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Buch

Niemand mag Kredithaie, und die Liste der Menschen, die Ged Salkeld den Tod wünschten, würde das Telefonbuch Newcastles füllen. Aber wer hat Salkeld so gehasst, dass er dessen Haus in Brand setzte, während Salkelds Frau und Kinder im Obergeschoss schliefen? Diese Frage stellen sich DCI Theo Vos und sein Team, als sie in den verkohlten Trümmern nach Spuren suchen. Das Tatmotiv zumindest scheint festzustehen. Doch der Fall ist viel komplizierter, als Vos zunächst annimmt. Und er hat es mit einem eiskalten Killer zu tun, der auf perfide Weise Katz und Maus mit ihm spielt …

Informationen zu Jim Ford

und weiteren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

JIM FORD

Feueropfer

Ein
Inspector-Vos-Thriller

Aus dem Englischen

von Jochen Stremmel

Die Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel »In Vitro«

bei Constable & Robinson, London.

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Deutsche Erstveröffentlichung August 2016

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Jim Ford

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: Copyright © Getty Images/Steve Daggar Photography

Redaktion Alexander Behrmann

mb · Herstellung: Str.

ISBN: 978-3-641-16674-8
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für abwesende Freunde

Teil eins

TITELLOSES MANUSKRIPT:
8. Entwurf

Man sagt, alle Väter sollten sich die Mühe machen, die Meilensteine im Leben ihrer Kinder mitzuerleben.

Ich war dabei, als meine Tochter geboren wurde. Ich sah ihr kleines Herz schlagen und beobachtete, wie rosafarbenes Leben sich in ihrem Körper ausbreitete, als sie ihren ersten Atemzug machte. Ich war sechs Monate später dabei, als sie ihr erstes Wort sagte: ein kurzes, zweifelndes »Ba!«. Ich war dabei, als sie ihren ersten Zahn bekam, als sie begann zu krabbeln und als sie, mit dreizehn Monaten, ihre ersten torkelnden Schritte von der Kante des niedrigen Wohnzimmertischs in meine ausgestreckten Hände machte.

Und ich war natürlich an ihrem dritten Geburtstag dabei. Dem Tag, an dem sie verschwand.

Nach ein paar Stunden, als die Dunkelheit schließlich hereingebrochen war und die Suchtrupps aus den Dünen zurückgekommen waren, blieb eine Polizeibeamtin bei mir im Strandhaus. Ihr Name war Kath Ptolemy, und sie war Detective Constable vom Alnwick CID, der man den Auftrag gegeben hatte, sich um mich zu kümmern. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als ich, und ich dachte unwillkürlich an diesen alten Spruch, dass man weiß, man wird älter, wenn Polizisten anfangen, jünger auszusehen.

»Glauben Sie, sie ist entführt worden?«, fragte ich sie. »Glauben Sie, sie ist tot?«

»Bitte, Richard«, sagte sie. »Solche Sachen dürfen Sie nicht sagen.«

Aber du ertappst dich dabei, solche Sachen zu sagen, nicht weil du irgendwelche Trostworte zur Antwort hören möchtest, sondern weil der Vorgang dein Gehirn nur ein paar glückselige Sekunden lang von dem schreienden Entsetzen ablenkt. Das wusste Ptolemy. Deshalb sorgte sie dafür, dass ich weiterredete.

»Was für eine Art Schriftsteller sind Sie denn?«, fragte sie.

»Ich schreibe Romane. Das ist zumindest mein Traum.«

»Haben Sie schon was veröffentlicht?«

»Ein paar Sachen. Kurzgeschichten. Kleine journalistische Texte hier und da. Aber es ist eine schwierige Zeit. Die Verleger schnallen alle die Gürtel enger. Was für Sachen lesen Sie denn?«

Sie schaute mich verlegen an. »Ich bin keine große Leserin.«

»Dafür ist immer Zeit«, sagte ich zu ihr. »Es ist nie zu spät, um ein Buch in die Hand zu nehmen.«

»Ich muss rasch mal telefonieren«, sagte sie. »Machen Sie doch eine Kanne Tee für uns. Und Sie sollten etwas essen. Sie müssen bei Kräften bleiben. Haben Sie irgendwas im Haus?«

»Im Kühlschrank ist etwas Käse. Cracker. Möchten Sie irgendwas?«

»Das wäre toll.«

Das ist noch ein Trick, siehst du? Halte sie in Atem, die, die einen Verlust erlitten haben. Bring ihnen keinen Tee oder Mitleid entgegen, weil sie nur dasitzen und die Wände anstarren und an ihr Kind denken, das an irgendeinem dunklen und furchtbaren Ort nach ihnen schreit, während du das Zimmer verlassen hast, um das Teewasser aufzusetzen und die Kekse auf einen Teller zu legen.

Deshalb ging ich in die Küche und ließ Wasser in den Kessel laufen. Ich nahm ein großes Stück reifen Cheddar aus dem Kühlschrank und schnitt ihn auf dem Schneidebrett in Scheiben. Ich legte die Scheiben fein säuberlich auf die Kekse. Ich schnitt sogar eine Tomate in vier Stücke.

»Wie lange haben Sie schon dieses Haus?«, sagte Ptolemy, die in der Küchentür erschien.

»Seit ein paar Jahren.«

»Schön. Wie oft kommen Sie hier raus?«

»Früher an den meisten Wochenenden. Seltener, seitdem Beatrice auf die Welt gekommen ist, aber es wird wieder leichter gehen, wenn –«

»Es ist ein wunderschönes Fleckchen«, sagte Ptolemy rasch. »Ich hoffe, Sie haben etwas Milch.«

Sie hatte die ganze Zeit ihr Mobiltelefon in der Hand. Manchmal hob sie es hoch und schaute auf das leere Display, bevor sie die Hand wieder sinken ließ. Gelegentlich scrollte sie nach unten, um nachzuschauen, ob sie eine SMS erhalten hatte. Und wenn sie nicht mit ihrem Handy herumspielte, schaute sie auf das Festnetztelefon auf dem Ständer neben dem Sofa. Weil – abgesehen von der Unterhaltung – das der wahre Grund für ihre Anwesenheit war. Falls jemand anrief, um zu sagen, sie hätten Beatrice gefunden.

Aber in dieser Nacht klingelte das Telefon nicht.

Ich rechnete nicht damit, schlafen zu können. Ich glaubte, ich wäre zu aufgedreht, zu verzweifelt. Zu verdammt schuldbewusst. Aber ich wurde von Ptolemy geweckt, die fest an meiner Schulter rüttelte.

»Richard«, sagte sie. »Wir müssen aufbrechen.«

Ich lag auf dem Sofa unter einer dünnen Decke. Ich konnte es nicht ertragen, im Schlafzimmer zu sein, weil man dafür an dem Gästezimmer vorbeigehen musste, das wir im letzten Sommer für Beatrice eingerichtet hatten.

Furcht ergriff mich. »Was ist passiert? Hat man sie gefunden?«

»Nein. Kommen Sie. Ziehen Sie sich an, wir müssen gehen.«

Ich konnte angesichts des dünnen, grauen Lichts sofort erkennen, dass es gegen sechs Uhr sein musste. Wenn wir mit Beatrice hier waren, war das die Zeit, in der mein Tag begann. Indem ich Toast und Kaffee machte, Rice Krispies in eine Schale schüttete, barfuß neben der offenen Küchentür stand und dem Meeresrauschen auf der anderen Seite der Dünen zuhörte.

Auf ihr Rufen aus dem ersten Stock und den Aufschwung meines Herzens wartete.

»Wohin gehen? Ich darf hier nicht weg. Was ist, wenn …?«

»Ziehen Sie sich an, Richard. Bitte.«

Irgendwo habe ich gelesen, dass die größte Chance, ein vermisstes Kind lebendig und wohlauf zu finden, innerhalb der ersten vier Stunden nach seinem Verschwinden besteht. Danach verringert sich die Wahrscheinlichkeit exponentiell mit jeder Stunde, die verstreicht. Von all den Dingen, über die wir an jenem ersten Abend sprachen, war dies das Einzige, was Ptolemy nicht erwähnte – weil sie wusste, dass es das Einzige war, was mich zu einem kleinen Häufchen Elend reduziert hätte.

Die ersten beiden Stunden, nachdem Beatrice verschwunden war, wurden folgendermaßen verbracht: still dastehend, auf die leere Rückentrage auf dem Boden starrend; ihren Namen rufend; fluchend; am Strand auf und ab gehend; nach oben in die Dünen steigend; Leute fragend, ob sie das Kind gesehen hätten; den Strand hinauf- und hinunterrennend; suchend durch die Brandung streifend; zurück zum Haus rennend; zurück zum Strand rennend; noch ein paarmal ihren Namen rufend; stehend, sitzend, nachdenkend, in Panik geratend, betend.

Die nächste Stunde wurde mit Warten darauf verbracht, dass die Polizei auftauchte, und als sie da war, mit der Erklärung, dass ich Beatrice nur zwei Minuten aus den Augen gelassen hatte, während ich in meiner Spur zurückging und den Sonnenhut suchte, den sie von der Rückentrage aus weggeworfen hatte. Zwei verdammte Minuten. Sie war drei Jahre alt – wie weit konnte sie gegangen sein? Die Polizisten schauten mich an, als wollten sie sagen: Allein oder mit jemand anderem?

Die vierte Stunde – die letzte Stunde, in der die Chancen, ein vermisstes Kind wiederzufinden, gut stehen – wurde damit verbracht, das gleiche Gebiet des Strandes, der Dünen und der Brandung mit zwei Polizisten in Uniform abzusuchen. Den gleichen Leuten die gleiche Frage zu stellen: Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen? Drei Jahre alt, braunes, lockiges Haar, leichtes Sommerkleid mit Tupfen?

Und danach verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzufinden, mit jeder Stunde, die verstrich, exponentiell.

Als Ptolemy mich weckte, war Beatrice seit sechzehn Stunden verschwunden.

Das Strandhaus liegt am Ende einer Sackgasse, die so ziemlich in den Dünen selbst aufhört. Es hört sich schrecklich eindrucksvoll an, wenn jemand sagt, wir haben ein Wochenendhaus an der northumbrischen Küste, aber an unserem ist nichts Eindrucksvolles. Glaubt mir, einige der anderen Häuser im Dorf haben größere Garagen. Margaret und ich kauften es spottbillig von der Gemeinde, weil sie auf diese Weise um die Abrisskosten herumkam. Es sollte unser »work in progress« werden, etwas, an dem wir herumbastelten, sobald das Geld verfügbar war. Das eingeschossige Steingebäude, das von Dünen und Strandhafer fast verborgen wurde, beherbergte mal zu der Zeit, als Rettungsboote wenig stabile Ruderboote aus Holz waren, das Bamburgher Rettungsboot. Das ganze Ding steht immer noch auf den originalen Holzpfählen; unter dem Fußboden gibt es einen Hohlraum mit festgetretener Erde, worüber wir nicht allzu gern nachdenken, wenn wir im Bett liegen und dem Krächzen und Stöhnen des Hauses in einer windigen Nacht zuhören. Von dort, wo sich jetzt die Küche befindet, führte früher eine Holzrampe über den Sand, und das Boot wurde von Pferden direkt ins Meer gezogen.

Heutzutage kommen die Rettungsboote aus Seahouses oder Berwick-upon-Tweed. Es sind kräftige Schiffe auf dem neuesten technischen Stand mit großen Motoren und Radar, mit denen sie in der Lage sind, große Meeresgebiete abzusuchen. Sie arbeiten mit den Sea King Seenotrettungshubschraubern zusammen, die auf dem RAF-Stützpunkt Boulmer an der Küste im Süden stationiert sind. Wenn man auf See verschollen ist, finden sie einen irgendwann. Und falls sie es nicht tun, wird es irgendjemand sonst tun. Die Küste hier ist ewig lang. Alles hängt davon ab, wo das Meer sich entschließt, einen auszuspucken.

Als ich an jenem Morgen das Haus verließ, konnte ich die Rotoren des Sea King und die grollenden Motoren der Rettungsboote hören, die ihre Suche entlang des lückenlosen Küstenstrichs vom Bamburgh Castle bis nach Seahouses wieder aufnahmen. Es kam mir entgegen, dass sie nicht sehen konnten, wie ich auf dem Rücksitz von Ptolemys Wagen Platz nahm. Ich schämte mich, dass dieser ganze Aufwand betrieben wurde, weil ich kurze Zeit nicht aufgepasst hatte.

»Die Pressestelle in Newcastle hat gestern Abend ein Foto von Beatrice freigegeben«, sagte sie, als sie den Motor anließ und mit einigem Tempo auf der Küstenstraße zum Dorf fuhr. Sie klang verärgert, als sei die Entscheidung ohne ihr Wissen getroffen worden. »In diesem Moment wird die A1 voll sein mit Reportern, die von der Stadt nach Norden unterwegs sind. Sie werden keine zwei Minuten brauchen, um herauszukriegen, wo Sie sich aufhalten. Wir müssen Sie hier wegbekommen, bevor wir von ihnen belagert werden.«

»Wo fahren wir hin? Ich will nicht zu weit weg sein, falls …«

»Keine Sorge. Wir machen nur, dass wir aus Bamburgh rauskommen, das ist alles. Ich kenne einen Ort hier in der Nähe.«

»Wird Maggie dort sein?«

»Ich habe gehört, sie ist unterwegs.«

»Oh.«

»Was hat sie überhaupt in Frankreich gemacht?«

»Eine Schüleraustauschfahrt. Sie ist Lehrerin.«

»Ach ja? Wo?«

»An der Kenton School in Newcastle.«

»Unterrichtet sie Französisch?«

»Eigentlich unterrichtet sie Mathematik. Aber es herrscht Personalknappheit.«

»In Mathematik war ich immer ein hoffnungsloser Fall.«

Ich rieb ein Loch in die beschlagene Rückscheibe und schaute zu dem bedrohlich wirkenden Klotz des Bamburgh Castle. Am Tag zuvor war ich mit Beatrice auf den Schultern die steile Böschung hochgestapft, schwitzend wie ein Kanalarbeiter, während sie mir mit ihren weichen, geballten Fäusten fröhlich oben auf den Kopf trommelte. Als wir den Festungswall erreichten, vollzog ich das Limbo-Tanz-Manöver, das erforderlich ist, um die Rückentrage aufzuhaken. Sofort fiel sie über meine Brille her, fischte sie von meiner Nase und schwenkte sie wie eine Trophäe durch die Luft.

»Bea-trice«, sagte ich mit dieser strengen Erwachsenenstimme, die Kinder mit Vergnügen ignorieren. »Was haben wir wegen Daddys Brille besprochen? Ich kann jetzt überhaupt nichts sehen.«

»Ja, ja«, sagte sie und schlug mir damit quer durchs Gesicht.

Ganz in der Nähe, in einer der Öffnungen für die Kanonen, die inzwischen für Sitzbänke genutzt wurden, stießen sich zwei Frauen mittleren Alters an und lächelten nachsichtig.

»Na ja, wenn das dein letztes Wort zu diesem Thema ist, dann muss ich dich leider über die Brüstung werfen.«

Ich packte sie wie einen Rugbyball und hielt sie am ausgestreckten Arm, sodass ihr Kopf einen Moment lang über der Zinne und den Felsen dreißig Meter tiefer hing. Sie wand sich wie verrückt, schreiend vor Lachen, und ich konnte das missbilligende Einatmen der beiden Frauen fast hören, aber es war völlig ausgeschlossen, sie fallen zu lassen, und das war Beatrice auch klar.

Weil das die Abmachung zwischen uns, Beatrice und mir, von dem Moment an war, als ich sie am Tag ihrer Geburt auf meiner Handfläche hielt.

Der Ort, den Ptolemy kannte, war ein abgelegenes Bed and Breakfast ungefähr sechs Meilen landeinwärts. Es gehörte – wie es bei B&Bs immer der Fall zu sein scheint – einer weißhaarigen Schottin in den Sechzigern. Sie hieß Mrs McLeod, und sie war eindeutig auf unsere Ankunft vorbereitet worden. Wir waren kaum durch die Tür, als wir in einen kleinen Speiseraum geführt wurden und ein komplettes englisches Frühstück serviert bekamen.

»Rufen Sie einfach, wenn Sie irgendwas brauchen«, sagte sie und verließ dann zügig das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie war eindeutig ebenfalls darauf vorbereitet worden, keinen Smalltalk zu machen.

»Essen Sie«, sagte Ptolemy. Sie konnte sehen, dass ich das Essen mit ausdruckslosem Gesicht anstarrte. Aber es ist schwierig, daran zu denken, Würstchen, Speck und Eier zu essen, wenn man ein komisches Gefühl in der Magengrube hat. »Im Ernst, Richard, runter damit. Sie fühlen sich danach besser.«

Ich schnitt versuchsweise ein glänzendes Stückchen Wurst ab und steckte es in den Mund. Ich rechnete damit, dass es nach Asche schmeckte, aber es war auf eine Weise köstlich, wie Würstchen es nie sind, wenn man sie selber macht.

»So ist’s richtig.« Ptolemy nickte zustimmend. »Mrs McLeod macht das beste Frühstück in Northumberland.«

Und damit begann es wieder. Die gnadenlose, optimistische Konversation vom vergangenen Abend. Abgesehen davon, dass es diesmal nicht funktionierte. Ptolemy sprach, und ich erwiderte etwas – aber heute ließen sich die Gedanken nicht ablenken. Ich dachte immer wieder an Beatrice. Daran, wie sich ihr Mund, kurz bevor sie zu weinen anfing, neu anordnete, sodass die vorspringende Unterlippe fast gerade und die Oberlippe zu drei gleich langen Stücken darüber versteift war. Ein vollkommenes gleichschenkliges Trapez, wie Maggie es mal beschrieben hatte.

Wir sahen sie schrecklich gern weinen: die Art, wie ihr Gesicht rot wurde und Tränen sich in ihren Augen sammelten und dann ein Geräusch mit der gleichen ansteigenden Tonhöhe wie eine Luftschutzsirene aus diesem vollkommen trapezförmigen Mund kam. Aber sie sah immer so herzzerreißend klein und verloren aus, wie sie mit ihrer Spielzeugmenagerie verstreut um sich herum auf dem Boden saß, dass wir sie nie lange weinen lassen konnten. Einer von uns ging dann zu ihr, und schon bevor wir bei ihr waren, hatte sie die Arme in Bereitschaft erhoben.

Der Gedanke, dass niemand da sein würde, um sie hochzuheben, ihr die Tränen vom Gesicht zu wischen, mit den Lippen ihren Nacken zu liebkosen und ihr zu sagen, dass alles in Ordnung sei …

Siebzehn Stunden nachdem Beatrice verschwunden war, war es dieser Gedanke, der mir das Herz brach.

Die Morgenzeitung hatte Beatrices Bild auf der Titelseite veröffentlicht. Die Schlagzeile war: HABEN SIE BEATRICE GESEHEN? Die Zeile darunter lautete: FIEBERHAFTE SUCHE NACH VERMISSTEM KLEINKIND.

Das Wort »fieberhaft« stach hervor. Es beschwor Bilder von einem heulenden Mob herauf, der mit brennenden Fackeln herumlief, Türen eintrat, Möbel zertrümmerte, Menschen zu Boden warf und auf ihnen herumtrampelte. Es symbolisierte die Angst der Gesellschaft davor, was sie fähig war, ihren Kindern anzutun. Vor ihrer schwarzen, böswilligen Seele.

Ich lag im ersten Stock auf dem Bett, als Maggie eintraf.

Es war kurz nach ein Uhr, obwohl es mir so vorkam, als starrte ich seit Tagen auf die komplizierten Wirbel und Schleifen der Stuckrosette an Mrs McLeods Zimmerdecke. Das Geräusch von Reifen, die auf der Kieszufahrt vor dem Fenster knirschend zum Stehen kamen, jagte ein furchtbares Gefühl der Vorahnung durch meinen Körper.

Auf den ersten Blick sah meine Frau aus wie immer: elegant, nüchtern gekleidet, beherrscht. Ganz wie eine Lehrerin. Aber als man ihr half, hinten aus dem Streifenwagen zu steigen, sah ich, dass ihr Gesicht abgespannt und ihre Haut blass und matt war, von den dunkel verfärbten Halbmonden der Müdigkeit unter ihren Augen abgesehen.

Ich sah, wie sie zu mir hochschaute, und wandte mich vom Fenster ab. Ich rechnete damit, dass sie wütend auf mich war. Mich schlug, trat und anschrie. Ich war bereit, das zu akzeptieren, weil ihre Wut das war, was ich verdient hatte. Sie war das, was ich brauchte, um meine Schuld zu lindern. Aber sie stand nur da in der Diele mit Ptolemy und einer Polizistin in Uniform und schaute dorthin, wo ich oben an der Treppe stand. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ihre Augen waren tot. Es war so, als ob sie mich nicht erkennen würde.

Dann schien sie zu schwanken, und als Ptolemy nach ihrem Arm griff, dachte ich einen Moment lang, dass sie zusammenbrechen würde. Aber ich war es, der zusammenbrach. Direkt oben an der Treppe. Ich spürte, wie meine Beine unter mir nachgaben, und rutschte an der Wand hinunter, bis ich mit der Stirn auf den Knien dasaß und meine Hände meinen Hinterkopf umfassten, während ich vor lauter Schluchzen kaum atmen konnte.

»Ach Herrgott, Mags, es tut mir so leid.«

Den größten Teil des zweiten Tages saßen wir in einer Atmosphäre beinahe unwirklicher Distanziertheit in Mrs McLeods makellosem Wohnzimmer und sahen die Fernsehnachrichten.

Alle fünfzehn Minuten wechselte der Bericht zum Strand von Bamburgh, wo ein windgepeitschter Reporter eine Aktualisierung bot und die Kamera einen Schwenk an der Küste entlang machte oder ein Rettungsboot oder ein Schiff der Küstenwache heranzoomte, die entschlossen durch die Wellen kreuzten. Doch selbst wenn sich die Kamera auf das Strandhaus konzentrierte – unser Haus, um Himmels willen –, kam es mir so vor, als redete der Reporter von jemand anderem.

Das Foto, das sie in der Nachrichtensendung benutzten, war am Tag zuvor aus einem billigen Holzrahmen von dem Bücherregal des Strandhauses genommen worden. Es war das Bild von Beatrice, das ich am wenigsten mochte, das, von dem ich immer denke, dass es ihr am wenigsten ähnlich sieht, und das ganz und gar ungeeignet ist, ihr Wesen zu erfassen. Darauf sitzt sie auf einem prallen Polster vor einem Hintergrund aus gerüschtem, purpurfarbenem Satin. Sie trägt ein Samtkleid über einem Hemd mit einem rundhalsigen Ausschnitt. Ihre dicken, ungebärdigen Locken sind ordentlich an einer Seite gescheitelt, und ihre dunklen Augen sind mit einem Ausdruck verträumten Unbehagens auf etwas knapp außerhalb des Fotoapparats gerichtet. Wir hatten es von einem professionellen Fotografen machen lassen, obgleich der Henker wissen mag, warum. Ich nehme an, wir dachten, es sei etwas, das Eltern tun sollten. Letzten Endes haben wir keine weiteren Abzüge machen lassen. Wir haben nur das Muster behalten und es rahmen lassen, damit wir in Zukunft daran dachten, es nicht noch einmal zu tun.

»Hätten sie nicht ein anderes Foto nehmen können?« war alles, was Maggie sagte, als sie es auf dem Fernsehschirm erblickte.

Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder so gut wie möglich aussehen, selbst wenn sie verschwunden sind, höchstwahrscheinlich tot.

Um vier Uhr an jenem Nachmittag wurde die Such- und Rettungsoperation reduziert. Um neun Uhr abends wurde sie ganz eingestellt.

Eine Stunde später kam Ptolemy vorbei, um uns mitzuteilen, dass Beatrice lebendig und wohlauf gefunden worden sei. Unsere Tortur sei vorüber.

Ach, wenn es doch nur so gewesen wäre.