«, fragte sie.

»Na, was meinst du, warum die Menschen, die dort leben, sie ›das Leere Viertel‹ nennen?«

»Aber wie leben die Menschen dort? Was essen sie?«

»Zauberei! Das habe ich dir doch gesagt. Dort leben auch Dschinns, und die helfen den Menschen. Dschinns können Sand in Gold verwandeln oder in Wasser oder Essen, oder was immer du willst. Es ist also sehr wichtig, einen von ihnen auf deiner Seite zu haben. Aber du musst aufpassen, sie sind listig und versuchen stets, einen guten Handel herauszuschlagen.«

»Was für einen Handel, Dad?«

»Nun, als ich dort war, habe ich einen Dschinn namens Derwisch kennengelernt, und der …«

Je mehr ihr Dad vorlas und je mehr Fragen Joan ihm stellte, desto weniger war er ein Flickwerk. Glück rieselte durch ihren ganzen Körper. Morgen früh würde er nicht mehr nach ungewaschenem Pullover und schal gewordenem Tee riechen, das wusste sie, sondern nach Rasierseife und Menthol. Er würde wieder er selbst sein, ein verschwommener Fleck, der sich schnell bewegte – nicht so still und verloren. Joan war vollkommen überzeugt davon, dass ihr Dad ein Zauberer war, Tausendundeine Nacht ein magisches Buch und Arabien ein verzaubertes Land. Und sie wusste, dass ihr Dad sie eines Tages mit dorthin nehmen würde.