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Yrsa Sigurdardóttir



Das gefrorene Licht


Thriller



Aus dem Isländischen von Tina Flecken












Inhaltsverzeichnis

Buch und Autorin
Copyright
Anmerkungen
Widmung
PERSONEN DER HANDLUNG
PROLOG
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
32. KAPITEL
33. KAPITEL
34. KAPITEL
35. KAPITEL
EPILOG

Anmerkungen

Die isländischen Buchstaben werden wie folgt ausgesprochen:

Æ bzw. æ wie ai in Kaiser
Ð zw. ð wie englisches stimmhaftes th in this
þ bzw. þ wie englisches stimmloses th in thick

Weil sich alle Isländer üblicherweise mit dem Vornamen anreden, wurde auch in dieser Übersetzung grundsätzlich die Du-Form gewählt.

 

Die deutsche Übersetzung des Verses aus der Edda ist aus folgendem Band entnommen: Die Edda. Nach der Übersetzung v. Karl Simrock neu bearb. u. eingeleit. v. Hans Kuhn. 3 Bde. Reclam, Leipzig 1935–1947, Stuttgart 1997, 2004.

EPILOG

SAMSTAG, 24. JUNI 2006

Dóra trat an das offene Grab. »Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück«, sagte sie leise und ließ die Erde aus ihrer Hand auf den kleinen Sarg rieseln. Sie bekreuzigte sich und trat zurück. Es nieselte auf die überschaubare Gruppe herab, die sich in der kleinen Kirche versammelt hatte und schweigend hinter dem Sarg über den Friedhof gegangen war. Dóra hatte auf dem kurzen Weg Láras Hand gehalten. Sie und ein älterer Mann schienen die Einzigen in der Gruppe zu sein, denen das Ganze naheging. Er sah furchtbar aus. Es war Magnús Baldvinsson. Er war zu Beginn der Messe erschienen und hatte sich leise ganz hinten in die Kirche gesetzt. Beim Leichenzug hatte er darauf geachtet, ein paar Schritte hinter den anderen zu gehen. Er krallte sich mit beiden Händen an seinem Hut fest und starrte auf den Boden, wann immer Dóra zu ihm hinübersah. Er tat ihr leid.

Dóra verfolgte, wie der Pastor mit geschlossenen Augen eine Strophe aus einem alten Psalm aufsagte. Sie tat es ihm nach und hatte das Gefühl, dass Kristín der Vers gefallen hätte:

Nun schließe ich die Augen,
oh, Gott, lass deine Gnade
mich schützen diese Nacht.
Ach, wenn du mich zu dir rufst,
lass deinen Engel wachen
über meinen Schlaf.

Anschließend sang die Gruppe leise Gleichwie die eine Blume, und einer nach dem anderen nahm zum Abschluss den Segen des Pfarrers entgegen.

Am Ende blieben nur noch drei übrig: Lára, Dóra und Magnús. Mit hängendem Kopf stand Magnús etwas abseits.

»Komm«, flüsterte Lára. »Ich koche uns einen Kaffee.« Sie krallte ihre Hand in Dóras Arm. »Ich möchte dir den Brief zeigen. Hast du es eilig?«

»Nein.« Sie verließen den Friedhof und Magnús Baldvinsson, der allein vor dem Grab seiner längst verstorbenen kleinen Tochter verharrte.

Dóra lächelte im Stillen, als sie ein leises Kinderweinen aus der Lava neben dem Friedhof hörte. Der ungezogene Kater, dachte sie, aber dann fiel ihr ein, dass sie den besagten Kater gesehen hatte, als sie an Tunga vorbei zum Friedhof gefahren war. Er hätte in so kurzer Zeit niemals bis hierher laufen können. Das Weinen wurde immer klagender, und Dóra verstärkte ihren Griff um das schmale, zerbrechliche Handgelenk der alten Frau. »Sollen wir ein bisschen schneller gehen?«, fragte sie. »Mir ist irgendwie unheimlich.«

1. KAPITEL

DIENSTAG, 6. JUNI 2006

»Briefeinwurfklappe«, berichtigte Dóra und lächelte höflich. »In der Verordnung heißt das Briefeinwurfklappe.« Sie zeigte auf den Ausdruck auf dem Schreibtisch und drehte ihn so, dass das Ehepaar auf der anderen Seite des Tisches den Text lesen konnte. Ihre Gesichter verdunkelten sich, und Dóra beeilte sich, fortzufahren, bevor der Mann eine weitere Schimpftirade loslassen konnte. »Als Verordnung Nummer 505/1997 über den Grundpostdienst von Verordnung Nummer 364/2003 über den allgemeinen Dienst und die Durchführung des Postdienstes abgelöst wurde, fiel Paragraph 12 zu Briefkästen und Briefeinwurfklappen weg.«

»Na also!«, rief der Mann und warf seiner Frau einen triumphierenden Blick zu. »Hab ich doch gleich gesagt! Sie können sich also nicht einfach weigern, uns die Post zuzustellen.« Er drehte sich zu Dóra, setzte sich auf und verschränkte die Arme.

Dóra räusperte sich dezent. »Leider ist das nicht ganz so einfach. Die neue Verordnung verweist in Bezug auf Briefeinwurfklappen und deren Positionierung auf die Bauverordnung. Alle Briefeinwurfklappen sollen demnach so angebracht sein, dass der Abstand vom Boden bis zur unteren Kante der Briefeinwurfklappe nicht weniger als 1000 und nicht mehr als 1200 Millimeter beträgt.« Dóra hielt kurz inne, um Luft zu holen, achtete jedoch darauf, dem Mann nicht die Gelegenheit zu geben, ihr ins Wort zu fallen. »In der Gesetzesverordnung Nummer 12/2002 zum Postdienst heißt es, den Postdienstleistern sei es gestattet, Postsendungen zurückzuschicken, wenn die Briefeinwurfklappe nicht den Bauvorschriften entspricht.«

Weiter kam sie nicht, denn dem Mann riss der Geduldsfaden. »Willst du mir damit sagen, dass ich keine Post mehr bekomme und nichts tun kann, um mich vor diesem Vorschriftenunwesen zu schützen?« Er schnaubte und gestikulierte wild mit den Händen, so als wolle er einen Angriff unsichtbarer Bürokraten abwehren.

Dóra zuckte die Achseln. »Du kannst die Briefeinwurfklappe natürlich erhöhen.«

Der Mann warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Ich dachte, du könntest uns helfen. Immerhin hast du versprochen, dich vorher in die Sache einzuarbeiten!«

Anstatt die Verordnung zu nehmen und sie dem Mann in sein feuerrotes Gesicht zu schleudern, ließ Dóra es zähneknirschend dabei bewenden. »Was ich selbstverständlich getan habe«, sagte sie ruhig und setzte ein falsches Lächeln auf. Sie hatte damit gerechnet, dass das Ehepaar beeindruckt wäre, wie perfekt sie die Nummern der Verordnungen herunterleiern konnte. Im Grunde hätte sie sich denken können, dass das einer dieser nervtötenden Fälle war, bei denen man sich völlig sinnlos wie ein Hamster im Laufrad abmühen musste. Schon als der Mann vor zwei Tagen mit erregter Stimme in der Kanzlei angerufen hatte, hätten die Alarmglocken läuten müssen. Gehetzt hatte er nach rechtlichem Beistand verlangt wegen einer Auseinandersetzung mit dem Postboten und der Post. Seine Frau und er hatten soeben ein Fertighaus bezogen, das aus Amerika importiert und mit sämtlichem Zubehör angeliefert worden war – darunter auch eine Haustür mit einem unzulässigen Briefschlitz. Eines Tages war die Frau nach Hause gekommen und hatte einen handgeschriebenen Zettel an der Haustür vorgefunden, auf dem stand, dass sie keine Post mehr zugestellt bekämen, weil der Briefschlitz zu niedrig sei. In Zukunft sollten sie ihre Sendungen bei der Post abholen. »Ich kann dir nur raten, das in dieser Situation Vernünftigste zu tun. Ein Prozess gegen die Isländische Post, wie du ihn in Erwägung ziehst, würde nur zusätzliche Kosten verursachen. Von einem Prozess gegen die Baubehörde rate ich dir ebenfalls ab.«

»Es kostet auch Geld, die Haustür austauschen zu lassen. Der Schlitz lässt sich nicht nach oben versetzen. Das habe ich dir doch schon gesagt.« Siegesgewiss schauten der Mann und die Frau einander an.

»Eine Haustür kostet jedenfalls weniger als irgendein Prozess.« Dóra reichte ihnen das letzte Dokument von dem Stapel, den sie vor dem Eintreffen des Ehepaars vorbereitet hatte. »Hier ist ein Brief, den ich in deinem Namen geschrieben habe.« Beide Eheleute griffen nach dem Papier, aber der Mann war schneller. »Die Post oder der Briefträger sind falsch vorgegangen. Ihr hättet ein förmliches Einschreiben bekommen sollen, in dem euch mitgeteilt wird, dass die Briefeinwurfklappe in einer unzulässigen Höhe angebracht ist. Des Weiteren hätte euch eine Korrekturfrist gesetzt werden müssen. Die Postzustellung hätte erst nach Ablauf dieser Frist eingestellt werden sollen.«

»Ein Einschreiben!«, tönte die Frau. »Wie sollen wir das denn kriegen, wenn uns nichts zugestellt wird!« Selbstzufrieden blickte sie zu ihrem Mann. Seine Reaktion war jedoch nicht so, wie sie erwartet hatte, und ihr Gesicht nahm schnell wieder einen beleidigten Ausdruck an.

»Ach, Liebes, verdreh doch nicht die Worte«, stieß der Mann hervor. »Einschreiben wirft man nicht in den Briefschlitz – die müssen bei Annahme quittiert werden.« Er wandte sich an Dóra. »Fahr bitte fort.«

»In dem Brief fordern wir ein korrektes Vorgehen der Post: dass ein Einschreiben geschickt, die Korrektur eingefordert und euch eine akzeptable Frist gesetzt wird. Wir setzen zwei Monate an.« Sie zeigte auf den Brief, den der Mann bereits gelesen hatte und nun an seine Frau weiterreichte. »Danach können wir nicht mehr viel tun. Ich empfehle euch, die Höhe der Briefeinwurfklappe vor Ablauf der Frist zu korrigieren. Wenn das aber nicht möglich ist, und ihr die Tür so belassen wollt, könnt ihr einen Briefkasten aufstellen. Der Schlitz muss sich innerhalb derselben Höhenangaben befinden, wie sie auch für die Einwurfklappe gelten. Falls ihr euch dafür entscheidet, rate ich euch, zur Vermeidung weiteren Ärgers, den Briefkasten mit Hilfe eines Zollstocks aufzustellen.« Sie lächelte dem Ehepaar trocken zu.

Der Mann sah sie scharf an und dachte nach. Plötzlich grinste er schadenfroh. »Okay. Ich verstehe. Wir schicken den Brief, bekommen ein Einschreiben und haben dann zwei Monate, in denen der Briefträger uns die Post zustellen muss, unabhängig von der Höhe der Luke, nicht wahr?« Dóra nickte. Mit triumphierendem Gesicht stand der Mann auf. »Wer zuletzt lacht, lacht am längsten. Ich schicke den Brief jetzt ab, und sobald ich die Frist bekommen habe, werde ich den Briefschlitz runter zur Türschwelle verlegen. Nach Ablauf der Frist stelle ich dann einen Briefkasten auf. Komm, Gerða!«

Dóra brachte die beiden zur Tür, wo sie sich bedankten und verabschiedeten. Der Mann hatte es eilig, den Brief einzuwerfen, damit die zweite Halbzeit seines Kleinkriegs mit dem Postboten eingeläutet werden konnte. Auf dem Weg zurück zu ihrem Schreibtisch schüttelte Dóra den Kopf, verwundert über das Wesen der Menschen. Auf was für Ideen die Leute kamen. Sie hoffte, dass Briefträger gut bezahlt würden, bezweifelte es aber stark.

Dóra hatte sich gerade wieder hingesetzt, als Bragi, der Miteigentümer ihrer kleinen Anwaltskanzlei, seinen Kopf durch die Tür steckte. Er war ein älterer Herr, der sich auf Scheidungen spezialisiert hatte. Dóra konnte sich nicht vorstellen, solche Fälle zu bearbeiten. Ihre eigene Scheidung reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Bragi war auf diesem Gebiet jedoch ganz in seinem Element und es gelang ihm hervorragend, die kompliziertesten Fälle zu lösen und die Leute dazu zu bringen, ohne große Reibereien miteinander zu reden. »Na, wie ist es mit dem Briefschlitz gelaufen? Wird das ein Präzedenzfall vor dem Obersten Gerichtshof?«

Dóra lächelte ihm zu. »Nein, sie überlegen es sich nochmal. Wir müssen dran denken, die Rechnung mit einem Kurier zu schicken. Es ist völlig unklar, ob sie noch Post zugestellt bekommen.«

»Ich hoffe sehr, dass sie das kapieren«, sagte Bragi und rieb seine Handflächen gegeneinander. »Sonst hätten wir ein Verfahren, das sich gewaschen hat.« Er zog einen gelben Zettel hervor und reichte ihn Dóra. »Der hat angerufen, als die Postschlitz-Leute bei dir waren. Du sollst ihn zurückrufen, wenn du Zeit hast.«

Dóra schaute auf den Zettel und seufzte, als sie den Namen sah. Jónas Júlíusson. »Na super«, sagte sie und warf Bragi einen Blick zu. »Was wollte er denn?« Vor einem guten Jahr hatte Dóra diesen wohlhabenden Herrn mittleren Alters beim Abschluss eines Kaufvertrags unterstützt. Er hatte in ein Grundstück und einen Bauernhof in Snæfellsnes investiert. Jónas war im Ausland durch den Kauf insolventer Radiosender, die er wieder aufbaute und mit gewaltigem Gewinn verkaufte, schnell zu Geld gekommen. Dóra wusste nicht, ob er schon immer seltsam gewesen war oder ob es mit dem Geld zusammenhing. Zum damaligen Zeitpunkt war er fasziniert von Esoterik und wollte ein großes Zentrum mit Wellnesshotel errichten, zwecks ganzheitlicher Beseitigung aller möglichen körperlichen und seelischen Leiden durch alternative Behandlungsmethoden. Dóra schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an Jónas’ Pläne.

»Ein verdeckter Mangel, wenn ich ihn recht verstanden habe«, antwortete Bragi. »Er ist wohl irgendwie unzufrieden mit dem Anwesen.« Er lächelte ihr zu. »Ruf ihn an; mit mir wollte er nicht reden. Du bist für ihn aufsteigende Venus im Krebs und deshalb eine gute Rechtsanwältin.« Bragi zuckte mit den Schultern. »Ein aussagekräftiges Horoskop ist vielleicht auch keine schlechtere Empfehlung als gute Jura-Noten. Was weiß denn ich?«

»So ein Quatsch«, sagte Dóra und griff nach dem Telefon. Jónas hatte zu Beginn ihrer Zusammenarbeit ein Horoskop für sie anfertigen lassen, bei dem sie gut abgeschnitten hatte, und deshalb hatte er sie beauftragt. Dóra vermutete, dass die großen Kanzleien sich geweigert hatten, Informationen über die Geburtszeit ihrer Anwälte herauszugeben, und Jónas daraufhin nach kleineren Büros Ausschau gehalten hatte. Sonst ließe sich kaum erklären, warum sich ein Mann mit einem so großen Betrieb an eine Kanzlei mit nur vier Mitarbeitern wenden sollte. Sie wählte die Nummer, die Bragi auf den Zettel gekritzelt hatte, und schnitt eine Grimasse, während sie darauf wartete, dass abgenommen wurde.

»Hallo«, erklang eine sanfte Männerstimme, »Jónas.«

»Hallo Jónas, hier ist Dóra Guðmundsdóttir, Anwaltskanzlei Innenstadt. Ich sollte dich zurückrufen.«

»Ja, genau. Ich bin sehr froh, deine Stimme zu hören.« Der Mann seufzte.

»Bragi hat etwas von einem verdeckten Mangel erzählt. Worum geht es denn?«, fragte Dóra und schaute dabei den nickenden Bragi an.

»Ich kann dir sagen, es ist wirklich fürchterlich. Ein erheblicher verdeckter Mangel ist ans Licht gekommen, von dem der Käufer mit Sicherheit gewusst und den er mir verschwiegen hat. Ich glaube, das wird meine gesamte Planung hier in Gefahr bringen.«

»Worin besteht denn dieser verdeckte Mangel?«, fragte Dóra überrascht. Das Anwesen war vor dem Kauf von anerkannten Gutachtern sorgfältig geprüft worden, und sie hatte die Gutachten persönlich gegengelesen. Darin stand nichts, womit man nicht gerechnet hatte. Das Gelände war genauso groß, wie der Verkäufer angegeben hatte, und die beiden alten Höfe auf dem Grundstück waren so baufällig, dass man sie vollständig sanieren musste.

»Erinnerst du dich an das alte Gebäude, das ich in das Hotel integriert habe, den Kirkjustétt-Hof?«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Dóra und fügte hinzu: »Aber du weißt schon, dass sich der Mangel bei Immobilienkäufen auf mindestens zehn Prozent des Kaufpreises belaufen muss, um Schadenersatzforderungen geltend machen zu können? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein verdeckter Mangel bei einem so alten Haus diese Prozentzahl erreicht, selbst wenn er unbestreitbar erheblich ist. Außerdem muss ein solcher verdeckter Mangel ebendies sein – verdeckt. Aus den Gutachten geht deutlich hervor, dass die Gebäude von Grund auf sanierungsbedürftig sind.«

»Dieser Mangel macht den Hof für meine beruflichen Pläne so gut wie unbrauchbar«, sagte Jónas nachdrücklich. »Und es steht außer Frage, dass er verdeckt ist. Die Gutachter hätten ihn gar nicht erkennen können.«

»Und was hast du denn nun eigentlich überhaupt entdeckt?«

»Ich weiß, dass du für übernatürliche Phänomene nicht besonders empfänglich bist«, sagte Jónas ruhig. »Du wirst also wahrscheinlich verblüfft sein, wenn ich dir erzähle, was hier los ist, aber du musst mir bitte glauben.« Er schwieg einen Moment und ließ dann die Katze aus dem Sack. »Hier spukt es.«

Dóra schloss die Augen. Es spukte. Klar. »Ach so«, sagte sie in den Hörer, während sie sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn tippte, um Bragi zu signalisieren, dass Jónas’ Anliegen höchst sonderbar war. Bragi rückte näher heran, in der Hoffnung, Jónas’ Worte verstehen zu können.

»Ich wusste, dass du skeptisch sein würdest«, brummelte Jónas. »Aber es ist wahr und hier in der Gegend allgemein bekannt. Der Verkäufer hat es gewusst und beim Verkauf nichts darüber gesagt. Für mich ist das Betrug, vor allem, wenn man bedenkt, dass ihm meine Pläne für Hof und Grundstück bekannt waren. Ich habe hier sehr sensible Leute, und damit meine ich sowohl die Gäste als auch die Mitarbeiter. Sie fühlen sich unwohl.«

Dóra fiel ihm ins Wort. »Wie … gestaltet sich dieser Spuk denn?«

»Es sind einfach schlechte Schwingungen im Haus. Zum Beispiel verschwinden Dinge, in der Nacht hört man unerklärliche Laute, und Leute haben plötzlich ein Kind auftauchen sehen.«

»Und?«, fragte Dóra. Das war ja nun wirklich nichts Besonderes. Bei ihr zu Hause verschwanden unentwegt Dinge, vor allem Autoschlüssel, tagsüber wie nachts waren Geräusche zu hören, und Kinder tauchten ziemlich oft plötzlich auf.

»Hier gibt es gar kein Kind, Dóra. Auch nicht irgendwo in der Nachbarschaft.« Er schwieg einen Moment. »Das Kind ist nicht von dieser Welt. Ich habe es hinter mir auftauchen sehen, als ich in den Spiegel geschaut hab. Man kann gar nicht beschreiben, wie unlebendig es ist.«

Dóra spürte, wie ihr ein leichter Schauer über den Rücken lief. Etwas in Jónas’ Stimme sagte ihr, dass er wirklich daran glaubte, etwas Übersinnliches gesehen zu haben, wie unglaublich ihr das auch vorkommen mochte.

»Was soll ich tun? Willst du, dass ich mit den Verkäufern darüber spreche und versuche, den Kaufpreis zu drücken? Geht es darum? Eins ist jedenfalls klar – ich kann dich nicht von Geistern befreien oder die Schwingungen in dem Haus verbessern.«

»Komm übers Wochenende her«, schlug Jónas unvermittelt vor, »ich möchte dir ein paar Dinge zeigen, die wir hier gefunden haben, und mit dir besprechen, ob die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Die Suite ist frei, du kannst es dir richtig gut gehen lassen. Eine Hot-Stone-Massage nehmen und so. Du wirst rundum gestärkt wieder nach Hause fahren. Natürlich bezahle ich dich auch anständig.«

Dóra konnte eine Auszeit gut gebrauchen, auch wenn sie die von Jónas versprochene Erholung in Anbetracht des angeblichen Spuks etwas widersprüchlich fand. Momentan drehte sich ihr Leben vor allem um den angekündigten Enkel, den ihr Sohn mit noch nicht einmal 16 Jahren gezeugt hatte, und um das angespannte Verhältnis zu ihrem Ex-Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, das Kind sei nur zustande gekommen, weil Dóra selbst als Mutter unfähig sei. Seiner Meinung nach hatten die Hormone ihres Sohnes am wenigsten Anteil an dem ganzen Dilemma; es war alles Dóras Schuld. Und diese Meinung teilte er mit den Eltern der zukünftigen 15-jährigen Mutter. Dóra seufzte. Um diese ganzen Sorgen aus ihrer ramponierten Seele zu massieren, bräuchte man ziemlich machtvolle heiße Steine.

»Was soll ich mir denn überhaupt anschauen, Jónas? Kannst du mir das nicht einfach in die Stadt schicken?«

Jónas lachte reserviert. »Nein, eigentlich nicht. Es ist eine Unmenge von Kisten mit alten Büchern, Zeichnungen, Bildern und allem möglichen Kram.«

»Warum glaubst du, dass das alte Zeug wichtig ist?«, fragte Dóra zweifelnd. »Und warum schaust du es nicht einfach selbst durch?«

»Ich schaffe es nicht. Ich hab’s versucht, aber es ist mir unheimlich. Ich kann das Zeug nicht anfassen. Du bist viel erdverbundener als ich, du kannst das alles bestimmt durchsehen, ohne etwas zu spüren.«

Dóra konnte ihm nur beipflichten. Auren, Elfen, Geister und Derartiges hatten ihr bisher noch nicht allzu viele Probleme bereitet. Das Greifbare hatte ihr das Leben schon schwer genug gemacht, dafür musste sie die Grenzen der Realität gar nicht erst verlassen. »Gib mir ein kleines bisschen Bedenkzeit, Jónas. Ich kann dir nichts versprechen, aber ich schaue mal, ob ich Zeit habe zu kommen. Ich rufe dich morgen Nachmittag an, reicht das?«

»Ja, ja. Ruf auf jeden Fall an, ich bin den ganzen Tag zu erreichen.« Jónas zögerte kurz, bevor er weiterredete. »Du willst wissen, warum ich den alten Krempel für wichtig halte?«

Dóra bejahte. »In der Kiste, die ich als erste durchgesehen habe, war ein altes Foto.«

»Und?«

»Auf dem Foto ist das Mädchen, das ich im Spiegel gesehen habe.«

2. KAPITEL

DONNERSTAG, 8. JUNI 2006

Die Akte mit den Unterlagen über den Grundstückskauf in Snæfellsnes war nicht sonderlich hilfreich, zumindest fand Dóra nichts, was auf diesen seltsamen »verdeckten Mangel« schließen ließ. Es handelte sich um ein ganz reguläres Immobiliengeschäft, abgesehen davon, dass Jónas Forderungen bezüglich diverser Datierungen gestellt hatte – beispielsweise musste der Kaufvertrag an einem Samstag unterschrieben werden. Dóra hatte nicht weiter nachgefragt, da sie einen langen Vortrag über den Stand der Himmelskörper fürchtete. Samstage bringen Glück, war das Einzige, was ihr dazu einfiel. Ansonsten war der Verkauf nichts Besonderes. Es ging um das Grundstück und alles, was dazugehörte, inklusive beweglicher Güter und Bodenerträge. Die Verkäufer waren ein Geschwisterpaar in den Fünfzigern, Börkur þórðarson und Elín þórðardóttir. Allerdings vertraten die beiden ihre Mutter, die das Land vor langer Zeit vom Vater geerbt hatte. Die Verkäufer hatten einen ziemlich guten Preis erzielt, und Dóra wusste noch genau, wie sehr sie die beiden damals um das Geld beneidet hatte.

Bei dem Gedanken, wie der Spuk finanziell beurteilt werden sollte, um den Wert des Anwesens um zehn Prozent zu mindern, musste Dóra lächeln. Doch dieses Lächeln verschwand sofort wieder, als sie sich vorzustellen versuchte, wie sie die Verkäufer davon überzeugen würde, wegen des Mangels nun Schadenersatz zu leisten. Der Bruder hatte sich maßgeblich um die Geschäfte seiner Mutter gekümmert; seine Schwester hatte Dóra nur einmal bei der Unterschrift des Kaufvertrages gesehen. Die Mutter selbst hatte sie nie getroffen. Laut Börkur war sie hochbetagt und bettlägerig. Auf Dóra wirkte der Bruder ziemlich anmaßend und selbstgefällig. Seine Schwester Elín hingegen schien still und zurückhaltend zu sein. Dóra hatte damals den Eindruck gehabt, dass sie nicht ganz so erpicht auf den Verkauf gewesen war wie ihr Bruder. Auch deswegen bezweifelte Dóra, dass er eine Schadenersatzforderung widerspruchslos hinnehmen würde. Dóra legte die Unterlagen beiseite, kreuzte die Finger und hoffte, Jónas würde seine Meinung ändern. Andernfalls müsste sie alles daransetzen, ihm die Sache auszureden.

Sie wandte sich ihren wenigen anderen, belanglosen Aufgaben zu. In der Kanzlei gab es leider nicht viel zu tun. Dóra stöhnte innerlich und verfluchte ihre Unfähigkeit in Geldangelegenheiten. Ende vergangenen Jahres hatte sie für eine wohlhabende deutsche Familie gearbeitet, die sie fürstlich bezahlt hatte. Wenn sie nur einen Funken Verstand besäße, hätte sie das Geld verwendet, um ihre Schulden abzuzahlen. Stattdessen hatte sie einen Wohnwagen und einen Jeep gekauft, ja sogar für den fehlenden Betrag einen Kredit aufgenommen und sich damit in noch größere Finanzschwierigkeiten gebracht. Dunkel erinnerte sich Dóra daran, dass sie von Reisen quer durchs Land bei sommerlicher Wärme geträumt hatte: die moderne Durchschnittsfamilie in den Ferien – eine geschiedene Mutter mit ihren zwei Kindern, in ihrem Fall eine sechsjährige Tochter und ein sechzehnjähriger Sohn, der allerdings selbst kurz davor war, Vater zu werden. Das Enkelkind hatte in diesem rosaroten Traum noch keinen Platz gehabt.

Als Dóra sämtliche Aufgaben erledigt hatte, ging sie ins Internet und suchte spaßeshalber nach Informationen über das Grundstück und die beiden alten Höfe. Sie probierte es mit den Namen der Höfe, wie sie im Kaufvertrag standen, Kirkjustétt und Kreppa, fand jedoch nichts – weder aus der Vergangenheit noch aus der Gegenwart. Schulterzuckend gab sie auf, checkte ihre E-Mails und sah zu ihrem Entsetzen, dass Matthias geschrieben hatte. Sie hatte den Deutschen bei der Untersuchung jenes Falls kennengelernt, der ihr am Ende den Wohnwagen und den Jeep und natürlich die Schulden beschert hatte. Sie hatte den Mann allerdings mehr als nur kennengelernt – sie hatte ihn »näher« kennengelernt, wie ihre Großmutter sagen würde –, und jetzt wollte er zu Besuch kommen, um ihre »nähere« Bekanntschaft zu vertiefen. Matthias wollte wissen, wann ihr ein kleiner Urlaub in Island am besten passen würde. Dóra wünschte sich seinen Besuch sehnlichst, wusste aber, dass ein günstiger Zeitpunkt dafür etwa im Jahr 2020 wäre, wenn ihre Tochter zwanzig würde. Sie war sich keineswegs sicher, ob Matthias so lange warten wollte. Deswegen schloss sie die E-Mail und entschied, mit der Beantwortung bis morgen zu warten.

Dóra erhob sich, räumte ihren Schreibtisch auf und seufzte. Sie überlegte kurz, ob ihr Seufzen mit der tiefen, unterdrückten Sehnsucht nach einem sorgenfreieren Leben ohne Schulden und verfrühte Enkelkinder zusammenhing, aber dann wurde ihr klar, dass es bei weitem nicht so kompliziert war. Sie stöhnte nur, weil sie auf dem Weg nach draußen an Bella vorbeigehen musste – Bella, die Sekretärin des Grauens, die Bragi und ihr bei der Gründung der Kanzlei zusammen mit dem Mietvertrag aufgenötigt worden war. Dóra riss sich zusammen und beeilte sich, hinauszukommen.

»Also dann, ich bin jetzt weg«, sagte Dóra, als sie am Empfangstresen vorbeiging. Sie dachte über die Möglichkeit nach, den Tresen zu erhöhen, sodass von der unattraktiven jungen Frau weniger zu sehen wäre, schämte sich jedoch umgehend und setzte ein scheinheiliges Lächeln auf. »Bis morgen!«

Bella hob die dunklen Augenbrauen und sah Dóra schräg an. Zur Vervollkommnung ihres unzufriedenen Gesichtsausdrucks zog sie einen Flunsch. »Du bist hier? Oh je.«

»Oh je? Was meinst du damit?«, fragte Dóra irritiert. »Wo sollte ich denn sonst sein? Du hast mich doch nach der Mittagspause reinkommen und nicht wieder rausgehen sehen. Ich springe normalerweise nicht aus dem Fenster.«

»Nee, leider nicht«, glaubte Dóra Bella murmeln zu hören, war sich aber nicht sicher. Wesentlich lauter sagte die junge Frau: »Dein Mann, also dein Ex hat wegen irgendwas angerufen, aber ich hab ihm gesagt, du seist nicht da. Er wollte keine Nachricht hinterlassen.«

Dóra war ihr dankbar, denn Telefonate mit Hannes waren nur selten vergnüglich. Sie hatte nicht die geringste Lust, Bella die Gelegenheit zu geben, sich über die Misserfolge in ihrem Leben lustig zu machen. Dóra beschloss, es gut sein zu lassen, denn sie hatte sich schon längst damit abgefunden, dass es keinen Sinn hatte, mit dieser Vogelscheuche zu diskutieren. Daher schenkte sie Bella lediglich ein weiteres Lächeln und holte ihre Jacke aus der Garderobe. Als sie fast entkommen war und an der Tür zum Hausflur stand – sogar schon mit der rechten Hand an der Türklinke –, räusperte sich das Mädchen und wollte offenbar noch etwas sagen.

»Äh, und dann hat Lýsing noch angerufen. Du hast die Rate für den Wohnwagen noch nicht bezahlt.«

Dóra drehte sich nicht um. Ruhig trat sie hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich. In diesem Moment hätte sie die Massage, die Jónas ihr angeboten hatte, liebend gerne angenommen – ob mit oder ohne heiße Steine.

 

Birna ließ ihren Blick schweifen und atmete tief ein. Durch den dünnen Dunstschleier schaute sie aufs Meer und beobachtete, wie sich ein Möwenpaar im Kampf um Nahrung in die Tiefe stürzte. Es war Ebbe, und nasser Tang bedeckte den steinigen Küstenstreifen. Dies war ein ungewöhnlicher Strand, ohne Sand, nur mit abgerundeten Kieselsteinen verschiedener Größe und Struktur. Die ganze Umgebung war eindrucksvoll – eine kleine Bucht, eingerahmt von hohen Säulenbasalten, die der Allmächtige offenbar als Vogelbehausungen entworfen hatte. Jeder Felsvorsprung wurde genutzt, und der Lärm der Vögel war ohrenbetäubend. Birna ging bis zur schmalsten Stelle am äußersten Ende des Strandes, wo die Felsen eine Schlucht formten. Das Wasser flutete durch einen Steinbogen vom offenen Meer in die rundum von Stein eingeschlossene Bucht. Nur zwischen den hohen Felswänden hindurch konnte man in die Schlucht hineinschauen, aus der das Kreischen der Vögel über den ganzen Strand hinweg tönte.

Birna blieb stehen. Der Nebel war auf einmal dichter geworden und umhüllte ein eiskaltes Licht, sodass sie nur noch wenige Meter weit sehen konnte. Sie atmete tief ein, diesmal durch die Nase, und genoss den unverwechselbaren Strandgeruch. Am liebsten würde sie hier unter freiem Himmel schlafen, nur vom Nebel eingehüllt. Sie hatte überhaupt keine Lust, zurück zum Hotel zu gehen. Eigentlich sollte das anders sein. Eigentlich mochte sie das Gebäude, und es hatte sie stets mit kindlichem Stolz erfüllt, es zu betrachten, sogar, als es noch im Rohbau war. Das Gelände, auf dem das Hotel errichtet werden sollte, hatte sie sofort fasziniert, als sie zum ersten Mal herkam, um sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Das Grundstück lag am offenen Meer an der Südküste der Halbinsel Snæfellsnes und unterschied sich im Grunde nicht sehr von anderem Bauland in dieser Gegend, war allerdings etwas abgelegener; das Gehöft war erst zu erkennen, wenn man es fast erreicht hatte. Der Hof stand auf einem mit Gras bewachsenen Gelände, versteckt in einem schroffen, fast bis zum Meer hinunterreichenden Lavafeld.

Das Hotel war ihre weitaus beste Arbeit, viel besser als alles, was sie je entworfen hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie jetzt endlich vorankommen würde. Gefragt sein würde. Endlich eine angesehene Architektin.

Birna sah auf die Uhr. Was war nur los mit dem Mann? War er bei dieser bescheuerten Séance hängen geblieben? Die Nachricht war doch eindeutig. Sie holte ihr Handy heraus und öffnete die SMS. Doch, es stimmte. Triff mich um neun an der Schlucht. So ein verdammter Unsinn. Bevor sie das Handy wieder in ihre Tasche steckte, überzeugte sie sich davon, dass sie keinen Empfang hatte. Das war das Unangenehmste an dieser Gegend, dass man sich nie auf den Handyempfang verlassen konnte.

Sie beschloss, noch einmal zur Schlucht zu gehen. Gut möglich, dass er schon da war. Die Schlucht befand sich zwar am höchsten Punkt des Strandes, aber die Sicht war inzwischen so schlecht, dass er vielleicht dort stand und wartete, ohne dass sie ihn sah. Hoffentlich hatte er endlich seine Meinung geändert und sich von ihren Argumenten überzeugen lassen. Sie hatte schon genug Energie für die Sache verpulvert. Allerdings bezweifelte sie es, da er so vehement dagegen gewesen war. Dennoch hoffte sie, er würde ihr beipflichten. Falls es so kommen würde, war es nur ihr selbst zu verdanken. Sie hatte nachgegeben und mit ihm geschlafen. Wenn es schon nicht besonders befriedigend für sie gewesen war, dann hätte es ihr somit wenigstens etwas gebracht. Es war wichtig, mehrere Eisen im Feuer zu haben, wenn der Wettbewerb losging. Obwohl sie den Sieg eigentlich schon in der Tasche hatte, durfte er keine Fragen aufwerfen. Deshalb hatte sie es über sich ergehen lassen müssen. Was spielte ein unbedeutender Geschlechtsverkehr schon für eine Rolle im Vergleich mit einem Sieg in dem Wettbewerb?

Birna seufzte. Es war kühl geworden, und sie zog ihren Anorak fester um sich. Was war das eigentlich für ein Sommer? Sie hatte die Schlucht erreicht, konnte aber niemanden sehen. Sie rief, falls er irgendwo in der Nähe war, aber niemand antwortete. Zehn Minuten. Sie würde ihm zehn Minuten geben und dann gehen. Nein, fünf.

Erneut tönte ungewöhnlich lauter und eindringlicher Vogellärm von der Felswand, an die Birna sich gelehnt hatte. Sie erschrak und trat zwei Schritte vor. Sie hatte ein beunruhigendes Gefühl und erschauderte. Nicht zum ersten Mal. Es lag an diesem Ort. Nicht nur wegen der unerträglichen Spinner, die im Hotel arbeiteten und sich als Seelenklempner der Hotelgäste ausgaben. Und dann diese Gäste selbst – die waren genauso schräg. Aber nicht ganz so schlimm. Nein, es war noch etwas anderes. Etwas, das langsam, aber sicher stärker geworden war, sich schon bei der ersten Ortsbegehung bemerkbar gemacht hatte. Ausgerechnet sie, die bei ihren Freunden für ihre besonders ausgeprägte, wenn auch etwas langweilige Bodenhaftung bekannt war. Birna versuchte zu lächeln, als sie daran dachte, wie Eiríkur, der hoteleigene Hellseher sich aufgeführt hatte, als sie diese Woche angereist war. Er hatte sie fest am Handgelenk gepackt und geflüstert, ihre Aura sei schwarz. Sie solle vorsichtig sein. Der Tod sei ihr auf den Fersen. Bei dem Gedanken an seinen ekelerregenden Atem und Körpergeruch verzog sie das Gesicht.

Die fünf Minuten waren vergangen. Dem würde sie ihre Meinung sagen. Sie tastete sich vorsichtig über die Steine in Richtung des Kieswegs oberhalb vom Strand. Plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Hinter ihr knirschte der steinige Boden. Sie wollte sich umdrehen, konnte es kaum erwarten, ihrem Ärger, der sich während des Wartens aufgestaut hatte, endlich Luft zu machen. Das wurde ja verdammt nochmal Zeit. Er war da. Birna schaffte es nicht mehr, sich ganz umzudrehen. Trotz des Getöses vom Vogelfelsen konnte sie das Zischen des Gegenstands, der sich durch die windstille Meeresluft auf ihren Kopf zubewegte, genau hören. Sie sah den grauen Stein im selben Moment, als er mit voller Wucht gegen ihre Stirn prallte. Dann sah sie in diesem Leben nichts mehr. Sie spürte jedoch einiges. Auf undeutliche, traumhafte Weise spürte sie, wie sie über den groben Erdboden gezogen wurde. Sie spürte die Gänsehaut, die der kalte Nebel auf ihrem nackten Körper auslöste, als ihr die Kleider vom Leib gerissen wurden, und sie spürte den eisenhaltigen Blutgeschmack im Mund und die anschließende Übelkeit. Die Socken wurden ihr von den Füßen gezogen, gefolgt von einem schrecklichen Schmerz unter den Fußsohlen. Was …? Alles war wie in einem Traum, ungreifbar. Eine Stimme, die sie gut kannte, drang an ihr Ohr, aber in Anbetracht der Dinge, die geschahen, war das doch nicht möglich. Birna versuchte, etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Ein merkwürdiges Stöhnen kam aus ihrer Kehle, aber sie hatte nicht gestöhnt. All das war höchst seltsam.

Dasselbe Möwenpaar, das Birna dabei beobachtet hatte, wie es sich auf seiner Jagd nach Nahrung ins Meer stürzte, verharrte weiter draußen am Strand und verfolgte geduldig durch den Dunst die Geschehnisse. Die Gezeiten und das Meer würden den Rest erledigen. Hier musste keiner hungern.