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Orte, Markennamen und Lieder werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Örtliche Begebenheiten wurden teilweise dem Storyverlauf angepasst.
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»Ein Prost auf die glücklich Vermählten!«
Gehorsam stimmten alle Anwesenden mit erhobenen Gläsern in den Trinkspruch des Brautvaters ein. Im Anschluss erscholl ein vielstimmiges »Hoch sollen sie leben« aus ihren Kehlen.
Direkt neben meinem Ohr legte sich unser Pfarrer besonders ins Zeug, um durch seinen Tenor noch mehr Farbe in die Darbietung zu bringen. Das erzeugte bei mir eher Zahnschmerzen. Er dagegen erblühte wie ein zartes Krokuspflänzchen, das die Schneedecke durchbrach.
Ich ergriff die nächstbeste Chance zur Flucht und steuerte eine beschaulichere Ecke an.
Dort angekommen, lehnte ich mich erleichtert an die kalte Backsteinwand und ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Das komplette Dorf war versammelt, um mit Jens und Ulrike zu feiern. Ein Großereignis wie diesen Polterabend wollte sich niemand entgehen lassen. Die Auswahl der Getränke, das Buffet sowie die alkoholgeschwängerten Entgleisungen der Mitdörfler, mussten analysiert werden und sicherten so den Gesprächsstoff für einige Zeit.
Ulrikes Mutter rauschte mit einem Besen bewaffnet an mir vorbei. Der Strom der eintreffenden Gäste nahm noch immer kein Ende. Neben der Möglichkeit, Klatsch und Tratsch aufzusaugen, nutzten viele die Gunst der Stunde, um altes Geschirr aus Vorkriegszeiten zu entsorgen. Am Eingang zum Innenhof der Pferdepension türmten sich die glücksbringenden Scherben bereits bedenklich. Warum zum Wertstoffhof fahren, wenn es hier umsonst war und man zusätzlich verpflegt wurde?
Aus dem Augenwinkel sah ich meinen Onkel auf mich zu schlurfen. Oh, bitte, verschone mich …
Wie immer wurden meine Gebete leider nicht erhört. Mit Zigarette im Mundwinkel und Apfelwein in der Hand lehnte er sich neben mich an die Wand. Glasige Augen verrieten, dass es nicht sein erstes Getränk an diesem Abend war. Eine Pranke erfasste meine Schulter: »Gugg doch net so mies gelaunt. Dein Christoph macht dir bestimmt bald ʼnen Antrag. Wird langsam Zeit, nicht wahr, altes Mädchen? Die biologische Uhr tickt, gell?«
Onkel Reinhard war sein eigener Fan. Sein Lachen endete in einem Hustenanfall, dass der Äppler im Glas nur so hin und her schwappte. Oh, wie ich diesen Mann hasste!
Zielsicher schaffte er es, jedes Mal meinen wunden Punkt zu treffen und das Messer genüsslich darin herumzudrehen. Wenn ich nur nicht meiner Mutter versprochen hätte, die Klappe zu halten … Selbst wenn – Schlagfertigkeit war keine meiner Stärken. Entsprechend schwach fiel meine Antwort aus: »Na ja, ich habe ja noch ein paar Jahre Zeit.« In Wahrheit musste ich ihm recht geben. Mit meinen achtundzwanzig Jahren war es definitiv an der Zeit, um sich mit der Familienplanung zu beschäftigen. Nun ja, eigentlich sollte die längst abgeschlossen sein, wenn es nach mir gegangen wäre.
Seit sieben Jahren war ich die Frau an Christophs Seite. Meiner bescheidenen Meinung nach konnte man da langsam einen Antrag erwarten.
Im Laufe der Zeit musste ich mit ansehen, wie nach und nach alle meine Freundinnen in den Hafen der Ehe einliefen. Mit Ulrike waren endgültig alle willigen unter der Haube. Obwohl … noch hatten sie sich nicht das Ja-Wort gegeben. Vielleicht würde Jens ja doch noch einen Rückzieher machen.
Was war ich nur für ein schlechter Mensch? Wie verzweifelt musste ich sein, damit ich mir das Unglück einer anderen herbeisehnte, nur um nicht mehr die Einzige ohne Ring am Finger zu sein? Das würde eindeutig Minuspunkte auf der Karma-Liste geben!
»Recht hast du! Lass dir nur keinen Druck machen. Und die Medizin ist ja heute so weit, dass noch Fünfzigjährige Kinder kriegen können«, schoss mein Onkel nach. Doch damit nicht genug. Provokant sah er sich um und fragte gespielt unschuldig: »Wo ist Christoph überhaupt?« Als ob es ihm spontan eingefallen wäre, schlug er die Hand vor die Stirn: »Stimmt ja! Er macht Urlaub … ohne dich … Warum eigentlich?«
Den Kopf zur Seite geneigt, wartete er auf meine Antwort.
Kurz überlegte ich, Gewalt anzuwenden.
Denk an deine Mutter … zwang ich mich zur Gelassenheit. Eines Tages würde ich ihm alle Gemeinheiten heimzahlen. Doch bis dahin musste ich gute Miene zum bösen Spiel machen.
Mit einem Lächeln, das mich selbst überraschte, antwortete ich: »Er macht keinen Urlaub, sondern eine Weiterbildung um seine Englischkenntnisse aufzufrischen. Hat Martina nicht erzählt, dass er zum Werkstattleiter befördert wurde?«
Mein Onkel war extrem stolz darauf, über alles Bescheid zu wissen, was im Dorf vor sich ging. Seine Frau Martina war in jedem noch so kleinen Verein Mitglied und zusätzlich bei fast jedem im Vorstand. Nur den Vorsitz im Landfrauenverein hatte sie an die Pfarrersfrau aus dem Nachbarort abtreten müssen. Gegen eine Dienerin Gottes hatte nicht einmal sie eine Chance.
Diese Schmach hatte Martina nie überwunden. Ebenso wenig die Tatsache, dass mein Freund zum Werkstattleiter am Frankfurter Flughafen befördert wurde. Als er mir das erzählte, platzten wir gemeinsam vor Stolz. Zugegeben – er war nur stellvertretender Leiter, aber wer achtete bitte auf solche Kleinigkeiten? Stellvertretender Werkstattleiter der größten Fahrzeugwerkstatt für Flughafengeräte der Welt. Sein Namensschild würde die halbe Brust bedecken.
Der Umstand, dass ich mir einen Freund aus dem entfernten Vordertaunus gesucht hatte, wurde nicht gerne gesehen. So ein Städter würde nie im Leben sein Glück auf dem Land finden können. Diese Denkweise war bei vielen der Alteingesessenen noch immer fest verankert und ließ sich auch nicht austreiben. Ich hatte es versucht.
Selbst bei meiner Verwandtschaft war ich auf taube Ohren gestoßen. Dass ein demografischer Wandel stattgefunden hatte und mehr und mehr Familien aus der Stadt aufs Land zogen, war komplett an ihnen vorüber gegangen. Über die »Ingeplaggte«, also die Zugezogenen mit ihren Trampolinen und Swimmingpools im Garten sowie den dicken Autos in der Einfahrt, wurde nur der Kopf geschüttelt. »So was hat es früher nicht gegeben«, war der Lieblingsspruch von Martina, den sie mehrmals täglich auf ihrem Kontrollgang durch das Dorf von sich gab. Das erklärte wiederum, warum sie so ein Griesgram war.
Manchmal wünschte ich mir die Anonymität einer Großstadt. Von Bekannten hatte ich gehört, dass man dort noch nicht einmal seinen Nachbarn kennen würde. Undenkbar in so einem kleinen Dorf wie unserem. Hier kannte jeder den exakten Tagesablauf des anderen.
Und nun unterstellte ich meinem Onkel, dass eine Information an ihm vorbei gegangen war, die zu allem Überfluss seine Verwandtschaft betraf. Zufrieden sah ich, wie eine Ader an seinem Hals anfing zu pulsieren. »Natürlich hat sie mir das erzählt. Aber da im Ausland lässt er sich eh nur die Sonne auf den Pelz brennen. Wieso ist er wohl nicht nach England gefahren, um englisch zu lernen? Ich sage dir, der genießt das süße Leben in Madeira und sucht sich eine andere.«
»Malta«, korrigierte ich ihn genervt. Schon seitdem ich Christoph in den Flieger gesetzt hatte, konnte ich mir diese Leier anhören. Ich hatte keine Sekunde einen Gedanken daran verschwendet, dass Christoph mich dort betrügen könnte. So lange, bis mein Onkel diese furchtbaren Andeutungen das erste Mal machte. Zwar gab ich mich vor ihm cool und gelassen, innerlich war ich jedoch panisch.
Mir war klar, dass Christoph sich nicht alle fünf Minuten melden konnte. Und in welcher Beziehung lief schon immer alles glatt? Zwei Tage ohne Kontakt gaben mir aber doch zu denken.
Natürlich würde ich einen Teufel tun und meinem Onkel davon berichten!
»Ist doch egal, auf welcher Insel er sich eine aufreißt. Mädel, ich sag dir, du musst mehr aus dir machen, um für ihn attraktiv zu bleiben. So ein Städter hat da andere Ansprüche.« Er prostete mir zu, ließ endlich meine arme Schulter in Frieden und entfernte sich von mir. Als ich schon aufatmen wollte, legte er doch noch nach: »Lass dir von der Isabelle erklären, wo die immer hingeht. Als Stewardess weiß die, wie man sich zurechtmachen muss, um die Kerle bei der Stange zu halten.«
»Hat er dich wieder geärgert?« Leonie gesellte sich zu mir, ihr Blick voller Mitgefühl. Onkel Reinhard war ein Verkaufsgenie. Er konnte den Leuten alles aufschwatzen und sich dabei gleich mit verkaufen. Dass die Masche bei mir nicht zog, machte mich zu seiner Feindin.
Peinlich genau achtete er darauf, mich nur anzugreifen, wenn ich alleine war. Das war der Grund, warum meine Freundinnen die Abneigung gegen ihn zwar nicht nachvollziehen konnten, ihn aber trotzdem aus Solidarität scheußlich fanden. In ihren Augen rangierte er auf einer Stufe mit Ebenezer Scrooge, der mürrischen Hauptfigur aus Charles Dickensʼ Weihnachtsgeschichte. In meinen spielte er Canasta mit dem Teufel. Und gewann.
»Ach was. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus«, log ich und wechselte schleunigst das Thema. »Wie geht es denn dem Kleinen? Lassen die Koliken langsam nach?«
Leonie war vor drei Monaten Mutter geworden. Der kleine Niklas machte ihr das Leben nicht gerade leicht.
Gequält massierte sie sich den Nacken. »Mia, du weißt, dass ich meinen Sohn liebe. Aber ich schwöre, dass ich bald reif für die Klapse bin, wenn er nicht mal eine Nacht durchschläft und mir ein wenig Ruhe gönnt! Heute Abend passt meine Schwiegermama auf ihn auf. Da ich nicht weiß, ob sie danach jemals wieder Lust dazu haben wird, muss ich meine freie Zeit in vollen Zügen genießen.« Verständnisvoll hielt ich ihr mein Sektglas hin, welches sie in einem Zug leerte. »Sorry«, brachte sie noch hervor, bevor sich die Kohlensäure ihren Weg zurück an die Luft bahnte. Wäre Leo ein Mann, hätte sie mittleren Applaus erhalten.
Glücklich, einen Trinkkumpanen gefunden zu haben, eilte ich zur Theke, um Nachschub zu besorgen. Christoph hatte mir zum Abschied mitgegeben, dass ich mehr Zeit mit meinen Freundinnen verbringen sollte. Von Alkohol hatte er nichts gesagt. Wäre er hier, hätte er mir einen strengen Blick zugeworfen. Da niemand eine ungezogene Freundin mochte, war seit sieben Jahren sein Wille Gesetz und Wasser mein Lieblingsgetränk.
Noch immer keine Nachricht von ihm. Grummelnd steckte ich das Handy zurück in meine Hosentasche und trieb den Kellner zur Eile an. Ich brauchte Alkohol, um die aufkommenden Gedanken und Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben.
Nachdem ich an der Theke noch schnell einen Schnaps heruntergestürzt hatte, lief ich zurück zu Leo. »Carla war gerade bei mir. Wenn ich frei bekomme, wollen wir nächstes Wochenende in Frankfurt ausgehen. Bist du dabei?«
»Sorry, Leo, am Samstag kommt Christoph zurück.«
»Ah, ich verstehe schon!« Verschwörerisch zwinkerte sie mir zu. »Eigentlich habe ich Ben versprochen, nichts zu sagen, aber ...«
Mein Herzschlag beschleunigte sich prompt. »Was meinst du damit?«
»Autsch! Ist ja schon gut, du brauchst nicht gleich gewalttätig werden.«
Rasch ließ ich sie los. An ihrem Handgelenk hatten meine Finger rote Abdrücke hinterlassen. Strafend sah sie mich an, fuhr aber fort: »Ben hat mit Christoph geschrieben, ich wollte den PC benutzen, mein Mann hatte die Mail noch offen und ich konnte ja gar nicht anders, als sie zu lesen. Da stand, dass er dir etwas sagen muss und gar nicht abwarten kann, wieder zu Hause zu sein.«
Ein dümmliches Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. »Endlich!«
Quietschend fielen wir uns um den Hals und führten einen Freudentanz auf, mit dem wir die Aufmerksamkeit der umstehenden Gäste auf uns zogen. Carla löste sich aus einem Pulk: »Hast du es ihr gesagt, Leo?«
»Aus welchem Grund sollten wir uns hier sonst so albern aufführen, Carla?«, fuhr Leo sie an. Ich liebte die unterschiedlichen Charaktere unserer Mädels-Clique. Leo war die Schlaue mit Einser-Abitur, während Carla der Ruf vorauseilte, das blonde Püppchen ohne nennenswerte Gehirnaktivität zu sein.
Nach unserem Schulabschluss hätte ich wetten können, dass Leo sich bis zu einem Vorstandsposten hocharbeiten würde, während Carla die Gäste in einem Schnellimbiss zur Verzweiflung brachte. Niemals hätte ich gedacht, dass Leo zu Hause den Haushalt schmiss, während Carla einen Klassejob in einer Kanzlei ergattert hatte. Beide waren der beste Beweis, dass das Leben sich selten an den Plan hielt.
»Mensch, Leo, ich bin doch kein Hellseher. Hätte ja auch sein können, dass dein Kleiner endlich mal richtig pupsen konnte!« Für ihre direkte Art liebte ich Carla. Leo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, obwohl sie sichtlich darum bemüht war, böse zu schauen.
»Ihr Süßen, nicht streiten! Freut euch mit mir, dass ich endlich Mitglied im Club der verheirateten Hausfrauen werden darf«, versuchte ich zu schlichten. »Helft ihr mir bei den Vorbereitungen zu meinem Polterabend? Der muss legendär werden! Nach mir wird es lange Zeit keinen mehr geben. Carla will nicht heiraten, und bis die nächste Generation so weit ist, werden wir alt und grau sein.«
»Ich werde niemals alt. Und wenn grau, dann nur so ein total angesagtes Silber mit bläulichem Schimmer. Da fällt mir ein, dass ich für nächste Woche noch einen Termin im Nagelstudio machen muss. Du kommst doch mit, oder, Mia?« Carla richtete ihren Dackelblick auf mich und klimperte mit den langen Wimpern. Während ich mich tot tuschen konnte, ohne einen nennenswerten Effekt zu erzielen, waren ihre Wimpern von Natur aus schon pechschwarz und füllig. An den perfekten Schwung ihrer Brauen durfte ich gar nicht erst denken …
Ein Blick auf meine Finger verriet mir, dass ein bisschen Maniküre nicht schaden konnte. »Na gut, ich komme mit. Aber nur, wenn du mir dafür bei meinem Outfit für Samstag hilfst. Ich will für Christoph auch optisch ein Highlight sein, wenn er vor mir auf die Knie geht.«
»Und danach feiern wir alle zusammen in Frankfurt! Leo, hast du ihr schon …«
»Ja, Carla, habe ich«, fiel sie ihr ins Wort. »Aber die zwei wollen lieber alleine sein. Und wir sollten ihren Wunsch respektieren. Immerhin haben sie sich zwei Wochen lang nicht gesehen. Und nach dem Antrag werden sie Besseres zu tun haben, als mit uns anzustoßen.«
Ein wissendes Grinsen überzog Carlas Gesicht: »Oooh, ich verstehe … Aber wir feiern trotzdem noch, oder? Bitte, bitte, bitte!« Man hätte nicht meinen sollen, dass diese vor mir auf und ab hüpfende Person eine erfolgreiche Karrierefrau war, die die Männer nur so um den Finger wickelte. Morgens zog sie sich ihr Anwaltsheldenkostüm an, schlüpfte in High Heels, verbrachte den Tag mit Meetings und bekam in den angesagtesten Restaurants ohne Probleme den besten Tisch. Nach Feierabend ließ sie nicht nur die Lichter der Stadt hinter sich, sondern verwandelte sich in die Carla zurück, mit der ich im Kindergarten Sandkuchen gebacken und gegessen hatte. Sie war wie Clark Kent, nur ohne Brille.
»Nur, wenn wir in diesen Club gehen, von dem du mir schon monatelang vorschwärmst«, gab ich mich geschlagen. Meine Abendplanung sah sonst eher nur Couch, Jogginghose und Chips vor. Bei schönem Wetter vorher ein Spaziergang über die Felder und Wiesen. Das genaue Gegenteil zu Frankfurts hektischem Nachtleben. Carla feierte, um abzuschalten, ich brauchte Ruhe. Das mochte ich auch so an Chris. Wir waren wie geschaffen für das Leben auf dem Dorf.
»Nur ein Anruf trennt uns von der Gästeliste. Wir könnten uns von Ben fahren lassen und zurück ein Taxi nehmen. Der Nachtbus wäre noch eine Option. Obwohl ... da drin stinkt es immer nach Erbrochenem.« Mit gezücktem Telefon Planungsdetails vor sich hin murmelnd, verschwand sie in der Menge.
Den restlichen Abend verbrachte ich damit, Ziele für eine Hochzeitsreise aufzuschreiben, Namen für meine Kinder auszudenken und mit einer Heugabel zu tanzen. Mein Glas füllte sich dabei wie von Zauberhand selbst nach. Seit einer Ewigkeit hatte ich nicht mehr so viel Spaß gehabt und Zeit mit meinen Freunden verbracht.
Nicht einmal die Tatsache, dass mein Handy noch immer schwieg, konnte meine Laune trüben.
Ein schriller Ton riss mich am nächsten Morgen unsanft aus meinen Träumen. Mit einem Grummeln drückte ich die Schlummertaste und zog die Decke über meinen Kopf.
Wieso hatte ich gestern bloß so viel getrunken? Und die weitaus wichtigere Frage: Wer feierte denn bitte an einem Donnerstag Polterabend?
Wahrscheinlich hatten Jens und Ulrike gehofft, dass die trinkwütigen Dorfbewohner sich ein wenig zurückhalten würden, wenn sie am nächsten Tag arbeiten mussten. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass kollektiv Urlaubsanträge eingereicht worden waren, damit man die Party in vollen Zügen genießen konnte.
Nur ich war die einzig Dumme, die nicht frei bekommen hatte. In der Redaktion unserer Kreiszeitung, bei der ich als Assistentin arbeitete, war die Grippe ausgebrochen. Kurzerhand hatte mein Chef meinen genehmigten Urlaub gestrichen, da er auf jeden Mitarbeiter angewiesen war.
Nachdem mein Wecker erneut auf sich aufmerksam machte, schwang ich meinen müden und verkaterten Körper aus dem Bett. Bei den darauffolgenden morgendlichen Dehnungsübungen wäre ich fast wieder rückwärts aufs Bett geplumpst. Mit einer Hand konnte ich mich gerade noch so am Kopfteil abstützen. Dabei fiel mein Blick auf die ungenutzte Fläche neben meinem Chaos aus Kissen und Decken.
Ein Gefühl von Einsamkeit durchflutete mich. Das Bett sah so viel größer aus, wenn nur eine Seite benutzt wurde. Was für eine Verschwendung! Bald würde der Platz wieder belegt sein und ich musste nicht mehr mit Christophs T-Shirt kuscheln. Vor seiner Abreise hatte ich es noch heimlich mit seinem Parfüm eingesprüht. So sehr, dass ich in der ersten Nacht träumte, ich würde bei Douglas arbeiten.
Arbeit … Wie gerne hätte ich heute blau gemacht. Leider war ich auf den Job angewiesen. Mein befristeter Arbeitsvertrag würde in zwei Wochen auslaufen. Mit der Hoffnung auf eine unbefristete Verlängerung kroch ich meinem Chef nahezu in den Hintern und schrubbte ohne Ende Überstunden.
Einige Kollegen fanden das super, da sie früher Feierabend machen konnten. Anderen gefiel das ganz und gar nicht. Deren blöde Sprüche versuchte ich, so gut es ging zu ignorieren. Vielleicht würde ich mich endlich einmal dagegen wehren, wenn ich mir keine Sorgen mehr um meinen Arbeitsplatz machen musste.
Die Wahrscheinlichkeit war eher gering, denn ich hasste es von Natur aus, mich zu streiten. Lieber gab ich klein bei oder hielt gleich meinen Mund. Ein Charakterzug, auf den ich nicht stolz war, ihn aber auch nicht ändern konnte.
Müde schlich ich in Richtung Küche und stellte erst einmal die Kaffeemaschine an. Der Koffeinschub und eine heiße Dusche würden meine Lebensgeister wecken.
Frisch restauriert betrat ich eine Stunde später die Räumlichkeiten meines Arbeitgebers. Im Flur wurde ich von einer hämisch grinsenden Kollegin empfangen. Das verhieß nichts Gutes. Betont gelassen nickte ich ihr zur Begrüßung zu und ging zu meinem Schreibtisch.
Saskia, ihres Zeichens zuständig für die Kolumne »Beauty & Wellness«, war meine ärgste Gegnerin. Wo sie nur konnte, ließ sie sich einen Spruch auf meine Kosten nicht entgehen. Des Öfteren hatte ich mir schon die Frage gestellt, was ich ihr getan hatte. Ich nahm lediglich meinen Job ernst und wollte ihn gerne noch eine Weile behalten.
Die genaue Antwort wussten wohl nur sie und ihre Anhängerschaft – die Kolumnen »Reise & Umwelt« und »Leben & Genießen« – namentlich Kerstin und Simone. Thematisch lagen diese ja schon sehr nah beieinander. Das Ganze wurde noch getoppt durch die optische Ähnlichkeit der drei Kolumnistinnen.
Kaum hatte ich an sie gedacht, erschienen auch schon Trick und Track, um das Trio zu vervollständigen. Die blonden Grazien bauten sich mit verschränkten Armen und penibel manikürten Fingernägeln vor mir auf.
»Guten Morgen, Mia«, begrüßten sie mich im Chor. Gruselig …
Dann übernahm Saskia wie gewohnt die Führung: »Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr. In fünf Minuten fängt die Teambesprechung an.«
Verwirrt schaute ich von einer zur anderen. »Was für eine Teambesprechung? Die haben wir doch sonst immer montags morgens. Eine Terminänderung hätte ich mitbekommen, weil ich sie dann nämlich verschickt hätte.«
»Der Chef hat wohl was Wichtiges zu verkünden. Solltest dich lieber sputen, sonst verpasst du die Ansprache. Und so ein kleines Streberlein wie du will doch keine Minuspunkte sammeln, oder?«
Unschuldig blinzelte Saskia mich durch ihre dichten Wimpern hindurch an, während ihr Anhang in gekünsteltes Lachen ausbrach. Ich biss mir auf die Lippen, versuchte, ihre Anspielungen zu ignorieren, meldete mich an meinem PC an und prüfte meine Emails. Tatsächlich! Da war eine Einladung in meinem Posteingang für das Meeting, abgesendet gestern um 16:05 Uhr von Saskia.
Diese kleine miese Schlampe!
Ich spürte, wie die Zornesröte in mein Gesicht schoss, und sah Saskia fassungslos an. »Die Einladung kam von dir. Genau fünf Minuten, nachdem ich gegangen war!«
»Irgendjemand musste ja deinen Job machen.« Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern und fuhr fort: »Ich durfte morgens schon dein Telefon übernehmen, als du dich in der Küche herumgetrieben hast. Der Chef war dran und gar nicht begeistert, dass du nicht am Platz warst. Aber weil ich ja nicht so bin, habe ich die Terminänderung notiert und dir den Zettel hingelegt. Den musst du wohl übersehen haben, bei dem Chaos auf deinem Tisch …« Ihr Grinsen wurde mit jedem Wort breiter und gemeiner.
Schnell überflog ich meinen Schreibtisch, um mich zu vergewissern, dass da wirklich kein Zettel lag. »Wo genau hast du ihn denn hingelegt? Und warum hast du mir nicht gesagt, dass der Chef angerufen hat?« Gut, mein Schreibtisch war ein wenig chaotisch. Ich hätte es trotzdem gemerkt, wenn irgendetwas nicht an seinem Platz gewesen oder etwas neu hinzugekommen wäre. Ich hob sogar ein paar Papierstapel an und warf einen Blick darunter, um ganz sicher zu sein. Der ominöse Zettel blieb unauffindbar.
»Willst du jetzt etwa mir die Schuld für deine Inkompetenz in die Schuhe schieben?«, echauffierte sie sich. »Den Zettel habe ich dir hingelegt. Frag doch Kerstin und Simone. Die haben es genau gesehen.« Gehorsam nickten beide. »Und außerdem, woher soll ich denn bitte wissen, wann du gehst? Du bist doch sonst immer bis in die Puppen hier!«
Mit für meine Verhältnisse ungewohnt lauter Stimme antwortete ich: »Jeder hier wusste, dass ich gestern ausnahmsweise früher gehen musste. Du selbst hast mir doch noch viel Spaß auf dem Polterabend gewünscht!«
»Oh, bitte, Schätzchen, nimm dich mal nicht so wichtig. Vielleicht sollte ich den Chef darauf hinweisen, dass du noch nicht einmal in der Lage bist, seine Termine zu verwalten. Und das als seine Sekretärin.« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. Ihr Fanclub fiel ein und untermalte das Ganze noch mit einem »Ts, ts, ts …«
Nie im Leben hatte mir Saskia die Info weitergegeben! Sehr wahrscheinlich hatte sie sogar gehofft, dass ich, nach der gestrigen Feier, heute später im Büro erscheinen und dadurch das Meeting komplett verpassen würde. Ich spürte, wie meine Augen anfingen zu brennen und meine Kehle trocken wurde. Jetzt bloß nicht heulen! Den Triumph würde ich ihnen nicht gönnen!
»Mia! Da sind Sie ja endlich!« Mein Chef hatte den Kopf aus seiner Bürotür gesteckt und winkte mich zu sich. Froh, die drei Grazien los zu sein, ergriff ich meinen Block und ging zu ihm.
»Guten Morgen, Chef. Tut mir leid, dass ich das mit dem Meeting verschwitzt habe. Wird nicht wieder vorkommen.« Er sah mich an, als ob ich chinesisch gesprochen hätte. Erst jetzt fiel mir auf, wie zerstreut er heute Morgen aussah. Wirr abstehendes Haar, tiefe Ringe unter den Augen und ein gequälter Gesichtsausdruck ließen ihn um Jahre älter wirken. »Äh, ja, schon gut. Können Sie bitte den Raum fertig machen. Und stellen Sie am besten noch Nervennahrung auf den Tisch. Die können wir, glaube ich, alle gebrauchen …« Den letzten Satz hatte er mehr zu sich selbst gesagt.
»Alles in Ordnung, Chef?« Langsam machte ich mir Sorgen um ihn. Normalerweise war er für seine lockere Art und seine vorlauten Sprüche bekannt. Doch heute schien er nur ein einziges Häufchen Elend zu sein. Fast schon wehmütig seufzte er, tätschelte meinen Arm und sagte leise: »Ach, Mia. Manchmal hasse ich es, Chef zu sein.«
Dann zog er den Kopf ein und verschwand in seinem Büro. Verdutzt blickte ich ihm nach, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. So besorgt hatte ich ihn noch nie erlebt, und richtig schlau wurde ich aus seinen Andeutungen auch nicht. Da alles Grübeln mich keinen Schritt weiterbrachte, machte ich mich an meine Arbeit und begann den Meeting-Raum einzudecken. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nutzen und in Saskias Kaffeetasse spucken …
Mit einem »Guten Morgen zusammen« eröffnete mein Chef zehn Minuten später das Meeting. Er hatte Mühe, gegen den Geräuschpegel anzukommen. Zwar waren nur acht Kollegen heute zur Arbeit erschienen, diese schnatterten aber aufgeregt durcheinander, als ob sie sich jahrelang nicht gesehen hätten. Mein Chef schien sich gefangen zu haben und strahlte nun wieder die gewohnte Autorität aus, die die Schnattergänse recht schnell verstummen ließ.
»Ich danke euch, dass ihr trotz der kurzfristigen Einladung alle pünktlich erschienen seid«, fuhr er fort und warf mir einen kurzen, leicht strafenden Blick zu, der mich in meinen Stuhl sinken ließ. Aus dem Augenwinkel sah ich Saskia hämisch grinsen. »Auch wenn viele aufgrund von Krankheit heute nicht hier sein können, wollte ich mit diesem Meeting nicht länger warten.« Er fuhr sich durch die Haare, sodass diese in alle Richtungen abstanden. »Ihr habt mitbekommen, dass unsere Auflagenzahlen im Keller waren. Durch Restrukturierung haben wir es geschafft, diese zu erhöhen. Gemeinsam. Als Team. Und dafür danke ich euch von Herzen. Diese Zeitung ist mein Leben. Und ihr seid nicht nur meine Angestellten, sondern im Laufe der Zeit ein Teil meiner Familie geworden. Einige von euch begleiten mich seit meinen Anfängen in einem Zehn-Quadrameter-Dachgeschossbüro, wo ich meine ersten Artikel verfasst habe. Angelika kann sich bestimmt noch daran erinnern, wie uns im Winter die Finger an der Schreibmaschine festfroren. Die Sommer konnten wir dagegen nur mit einem kühlenden Tuch um den Kopf ertragen.« Angelika war unsere Grande Dame und gute Seele des Betriebs. Sie betreute die Rubrik »Land & Garten«. Mit ihren zweiundsechzig Jahren war sie kurz vor der Rente, ließ es sich aber nicht nehmen, uns täglich mit frischem Gebäck zu verwöhnen. Sie war mit meinem Chef schon durch dick und dünn gegangen, was dieser ihr hoch anrechnete. Entsprechend herzlich sah er sie jetzt an, bevor er fortfuhr: »Mir entgeht nicht, mit wie viel Herzblut ihr anderen dabei seid. Dieses Engagement ist es, was unsere kleine Zeitung vor dem Untergang bewahrt hat.«
Er ließ seinen Blick durch die Runde schweifen und nickte jedem einzelnen von uns dankbar zu. Dann seufzte er tief: »Aber es reicht leider noch immer nicht. Wir können nicht mehr aus eigener Kraft überleben.«
Die Stille nach diesen Worten war bedrückend. Jeder schien die Luft anzuhalten, gespannt auf das, was passieren würde. »Nach zähen Verhandlungen ist es mir gelungen, einen Investor zu finden. Ein Verlagshaus aus Frankfurt ist daran interessiert, mit uns zusammenzuarbeiten.« Erleichtertes Ausatmen von allen Seiten. »Aber … sie stellen Bedingungen.«
Acht Augenpaare ruhten auf meinem Chef und ich sah, wie er mit jeder Sekunde bleicher wurde. Dann rückte er endlich mit der Sprache heraus: »Ich muss Personal abbauen.«
Nach einer kurzen Schockstarre brach das Chaos aus!
Jeder sprang von seinem Stuhl auf und bombardierte ihn mit Fragen. Beschwichtigend hob mein Chef die Hände und versuchte Ruhe in das Meeting zu bringen. Doch dieses Mal gelang es ihm erst, als er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. »Ich weiß, ihr habt tausend Fragen, die ich euch gerne beantworten will. Lasst mich nur vorher klar stellen, dass ich niemanden von euch verlieren möchte. Auch wenn eine Weiterbeschäftigung bei mir nicht mehr möglich sein sollte, werden wir zusammen mit dem Investor für jeden Betroffenen einen Alternativplan entwickeln. Das war eine meiner Bedingungen. Ob ihr diese Alternative annehmen möchtet, bleibt natürlich euch überlassen. Aber ich will verdammt sein, wenn ich euch einfach so auf die Straße setze!« Die letzten Worte hatte er geschrien. Jeder von uns konnte sehen, wie sehr er selbst unter der Situation litt. Ich glaubte ihm sofort, dass er für seine Mitarbeiter bis zum Letzten gekämpft hatte. »Ich werde mit jedem von euch ein Einzelgespräch führen. Wer jetzt schon seine Fragen loswerden möchte, stellt sie bitte.«
Ich hatte tausende Fragen, die mir auf der Seele brannten. Aber wollte ich die Antworten wissen? Mit meinem auslaufenden Vertrag war ich die Erste, die die Firma verlassen würde. Und eine Alternative brauchte er für mich aufgrund dessen auch nicht zu suchen.
Ich war so was von im Arsch!
Den restlichen Vormittag verbrachte ich Fingernägel kauend und nervös herumzappelnd vor meinem PC. Mein Chef hatte unser Gespräch in die Mittagspause verlegt. Er wollte mich zum Italiener einladen. Wenn das mal kein Indiz dafür war, dass ich direkt meine Sachen packen konnte …
Just in dem Moment öffnete sich die Bürotür und Saskia trat strahlend heraus. Im Rahmen drehte sie sich noch einmal um und bedankte sich überschwänglich bei unserem Chef, der ihr gefolgt war: »Ich muss Ihnen noch einmal sagen, wie sehr es mich freut, dass Sie meine Arbeit so zu schätzen wissen. Ich werde noch mehr Gas geben, um die besten Artikel für unsere geliebte Zeitung zu verfassen.« Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und schritt mit dem falschesten Lächeln seit Erfindung von Zahnpastawerbung an meinem Tisch vorbei. Mein Chef schüttelte zwar den Kopf, grinste ihr aber trotzdem hinterher.
Männer!
Da konnten sie noch so intelligent, gerissen und knallhart sein, sobald eine mit dem nur spärlich bedeckten Hintern wackelte, waren sie willenlos. Gut, vielleicht war ich ein klein wenig neidisch auf eben jenen Hintern, aber es ging ums Prinzip! Knappe Kleidung hatten doch nur die nötig, die sonst nichts zu bieten hatten.
Mit einem »Pff!« als Ausdruck meiner Missbilligung wandte ich mich meinem Schreibtisch und dem darauf wartenden Papierstapel zu.
»Mia, wir können dann auch gleich los, wenn Sie so weit sind.« Erschrocken hob ich den Kopf. Ich hatte nicht bemerkt, dass mein Chef noch immer in der Tür stand und mich beobachtet hatte.
So ein Käse!
»Natürlich. Wir können direkt los.« Ich schnappte meine Jacke und folgte ihm hinaus zum Auto.
Die Fahrt dauerte nicht lange, war aber die unangenehmste meines Lebens. Den Großteil verbrachten wir schweigend. Ich war heilfroh, als wir auf den Hof fuhren und das Auto parkten.
Obwohl ich vor Nervosität keinerlei Hunger verspürte, bestellte ich mir als Vorspeise Carpaccio und als Hauptgang einen Seelachs in rosa Pfeffersauce. Da dies für sehr lange Zeit mein letztes Essen in einem Restaurant sein würde, musste ich es genießen. Zum Nachtisch war bestimmt auch noch ein Tiramisu drin, selbst wenn ich dann platzen müsste.
Zunächst war es an der Zeit, Tacheles zu reden. Dabei helfen würde mir die Flasche Pinot Grigio, die mein Chef geordert hatte. Er schenkte mir mein zweites Glas ein, als er endlich den Grund für unser Mittagessen ansprach: »Mia, Sie sind eine clevere Frau. Und Sie leisten hervorragende Arbeit.«
Oh, bitte, diesen Smalltalk konnte er sich echt sparen. Doch anstatt den Mund aufzumachen und ihn darauf hinzuweisen, nippte ich an dem köstlichen Wein und ließ ihn weiterreden.
»Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass Sie in Kürze einen neuen Job bekommen werden und Ihnen alle Türen offenstehen. Trotzdem wollte ich Ihnen ein Angebot machen.«
Ich hielt in der Bewegung inne und stellte mein Glas ab. »Sie … wollen mich weiterbeschäftigen?«
Geknickt senkte er den Kopf: »Nein … tut mir leid … das kann ich leider nicht, auch wenn ich es noch so sehr möchte. Ich kann nur wenige Angestellte behalten. Und eine Assistentin ist leider nicht mehr im Budget drin.«
»Aber warum dann dieser Aufriss mit dem Essengehen? Sie hätten mir auch direkt sagen können, dass mein Vertrag nicht verlängert wird.« Es war eindeutig der Alkohol, der da aus mir sprach und mich über mich selbst staunen ließ.
»Nun, Ihre Ausgangsposition ist von allen die schlechteste. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber ich konnte eine Assistentinnenstelle über unseren Investor für Sie ergattern.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben, doch das Strahlen in seinem Gesicht schenkte mir Hoffnung: »Sie meinen, ich habe weiterhin noch einen Job?«
»Aber natürlich! Ich sagte doch, dass ich niemanden auf die Straße setze.«
Erleichtert sank ich in meinem Stuhl zurück und gestattete mir ein Lächeln. Mein Chef tätschelte meinen Arm und fuhr fort: »Die Sache hat allerdings einen kleinen Haken.«
Fast hätte ich frustriert die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Was denn nun noch?
»Die Stelle ist in Frankfurt.«
Vor Schreck klappte mir der Kiefer herunter. »In … in Frankfurt? Aber … das geht nicht. Wie soll ich das denn alles hinbekommen?«
»Mia, ich weiß, dass es nicht einfach sein wird. Aber auch da biete ich Ihnen Hilfe an. Ich habe Beziehungen zu einem Seniorenstift in Oberursel. Dort könnte ich Ihre Mutter unterbringen.«
»Nein! Auf gar keinen Fall!« Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihm den Wein ins Gesicht geschüttet.
»Denken Sie doch bitte darüber nach. Früher oder später wird der Tag kommen, an dem Sie nicht mehr für sie sorgen können. Bitte, verbauen Sie sich nicht Ihre Zukunft. Das würde sie nicht wollen.«
»Sie hat sich ihr Leben lang um mich gekümmert! Was wäre ich jetzt für eine Tochter, wenn ich sie in ein Heim stecken würde?« Erinnerungen an das letzte Gespräch mit ihrem Arzt kamen in mir auf. Sie haben vielleicht nicht mehr viel Zeit mit ihr zusammen. Genießen Sie es, so lange es geht. Aber überfordern Sie sich nicht, Mia.
Immer wieder hatte er mir eingeschärft, dass ihr Zustand sich nur noch verschlechtern konnte. Die Hoffnung auf Besserung war reines Wunschdenken, das wusste ich. Aber der Gedanke, meine Mama in ein Heim abzuschieben, brach mir das Herz.
»Ich verstehe Ihre Sorge, Mia. Aber kein Mensch würde es Ihnen übel nehmen.«
»Ich würde es mir übel nehmen«, wandte ich aufgebracht ein. Erschrocken zuckte mein Chef zusammen, seine Augen vor Überraschung geweitet. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Schließlich versuchte er nur zu helfen. Und was tat ich? Maulte ihn an wie ein trotziges Kind. Betreten senkte ich den Blick und murmelte kleinlaut: »Sorry Chef, ich wollte Sie nicht anschnauzen. Und ich bin Ihnen auch sehr dankbar für die Chance. Aber … kann ich das erst mit meinem Freund besprechen?«
Sichtlich erleichtert, dass ich mich beruhigt hatte, lächelte er mich an: »Natürlich, Mia! Ich muss erst in einer Woche die neue Personalplanung abgeben. Bis dahin haben Sie Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen.«
Was Christoph wohl dazu sagen würde, wenn ich in Zukunft noch weniger Zeit für ihn hätte? Noch ein Grund mehr, dass er mir endlich die alles entscheidende Frage stellte. Dann könnte ich mich voll um den Haushalt und vor allem um meine Mutter kümmern. Und mit der Familienplanung könnten wir dann direkt morgen Abend anfangen.
Ich malte mir aus, wie er mit einem Strauß langstieliger roter Rosen vor mir kniete und mir mit Tränen in den Augen den Verlobungsring an den Finger stecken würde. Der Ring, eine Mischung aus Platin und Weißgold, gekrönt mit einem Diamanten und der Inschrift Amor vincit omnia – Liebe besiegt alles.
»Mia?« Die Stimme meines Chefs riss mich aus meinen Fantasien. Ich musste ein paarmal blinzeln, um meine Gedanken zu sortieren, und fragte irritiert: »Äh … ja … ʼtschuldigung. Was haben Sie gesagt?«
Neben ihm stand mit hochgezogener Braue die Kellnerin und blickte mich erwartungsvoll an. »Ich fragte, ob Sie gerne einen Espresso zum Abschluss haben möchten?« Dann glitt ihr Blick dezent an mir auf und ab: »Oder lieber einen Verdauungsschnaps nach dem reichlichen Essen?«
Mit offenem Mund starrte ich sie an, während sie mich ungerührt taxierte. Dem verkniffenen Ausdruck um ihren Mund nach zu urteilen, missbilligte sie die Nahrungsaufnahme generell und jobbte hier nur, um einen reichen Liebhaber abzubekommen. Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, regte sich schon wieder das Gewissen und ich bekam Mitleid. Nur weil sie so gemeine Andeutungen bezüglich meiner Figur machte, musste ich ja nicht direkt schlecht von ihr denken. Sie hatte bestimmt eine miese Kindheit gehabt und war deswegen so gemein.
Mein Chef klappte geräuschvoll die Karte zu, hielt sie der Kellnerin hin, und bestellte zwei Espresso und zwei Schnaps. Auf meinen fragenden Blick hin sagte er grinsend: »Ich war noch nie gut darin, mich zu entscheiden.«